Rapunzel - Sei vorsichtig, was du dir wünschst von moonlily (Geburtstags-FF für Karma) ================================================================================ Kapitel 1: Der verbotene Garten ------------------------------- Kapitel 1 Der verbotene Garten „Erzähl uns eine Geschichte!“, riefen die beiden Kinder, die eigentlich längst schlafen sollten, statt in ihren Betten herumzuhopsen und ihren Onkel mit großen bettelnden Augen anzusehen. „Eine Geschichte, soso. Und was für eine?“ „Was Spannendes“, verlangte Darian und warf seiner vierjährigen Schwester ein Kissen zu, das der Mann, der zwischen ihnen stand, geschickt auffing und auf das Bett zurückbeförderte. „Also schön, ihr Quälgeister, aber legt euch hin. Ich möchte keinen Ärger mit eurer Mama bekommen, wenn sie reinkommt und ihr turnt immer noch hier herum.“ Darian und Serina sahen einander an und folgten seiner Bitte, wenn sie auch gern noch weiter herumgetollt wären. Ihr Onkel zog sich einen Sessel heran und machte es sich darauf bequem. „Es war einmal in einem wunderschönen Königreich ... Nein, stopp!“, unterbrach er sich selbst. „Ich weiß, so fangen alle alten Märchen an, aber diese Geschichte hat sich vor noch gar nicht so langer Zeit ereignet, müsst ihr wissen. Unser Märchen beginnt an einem schönen, lauen Sommerabend in einem kleinen Dorf in Reich Dracoria, wenige Meilen vom Schloss des Fürsten von Drachenstein entfernt ...“ Die Frau des Schuhmachers saß am Fenster ihrer kleinen Stube und beobachtete den Sonnenuntergang. Ihre Hand strich zärtlich über den leicht gewölbten Bauch, der sich unter ihrer Schürze abhob. Anderthalb Jahre nachdem sie ihren Sohn Joseph, von allen nur Joey genannt, geboren hatte, erwartete sie nun erneut Nachwuchs und hoffte, dass es dieses Mal ein Mädchen werden würde. Eine Tochter war ihr lieber, denn Mädchen waren ihrer Meinung nach leichter zu erziehen als ein Junge wie Joey, der, seit er laufen und sprechen konnte, nur Flausen im Kopf hatte. Sie ließ ihre Augen über die Baumwipfel schweifen, die sich leicht im Abendwind wiegten, hin zu der hohen Mauer, die an ihren kleinen Besitz grenzte. Dahinter lag ein großer Garten, in dem Obst, Gemüse und Kräuter gediehen wie sonst nirgendwo in der Gegend. Sie hatte einmal einen kurzen Blick hineinwerfen können, als sie ihrem Mann Jonathan im letzten Herbst bei der Apfelernte geholfen hatte. Wenn der Wind wie heute richtig stand, wehte er den würzigen Duft der Kräuter zu ihr herüber und machte ihr Appetit. Die Frau, der der Garten gehörte, hieß Mai, aber man bekam sie selten zu Gesicht und die Leute im Dorf behaupteten, sie sei eine Hexe. Helen hielt ihre Nachbarin hingegen für jemanden, der sich in der Natur auskannte und wusste, wie man sich um die Pflanzen kümmern musste, damit sie gut wuchsen. Mit dem, was sie anbaute, belieferte sie trotz der vielen Gerüchte sogar den Hof des Fürsten Gozaburo. Helen warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Mauer und die grünen Schätze, die sie verbarg. Die Preise, die Mai verlangte, waren zu hoch, als dass sie sich viel mehr als ein wenig Gemüse leisten konnte, wenn ihr eigener Garten zu wenig hergab. Wenn sie nur an den Salat dachte, den Mai körbeweise zum Schloss hochbrachte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Kopfsalat, Mangold, Kresse, Rapunzeln ... Ganz zu schweigen von den saftigen Tomaten. Sie stand auf und ging zu dem kleinen Tontopf, in dem sie das Haushaltsgeld aufbewahrte. Es musste ja nicht viel sein, nur ein kleiner Korb voll, das reichte ihr schon. Mit den Münzen ging sie zu dem Holztor, das in die Mauer eingelassen war, und pochte dagegen. „Wer ist da?