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Rapunzel - Sei vorsichtig, was du dir wünschst

Geburtstags-FF für Karma
von

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Entdeckungen

Rapunzel – Sei vorsichtig, was du dir wünschst
 

8. April 2010 – 12. Juni 2010
 

Liebes Karmalein,

du wolltest Bakura als Märchenprinz haben – hier ist er, ich hoffe so getroffen, wie du ihn dir vorgestellt hast. Ich wünsche dir nachträglich noch einmal alles Liebe zum Geburtstag und dir und allen anderen Lesern viel Spaß beim Lesen.

*knuddel*
 


 

Prolog

Entdeckungen
 

Katsuya saß grübelnd vor seinem Laptop und überlegte, wie er weiter schreiben sollte. An der Stelle hing er schon seit mehr als einer Woche fest und egal wie oft er sich die letzten Absätze durchlas, ihm wollte einfach nichts einfallen. Die Szenen, die als nächstes kommen sollten, waren vollständig geplant, er sah sie vor seinem geistigen Auge ... die passenden Formulierungen aber wollten ihm nicht in den Sinn kommen. Es war zum Verzweifeln.

Auf seine sonstige Muse, seine Schwester, konnte er auch nicht zurückgreifen, sie gönnte sich gerade eine Woche Wellnessurlaub in den Bergen und hatte ihm strikt verboten, sie anzurufen, außer in besonderen Notfällen. In gewisser Weise verstand er sie. Wenn es darum ging, ihre musischen Fähigkeiten in Anspruch zu nehmen, konnte er zu einer Nervensäge mutieren. Mehrstündige Telefonate waren in den letzten drei Monaten keine Seltenheit gewesen.

Wenn ich ihr wenigstens den Grund für meine Schaffenskrise nennen könnte, dann wär die Sache vielleicht einfacher, grübelte er. Aber dann müsste ich ihr so viel anderes erklären und ich bin mir nicht sicher, wie sie dazu steht.

Gähnend rieb sich Katsuya über die Augen und streckte sich auf seinem Bürostuhl. Toshiru hatte ihn heute um halb neun aus dem Bett geklingelt, gerade mal vier Stunden nachdem er sich hingelegt hatte. Er war die ganze Nacht wach geblieben, um das Kapitel fertig zu bekommen – und hatte trotzdem nicht mehr als ein paar Sätze zustande gekriegt. Wenn das so weiterging, würde sein neues Buch nie fertig und der Stern von J. J. Wheeler würde schneller sinken, als er vor einem Jahr aufgestiegen war. Dies war das Pseudonym, unter dem er seinen ersten Jugendroman veröffentlicht hatte und seither bekannt war. Seine Freunde wussten nichts davon, niemand eigentlich außer seiner Schwester und Toshiru Matsuda, seinem Agenten, der für ihn die ganzen Vertragsangelegenheiten regelte.

J. J. Wheeler galt in der Öffentlichkeit als medienscheu, weshalb er bisher kaum Lesungen gehalten hatte und keine Fotos von ihm veröffentlicht werden durften. Hin und wieder schwankte Katsuya, ob er diese Politik beibehalten sollte. Einigen seiner ehemaligen Mitschüler, besonders Kaiba, hätte er gern gezeigt, dass er nicht der Verlierer war, für den man ihn in der Schule immer gehalten hatte. Auf der anderen Seite war er froh, dadurch ein ruhiges Privatleben zu haben und nicht ständig auf der Straße von Autogrammjägern verfolgt zu werden. Er fand es sogar ganz amüsant, durch die Buchhandlungen in der Innenstadt zu streifen, wo seine Bücher auf großen Podesten aufgebaut waren, und den Leuten zuzuhören, die davor stehen blieben.

Er fokussierte wieder den Bildschirm und brummte unwillig. Auf diese Weise kam er nicht voran und in solchen Fällen war ein wenig Abstand das Beste. Wie um seine Gedanken zu bestätigen, nickte er, klappte den Laptop zu und stand auf. Als er nach seiner Jacke greifen wollte, klingelte sein Handy.

„Hi, Ryuji, was gibt’s?“, meldete er sich.

„Was es gibt? Jede Menge Ärger, wenn du nicht gleich im Einkaufszentrum bist! Oder hast du unsere Verabredung vergessen?“

„Ohh ...“

Katsuya schielte zu der Uhr, die über der Tür seines Arbeitszimmers hing, und biss sich auf die Lippe.

„Du hast versprochen, mir zu helfen, was für Seto zu finden.“

„Ich weiß, ich weiß. Gib mir zehn Minuten, dann bin ich da.“

Über der vergeblichen Arbeit an dem Kapitel hatte er ihr Treffen völlig vergessen, verdrängt, wie auch immer. Er raste in sein Schlafzimmer, zog sich ein frisches Hemd über, packte auf dem Weg zur Tür seine Sachen und war schon halb aus dem Haus, als ihm einfiel, dass er ohne Geld keinen Fahrschein für die U-Bahn kaufen konnte. Hastig griff Katsuya nach seinem Portemonnaie, stürzte aus dem Haus – und stieß, als er sich umdrehen und abschließen wollte, mit Bakura zusammen.

„Ich wollte gerade zu dir“, begann dieser.

„Passt gerade ganz schlecht, ich hab’s wahnsinnig eilig“, erklärte er. „Ein andermal, Bakura!“

Und weg war er. Ryuji hasste es, wenn er zu spät zu ihren Verabredungen kam, da legte er es nicht drauf an, von ihm einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Bakura sah ihm verdutzt nach, wie er sich an ihm vorbeidrängte und die Straße zur U-Bahn-Station entlang rannte.

„Na toll“, knurrte er und kickte mit dem Fuß einen Kieselstein weg. „Wäre ja fast ein Wunder gewesen, wenn der feine Herr heute für mich Zeit hätte.“

Er versuchte sein Wochen mit ihm zu sprechen, aber entweder befanden sie sich in einer größeren Gruppe, wo er ihn nicht unter vier Augen erwischte, oder er bekam eine Ausrede von wegen dringender Termine zu hören. Mittlerweile war er deswegen richtig verärgert. Er wollte endlich wissen, warum ihm Katsuya dauernd aus dem Weg ging. Yami und Honda hatte er schon ausgefragt, sie konnten sich selbst keinen Reim auf das Verhalten des Blondschopfs machen. Deshalb hatte er sich heute kurzerhand auf den Weg zu ihm gemacht, um ihn direkt zur Rede zu stellen, in der irrigen Annahme, Katsuya könne ihm hier nicht entkommen und ihm höchstens die Tür vor der Nase zuschlagen.

Besagte Haustür wurde von dem Weißhaarigen mit bösen Blicken taxiert, als wäre sie schuld daran, dass er schon wieder um ein Gespräch mit Katsuya gebracht worden war. Plötzlich stockte er, blinzelte und sah genauer hin. Zwischen Tür und Rahmen war ein feiner Spalt; in seiner Eile hatte Katsuya vergessen, sie richtig zu schließen. Bakura sah sich kurz um und stieß sie auf. Sein Freund hatte einen seiner ach so wichtigen Termine, bitte. Dann würde er eben in seiner Wohnung auf ihn warten. Er durchquerte den kleinen, hell gestrichenen Flur und ging als erstes in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Der Anblick des Kühlschranks hob seine Laune schon mal nicht, es gab kein Bier, und auch sonst schien die Wohnung frei von Alkohol zu sein, wie er nach einer Durchsuchung der Wohnzimmerschränke missmutig feststellte. Er ging in die Küche zurück, um sich ein Glas Orangensaft zu holen, mit dem er es sich im Wohnzimmer auf dem Sofa gemütlich machte. Die Füße auf dem Tisch liegend, griff er nach der Bedienung für den Fernseher und schaltete sich kreuz und quer durch die Programme. Für einen Samstagnachmittag war das laufende Programm miserabel, nur Talkshows, in denen sich ein paar Proleten ihre fünf Minuten im Rampenlicht abholten und dafür jeden Mist erzählten, den ihnen die Regie vorgab. Er hätte abends kommen sollen, dann wäre Katsuya da gewesen oder es hätte zumindest einen guten Thriller gegeben, mit dem er sich die Zeit vertreiben konnte.
 

Derweil erreichte Katsuya außer Atem, aber noch innerhalb der zehn Minuten, die er Ryuji am Telefon genannt hatte, ihren Treffpunkt. Er hatte es gerade noch so in die U-Bahn geschafft, bevor sich die Türen zur Abfahrt schlossen.

„Hi ... bin da ...“, keuchte er und stützte sich mit den Händen auf seinen Knien ab. Sein schwarzhaariger Freund schüttelte den Kopf und seufzte.

„Ich möchte es einmal erleben, dass du pünktlich bist, Kats.“

„Sorry, war keine Absicht. Also, an was hast du gedacht?“

„Wenn ich das mal wüsste! Ich zerbreche mir die ganze Zeit den Kopf.“

„Und ich soll dir helfen können“, lachte Katsuya. „Bin ich mit Kaiba zusammen oder du? Ach, wir werden schon was für deinen Drachen finden.“

Er schlug ihm aufmunternd auf die Schulter und zog ihn in das Einkaufszentrum, vor dem sie sich getroffen hatten.
 

Nachdem ihm der Fernseher keine Zerstreuung bieten konnte, machte sich Bakura daran, die Wohnung näher zu erkunden. Seit Katsuya bei seinem Vater ausgezogen war, hatte er sie nur einmal kurz betreten, um ihn zu einem Konzert abzuholen, auf das sie mit Yami wollten. Im Flur fiel sein Blick auf die halboffen stehende Tür des Besenschranks und blieb überrascht an dieser hängen. Von Besen und anderen Putzgeräten war hinter der Tür herzlich wenig zu sehen, stattdessen führte eine Treppe in das obere Stockwerk. Laut Katsuya stand die Wohnung über seiner seit Jahren leer. Bakura verschwendete keinen Gedanken daran, dass er hier eigentlich gar nichts zu suchen hatte, und stieg die Stufen hoch.

„Interessant“, murmelte er und sah sich um.

In einer Ecke des großen Raumes, in dem er stand, befand sich eine helle Couchgarnitur mit Flachbildfernseher und DVD-Anlage. Die Wände waren mit Regalen voller Bücher und Aktenordner voll gestellt. Auf dem Schreibtisch nahe dem Fenster türmten sich Ordner, Blöcke und eng beschriebene Notizzettel. So ein chaotischer Arbeitsplatz konnte nur Katsuya gehören. Die Frage aber war, wozu brauchte er das alles. Für seine Arbeit im Kopierladen, wo er halbtags arbeitete, bestimmt nicht. Von dem Geld konnte er sich auch unmöglich die ganze Ausstattung geleistet haben können. Bakura hatte sich damals zur besseren Finanzierung seines Studiums selbst um die Stelle beworben und abgelehnt, als er erfahren hatte, wie schlecht sie bezahlt war. Solche Umstände schrien ja geradezu danach, näher unter die Lupe genommen zu werden.

Er versuchte das Gekritzel zu entziffern, mit dem sein Freund die Blätter beschmiert hatte, doch wirklich schlau wurde er nicht daraus. Noch verrückter wurde es, als er auf ein Buch über giftige Tiere stieß. Zwischen den Seiten steckten rund ein halbes Dutzend kleiner Zettel, auf denen Dinge wie Möglich, Für Lucy verwenden und Forschen, wo man die herkriegt standen. Den letzten hatte er bei einer winzigen Quallenart gefunden, die sich Irukandji nannte und wegen des nicht existenten Gegengifts als hochgiftig für Menschen galt. Da lief selbst dem hart gesottenen Bakura ein kalter Schauer über den Rücken. Plante Katsuya etwa einen Mord? Hatte er am Ende gar Verbindungen zur Yakuza? Das würde einiges erklären, die luxuriöse Ausstattung, warum er oft so schlecht zu erreichen war ...

Wenige Sekunden darauf prustete er los. Katsuya und ein Mitglied der Yakuza, das war lachhaft! Er war neben Ryou und Yugi einer der letzten, die er so einer Sache verdächtigen würde. Nur was war sonst die Erklärung?

Unter einem Buch über die Stadt Florenz entdeckte er bei seiner weiteren Suche einen dicht beschriebenen Karoblock, auf dem sich Katsuya offensichtlich Mühe gegeben hatte, statt seiner Sauklaue eine leserlichere Schrift zu verwenden. Auf der ersten Seite stand Rapunzel – sei vorsichtig, was du dir wünschst geschrieben.

Schau einer an, hat er das etwa geschrieben?, dachte er und blätterte im Schnelllauf die Seiten durch. Am Anfang eines Absatzes stockte er und sah überrascht auf seinen Namen. Und er hat sich meinen Namen ausgeliehen, ohne mich vorher zu fragen?

Jetzt wollte er es genauer wissen. Bakura ließ sich mit dem Block auf der Couch nieder und schlug zur ersten Seite zurück.

Der verbotene Garten

Kapitel 1

Der verbotene Garten
 

„Erzähl uns eine Geschichte!“, riefen die beiden Kinder, die eigentlich längst schlafen sollten, statt in ihren Betten herumzuhopsen und ihren Onkel mit großen bettelnden Augen anzusehen.

„Eine Geschichte, soso. Und was für eine?“

„Was Spannendes“, verlangte Darian und warf seiner vierjährigen Schwester ein Kissen zu, das der Mann, der zwischen ihnen stand, geschickt auffing und auf das Bett zurückbeförderte.

„Also schön, ihr Quälgeister, aber legt euch hin. Ich möchte keinen Ärger mit eurer Mama bekommen, wenn sie reinkommt und ihr turnt immer noch hier herum.“

Darian und Serina sahen einander an und folgten seiner Bitte, wenn sie auch gern noch weiter herumgetollt wären. Ihr Onkel zog sich einen Sessel heran und machte es sich darauf bequem.

„Es war einmal in einem wunderschönen Königreich ... Nein, stopp!“, unterbrach er sich selbst. „Ich weiß, so fangen alle alten Märchen an, aber diese Geschichte hat sich vor noch gar nicht so langer Zeit ereignet, müsst ihr wissen. Unser Märchen beginnt an einem schönen, lauen Sommerabend in einem kleinen Dorf in Reich Dracoria, wenige Meilen vom Schloss des Fürsten von Drachenstein entfernt ...“
 

Die Frau des Schuhmachers saß am Fenster ihrer kleinen Stube und beobachtete den Sonnenuntergang. Ihre Hand strich zärtlich über den leicht gewölbten Bauch, der sich unter ihrer Schürze abhob. Anderthalb Jahre nachdem sie ihren Sohn Joseph, von allen nur Joey genannt, geboren hatte, erwartete sie nun erneut Nachwuchs und hoffte, dass es dieses Mal ein Mädchen werden würde. Eine Tochter war ihr lieber, denn Mädchen waren ihrer Meinung nach leichter zu erziehen als ein Junge wie Joey, der, seit er laufen und sprechen konnte, nur Flausen im Kopf hatte.

Sie ließ ihre Augen über die Baumwipfel schweifen, die sich leicht im Abendwind wiegten, hin zu der hohen Mauer, die an ihren kleinen Besitz grenzte. Dahinter lag ein großer Garten, in dem Obst, Gemüse und Kräuter gediehen wie sonst nirgendwo in der Gegend. Sie hatte einmal einen kurzen Blick hineinwerfen können, als sie ihrem Mann Jonathan im letzten Herbst bei der Apfelernte geholfen hatte. Wenn der Wind wie heute richtig stand, wehte er den würzigen Duft der Kräuter zu ihr herüber und machte ihr Appetit. Die Frau, der der Garten gehörte, hieß Mai, aber man bekam sie selten zu Gesicht und die Leute im Dorf behaupteten, sie sei eine Hexe. Helen hielt ihre Nachbarin hingegen für jemanden, der sich in der Natur auskannte und wusste, wie man sich um die Pflanzen kümmern musste, damit sie gut wuchsen. Mit dem, was sie anbaute, belieferte sie trotz der vielen Gerüchte sogar den Hof des Fürsten Gozaburo.

Helen warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Mauer und die grünen Schätze, die sie verbarg. Die Preise, die Mai verlangte, waren zu hoch, als dass sie sich viel mehr als ein wenig Gemüse leisten konnte, wenn ihr eigener Garten zu wenig hergab. Wenn sie nur an den Salat dachte, den Mai körbeweise zum Schloss hochbrachte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Kopfsalat, Mangold, Kresse, Rapunzeln ... Ganz zu schweigen von den saftigen Tomaten. Sie stand auf und ging zu dem kleinen Tontopf, in dem sie das Haushaltsgeld aufbewahrte. Es musste ja nicht viel sein, nur ein kleiner Korb voll, das reichte ihr schon. Mit den Münzen ging sie zu dem Holztor, das in die Mauer eingelassen war, und pochte dagegen.

„Wer ist da?“, drang es von der anderen Seite der Mauer zu ihr. „Schon wieder ein Bursche aus der Schlossküche?“

„Nein, hier ist Helen, Eure Nachbarin. Ich würde Euch gern etwas Salat abkaufen.“

Das Tor wurde einen Spalt weit geöffnet, Mai steckte ihren Kopf heraus. Die Frau des Schuhmachers hielt ihr die Münzen und ein kleines Körbchen hin.

„Wie ich sehe, bist du schwanger“, sagte Mai und nahm ihr den Korb ab. „Dann behalt dein Geld, ihr werdet es bald dringender brauchen. Warte hier.“

Sie schloss das Tor wieder und machte sich daran, den Korb mit Rapunzeln zu füllen, von denen reichlich in ihrem Garten wuchsen. Helen wusste gar nicht, wie sie sich bei ihr für die Großzügigkeit bedanken sollte und lief eilig nach Hause. Auf dem kurzen Weg stopfte sie sich bereits die ersten Blätter in den Mund, sie kamen ihr vor wie ein Festmahl. Sie ließ sich kaum die Zeit, den Salat richtig zu putzen und aß statt der Suppe, die sie als Abendessen für sich und ihren Mann vorbereitet hatte, den halben Korb leer. Was übrig blieb, wurde am nächsten Morgen ihr Frühstück.

Der Schuhmacher wunderte sich, als er am Abend nach Hause kam und wieder eine Schüssel Rapunzeln vorfand, sagte aber nichts dazu. Er kannte das noch von ihrer ersten Schwangerschaft, da hatte sie kiloweise Erdbeeren und grüne Bohnen gegessen und war ausfallend geworden, wenn er sich über ihre seltsamen Essgelüste beschwerte oder lustig machte.
 

„Willst du nicht wieder etwas anderes als Rapunzeln und etwas Brot essen?“, fragte Jonathan zwei Wochen später.

„Was hast du dagegen?“ Helen sah kaum von ihrem Korb auf, den sie auf dem Schoß hatte. „Mai ist sehr freundlich, sie füllt mir jedes Mal den Korb, wenn ich zu ihr komme, und sie verlangt nicht mal was dafür.“

„Sie verlangt nichts? Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Mai, die sich von Fürst Gozaburo großzügig für ihre Lieferungen entlohnen ließ, sollte ihnen, einem armen Schuhmacherpaar, alles umsonst überlassen? Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen.

„Warum machst du dir unnötige Gedanken?“, sagte Helen und umarmte ihn. „Es geht mir gut. Sehr gut sogar, und unserer Kleinen auch.“

So zogen die Wochen und Monate ins Land. Es verging praktisch kein Tag, an dem Helen oder, wenn sie sich ausruhen musste, Jonathan nicht zu Mai kamen, um sie um eine weitere Portion Rapunzeln zu bitten. Dem Schuhmacher fiel mit der Zeit auf, dass ihre Nachbarin bei jedem ihrer Besuche mürrischer wurde und er manchmal mehrere Minuten warten musste, bis sie überhaupt das Tor öffnete und ihm den Korb zum Füllen abnahm. Er verstand ihren Unmut und fragte sich, wie lange es noch so weitergehen würde. Helen verschlang die Rapunzeln in rauen Mengen und er wagte nicht auszurechnen, wie viele Münzen Mai dabei entgingen, nur weil sie sie ihnen so gab. Im Januar aber fiel so viel Schnee, dass selbst bei ihrer Nachbarin keine Rapunzeln mehr zu bekommen waren, da konnte Helen so viel jammern wie sie wollte. Dafür sah sich Jonathan nun mit einem anderen Problem konfrontiert, sie wollte kaum etwas anderes essen. Das Obst und Gemüse, von dem sie sich sonst den Winter über ernährten, verschmähte sie, bis ihm nach wochenlanger Zankerei der Geduldsfaden riss und er sie dazu zwang, das Kohlgemüse zu essen, das sie für ihn zubereitet hatte. Als er sie losließ, warf sie ihm einen wütenden Blick zu und verkroch sich unter der Bettdecke.

„Es tut mir ja leid“, entschuldigte er sich, „aber nur weil jetzt keine Rapunzeln wachsen, kann ich dich und das Kind nicht sterben lassen.“

Von dem Tag an aß sie wieder klaglos, auch wenn Jonathan nicht gefiel, mit welcher Sehnsucht sie oft zu der Mauer sah, als warte dort ein heimlicher Geliebter auf sie.

Wenige Wochen vor dem errechneten Geburtstermin kehrte der Frühling in das Land zurück, lockte die Pflanzen aus der Erde hervor und ließ an den Bäumen frisches Grün sprießen. Helen nutzte dies, um ihre täglichen Spaziergänge wieder aufzunehmen, die sie während der letzten Monate kältebedingt nur eingeschränkt hatte machen können. Auf dem Rückweg von einem Besuch bei der Frau des Dorfschulzen traf sie auf Mai, die mit einem voll bepackten Karren auf dem Weg zum Schloss war.

„Wie lange dauert es noch?“, erkundigte sich diese bei der werdenden Mutter.

„Achtzehn Tage, wenn alles gut läuft und dann – Oh, wie ich sehe, sind die Rapunzeln reif.“ Sie deutete auf eine Schale, deren Tuch etwas verrutscht war. „Kann ich mir also wieder welche holen?“

Über das Gesicht der blonden Frau huschte ein düsterer Schatten, als sie die Erwartungshaltung aus Helens Stimme heraushörte.

„Ich habe dich monatelang versorgt, ohne etwas dafür zu verlangen, obwohl ich mir das eigentlich gar nicht leisten konnte. Und jetzt willst du noch mehr?“

„Dann bezahle ich sie dir“, setzte Helen an, wurde aber von Mais höhnischem Gelächter unterbrochen.

„Erinnere dich der Mengen, die du in den letzten Monaten täglich vertilgt hast. Euer Erspartes wäre nach wenigen Tagen aufgebraucht. Und dann?“

„Bitte, Mai.“ Sie griff nach ihrem Arm. „Nur ein kleines Körbchen voll, dann gebe ich Ruhe. Versprochen.“

„Na schön“, stimmte sie schließlich zu. „Komm heute Abend mit dem Geld zum Tor.“

Ihre Nachbarin neigte dankbar den Kopf und setzte ihren Heimweg fort. Das zufriedene Lächeln, das Mai ihr nachsandte, bemerkte sie nicht mehr.
 

Helen stocherte lustlos in ihren Karotten herum, dem letzten Rest der Ernte aus dem Vorjahr.

„Was hast du?“

„Ich möchte lieber Rapunzeln essen“, murmelte sie. „Gehst du zu Mai und holst mir welche?“

„Du hast ihr versprochen, keine mehr zu verlangen“, entgegnete Jonathan. „Das Körbchen, das sie dir gegeben hat, war nach ein paar Stunden leer und das nächste, das du ihr zwei Tage später – trotz deines Versprechens! – abgeschwatzt hast, genauso. Ich bitte dich, dieser verdammte Salat kann uns nicht all unser bisschen Geld kosten, das wir uns an die Seite gelegt haben.“

„Du verstehst mich einfach nicht!“

Sie schob ihren Teller zurück und legte sich aufs Bett. Jonathan seufzte nur, wenn sie sich so bockig benahm, war mit ihr nicht zu reden. Deshalb beschloss er, es am nächsten Morgen noch einmal zu versuchen und ihr klarzumachen, dass sie es sich beim besten Willen nicht leisten konnten, länger bei Mai einzukaufen.