“, drang es von der anderen Seite der Mauer zu ihr. „Schon wieder ein Bursche aus der Schlossküche?“ „Nein, hier ist Helen, Eure Nachbarin. Ich würde Euch gern etwas Salat abkaufen.“ Das Tor wurde einen Spalt weit geöffnet, Mai steckte ihren Kopf heraus. Die Frau des Schuhmachers hielt ihr die Münzen und ein kleines Körbchen hin. „Wie ich sehe, bist du schwanger“, sagte Mai und nahm ihr den Korb ab. „Dann behalt dein Geld, ihr werdet es bald dringender brauchen. Warte hier.“ Sie schloss das Tor wieder und machte sich daran, den Korb mit Rapunzeln zu füllen, von denen reichlich in ihrem Garten wuchsen. Helen wusste gar nicht, wie sie sich bei ihr für die Großzügigkeit bedanken sollte und lief eilig nach Hause. Auf dem kurzen Weg stopfte sie sich bereits die ersten Blätter in den Mund, sie kamen ihr vor wie ein Festmahl. Sie ließ sich kaum die Zeit, den Salat richtig zu putzen und aß statt der Suppe, die sie als Abendessen für sich und ihren Mann vorbereitet hatte, den halben Korb leer. Was übrig blieb, wurde am nächsten Morgen ihr Frühstück. Der Schuhmacher wunderte sich, als er am Abend nach Hause kam und wieder eine Schüssel Rapunzeln vorfand, sagte aber nichts dazu. Er kannte das noch von ihrer ersten Schwangerschaft, da hatte sie kiloweise Erdbeeren und grüne Bohnen gegessen und war ausfallend geworden, wenn er sich über ihre seltsamen Essgelüste beschwerte oder lustig machte. „Willst du nicht wieder etwas anderes als Rapunzeln und etwas Brot essen?“, fragte Jonathan zwei Wochen später. „Was hast du dagegen?“ Helen sah kaum von ihrem Korb auf, den sie auf dem Schoß hatte. „Mai ist sehr freundlich, sie füllt mir jedes Mal den Korb, wenn ich zu ihr komme, und sie verlangt nicht mal was dafür.“ „Sie verlangt nichts? Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Mai, die sich von Fürst Gozaburo großzügig für ihre Lieferungen entlohnen ließ, sollte ihnen, einem armen Schuhmacherpaar, alles umsonst überlassen? Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. „Warum machst du dir unnötige Gedanken?“, sagte Helen und umarmte ihn. „Es geht mir gut. Sehr gut sogar, und unserer Kleinen auch.“ So zogen die Wochen und Monate ins Land. Es verging praktisch kein Tag, an dem Helen oder, wenn sie sich ausruhen musste, Jonathan nicht zu Mai kamen, um sie um eine weitere Portion Rapunzeln zu bitten. Dem Schuhmacher fiel mit der Zeit auf, dass ihre Nachbarin bei jedem ihrer Besuche mürrischer wurde und er manchmal mehrere Minuten warten musste, bis sie überhaupt das Tor öffnete und ihm den Korb zum Füllen abnahm. Er verstand ihren Unmut und fragte sich, wie lange es noch so weitergehen würde. Helen verschlang die Rapunzeln in rauen Mengen und er wagte nicht auszurechnen, wie viele Münzen Mai dabei entgingen, nur weil sie sie ihnen so gab. Im Januar aber fiel so viel Schnee, dass selbst bei ihrer Nachbarin keine Rapunzeln mehr zu bekommen waren, da konnte Helen so viel jammern wie sie wollte. Dafür sah sich Jonathan nun mit einem anderen Problem konfrontiert, sie wollte kaum etwas anderes essen. Das Obst und Gemüse, von dem sie sich sonst den Winter über ernährten, verschmähte sie, bis ihm nach wochenlanger Zankerei der Geduldsfaden riss und er sie dazu zwang, das Kohlgemüse zu essen, das sie für ihn zubereitet hatte. Als er sie losließ, warf sie ihm einen wütenden Blick zu und verkroch sich unter der Bettdecke. „Es tut mir ja leid“, entschuldigte er sich, „aber nur weil jetzt keine Rapunzeln wachsen, kann ich dich und das Kind nicht sterben lassen.“ Von dem Tag an aß sie wieder klaglos, auch wenn Jonathan nicht gefiel, mit welcher Sehnsucht sie oft zu der Mauer sah, als warte dort ein heimlicher Geliebter auf sie. Wenige Wochen vor dem errechneten Geburtstermin kehrte der Frühling in das Land zurück, lockte die Pflanzen aus der Erde hervor und ließ an den Bäumen frisches Grün sprießen. Helen nutzte dies, um ihre täglichen Spaziergänge wieder aufzunehmen, die sie während der letzten Monate kältebedingt nur eingeschränkt hatte machen können. Auf dem Rückweg von einem Besuch bei der Frau des Dorfschulzen traf sie auf Mai, die mit einem voll bepackten Karren auf dem Weg zum Schloss war. „Wie lange dauert es noch?“, erkundigte sich diese bei der werdenden Mutter. „Achtzehn Tage, wenn alles gut läuft und dann – Oh, wie ich sehe, sind die Rapunzeln reif.“ Sie deutete auf eine Schale, deren Tuch etwas verrutscht war. „Kann ich mir also wieder welche holen?“ Über das Gesicht der blonden Frau huschte ein düsterer Schatten, als sie die Erwartungshaltung aus Helens Stimme heraushörte. „Ich habe dich monatelang versorgt, ohne etwas dafür zu verlangen, obwohl ich mir das eigentlich gar nicht leisten konnte. Und jetzt willst du noch mehr?“ „Dann bezahle ich sie dir“, setzte Helen an, wurde aber von Mais höhnischem Gelächter unterbrochen. „Erinnere dich der Mengen, die du in den letzten Monaten täglich vertilgt hast. Euer Erspartes wäre nach wenigen Tagen aufgebraucht. Und dann?“ „Bitte, Mai.“ Sie griff nach ihrem Arm. „Nur ein kleines Körbchen voll, dann gebe ich Ruhe. Versprochen.“ „Na schön“, stimmte sie schließlich zu. „Komm heute Abend mit dem Geld zum Tor.“ Ihre Nachbarin neigte dankbar den Kopf und setzte ihren Heimweg fort. Das zufriedene Lächeln, das Mai ihr nachsandte, bemerkte sie nicht mehr. Helen stocherte lustlos in ihren Karotten herum, dem letzten Rest der Ernte aus dem Vorjahr. „Was hast du?“ „Ich möchte lieber Rapunzeln essen“, murmelte sie. „Gehst du zu Mai und holst mir welche?“ „Du hast ihr versprochen, keine mehr zu verlangen“, entgegnete Jonathan. „Das Körbchen, das sie dir gegeben hat, war nach ein paar Stunden leer und das nächste, das du ihr zwei Tage später – trotz deines Versprechens! – abgeschwatzt hast, genauso. Ich bitte dich, dieser verdammte Salat kann uns nicht all unser bisschen Geld kosten, das wir uns an die Seite gelegt haben.“ „Du verstehst mich einfach nicht!