In der Nacht wurde er durch lautes Stöhnen wach. Helen wälzte sich neben ihm unruhig hin und her. Er rüttelte sie an der Schulter, in dem Glauben, sie träume schlecht, und bemerkte entsetzt, wie heiß sich ihre Haut unter dem Stoff anfühlte. Rasch entzündete er einen Kienspan an dem heruntergebrannten Herdfeuer. In dem flackernden Licht schimmerte ihre Haut feucht, ihre Stirn glänzte vor Schweiß.

„Helen?“, er stieß sie wieder an. „Wach auf!“

Sie reagierte nicht, warf nur den Kopf auf die andere Seite und stöhnte leise. Jonathan stürzte zu dem Wassereimer, den sie sich immer am Vorabend für die Morgenwäsche bereitstellten, warf einen Lappen hinein und legte diesen, kaum ausgewrungen, auf Helens Stirn. Die ganze Nacht machte er kaum ein Auge zu und versuchte ihr Fieber zu senken. Zum ersten Mal seit vielen Jahren blieb seine Werkstatt am nächsten Tag geschlossen. Er verließ nur kurz das Haus, um frisches Wasser und die Hebamme zu holen, damit sie sich Helen ansah. Die alte Frau verabreichte ihr verschiedene Kräutersude und versprach, morgen wieder nach ihr zu sehen.

Als sich zwei Tage darauf immer noch kaum eine Besserung ihres Zustandes eingestellt hatte, empfahl die Hebamme ihm, so schnell es ging den Medikus kommen zu lassen, wollte er nicht beide, Mutter und Kind, verlieren. Er nickte müde, nahm die restlichen Münzen, die sich noch in dem Tontopf befanden, ließ Joey in der Obhut der Alten und machte sich auf den Weg zum Haus des Medikus, das im nächsten Dorf, nahe des Schlosses, lag. Der Besuch des hoch gelehrten Herrn Doktor kostete ihn die letzten Ersparnisse. Umso wütender war er, als sich selbiger als besser gekleideter Quacksalber entpuppte, dem nichts besseres einfiel, als Helen zur Ader zu lassen, um sie von den „schlechten Säften“ zu reinigen, wie er sich ausdrückte. Die kleine Besserung ihres Zustandes, welchen die Hebamme erreicht hatte, war mit einem Schlag verflogen. Jonathan musste an sich halten, ihm nicht einen saftigen Tritt in den Hintern zu verpassen, als er ihm die Tür wies.

„Halt dich von deiner Mutter fern, vielleicht ist es ansteckend“, herrschte er seinen Sohn an, der neben ihr auf dem Boden kniete und ihr über das heiße Gesicht strich.

„Aber sie hat gerade was gesagt.“

Jonathan war mit zwei Schritten bei ihr und beugte sich über sie, um die schwach flüsternde Stimme besser zu hören.

„Rapunzeln ...“, hörte er zwischen dem Keuchen, „ich brauche ... Rapunzeln ...“

Er verdrehte die Augen, jetzt ging das wieder los. Andererseits hatten sie alles andere ausprobiert. Es war schon Abend, er konnte nur hoffen, dass Mai überhaupt noch wach und vor allem willens war, ihm die Rapunzeln auch ohne sofortige Bezahlung zu geben. Er konnte ihr nur anbieten, die Rechnung später zu begleiten, wenn seine Kunden ihre Schuhe abgeholt hatten. Jonathan klopfte, wartete mehrere Minuten und klopfte wieder. Auf der anderen Seite des Tors rührte sich nichts.

„Mai, macht bitte auf! Es ist dringend!“

Da er keine Antwort erhielt, musste er unverrichteter Dinge wieder abziehen. Zu Hause setzte er sich an den Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, und überlegte, was er tun sollte. Mai war anscheinend nicht da, Helen ging es zusehends schlechter und wenn sie nicht bald ihre Rapunzeln bekam ... Er sah schon vor sich, wie sie ihren Sarg aus dem Haus trugen.

„Gott möge mir verzeihen“, sagte er und griff nach dem Korb.

Nach einem Blick auf Helen und den schlafenden Joey schlich er nach draußen und zu der Mauer, die Mais Garten umgab. Er wusste, dass sie an einer Stelle etwas niedriger war. Dort kletterte er drüber und landete mitten zwischen Liebstöckel und Pfefferminze. Durch den Mond hatte er genug Licht, um zwischen den unzähligen verschiedenen Pflanzen das Beet mit den Rapunzeln zu finden. So schnell er konnte, raffte er die zarten Pflanzen in seinen Korb, bis er auf einmal ein lautes Räuspern hinter sich hörte und herumfuhr.

„Guten Abend, Jonathan“, begrüßte Mai ihn mit einem leutseligen Lächeln. „Eine schöne Nacht für eine Diebestour, nicht wahr?“

„Ihr missversteht d-das“, stammelte er. „Ich wollte nicht ... Es hat niemand aufgemacht und meine Frau braucht dringend Rapunzeln. Sonst stirbt sie.“

„Morgen wäre ich auf den Markt gegangen.“

„Wir haben das letzte Geld dem Medikus gegeben.“ Er blickte schuldbewusst zu Boden. „Ich hätte sie nicht bezahlen können.“

„Du weißt, dass man Dieben hierzulande gewöhnlich eine Hand abhackt?“

Der Schuhmacher schrak zusammen. Wenn Mai ihn anzeigte, war es das für ihn. Mit nur einer Hand würde er seiner Arbeit nicht mehr nachgehen können.

„Ich könnte mich aber auf einen Tausch einlassen“, fuhr sie nachdenklich fort.

„Sagt, was Ihr verlangt, Ihr sollt es haben, wenn ich Helen nur die Rapunzeln bringen darf.“

„Deine Frau wird bald ein Mädchen zur Welt bringen. Das verlange ich dafür.“

„Aber –“, erhob er Einspruch, doch verstummte, als sie die Hand hob.

„Ein Leben für ein Leben“, sagte Mai. „Nimm die Rapunzeln und rette deine Frau, doch euer Kind gehört mir.“

Den Tränen nahe, ergriff Jonathan die ihm hingestreckte Hand und besiegelte damit ihren Tausch.
 

Jonathan ging vor dem Haus unruhig auf und ab. Um sich zu setzen, war er viel zu nervös. Gestern am späten Abend, vier Tage zu früh, hatten bei Helen die Wehen eingesetzt. Seither kümmerten sich die Hebamme und ein paar Frauen aus dem Dorf um sie. Er und Joey waren für die Nacht in das Haus des Schmieds umquartiert worden, damit sie nicht im Weg herumstanden und die Frauen bei ihrer Arbeit behinderten. Joey bekam nicht viel von der Nervosität seines Vaters mit. Er hockte auf der kleinen Holzbank, die unter dem Fenster stand, ließ die kurzen Beine in der Luft baumeln und starrte angestrengt auf den Himmel. Jonathan hatte den Lärm, den er mit seinen Bauklötzchen veranstaltete, irgendwann nicht mehr ausgehalten und ihm aufgetragen, Ausschau zu halten, wann der Klapperstorch kam. Auf diese Weise wusste er den Jungen beschäftigt, der sehr stolz darauf war, so eine wichtige Aufgabe übertragen zu bekommen.

Die Geburt selbst war nicht der alleinige Grund für Jonathans Unruhe. Wenn Mais Worte eintrafen, hatten sie schon bald eine Tochter, die sie der Hexe, wie er sie inzwischen heimlich nannte, übergeben mussten. Durch die Rapunzeln, die Mai ihnen in den letzten anderthalb Wochen täglich vor die Tür gestellt hatte, war Helen schnell wieder zu Kräften gekommen. Von dem Preis aber, den er für ihre Rettung versprochen hatte, hatte er ihr nichts erzählt. Seine Frau wäre fähig gewesen und hätte aufgehört, die Rapunzeln zu essen, nur damit ihre ungeborene Tochter bei ihnen bleiben konnte.

Endlich, nach einer Ewigkeit, wie es dem Schuhmacher vorkam, war aus dem Inneren des Hauses ein spitzer Schrei zu hören. Jetzt hielt ihn nichts mehr im Freien, er riss die Tür auf und drängte sich an den Frauen vorbei, die in einem Kreis um die junge Mutter standen. Helen sah erschöpft aus, das Gesicht noch feucht von der Anstrengung, aber sie lächelte. In ihren Armen lang ein Stoffbündel, aus dem ein brauner Haarflaum herausschaute.

„Es ist ein Mädchen“, sagte die Hebamme. „Meinen Glückwunsch,

Jonathan, deine Frau hat sich tapfer gehalten. Nach dem Fieber neulich hatte ich befürchtet, sie würde es nicht überstehen.“

„Sie ist schon da?“

Joey steckte den Kopf durch die offen stehende Tür und sah schmollend zu dem Bett. Da hatte er sich solche Mühe gegeben und trotzdem nicht den Klapperstorch gesehen. Das Biest musste an ihm vorbeigeflogen sein, als er sich an der Nase gekratzt hatte. Mit der ganzen Hoheit seiner zwei Jahre und drei Monate stapfte er zu ihnen herüber, um das Wesen in Augenschein zu nehmen, das seine Mutter zärtlich in den Armen wiegte. Er kletterte auf das Bett und beugte sich über das Bündel.

„Das ist deine Schwester“, stellte Helen sie ihm vor.

„Hast du schon einen Namen für sie?“, fragte die Hebamme.

„Ich –“

„Serenity!“, krähte Joey dazwischen und sah erfreut, wie sie die Augen ein Stück öffnete. „Gefällt ihr. Serenity, Serenity, Serenity“, begann er zu singen.

„Entschuldigt, den Namen hat er vor ein paar Tagen bei mir aufgeschnappt“, erklärte Tea, die auf der anderen Seite des Bettes stand. Sie war Helens Schwester und hatte der Hebamme während der Geburt assistiert.

„Schon gut, warum eigentlich nicht? Der Name gefällt mir.“ Helen strich über die winzige Nase.

„Und Serenity scheint ihn auch zu mögen.“ Tea griff in den Lederbeutel, den sie am Gürtel trug. „Ich habe was für Joey und die Kleine. Hab ich neulich am Fluss entdeckt.“

In ihrer Hand lagen zwei kleine Steine, die der Fluss zu fast perfekten, glatten Ovalen geschliffen hatte. Sie schimmerten weiß wie der Mond und waren an einem Ende vorsichtig durchbohrt worden, um ein dünnes Lederband durchzuziehen. Tea legte Joey eine der Ketten um den Hals.

„Und Serenity? Kriegt die ihre nicht?“

„Doch, aber erst, wenn sie älter ist. Bei einem kleinen Kind wäre das zu gefährlich. Bis dahin verwahre ich sie“, erwiderte seine Tante. „Und du legst sie bitte auch ab, wenn du abends schlafen gehst.“
 

Joey konnte sich an seiner kleinen Schwester gar nicht satt sehen. Als die anderen Frauen das Haus verlassen hatten, hockte er sich neben die Wiege, in der er vor zwei Jahren selbst gelegen hatte, und beobachtete sie beim Schlafen. Helen war dies mehr als recht, sie wünschte sich nur noch Ruhe. Während der Woche, in der sie nach der Geburt das Bett hüten musste, kam Tea jeden Tag vorbei, um sich um den Haushalt zu kümmern. Der Schuhmacher konnte es sich nicht leisten, seine Werkstatt länger geschlossen zu halten und selbst bei seiner Familie zu bleiben. Jeden Abend, wenn er nach Hause kam, machte er sich darauf gefasst, Helen in Tränen aufgelöst über einer leeren Wiege vorzufinden, doch auch nach zwei Wochen war Mai noch immer nicht gekommen, um das Mädchen von ihnen einzufordern. Langsam wuchs in ihm die Hoffnung, sie habe es sich anders überlegt und er müsse seiner Frau nicht das dunkle Geheimnis beichten, das ihm auf der Seele lastete.

Am Vorabend von Serenitys Taufe klopfte es an der Tür.

„Machst du mal auf“, bat Helen, die ihre Tochter gerade frisch gewickelt hatte und sie in die Wiege zurücklegen wollte. In Jonathan machte sich ein mulmiges Gefühl breit, als er ging und öffnete.