“ Sie schob ihren Teller zurück und legte sich aufs Bett. Jonathan seufzte nur, wenn sie sich so bockig benahm, war mit ihr nicht zu reden. Deshalb beschloss er, es am nächsten Morgen noch einmal zu versuchen und ihr klarzumachen, dass sie es sich beim besten Willen nicht leisten konnten, länger bei Mai einzukaufen. In der Nacht wurde er durch lautes Stöhnen wach. Helen wälzte sich neben ihm unruhig hin und her. Er rüttelte sie an der Schulter, in dem Glauben, sie träume schlecht, und bemerkte entsetzt, wie heiß sich ihre Haut unter dem Stoff anfühlte. Rasch entzündete er einen Kienspan an dem heruntergebrannten Herdfeuer. In dem flackernden Licht schimmerte ihre Haut feucht, ihre Stirn glänzte vor Schweiß. „Helen?“, er stieß sie wieder an. „Wach auf!“ Sie reagierte nicht, warf nur den Kopf auf die andere Seite und stöhnte leise. Jonathan stürzte zu dem Wassereimer, den sie sich immer am Vorabend für die Morgenwäsche bereitstellten, warf einen Lappen hinein und legte diesen, kaum ausgewrungen, auf Helens Stirn. Die ganze Nacht machte er kaum ein Auge zu und versuchte ihr Fieber zu senken. Zum ersten Mal seit vielen Jahren blieb seine Werkstatt am nächsten Tag geschlossen. Er verließ nur kurz das Haus, um frisches Wasser und die Hebamme zu holen, damit sie sich Helen ansah. Die alte Frau verabreichte ihr verschiedene Kräutersude und versprach, morgen wieder nach ihr zu sehen. Als sich zwei Tage darauf immer noch kaum eine Besserung ihres Zustandes eingestellt hatte, empfahl die Hebamme ihm, so schnell es ging den Medikus kommen zu lassen, wollte er nicht beide, Mutter und Kind, verlieren. Er nickte müde, nahm die restlichen Münzen, die sich noch in dem Tontopf befanden, ließ Joey in der Obhut der Alten und machte sich auf den Weg zum Haus des Medikus, das im nächsten Dorf, nahe des Schlosses, lag. Der Besuch des hoch gelehrten Herrn Doktor kostete ihn die letzten Ersparnisse. Umso wütender war er, als sich selbiger als besser gekleideter Quacksalber entpuppte, dem nichts besseres einfiel, als Helen zur Ader zu lassen, um sie von den „schlechten Säften“ zu reinigen, wie er sich ausdrückte. Die kleine Besserung ihres Zustandes, welchen die Hebamme erreicht hatte, war mit einem Schlag verflogen. Jonathan musste an sich halten, ihm nicht einen saftigen Tritt in den Hintern zu verpassen, als er ihm die Tür wies. „Halt dich von deiner Mutter fern, vielleicht ist es ansteckend“, herrschte er seinen Sohn an, der neben ihr auf dem Boden kniete und ihr über das heiße Gesicht strich. „Aber sie hat gerade was gesagt.“ Jonathan war mit zwei Schritten bei ihr und beugte sich über sie, um die schwach flüsternde Stimme besser zu hören. „Rapunzeln ...“, hörte er zwischen dem Keuchen, „ich brauche ... Rapunzeln ...“ Er verdrehte die Augen, jetzt ging das wieder los. Andererseits hatten sie alles andere ausprobiert. Es war schon Abend, er konnte nur hoffen, dass Mai überhaupt noch wach und vor allem willens war, ihm die Rapunzeln auch ohne sofortige Bezahlung zu geben. Er konnte ihr nur anbieten, die Rechnung später zu begleiten, wenn seine Kunden ihre Schuhe abgeholt hatten. Jonathan klopfte, wartete mehrere Minuten und klopfte wieder. Auf der anderen Seite des Tors rührte sich nichts. „Mai, macht bitte auf! Es ist dringend!“ Da er keine Antwort erhielt, musste er unverrichteter Dinge wieder abziehen. Zu Hause setzte er sich an den Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, und überlegte, was er tun sollte. Mai war anscheinend nicht da, Helen ging es zusehends schlechter und wenn sie nicht bald ihre Rapunzeln bekam ... Er sah schon vor sich, wie sie ihren Sarg aus dem Haus trugen. „Gott möge mir verzeihen“, sagte er und griff nach dem Korb. Nach einem Blick auf Helen und den schlafenden Joey schlich er nach draußen und zu der Mauer, die Mais Garten umgab. Er wusste, dass sie an einer Stelle etwas niedriger war. Dort kletterte er drüber und landete mitten zwischen Liebstöckel und Pfefferminze. Durch den Mond hatte er genug Licht, um zwischen den unzähligen verschiedenen Pflanzen das Beet mit den Rapunzeln zu finden. So schnell er konnte, raffte er die zarten Pflanzen in seinen Korb, bis er auf einmal ein lautes Räuspern hinter sich hörte und herumfuhr. „Guten Abend, Jonathan“, begrüßte Mai ihn mit einem leutseligen Lächeln. „Eine schöne Nacht für eine Diebestour, nicht wahr?“ „Ihr missversteht d-das“, stammelte er. „Ich wollte nicht ... Es hat niemand aufgemacht und meine Frau braucht dringend Rapunzeln. Sonst stirbt sie.“ „Morgen wäre ich auf den Markt gegangen.“ „Wir haben das letzte Geld dem Medikus gegeben.“ Er blickte schuldbewusst zu Boden. „Ich hätte sie nicht bezahlen können.“ „Du weißt, dass man Dieben hierzulande gewöhnlich eine Hand abhackt?“ Der Schuhmacher schrak zusammen. Wenn Mai ihn anzeigte, war es das für ihn. Mit nur einer Hand würde er seiner Arbeit nicht mehr nachgehen können. „Ich könnte mich aber auf einen Tausch einlassen“, fuhr sie nachdenklich fort. „Sagt, was Ihr verlangt, Ihr sollt es haben, wenn ich Helen nur die Rapunzeln bringen darf.“ „Deine Frau wird bald ein Mädchen zur Welt bringen. Das verlange ich dafür.“ „Aber –“, erhob er Einspruch, doch verstummte, als sie die Hand hob. „Ein Leben für ein Leben“, sagte Mai. „Nimm die Rapunzeln und rette deine Frau, doch euer Kind gehört mir.“ Den Tränen nahe, ergriff Jonathan die ihm hingestreckte Hand und besiegelte damit ihren Tausch. Jonathan ging vor dem Haus unruhig auf und ab. Um sich zu setzen, war er viel zu nervös. Gestern am späten Abend, vier Tage zu früh, hatten bei Helen die Wehen eingesetzt. Seither kümmerten sich die Hebamme und ein paar Frauen aus dem Dorf um sie. Er und Joey waren für die Nacht in das Haus des Schmieds umquartiert worden, damit sie nicht im Weg herumstanden und die Frauen bei ihrer Arbeit behinderten. Joey bekam nicht viel von der Nervosität seines Vaters mit. Er hockte auf der kleinen Holzbank, die unter dem Fenster stand, ließ die kurzen Beine in der Luft baumeln und starrte angestrengt auf den Himmel. Jonathan hatte den Lärm, den er mit seinen Bauklötzchen veranstaltete, irgendwann nicht mehr ausgehalten und ihm aufgetragen, Ausschau zu halten, wann der Klapperstorch kam. Auf diese Weise wusste er den Jungen beschäftigt, der sehr stolz darauf war, so eine wichtige Aufgabe übertragen zu bekommen. Die Geburt selbst war nicht der alleinige Grund für Jonathans Unruhe. Wenn Mais Worte eintrafen, hatten sie schon bald eine Tochter, die sie der Hexe, wie er sie inzwischen heimlich nannte, übergeben mussten. Durch die Rapunzeln, die Mai ihnen in den letzten anderthalb Wochen täglich vor die Tür gestellt hatte, war Helen schnell wieder zu Kräften gekommen. Von dem Preis aber, den er für ihre Rettung versprochen hatte, hatte er ihr nichts erzählt. Seine Frau wäre fähig gewesen und hätte aufgehört, die Rapunzeln zu essen, nur damit ihre ungeborene Tochter bei ihnen bleiben konnte. Endlich, nach einer Ewigkeit, wie es dem Schuhmacher