„Einen schönen guten Abend“, grüßte Mai lächelnd. „Ich komme, um das zu holen, was du mir versprochen hast, Jonathan.“

„Versprochen? Was hat er dir versprochen?“, wunderte sich seine Frau.

„Er hat dir nichts davon erzählt?“

„Mai, bitte! Ihr könnt alles haben, nur nicht –“

„Du hast mir dein Wort gegeben, nun halte es auch.“

Was hast du ihr versprochen?“

Helen sah ihren Mann scharf an und stemmte die Hände in die Hüften.

„Als es dir so schlecht ging ... du wolltest unbedingt Rapunzeln“, stammelte er hilflos, „und da ... ich hab ihr versprochen, dass sie dafür ... dass sie Serenity dafür bekommt.“

„Hättest du mich nur sterben lassen! Mai, bitte!“

Um die Mundwinkel der Blondine bildete sich ein harter Zug. Damit hatte sie gerechnet. Bedürften die Menschen ihrer Hilfe, versprachen sie ihr alles, wenn es aber daran ging, das Versprochene zu erfüllen, wollte sich niemand mehr daran erinnern. Joey wurde von dem Streit der Erwachsenen wach und sah sich verstört um. Er verstand nicht wirklich, was los war, nur dass die Frau, die er ein paar Mal gesehen hatte, Serenity mitnehmen wollte.

„Nicht mitnehmen! Seren bleibt bei Mama!“, platzte er in die immer hitziger werdende Diskussion.

„Halt deinen Mund, Bengel, und geh wieder ins Bett“, befahl ihm sein Vater.

„Mach nicht so einen Lärm, du weckst deine Schwester auf.“

Mai reichte es, sie schob Jonathan zur Seite und schritt auf die Wiege zu. Joey ignorierte die bösen Blicke seiner Eltern und stellte sich ihr in den Weg, die Arme schützend vor der Wiege ausgebreitet.

„Seren bleibt hier.“

Sie beugte sich zu ihm herunter und strich ihm durch das dichte blonde Haar.

„So ein tapferer kleiner Kerl. Du magst deine Schwester sehr gern, nicht wahr?“ Als er nickte, fuhr sie fort: „Wärst du denn bereit, an ihrer Stelle mit mir zu gehen? Ich werde mich gut um dich kümmern, das verspreche ich dir – und ich breche mein Wort nicht. Aber wir werden in ein anderes Dorf ziehen, das heißt, dass du deine Schwester so bald nicht wiedersehen wirst.“

Der Junge biss sich auf die Lippe, während er überlegte. Er sollte an ihrer Stelle gehen? Gut, vielleicht merkten seine Eltern das ja gar nicht, wenn er nicht mehr da war. Meistens hatten sie anderes zu tun und überließen ihn sich selbst.

„Gut, mach ich.“

„Du willst gehen?“ Helen konnte es nicht glauben.

„Ein Maul weniger, das wir zu stopfen haben“, antwortete ihr Mann pragmatisch. „Er frisst uns die Haare vom Kopf mit seinem Appetit.“

„Verabschiede dich“, sagte Mai, „wir brechen gleich auf.“

Joey drückte seiner Schwester einen Kuss auf die Wange, umarmte seine Mutter noch einmal kurz und ließ sich dann von Mai auf den Arm nehmen, nachdem er ihre Frage verneint hatte, ob er sich nicht auch von seinem Vater verabschieden wolle. Vor dem Haus stand Mais Planwagen. Sie setzte Joey auf den Kutschbock, stieg hinterher und nahm die Zügel in die Hand. Auf ihr Zungenschnalzen setzte sich der Esel, der vor den Wagen gespannt war, in Bewegung, der tiefer sinkenden Sonne folgend.

Maskerade

Kapitel 2

Maskerade
 

„Joey, wo bleibst du mit den Kräutern?“, rief Mai nach ihrem neunjährigen Ziehsohn.

Sieben lange Jahre waren vergangen, seit sie ihn mit sich genommen hatte, und in dieser Zeit hatte sie den aufgeweckten Blondschopf sehr lieb gewonnen, trotz des Unsinns, den er gern anstellte. Erst vorgestern hatte sich der Bäcker bei ihr beschwert, Joey und der Sohn des Metzgers hätten sich an seinen frisch gebackenen Kuchen vergriffen. Sie hatten sich am Rand von Dracis, der Hauptstadt des Fürstenreiches, in einem Haus niedergelassen, das wie Mais früherer Wohnsitz von einem großen Kräuter- und Gemüsegarten umgeben war. Den größten Teil der dort gezüchteten Pflanzen verkaufte sie an die Küche des fürstlichen Hofes, was übrig blieb, wanderte in den eigenen Kochtopf. Die Frauen der Stadt kamen dagegen zu ihr, um sie um einen Rat oder eine ihrer Kräutertinkturen zu bitten, die sie als Mittel gegen allerlei Krankheiten herstellte.

„Bin doch schon da, Mai.“

Er schleppte einen Korb voll frischer Brennnesseln herein und stellte ihn auf dem Tisch ab. Seine Arme waren von oben bis unten gerötet und ließen Mai den Kopf schütteln.

„Wie oft habe ich dir gesagt, dass du vorsichtig sein musst, wenn du Brennnesseln pflücken willst?“, seufzte sie, griff nach einer kleinen Flasche und träufelte Spitzwegerichsaft auf seine Arme, um das Brennen zu lindern. „Besser?“

„Ja. Seto meinte, ich wär ’n Mädchen, wenn ich Handschuhe trage. Das nächste Mal soll er welche pflücken.“

„Vergiss nicht, dass er der Prinz ist und dass Fürst Gozaburo es gar nicht gern sieht, wenn ihr zusammen spielt.“

„Er ärgert mich mehr, als dass wir spielen“, brummte Joey. „Von wegen er könne schon so toll mit dem Schwert umgehen und so, und ich sei nicht mal in der Lage, einen Stock richtig zu halten. Pah! Wenn ich einen Lehrer hätte, der mich im Schwertkampf ausbildet, dann würd ich es ihm schon zeigen! Aber so was von – und dann kriecht er vor mir auf dem Boden.“

Allein die Vorstellung ließ ihn breit grinsen.

„Jetzt mach erst mal deine Matheaufgaben, du großer Ritter“, unterbrach sie ihn.

„Och, Mann“, maulte er, holte seine Schreibtafel und trottete zu dem Tisch, um sich den ungeliebten Hausaufgaben zu widmen.

Einige Stunden später, Joey lag nach der üblichen abendlichen Diskussion in seinem Bett und schlief seit einer Weile tief und fest, klopfte es an der Tür. Mai legte ihre Näharbeit beiseite, an der sie im Schein einer Öllampe gesessen hatte, und schob den schweren Riegel zurück. Der Mann, der draußen stand, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Auch wenn er sich in einen weiten Umhang gehüllt und sich die Kapuze tief in das Gesicht gezogen hatte, hatte Mai ihn sofort erkannt.

„Fürst Gozaburo“, sie verbeugte sich tief vor ihm. „Was führt Euch zu mir?“

„Sei still und lass mich rein. Bist du alleine?“

„Mein Sohn schläft.“

Mai hatte kein gutes Gefühl dabei, als sie zur Seite trat und ihm Platz machte. Gozaburo warf einen knappen Blick auf den leise schnarchenden Jungen, setzte sich an den Tisch und wartete, bis sie ihm gegenüber Platz genommen hatte.

„Ich brauche einen Trank von dir.“

„Ist Eure Frau nicht wohlauf?“, erkundigte sie sich besorgt. Die beiden Frauen verstanden sich gut; Mai wusste, dass die Fürstin unter der Gefühlskälte ihres Ehemannes litt.

„Ihretwegen bin ich nicht gekommen. Was ich von dir will, ist das stärkste Gift, das du auf Lager hast.“

„So etwas werdet Ihr in meinem Haus nicht finden“, wich sie aus. In

ihrem Garten wuchsen zwar einige Giftpflanzen und auf dem obersten Brett des Regals, in dem sie ihre Tinkturen verwahrte, standen Tollkirschensaft und anderes, doch all das verwendete sie rein medizinisch, wie sie es einst ihrer Meisterin geschworen hatte. Gozaburo beugte sich ein Stück vor und funkelte sie mit kalten Augen an.

„Lüg mich nicht an, du Hexe. Ich weiß, dass du so etwas hast und du wirst es mir geben.“

„Ich ... ich bin eine einfache Händlerin, keine Hexe. Wenn Ihr Gifte wollt, müsst Ihr eine solche oder Euren Medikus bemühen, Euch etwas zu mischen.“

Die Hand des Fürsten landete mit einem dumpfen Schlag auf der Tischplatte. Mai zuckte zusammen und sah von ihrem Rock auf, in den sie ihre Finger gekrampft hatte.

„Strapaziere meine Geduld nicht, Weib. Im Morgengrauen erwarte ich dich mit dem, was ich wünsche, am Schlosstor oder du landest im Kerker. Das Volk wäre sicher erfreut, wieder einmal einer Hexenverbrennung zuzusehen.“

Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, ging er und ließ die blonde Frau in tiefer Verzweiflung zurück. Über eine halbe Stunde ging sie auf und ab und überlegte, was sie tun sollte. Sie hatte immer gewusst, dass es dazu kommen konnte, selbst wenn sie hier nur ihr Wissen über die Kräuter anwandte und nicht die anderen Künste, die man sie gelehrt hatte. Schließlich stand ihr Entschluss fest.

„Was ’n los?“, murmelte Joey verschlafen, als sie ihn wachrüttelte.

„Zieh dich an und pack deine Sachen, wir verreisen.“

„Mitten in der Nacht?“

„Ich erkläre dir alles später, jetzt beeil dich.“

Am nächsten Mittag hielt ein Trupp Soldaten vor dem Haus und trat, nachdem niemand auf den Befehl zu öffnen reagiert hatte, die Tür ein. Die Schränke und Regale waren leer, im Stall fehlten Esel und Wagen. Dem wütenden Fürsten konnte nur noch gemeldet werden, Mai und ihr Sohn seien spurlos verschwunden.
 

„Ich will das nicht anziehen!“ Joey stampfte mit dem Fuß auf und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Hör auf, so bockig zu sein.“ Wieder versuchte Mai, ihm den Stoff über den Kopf zu streifen und wurde von zwei rasch auseinander fahrenden Armen abgewehrt.

„Aber ich bin ein Junge! Ich will wieder eine Hose tragen, keine Kleider.“

Sie ließ den Saum des hellgrünen Kleides sinken und sah ihn ernst an.

„Willst du, dass uns Gozaburos Männer finden? Glaubst du etwa, mir mache dieses ganze Versteckspiel Spaß?“

„Nein“, gab Joey niedergeschlagen zurück und ließ sich endlich das Kleid überstreifen, das Mai ihm auffordernd hinhielt.

Ihre überstürzte nächtliche Flucht war annähernd drei Jahre her und noch immer ließ der Fürst von Dracoria nach ihnen suchen, da Mai angeblich Pegasus von Crawford, einen Graf aus Gozaburos Gefolge, vergiftet hatte. Der Graf war in den frühen Morgenstunden tot in seinem Bett aufgefunden worden, neben sich eine Phiole der Art, wie Mai sie verwendete. Seither zogen Mai und Joey durch die Lande, ohne je lange an einem Ort zu bleiben. Vor zwei Tagen hatten sie die Grenzen von Alvaria passiert, dem Nachbarreich von Dracoria.

Auch ihr Aussehen hatten sie verändert. Mais Haar war von gefärbten grauen Strähnen durchzogen, ihre Haut sah runzlig aus und ließ sie um Jahrzehnte älter wirken. Wäre Joey zufällig seinen leiblichen Eltern über den Weg gelaufen, hätten sie ihn nie und nimmer erkannt. Die blonden Haare hingen ihm in langen sanften Wellen bis zur Hüfte herunter, mal offen, mal zu einem dicken Zopf gebändigt. Seine weichen Gesichtszüge hatten Mai auf die Idee gebracht, ihn als Mädchen auszugeben, so dass sie ihn in der Öffentlichkeit nur noch mit Rapunzel ansprach, ob ihm diese Maskerade passte oder nicht.
 