vorkam, war aus dem Inneren des Hauses ein spitzer Schrei zu hören. Jetzt hielt ihn nichts mehr im Freien, er riss die Tür auf und drängte sich an den Frauen vorbei, die in einem Kreis um die junge Mutter standen. Helen sah erschöpft aus, das Gesicht noch feucht von der Anstrengung, aber sie lächelte. In ihren Armen lang ein Stoffbündel, aus dem ein brauner Haarflaum herausschaute. „Es ist ein Mädchen“, sagte die Hebamme. „Meinen Glückwunsch, Jonathan, deine Frau hat sich tapfer gehalten. Nach dem Fieber neulich hatte ich befürchtet, sie würde es nicht überstehen.“ „Sie ist schon da?“ Joey steckte den Kopf durch die offen stehende Tür und sah schmollend zu dem Bett. Da hatte er sich solche Mühe gegeben und trotzdem nicht den Klapperstorch gesehen. Das Biest musste an ihm vorbeigeflogen sein, als er sich an der Nase gekratzt hatte. Mit der ganzen Hoheit seiner zwei Jahre und drei Monate stapfte er zu ihnen herüber, um das Wesen in Augenschein zu nehmen, das seine Mutter zärtlich in den Armen wiegte. Er kletterte auf das Bett und beugte sich über das Bündel. „Das ist deine Schwester“, stellte Helen sie ihm vor. „Hast du schon einen Namen für sie?“, fragte die Hebamme. „Ich –“ „Serenity!“, krähte Joey dazwischen und sah erfreut, wie sie die Augen ein Stück öffnete. „Gefällt ihr. Serenity, Serenity, Serenity“, begann er zu singen. „Entschuldigt, den Namen hat er vor ein paar Tagen bei mir aufgeschnappt“, erklärte Tea, die auf der anderen Seite des Bettes stand. Sie war Helens Schwester und hatte der Hebamme während der Geburt assistiert. „Schon gut, warum eigentlich nicht? Der Name gefällt mir.“ Helen strich über die winzige Nase. „Und Serenity scheint ihn auch zu mögen.“ Tea griff in den Lederbeutel, den sie am Gürtel trug. „Ich habe was für Joey und die Kleine. Hab ich neulich am Fluss entdeckt.“ In ihrer Hand lagen zwei kleine Steine, die der Fluss zu fast perfekten, glatten Ovalen geschliffen hatte. Sie schimmerten weiß wie der Mond und waren an einem Ende vorsichtig durchbohrt worden, um ein dünnes Lederband durchzuziehen. Tea legte Joey eine der Ketten um den Hals. „Und Serenity? Kriegt die ihre nicht?“ „Doch, aber erst, wenn sie älter ist. Bei einem kleinen Kind wäre das zu gefährlich. Bis dahin verwahre ich sie“, erwiderte seine Tante. „Und du legst sie bitte auch ab, wenn du abends schlafen gehst.“ Joey konnte sich an seiner kleinen Schwester gar nicht satt sehen. Als die anderen Frauen das Haus verlassen hatten, hockte er sich neben die Wiege, in der er vor zwei Jahren selbst gelegen hatte, und beobachtete sie beim Schlafen. Helen war dies mehr als recht, sie wünschte sich nur noch Ruhe. Während der Woche, in der sie nach der Geburt das Bett hüten musste, kam Tea jeden Tag vorbei, um sich um den Haushalt zu kümmern. Der Schuhmacher konnte es sich nicht leisten, seine Werkstatt länger geschlossen zu halten und selbst bei seiner Familie zu bleiben. Jeden Abend, wenn er nach Hause kam, machte er sich darauf gefasst, Helen in Tränen aufgelöst über einer leeren Wiege vorzufinden, doch auch nach zwei Wochen war Mai noch immer nicht gekommen, um das Mädchen von ihnen einzufordern. Langsam wuchs in ihm die Hoffnung, sie habe es sich anders überlegt und er müsse seiner Frau nicht das dunkle Geheimnis beichten, das ihm auf der Seele lastete. Am Vorabend von Serenitys Taufe klopfte es an der Tür. „Machst du mal auf“, bat Helen, die ihre Tochter gerade frisch gewickelt hatte und sie in die Wiege zurücklegen wollte. In Jonathan machte sich ein mulmiges Gefühl breit, als er ging und öffnete. „Einen schönen guten Abend“, grüßte Mai lächelnd. „Ich komme, um das zu holen, was du mir versprochen hast, Jonathan.“ „Versprochen? Was hat er dir versprochen?“, wunderte sich seine Frau. „Er hat dir nichts davon erzählt?“ „Mai, bitte! Ihr könnt alles haben, nur nicht –“ „Du hast mir dein Wort gegeben, nun halte es auch.“ „Was hast du ihr versprochen?“ Helen sah ihren Mann scharf an und stemmte die Hände in die Hüften. „Als es dir so schlecht ging ... du wolltest unbedingt Rapunzeln“, stammelte er hilflos, „und da ... ich hab ihr versprochen, dass sie dafür ... dass sie Serenity dafür bekommt.“ „Hättest du mich nur sterben lassen! Mai, bitte!“ Um die Mundwinkel der Blondine bildete sich ein harter Zug. Damit hatte sie gerechnet. Bedürften die Menschen ihrer Hilfe, versprachen sie ihr alles, wenn es aber daran ging, das Versprochene zu erfüllen, wollte sich niemand mehr daran erinnern. Joey wurde von dem Streit der Erwachsenen wach und sah sich verstört um. Er verstand nicht wirklich, was los war, nur dass die Frau, die er ein paar Mal gesehen hatte, Serenity mitnehmen wollte. „Nicht mitnehmen! Seren bleibt bei Mama!“, platzte er in die immer hitziger werdende Diskussion. „Halt deinen Mund, Bengel, und geh wieder ins Bett“, befahl ihm sein Vater. „Mach nicht so einen Lärm, du weckst deine Schwester auf.“ Mai reichte es, sie schob Jonathan zur Seite und schritt auf die Wiege zu. Joey ignorierte die bösen Blicke seiner Eltern und stellte sich ihr in den Weg, die Arme schützend vor der Wiege ausgebreitet. „Seren bleibt hier.“ Sie beugte sich zu ihm herunter und strich ihm durch das dichte blonde Haar. „So ein tapferer kleiner Kerl. Du magst deine Schwester sehr gern, nicht wahr?“ Als er nickte, fuhr sie fort: „Wärst du denn bereit, an ihrer Stelle mit mir zu gehen? Ich werde mich gut um dich kümmern, das verspreche ich dir – und ich breche mein Wort nicht. Aber wir werden in ein anderes Dorf ziehen, das heißt, dass du deine Schwester so bald nicht wiedersehen wirst.“ Der Junge biss sich auf die Lippe, während er überlegte. Er sollte an ihrer Stelle gehen? Gut, vielleicht merkten seine Eltern das ja gar nicht, wenn er nicht mehr da war. Meistens hatten sie anderes zu tun und überließen ihn sich selbst. „Gut, mach ich.“ „Du willst gehen?“ Helen konnte es nicht glauben. „Ein Maul weniger, das wir zu stopfen haben“, antwortete ihr Mann pragmatisch. „Er frisst uns die Haare vom Kopf mit seinem Appetit.“ „Verabschiede dich“, sagte Mai, „wir brechen gleich auf.“ Joey drückte seiner Schwester einen Kuss auf die Wange, umarmte seine Mutter noch einmal kurz und ließ sich dann von Mai auf den Arm nehmen, nachdem er ihre Frage verneint hatte, ob er sich nicht auch von seinem Vater verabschieden wolle. Vor dem Haus stand Mais Planwagen. Sie setzte Joey auf den Kutschbock, stieg hinterher und nahm die Zügel in die Hand. Auf ihr Zungenschnalzen setzte sich der Esel, der vor den Wagen gespannt war, in Bewegung, der tiefer sinkenden Sonne folgend. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)