„Im Jahre 1243 bestieg König Orin den Thron und schlug drei Jahre später ... Hört Ihr mir überhaupt zu, junger Prinz?“

Yami, seines Zeichens königlicher Hoflehrer, drehte sich zu seinen beiden Schützlingen um. Über seine Lippen kam ein tiefes Seufzen. So manches Mal war er sich nicht sicher, ob sein Amt nun eine Ehre oder eine Strafe war. Ryou, der jüngere der beiden Zwillingsbrüder, hing wie immer an seinen Lippen und sog jedes Wort begierig auf, wie ein Schwamm. An ihm hatte Yami nichts auszusetzen, außer dass sein Musterschüler vielleicht fast schon ein wenig zu brav war. Ihm hätte ein wenig mehr Temperament nicht geschadet, über das sein Bruder Bakura dafür im Überfluss verfügte. Davon und von seiner ewig mangelnden Aufmerksamkeit konnte Yami ein trauriges Lied singen. Sein Stock, mit dem er an der Tafel auf die Daten gezeigt hatte, knallte vor Bakura auf den Tisch. Ryou fuhr zusammen, der Ältere dagegen sah seinen Lehrer mit offensichtlichem Desinteresse an.

„Ja?“

„Wie erfreulich, endlich habe ich Eure Aufmerksamkeit“, brummte Yami ungehalten. „Ich würde es begrüßen, wenn Ihr meinem Unterricht ebenfalls folgen würdet.“

„Wozu brauch ich diesen ganzen Geschichtsstuss? Immer nur langweiliges Auswendiglernen oder Rechnen.“

Nicht schon wieder eine dieser Grundsatzdiskussionen! Sich selbst verfluchend, dass er diese Stelle wider besseres Wissen angenommen hatte, sagte Yami zum bestimmt hundertsten oder tausendsten Mal: „Ihr seid der Kronprinz und werdet eines Tages dieses Land regieren.“

Spätestens an dem Tag, an dem Bakura die Krone auf sein weißes Haupt gesetzt bekam, würde er weit weg sein, das hatte er sich geschworen. Er sah das blühende Reich Alvaria bereits den Bach runtergehen und das zu erleben, wollte er sich nicht antun. Bakura verdrehte wie üblich die Augen. Als ob er darum gebeten hätte, die dreiundzwanzig Sekunden eher das Licht der Welt zu erblicken als sein Bruder. Leider entschieden diese Sekunden darüber, wer von ihnen der Nachfolger ihres Vaters werden sollte. Nach einer weiteren Empfehlung Yamis, sich Notizen zum Unterrichtsstoff zu machen statt seine Schreibtafel mit Kritzeleien zu beschmieren, wandte er sich wieder der Tafel zu, um mit seinem Vortrag über die glorreichen Ahnen des Königshauses fortzufahren. Bakura gähnte demonstrativ, lehnte sich zurück und begann mit seinem Stuhl zu kippeln, bis er fast hintenüber fiel. Ryou sah ihn nur kurz missbilligend an und korrigierte die Lebensdaten von Tarien dem Wütenden, die Yami eben genannt hatte. Würden sie sich äußerlich nicht gleichen wie ein Ei dem anderen, hätte es gut möglich sein können, dass einer von ihnen adoptiert war.
 

„Du bleibst hier im Wagen, während ich meine Einkäufe mache“, sagte Mai und langte hinter sich, um nach ihrem Weidenkorb zu greifen.

„Kann ich nicht mitkommen?“, fragte Joey mit der piepsigen Stimme, die er sich angewöhnt hatte, und setzte seinen Bettelblick auf. „Im Wagen ist es immer so langweilig und du bist stundenlang weg.“

„Ich beeile mich, versprochen.“

Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und kletterte vom Wagen, den sie unweit vom Schloss abgestellt hatte. Es war Markttag, ihre Vorräte neigten sich wieder einmal dem Ende entgegen. Durch das unstete Leben hatten sie keine Möglichkeit mehr, ihr Gemüse selbst anzubauen.

„Das sagst du jedes Mal“, murmelte er, kaum dass sie außer Hörweite war. Immer wenn sie in einen Ort kamen, hieß es, er solle im Wagen bleiben und sich möglichst nicht sehen lassen. Er hatte keine Lust darauf, sich dauernd unsichtbar zu machen und ruhig zu warten, während die Kinder draußen im Sonnenschein über den Marktplatz tollten und spielten. Er war zwölf, war es da zu viel verlangt, sich ein paar Freunde zu wünschen, mit denen er etwas unternehmen konnte?

Vorsichtig spähte er durch die Planen, mit denen der Wagen verhängt war, hinaus auf den Markt. An den Ständen herrschte ein reges Kommen und Gehen, die Händler riefen lauthals ihre Waren aus und versuchten die Marktbesucher zu sich zu locken. Die unterschiedlichsten Gerüche drangen zu ihm, menschliche wie tierische, ein ganzes Duftpotpourri kam vom Blumenstand und über allem schwebte der süße Duft von frisch gebackenem Kuchen und Gebäck. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er ärgerte sich, Mai nicht gebeten zu haben, ihm etwas mitzubringen. Selbst hatte er keine Münzen bei sich, sonst hätte er die Gelegenheit genutzt, kurz aus dem Wagen zu schlüpfen und sich etwas zu holen.

Einen brummigen Ausdruck im Gesicht, zog er die Plane wieder ordentlich zu und setzte sich auf eine Kleidertruhe. Er hasste es, nichts tun zu können außer warten. Die Zeit kroch unendlich träge dahin, bis ihm das Lachen der spielenden Kinder wie Hohngelächter vorkam.
 

Zur selben Zeit und in gar nicht allzu weiter Entfernung gingen dem jungen Kronprinzen ähnliche Gedanken durch den Kopf. Nach einer kurzen Mittagspause stand nun Mathe auf dem Programm, ein Fach, zu dem er eine zärtliche Hassbeziehung pflegte, während sein streberhafter kleiner Bruder wie immer so gar keine Probleme zu haben schien. Bakura sah sehnsüchtig aus dem Fenster in den Hof hinab, wo sein bester Freund Duke stand und ihm zuwinkte. Duke war der Sohn des Grafen von Gayis, des königlichen Schatzmeisters, und ging in der Stadt auf die private Schule, welche den Kindern der Adligen und reichen Bürger vorbehalten war. Bakura wollte selbst gern dorthin, doch sein Vater war leider der irrigen Ansicht, er würde bei einem Privatlehrer mehr lernen.

Er warf einen Blick zu Yami und Ryou, beide waren in die Matheaufgaben vertieft, und tastete nach dem kleinen Dolch, der am Gürtel an seiner Seite befestigt war. Sein Vater hatte ihn und einen weiteren, identischen, zum letzten Geburtstag der beiden Jungen anfertigen lassen. Bei Ryous war es zweifellos eine Verschwendung des teuren Stahls und der kostbaren Edelsteine, mit denen der Griff verziert war, gewesen, fand Bakura. Sein Dolch hing unbenutzt in seinem Zimmer an der Wand und staubte voll. Seine Finger glitten über die Lederscheide, zogen die Klinge langsam heraus und schoben sie über die Tischkante. Die frühe Nachmittagssonne zauberte mithilfe des glänzenden Metalls funkelnde Lichtreflexe an die Wände. Er richtete sie aus, bis sie auf Yamis Hinterkopf trafen. Der Lehrer wandte sich zu ihm um, um ihn für die nächste Aufgabe an die Tafel zu beordern.

„Würdet Ihr – Prinz Bakura!“, unterbrach er sich selbst, als er geblendet wurde und die Hand vor die Augen schlug, um das grelle Licht abzuwehren. „Was soll das?“

Er schnappte nach dem Dolch, den der Angesprochene schnell unter dem Tisch verschwinden ließ, um ihn in Sicherheit zu bringen.

„Die Waffe, bitte“, verlangte Yami und baute sich vor seinem Schüler auf. Dieser schüttelte nur den Kopf und sah ihn mit verkniffener Miene an. Er dachte gar nicht daran, sein Lieblingsstück herzugeben.

„Euer Hoheit, gebt mir die Waffe.“

„Nein!“

Die Miene des Erwachsenen verfinsterte sich zusehends, er streckte fordernd die Hand aus. Bakura wich vor ihm zurück, sprang plötzlich auf und lief aus dem Raum.

„Euer Hoheit!“

Falls Yami ernsthaft dachte, er würde umdrehen, saß er einem gewaltigen Irrtum auf. Jetzt hatte er sich schon spontan selbst von der Mathestunde freigestellt, da konnte er die so gewonnene Zeit auch sinnvoll nutzen. Duke hatte bestimmt nichts gegen einen Ausflug. Er hastete durch die Gänge, in den Hof hinunter und sah gerade noch, wie sein Freund von dessen Vater fortgeführt wurde, um sich an die Hausaufgaben zu setzen. Der Weißhaarige brummte ungehalten. Einen gemeinsamen Ausritt konnte er demnach vergessen. Zwei Stockwerke über ihm wurden die Fenster aufgerissen, Yami streckte den Kopf heraus und rief den Wachen am Tor zu, nach seinem entflohenen Schüler zu suchen.

Bakura duckte sich hinter einem Karren und wartete, bis die Wachen vorbeigelaufen waren. Sich immer möglichst im Schatten haltend, hastete er über den Hof, zum Tor hinaus. Die immergrünen, zu Kegeln geschnittenen Buchsbäume, mit denen die Auffahrt zum Schloss bepflanzt war, gaben ihm weitere Deckung, bis er das Schlossgelände hinter sich ließ und in die Stadt kam. Er zog den Umhang, den er auf seiner Flucht noch rasch aus seinem Zimmer geklaubt hatte, enger um sich und setzte die Kapuze auf. Mit einer so seltenen Haarfarbe geboren worden zu sein, war für ihn ein Fluch.
 

Joey rutschte auf seinem Sitz hin und her, um eine bequemere Lage zu finden. Die Füße schliefen ihm schon ein. Wieder sah er nach draußen, von Mai war nichts zu sehen. Er hatte keine Lust mehr zu warten. Ein paar Minuten wollte er wenigstens raus, um sich die Füße zu vertreten. Er schlug die Plane zurück, kletterte aus dem Wagen und schloss sie hinter sich mit einem bestimmten Knoten, den Mai ihm gezeigt hatte. Die Sonne strahlte ihm warm ins Gesicht und brachte das lange Haar zum Leuchten.

„Hey, wer bist du?“, sprach ihn ein Mädchen an, das sich aus der Gruppe der spielenden Kinder gelöst hatte und ihn neugierig ansah. „Dich kenn ich gar nicht, bist du neu hier?“

„Nur auf der Durchreise. Ich heiße Rapunzel“, stellte sich Joey lächelnd vor.

„Rapunzel? Lustiger Name. Ich bin Marie“, kicherte sie. „Willst du mit uns spielen?“

Joey blickte unschlüssig zu den Jungen und Mädchen herüber und nickte schließlich. Es war lange her, seit er zuletzt mit anderen in seinem Alter etwas hatte machen können. Sie spielten Abwerfen mit einem Ball, der aus alten Stoffresten zusammengesetzt war. Joeys blasse Wangen bekamen schnell Farbe, während er in seinem Kleid hin und her lief, um dem Ball auszuweichen. Nach und nach schieden die Kinder aus, bis nur noch wenige im Spiel waren, darunter Joey. Flink war er immer schon gewesen. Er versuchte seinem Gegner den Ball abzunehmen, um selbst der Jäger zu sein und die Verbliebenen abzuschlagen, doch Marie war schneller und warf nun selbst nach ihm. Er duckte sich, der Ball flog über seinen Rücken hinweg in eine Seitengasse.

„Ich hole ihn!“, rief er und lief los, die Chance wollte er sich nicht entgehen lassen.

Die Gasse lag in tiefen Schatten zwischen zwei mehrfach aufgestockten Fachwerkhäusern. Dem Ball folgend, der über den schmutzigen Boden rollte, achtete er nicht auf das, was direkt vor ihm war, bis er gegen etwas stieß und einen lauten Fluch hörte, noch während er vorwärts stolperte und fiel.

„Hast du keine Augen im Kopf, dumme Gans?“, wurde er angeknurrt. Er öffnete die Augen und starrte geradewegs in ein Paar rehbrauner Iriden, die ihn missgelaunt anfunkelten. „Geh von mir runter, aber ein bisschen plötzlich!“

Joey zog sich zurück, beleidigt wegen der „dummen Gans“ und zugleich peinlich berührt, weil sie direkt aufeinander gefallen waren. Er konnte nur hoffen, dass sein Rock das, was ihn als Junge verriet, gut genug verborgen hatte. Bei dem Gedanken schoss ihm nachträglich das Blut ins Gesicht. Der Junge, der unter ihm gelegen hatte, erhob sich und klopfte sich den Staub vom Umhang, immer noch verärgert über den Zusammenprall. Die Kapuze war verrutscht und offenbarte einen Teil der weißen Haarmähne. Die beiden Kinder musterten einander von oben bis unten. Bakuras Hand schoss ohne Vorwarnung vor und griff in Joeys offenes Haar.

„Aaaau! Spinnst du?“, schrie er, als Bakura daran zog, und schlug nach ihm.

„Rapunzel, spielen wir jetzt weiter oder nicht?“, riefen die anderen Kinder auf dem Marktplatz.

„Komme!“, antwortete Joey und griff, den Blick nach wie vor ärgerlich auf sein Gegenüber gerichtet, nach dem Ball, mit dem er zurück zu seinen Spielgefährten lief. Bakura folgte ihm bis zum Rand der Gasse, verließ sie aber nicht. Er hätte gern selbst mit ihnen gespielt ... wenn sie nicht der Meinung wären, ihn immer gewinnen lassen zu müssen. Wo blieb der ganze Spaß, wenn er sich nicht mal anstrengen durfte?

Lange konnte Joey das Spiel mit seinen neuen Freunden nicht genießen. Mai entdeckte ihn, als sie gerade in der dritten Runde waren. Den mit Lebensmitteln voll gepackten Korb noch am Arm und einen Ausdruck im Gesicht, der von Unheil kündete, schlängelte sie sich durch die Kinder zu ihm durch, packte ihn am Arm und zog ihn zum Wagen zurück. Auf dem ganzen Rückweg zu der Hütte, in der sie momentan ihr Quartier hatten, machte sie ihm Vorwürfe, von denen er nicht mal die Hälfte nachvollziehen konnte. War es denn so schlimm, mal ausnahmsweise ein paar Minuten mit Gleichaltrigen zu spielen? Keiner hatte bemerkt, dass sich hinter dem Kostüm des Mädchens ein Junge verbarg. Mai gab ihm keine Gelegenheit, sich großartig zu verteidigen, schnitt ihm mitten im Satz das Wort ab und teilte ihm mit, er habe die nächsten Tage Hausarrest.
 

Seit ihrem Ausflug nach Alva war rund einer Woche vergangen und Joey wurde das Gefühl nicht los, ständig von Mai beobachtet zu werden. Er hatte noch einmal versucht, ihr die Angelegenheit zu erklären, doch sie hatte ihn mit beleidigter Miene nach draußen geschickt. Mindestens genauso viele, wenn nicht noch mehr Gedanken machte er sich darüber, was seit neuestem mit seiner Stimme los war. Mal klang sie so hoch wie die, mit der er in seiner Verkleidung als Mädchen sprach, im nächsten Moment sprang sie ohne sein Zutun zwei oder drei Oktaven tiefer, dass er sich an das Brummen eines Bären erinnert fühlte. Heute Morgen beim Frühstück war es Mai aufgefallen, der Blick, den sie ihm daraufhin zugeworfen hatte, hatte ihm einen kalten Schauer über den Rücken geschickt, den er sich nicht erklären konnte.

„Wo bleibt sie überhaupt so lange?“, murmelte er und sah zur Tür. Es dämmerte schon, sonst war sie spätestens um diese Zeit zurück. Sein Magen meldete sich mit lautem Knurren. Joey stand auf und wanderte zu der Kochstelle hinüber, über der auf einem eisernen Dreibein ein Kessel mit Kartoffelsuppe stand. Mai kam bestimmt bald, da würde sie nicht böse sein, wenn er ihr Essen schon mal aufwärmte. Er legte eine Handvoll Reisig auf die schwachen Glutreste und legte, als die Flammen größer wurden, Holz nach. Hinter ihm ging die Tür auf und wurde wieder geschlossen.

„Hallo, Mai“, drehte er sich zu ihr mit strahlendem Lächeln um. „Du kommst spät.“

„Ich weiß“, antwortete sie und hängte ihren Umhang an einen Haken neben der Tür. „Nach dem Essen gehen wir noch mal weg.“

„Es wird schon dunkel“, wandte er vorsichtig ein. „Ist ein Ausflug da nicht zu gefährlich?“

„In diesem Fall nicht. Geh deine Sachen zusammenpacken.“

Mai wandte sich dem Kessel zu und begann konzentriert in der Suppe zu rühren, während ihr Ziehsohn durch die Hütte lief und seine Kleider und Spielsachen suchte. Gern tat sie das nicht, aber die Umstände ließen ihr kaum eine Wahl. Wenn sie jetzt nichts unternahm, würde sie ihn bald verlieren.

Nach dem Abendessen schulterten sie die beiden prall gefüllten Rucksäcke und marschierten in den Wald hinein. Joey kannte ihn nur tagsüber, je länger sie zwischen den dunklen Bäumen umherstapften, desto mehr verlor er die Orientierung, bis er schließlich nicht mehr wusste, wo sie sich befanden. Die Zeit strich dahin, dem Jungen wurden die Beine schwer, die Schultern schmerzten ihm von dem ungewohnten Gewicht. Mai hielt unvermittelt an, Joey stieß gegen sie und hob den Blick. Sie standen am Rand einer großen, vom Mondlicht beschienenen Lichtung. Vor ihnen erhob sich ein gewaltiger Rundturm, an dessen Mauern sich Efeu und wilder Wein empor rankten.

„Wow ...“, brachte der Junge nur hervor.

„Gefällt es dir?“

„Ja, und wie!“

„Das ist gut, denn das hier wird dein neues Zuhause“, erklärte ihm Mai.

„Ui, und wann ziehen wir ein?“

„Du ziehst heute Nacht hier ein.“ Ihre Antwort ließ ihn stutzen. Er, nicht sie beide?

„Und was ist mit dir?“

„Joey ...“, sie wandte sich ihm zu und legte die Hände an seine Schultern.

„Du wirst hier ohne mich leben müssen, jedenfalls für eine Weile. Es ist zu gefährlich geworden, ich muss dich für einige Zeit verstecken. Für drei oder vier Wochen, vielleicht auch etwas länger. Aber ich werde dich jeden Tag besuchen, versprochen.“

„Und was soll ich die ganze Zeit allein machen?“

„Es wird dir hier an nichts fehlen“, sagte Mai und schob ihn auf den Turm zu. Im Näherkommen stellte Joey fest, dass er überhaupt keinen Eingang hatte, nur hoch oben unter dem Schindeldach waren mehrere Fenster zu sehen.

„Und wie kommen wir da hoch?“

„Deshalb habe ich dir immer verboten, dir die Haare zu schneiden.“ Sie reichte ihm eine Spindel aus Ebenholz, wie sie zum Spinnen von Garn verwendet wurde. „Pass auf, dass du nicht an den Dorn kommst, ihre Schwester, die aus dem gleichen Holz gefertigt war, hat schon jemanden in einen sehr langen Schlaf geschickt. Wickle deine Haarspitzen um die Spule.“

Joey sah sie an, als sei sie nicht ganz richtig im Kopf, tat aber, was sie gesagt hatte, und beobachtete überrascht, wie seine Haare zu wachsen begannen und die Turmmauern hochkletterten, durch das offene Fenster, wo sie durch das Maßwerk liefen und sich dort verknoteten.

„Jetzt steig hoch“, forderte sie ihn auf.

Der Stein war rutschig und es zog immer wieder, an seinen eigenen Haaren hochzuklettern. Letzten Endes hatte er es geschafft und gelangte durch das Fenster in das Innere des Turms. Mai rief ihm von unten zu, ihm die Haare runterzulassen, und stieg hinterher. Das Turmzimmer war größer als die ganze Hütte, die sie vor ein paar Stunden verlassen hatten. In einer Ecke standen ein Herd mit Ofen, in dem ein kleines Feuer prasselte, daneben ein Schrank für Geschirr und Kochutensilien sowie ein Tisch mit geschnitzten Stühlen. Der Dielenboden war mit bunten Teppichen bedeckt, in einem Regal türmten sich Spielsachen ... Ja, Joey war sich sicher, es hier für eine Weile aushalten zu können.

„Vorräte bringe ich dir regelmäßig mit“, sagte Mai, stellte ihren Rucksack ab und ging zum Fenster. „Lass mich runter und dann leg dich schlafen, du siehst hundemüde aus.“

Sobald sie unten und seine Haare wieder auf ihre normale Länge zurückgegangen waren, ließ sich Joey in die seidenen Kissen des großen Himmelbettes fallen und war wenige Minuten drauf tief und fest eingeschlafen.

Die Zauberin beobachtete von unten noch, wie das Licht ausging, dann machte sie sich auf den Rückweg. Es fiel ihr nicht leicht, Joey mitten in der Wildnis einzusperren, doch wenn sie ihn bei sich behalten wollte, blieb ihr keine Wahl. Auf dem Markt hatte er sich ihr widersetzt, sein Stimmbruch hatte begonnen, er steuerte mit Volldampf in die Pubertät hinein. Wie lange würde es noch dauern, bis er entdeckte, dass man mit Mädchen nicht nur spielen oder sie hauen konnte? Darauf wollte sie nicht warten. Sie wollte nicht wieder verlassen werden und am Ende allein dastehen.

Und so vergingen sieben Jahre ...

Märchenprinz?

Kapitel 3

Märchenprinz?
 

„Hey, Wirt, wo bleibt mein Bier?“

Bakura schlug mit der flachen Hand auf den Tresen und ruckte mit dem Kopf auffordernd in Richtung des Besitzers der Schenke Zum Gänsebrunnen.

„Meinst du nicht, wir sollten so langsam nach Hause?“, wandte sein Freund Duke ein und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierkrug. „Dein Vater hat doch angekündigt, dich morgen sprechen zu wollen. Er wird nicht erfreut sein, wenn du mit so ’ner Fahne bei ihm auftauchst.“

„Mir doch egal“, brummte der Weißhaarige, nahm seine Bestellung entgegen und trank in tiefen Zügen. Als er den Krug absetzte, kam aus seinem Mund ein tiefes, ungeniertes Rülpsen. „Warum tut er überhaupt so geheimnisvoll, bestellt mich zu sich, statt mir gleich zu sagen, was er von mir will?“

„Keine Ahnung. Ich finde trotzdem, wir sollten gehen.“ Duke gähnte und rieb sich die Augen. „In ein paar Stunden dämmert es. Du magst ja ohne Schlaf auskommen, aber ich kann das leider nicht.“

Er zog ein paar Münzen aus seinem Lederbeutel hervor, den er an der Hüfte trug, winkte das Schankmädchen zu sich, und überreichte sie ihr lächelnd, nachdem er sich einen Kuss von ihr gestohlen hatte. Bakura verzog kurz das Gesicht. Duke fing auch mit allem was an, egal ob männlich oder weiblich, das nicht bei drei auf dem höchsten Baum war. Er war nun mal der personifizierte Charme und wusste es, das auszunutzen. Bakura selbst brachte schon allein die Tatsache, dass er Kronprinz war, mehr als genug Verehrerinnen ein – und er wünschte sich Weißgott, es würde nicht so sein. Auf dem letzten königlichen Ball war er von einem ganzen Rudel heiratswütiger Prinzessinnen und Grafentöchter verfolgt worden.

Am folgenden Morgen, nach einem Katerfrühstück mit saurer Gurke und Hering und mit noch brummendem Schädel, begab sich Bakura in den Thronsaal, wo ihn sein Vater erwartete, die goldene Krone auf dem Kopf. Ihm schwante nichts Gutes. Das sah nach einem hoch-offiziellen Gespräch aus.

„Guten Morgen, mein Sohn. Setz dich.“ Der König deutete auf einen Hocker zu seinen Füßen.

Gähnend und sich verhalten am Steiß kratzend, kam Bakura näher und nahm Platz.

„Was gibt’s schon so früh am Morgen, Vater?“

„Mein lieber Bakura“, begann er, „in ein paar Monaten werdet ihr beide, du und Ryou, zwanzig Jahre alt und damit volljährig. Und als Thronfolger obliegen dir gewissen Pflichten ...“

... um die ich nicht gebeten habe, setzte dieser den Satz gedanklich fort.

„Jedenfalls, es wird nun Zeit, dass du in die Welt hinausziehst und dir eine Braut suchst.“

Nur mit beinahe akrobatischem Geschick schaffte es Bakura, nicht von seinem Hocker zu fallen, als er das hörte. Er sollte heiraten? Womöglich eine von diesen Gören, die ihn dauernd belästigten? Nie im Leben!

„Keine Lust“, kommentierte er das väterliche Ansinnen.

„Aber du bist mein Ältester und der Thronerbe. Du musst heiraten und unsere Linie fortsetzen.“

Bakuras Stirn zog sich in Falten, er überlegte, wie er aus der Angelegenheit am schnellsten – und vor allem ohne Braut – wieder raus kam.

„Wenn dir so viel daran liegt, dann veranstalte doch einen Ball und lass sie herkommen. Und wenn mir keine davon gefällt, vergessen wir die Sache.“

„Junge, was ist nur los mit dir?“, fragte sein Vater. „Ein Prinz muss sich schon ein bisschen anstrengen, um seine Prinzessin zu finden. Bevor deine Mutter und ich heiraten konnten, bin ich ja auch –“

„Kreuz und quer mit einem viel zu kleinen Schuh durchs Land gezogen“, gähnte Bakura demonstrativ. „Die Geschichte kenne ich in und auswendig.“

„Na siehst du. Ich bin sicher, es gibt schon eine Prinzessin, die sehnsüchtig auf dich wartet.“
 

Joey saß am Fenster seines Turmzimmers und sortierte die Kräuter, die Mai ihm gestern gebracht hatte, zum Trocknen. Seit sie ihn zu sich genommen hatte, hatte sie ihm einiges über Kräuter und ihre Verwendung beigebracht, damit er ihr bei der Arbeit helfen konnte. Er freute sich jeden Tag auf ihren Besuch und war traurig, wenn sie, spätestens am Nachmittag, ging und ihn zurückließ. Gewiss, der Turm bot ihm genügend Möglichkeiten, sich zu beschäftigen, nur allein machten ihm die meisten Spiele keinen Spaß. Er sehnte sich danach, wieder einmal unter Menschen zu kommen, andere Gesichter als das seiner Ziehmutter zu sehen. Seit Mai ihn hierher gebracht hatte, hatte er den Turm nicht ein Mal verlassen. Nicht, dass er es nicht versucht hätte, aber die Bettlaken waren auch zusammengebunden noch viel zu kurz und einen Weg, sich an seinen eigenen Haaren abzuseilen, hatte er bisher nicht gefunden.

Während er die Kräuter zu kleinen Bündeln schnürte und an einer Leine zum Trocknen aufhängte, summte er leise vor sich hin. Woher er das Lied kannte, wusste er nicht, Mai hatte es ihm jedenfalls nicht beigebracht. In seiner Erinnerung schien es, als würde er es seit seiner Geburt kennen.
 

Duke wartete draußen im Hof auf Bakura und fragte ihn, kaum dass er ins Freie getreten war, was sein Vater von ihm gewollt hatte. Der Blick, den er ihm zuwarf, konnte nur mörderisch genannt werden.

„Ich soll heiraten.“

„Und? Wo ist das Problem? Auswahl hast du genug.“

„Vergisst du dabei nicht ’ne Kleinigkeit, Duke?“, knirschte er, packte ihn am Arm und zog ihn vom Hof, in Richtung Garten. Als er sich vergewissert hatte, dass sie allein waren, fügte er hinzu: „Was soll ich mit einer Frau anfangen?“

„Ach ja ... Entschuldige, ich vergaß. Und wenn du nun einfach eine heiratest und mit ihr einen Sohn zeugst, dann hättest du deine Ruhe und alle wären glücklich.“

Sein Freund sah ihn als, als würde ihm ein zweites Paar Arme wachsen.

„Glücklich“, zischte er, „mit einem zänkischen Weib und einem schreienden Balg? Danke, ich verzichte.“

„Und wie hat dein Vater darauf reagiert? Oder weiß er noch nicht, dass er von dir nie Großvater werden soll?“

„Ich habe ihn auf den nächsten Ball vertröstet, dass ich mich dann umsehe. Davon, dass ich von denen eine nehme, habe ich nichts gesagt.“

„Unser armes Königreich“, seufzte Duke theatralisch und duckte sich lachend unter Bakuras Hieb weg. „Lass deinen Ärger bei der Jagd aus und jetzt komm, die Hirsche warten.“

Eine Stunde später galoppierten sie mit der Jagdgesellschaft, an der sich zahlreiche Mitglieder des Hofstaates beteiligten, durch den Wald, welcher sich in zartem Maigrün präsentierte. Die Hunde hatten die Fährte eines Hirsches aufgenommen und hetzten mit lautem Gebell durchs Unterholz. Wie sein Freund ihm prophezeit hatte, lenkte der schnelle Ritt Bakura von seinen dunklen Gedanken ab. Seine Konzentration galt bald nur noch dem Ziel, den Hirsch als Erster ausfindig zu machen und zu erlegen, bevor ihm einer seiner Mitstreiter zuvorkam und den ersten Pfeil abschoss.

Verdutzt beobachtete er, wie sich sein Hund Diabus plötzlich von der Meute löste und eine ganz andere Richtung einschlug. Bakura riss sein Pferd entschlossen am Zügel herum und folgte ihm, auf Diabus’ Nase hatte er sich verlassen können, seit er ihn als Welpe bekommen hatte. Es dauerte nicht lange und er sah zwischen den Bäumen braunes Fell aufblitzen. Aus der heutigen Jagd würde er als Sieger hervorgehen und Duke damit seinen Rang als bester Jäger wieder abnehmen. Die Pferdehufe gruben sich unablässig in den weichen Waldboden und wirbelten das trockene Laub vom Vorjahr auf. Bakura trieb das Tier an, noch schneller zu laufen, denn seit er ihn verfolgte, war er dem Hirsch kaum näher gekommen. So ein flinkes Biest hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Ihn zu erlegen, würde ihm ein besonderes Vergnügen sein.

Die Bäume wurden dichter, das Licht, das bis auf den Boden drang, weniger. Der Eifer des Prinzen verwandelte sich zusehends in Ärger, während er dem immer wieder kurz auftauchenden Hirsch folgte. Er war kurz davor, Diabus zurückzupfeifen und seine Solojagd abzubrechen, um zur Jagdgesellschaft zurückzukehren, als er ein Stück voraus eine Lichtung entdeckte, in deren Mitte ein großer Turm stand. Bakura zügelte sein schnaufendes Ross überrascht. Er kannte den Wald in und auswendig, hatte unzählige Stunden zwischen den alten Bäumen verbracht ... Doch nie zuvor war ihm dieser Turm aufgefallen.

„Rapunzel! Rapunzel, lass dein Haar herunter!“, hörte er da eine Frauenstimme rufen.

Neugierig geworden, stieg er von seinem Pferd, schlich näher an den Turm heran und versteckte sich zwischen ein paar hohen Büschen. Von dort beobachtete er, wie ein blondes Mädchen an das Fenster trat, das ganz oben im Turm lag, und einen dicken Haarzopf zu der unten wartenden Frau herabließ. Diesen schlang sie sich um die Hüfte und ließ sich daran wie an einem Seil nach oben ziehen. Der Prinz konnte nur staunen, da musste Magie am Werk sein. Der Hirsch war ebenso schnell aus seinen Gedanken verschwunden, wie er während der Jagd vor ihm aufgetaucht war.

Während er den Turm weiter im Auge behielt, glitten seine Gedanken zu dem Gespräch mit seinem Vater zurück. Er hatte absolut keine Lust zu heiraten, nur ebenso wenig eine Ahnung, wie er sich geschickt aus der Affäre ziehen sollte. Dazu die Mahnung, sich bei der Brautschau anzustrengen ... Andererseits, wenn er so darüber nachdachte, stieß ihn das Schicksal hier geradezu auf die Lösung. Das Mädchen konnte unmöglich freiwillig in diesem Turm sitzen und wenn er sie dort rausholte, hatte er seine Braut. Nach der Hochzeit konnte er sie immer noch im am weitesten entfernten Winkel des Schlosses einquartieren. Sie schien praktischerweise sogar schon an das Leben allein gewöhnt zu sein und würde sich später nicht beschweren, wenn sie ihren Gatten nie zu Gesicht bekam.

Es dauerte einige Minuten, dann traten die beiden Frauen wieder ans Fenster und die Jüngere ließ ihre Besucherin zurück auf den Boden. Bakura schüttelte den Kopf angesichts dieser umständlichen Transportart. Die Treppe zu benutzen, wäre doch viel leichter. Er wartete, bis die Frau die Kapuze ihres Umhangs aufgesetzt und sich entfernt hatte, und marschierte entschlossenen Schrittes auf den Turm zu.

„Rapunzel, lass dein Haar herab!“, wiederholte er das Gehörte und wartete, bis die so Genannte am Fenster erschien.
 

Joey hatte sich kaum hingesetzt, als er zum zweiten Mal an diesem Tag den ihm so vertraut wie teilweise, wegen des Namens Rapunzel, verhasst gewordenen Ruf vernahm.

„Hast du was vergessen?“, rief er nach unten und erstarrte, als er statt Mai einen jungen Mann mit schneeweißen Haaren sah, der mit süßsaurer Miene zu ihm hochblickte und sich dabei wegen der Höhe des Turms beinahe den Hals verrenkte. Vor Schreck musste er sich mehrmals räuspern, um sich nicht durch seine normale, tiefere Stimmlage zu verraten. Mit viel Üben hatte er es in den letzten Jahren geschafft, dass seine Stimme zwar als tief, aber einigermaßen weiblich durchging.

„Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“

„Ich möchte dich retten, schönes Mädchen“, säuselte Bakura, der bei diesen Worten am liebsten gewürgt hätte, und rang sich ein freundliches Lächeln ab.

„Wovor denn?“

„Vor dem, der dich hier gefangen hält. Lass deine Haare runter, damit ich zu dir rauf kann.“

Joey beäugte ihn misstrauisch und schüttelte den Kopf. Er wollte gern mit anderen Menschen sprechen, nur einen Unbekannten in sein Turmzimmer zu holen, war ihm dann doch zu riskant.

„Nein, das geht nicht. Tut mir leid.“

„Aber –“ Bakura verfolgte verdattert, wie die Blondine in ihrem Zimmer verschwand. Wenn sie dachte, er würde so leicht aufgeben, dann täuschte sie sich aber. Es musste noch einen anderen Weg in den Turm geben. Er ging um das Gebäude herum, einmal, nochmals und ein drittes Mal – von einem Eingang war nichts zu sehen. Die Steine waren dicht an dicht gemauert, er fand auch keine nachträglich verschlossene Tür.

„Hey!“, rief er. „Ich will dir helfen! Jetzt lass mir schon die Haare runter.“

„Verschwinde!“, schallte es aus dem Inneren des Turms zurück.

„Blöde Zicke“, murmelte der Prinz. Wenn sie seine Hilfe nicht wollte, sollte sie doch sehen, wie sie allein da raus kam. Er schwang sich in den Sattel, pfiff nach Diabus und gab seinem Pferd die Sporen, um sich auf die Suche nach seiner verlorenen Jagdgesellschaft zu machen. Der Klang der Hörner wies ihm den Weg, doch was sie verkündeten, gefiel ihm gar nicht. Der Hirsch war erlegt und er konnte sich denken, wessen Pfeil ihm den Tod gebracht hatte. Heute war eindeutig nicht sein Tag, er hätte im Bett bleiben sollen. Missmutig näherte er sich seinem besten Freund, der sich von den anderen Jagdteilnehmern gerade beglückwünschen ließ.

„Wo hast du gesteckt?“, begrüßte ihn Duke. „Du hast meinen Schuss verpasst, ein Pfeil und der Hirsch war Geschichte.“

„Schön für dich.“

„So verärgert wegen unseres kleinen Wettbewerbs, mein Freund?“

„Nicht nur. Ich erzähle dir nachher davon, wenn wir ungestört sind.“
 

„Schau einer an! Wir denken uns nichts Böses und du stürzt dich Hals über Kopf in ein romantisches Abenteuer“, lachte Duke.

„Was soll daran romantisch sein?“, brummte Bakura und ließ sich in einen der weichen Lehnsessel am Kamin fallen. „Es würde mein Problem lösen, das ist alles.“

„Aber immerhin, einer holden Jungfrau in Nöten läuft man heutzutage nicht mehr ständig über den Weg und die Drachen sind auch rar geworden, um große Heldentaten zu verüben. Ich an deiner Stelle würde zusehen, dass ich die Dame da raushole.“

„Du bist witzig. Und wie soll ich das anstellen, ohne Tür und ohne dass sie mich hoch lässt?“

„Nicht verzagen, wir finden schon einen Weg, dich zu deiner Schönen zu bekommen.“

Bakura knirschte unwillig, als ihm Duke gönnerhaft auf die Schulter klopfte.

Am folgenden Tag verließ Bakura das Schloss bereits kurz nach dem Frühstück. Er wollte nicht, dass Duke ihm folgte, um ihm bei der Rettungsaktion auf welche auch immer geartete Weise zu helfen. Es reichte, wenn er sich vor seiner Zukünftigen zum Narren machte. Im Wald irrte er eine ganze Weile umher, bis er den Pfad wiederfand, dem er gestern gefolgt war. Er prägte sich die Strecke ein, um später den Rückweg leichter zu finden. Am Rand der Lichtung band er sein Pferd an einem Baum fest und lud die Ausrüstung ab, die er in einem großen Rucksack verstaut hatte.

Von seinem Versteck hinter einem großen Busch aus beobachtete er den Turm zunächst einmal, um zu schauen, ob Rapunzel (wenn sie seine Frau werden sollte, brauchte sie einen neuen Namen, eine Königin, die nach einem Gemüse benannt war, wollte er nicht) überhaupt allein war. Seine Mühe wurde belohnt, Rapunzel und ihre Gefängniswärterin traten ans Fenster und verabschiedeten sich. Kaum war letztere weit genug fort, kam der Prinz aus seinem Versteck.

„Hey, Rapunzel!“, rief er. „Hast du heute bessere Laune und lässt mich dich retten?“

Ein paar Stockwerke höher glaubte Joey nicht richtig zu hören. Das klang ganz nach dem Kerl von gestern. Hatte er ihm nicht ausdrücklich genug gesagt, er solle ihn in Ruhe lassen? Er war keine Prinzessin, die vor dem großen bösen Ungeheuer gerettet werden musste, und sollte der Weißhaarige herausfinden, dass er es mit einem anderen Mann und nicht mit einem Mädchen zu tun hatte, das wollte er sich lieber nicht vorstellen. Wahrscheinlich würde er dadurch aus dem Turm herauskommen – um mit zerschlagenen Gliedern am Boden zu liegen.

Er legte die Brennnesseln, von denen er die Blätter zum Trocknen abzupfte, in ihren Korb zurück, zog sich die dicken Handschuhe aus und öffnete das Fenster, um seinen Besucher in die Schranken zu weisen. Sein Mund öffnete und schloss sich, ohne dass ein Ton herauskam, stattdessen sah er mit großen Augen nach unten.

Bakura hatte den Rucksack neben sich auf den Boden gestellt und blätterte hochkonzentriert in einem Buch mit gelbem Einband, auf den in schwarzen Lettern der Titel Türme erklimmen und Jungfrauen in Nöten retten für Dummies geprägt war. Bei seinen gestrigen Recherchen in der Bibliothek war er darauf gestoßen und hatte es sofort mitgenommen, in der Hoffnung, dort einen guten Tipp zu bekommen. Der erste Hinweis in Kapitel Drei Türme erklimmen ließ ihn schon mal den Kopf schütteln. Öffnet die unten liegende Tür im Turm und steigt die Treppe hinauf. Die zu Rettende erwartet Euch üblicherweise im höchsten Turmzimmer, wahlweise auch auf einem Bett, wo sie darauf harrt, mit einem Kuss geweckt zu werden. Nähere Informationen zum richtigen Wachküssen erfahrt Ihr in Kapitel Sechs.

„Ach nee, die Treppe nehmen … Da wär ich von selbst ja nie drauf gekommen!“, höhnte Bakura und blätterte weiter.

Der nächste Vorschlag klang schon vernünftiger. Die Finger und Fußspitzen in die schmalen Mauerritzen krallend, versuchte er an der Außenmauer hochzuklettern. Nach etwa anderthalb Metern griff er daneben und stürzte. Die darauf folgenden deftigen Flüche ließen Joey das Blut in den Kopf steigen. Der Mann musste eine sehr schlechte Kinderstube gehabt haben. Neugierig war er dennoch geworden, was er noch alles anstellen wollte. Er rückte sich einen Stuhl und den Brennnesselkorb ans Fenster und machte mit seiner Arbeit weiter, immer mal einen Blick nach draußen werfend. Zwei weitere Anläufe Bakuras, den Turm mit bloßen Händen zu erklimmen, schlugen ebenso fehl wie der erste. Anschließend versuchte er es mit einer zusammenklappbaren Leiter, musste dies jedoch abbrechen, kaum dass er sie aufgestellt hatte. Er hatte die längste, im Schloss verfügbare mitgenommen. Sie war etwa vier Meter zu kurz. Bakura ließ sie ins Gestrüpp fallen, ohne ihr weiter Beachtung zu schenken, und öffnete den Rucksack, aus dem er einen eisernen Enterhaken holte, an dem ein langes Seil befestigt war. Er trat einige Schritte zurück, holte aus und warf … ein gutes Stück daneben. Grummelnd zog er den Haken wieder zu sich heran. Das Seil ein gutes Stück unter dem Haken fassend, holte er erneut Schwung und warf.

Eine halbe Stunde später musste er sich eingestehen, dass es lediglich eine Verschwendung von Zeit und Energie war, auf diese Art in den Turm gelangen zu wollen. Joey amüsierte sich dagegen über seine ständigen vergeblichen Versuche und ärgerte ihn mit seinem Lachen. Bis zur Mittagszeit hatte sich der Prinz durch mehr als ein Dutzend Vorschläge seines längst verfluchten Ratgebers gearbeitet, allesamt gescheitert. Allmählich kam er zu der Überzeugung, einen Ball zu veranstalten und eine der dort erscheinenden Schnepfen, pardon, Damen zu heiraten, würde einfacher sein und seinen Vater ebenso zufriedenstellen.

Joey wusste nicht, wann er das letzte Mal so gut unterhalten worden war. Zwischendurch huschte er kurz an den Herd, um nach dem Gemüse und seinem Fleischstück zu sehen, das in einer gusseisernen Pfanne vor sich hin schmorte. Der Duft des Fleisches erinnerte Bakura daran, dass sein Magen mittlerweile selbst zum Steinerweichen knurrte. Er suchte in seinem Gepäck nach dem Essen, das er sich heute früh aus der Küche organisiert hatte.

„Das glaub ich nicht“, murmelte er und durchwühlte alles nochmals. Hatte er das Pech denn heute für sich gepachtet? Das Päckchen mit Brot und gebratenem Huhn lag zu Hause im Palast, wahrscheinlich irgendwo in dem wohl organisierten Chaos seines Zimmers. Wie er diese Rapunzel einschätzte, würde sie ihm nichts zu essen abgeben und nach Hause zurückzukehren, dafür hatte er weder die Zeit noch die Lust. Wenigstens hatte er Pfeil und Bogen mitgenommen. Die Wälder waren reich an Wild, erst vor wenigen Minuten hatte er ein Kaninchen gesehen.

Pfeile … Augenblick mal! Sein Blick schnellte von seinen Waffen zum Turm zurück. Direkt neben dem Fenster war ein Eisenring angebracht, um Gegenstände wie schwere Körbe nach oben zu befördern. Das war doch überhaupt die Idee! Er marschierte zu seinem Pferd zurück, nahm das Tau vom Sattel und befestigte daran eine lange Garnschnur, die er wiederum an den Schaft seines Pfeils knüpfte. Er musste es nur schaffen, einen Pfeil derart zu schießen, dass er durch den Ring flog und auf der anderen Seite wieder herunterkam, dann konnte er das Tau mithilfe des Seils nach oben ziehen. So viel zu seinem Ratgeber. Selbst war der Prinz!

Zum Zielen ließ sich Bakura mehr Zeit als sonst, um den Ring ja nicht zu verfehlen. In dem Augenblick, da er schießen wollte, flatterte eine Taube über seinen Kopf hinweg, schnappte nach einer seiner Haarsträhnen und zog daran. Er knurrte empört, er hielt doch nicht als Innenausstatter für Taubennester her!

„Lass mich los, du Mistvieh!“

Er wollte nach dem Tier schlagen und ließ den noch voll gespannten Pfeil los, der von der Sehne schnellte und surrend durch die Luft nach oben flog. Derweil hatte es sich der Blondschopf am Tisch bequem gemacht und genoss sein Mittagessen. Es war mindestens eine Woche oder länger her, seit Mai ihm das letzte Mal Fleisch mitgebracht hatte, da wollte er jetzt jeden Bissen sorgsam auskosten. Er schrak gewaltig zusammen, als sich ohne Vorankündigung ein Pfeil in seinen Braten bohrte, kaum dass er sich den ersten Bissen davon abgeschnitten und in den Mund geschoben hatte. Der anfängliche Schreck verwandelte sich binnen Sekunden in Empörung. Das Fleisch wurde ihm vor seinen Augen vom Teller gezogen. Bakura, der keine Ahnung hatte, was sein Pfeil getroffen hatte, spürte nur den Widerstand, als er ihn an der Schnur wieder einholen wollte, um einen zweiten Schuss zu probieren.

Joey packte das Bratenstück, ignorierte, dass er sich die Finger verbrannte und die Tischdecke mit Bratensaft bekleckerte, und versuchte den Pfeil herauszulösen. Das war immer noch sein Essen, kampflos würde er es nicht aufgeben. Die Eisenspitze hatte sich hinter einer Sehne verhakt, er würde sie herausschneiden müssen. Um an das Messer zu kommen, musste er quer über den Tisch greifen und sich halb darauf legen. Sein Griff um das Fleisch lockerte sich etwas. Gleichzeitig zog Bakura mit aller Kraft an dem widerspenstigen Garn, das endlich nachgab und ihm seinen Pfeil zurückbrachte. Perplex blickte er auf den dampfenden Braten, der am anderen Ende baumelte.

„Hey, das ist meins!“

„Danke für deine Großzügigkeit“, erwiderte Bakura grinsend und biss in das Fleisch. Ein kurz gebratenes Steak wäre ihm zwar lieber gewesen, aber man konnte nicht alles haben.

„Gib mir mein Essen zurück, du dreister Dieb.“

„Noch nie was davon gehört, mit anderen zu teilen?“

„Mit dir ganz bestimmt nicht. Außerdem hab ich nicht drum gebeten, von dir vor irgendwas gerettet zu werden.“

„Du wirst aber gerettet, klar? Wie wär es also, wenn wir die Sache abkürzen, indem du mir dein Haar gleich runterwirfst?“

„Vergiss es!“

Joey musste das beenden, sofort. Seine Stimme drohte zu kippen, zu lange konnte er diese hohe Tonlage nicht mehr aufrechterhalten und in einem Streit, auf den ihr Gespräch sonst über kurz oder lang hinauslaufen würde, erst recht nicht.

„Wirf dein Haar runter oder ich komme so rauf!“, verlangte Bakura und erntete schallendes Gelächter.

„Ha ha, das kannst du aber nicht!“ Joey streckte ihm die Zunge heraus und verschwand, um wenigstens noch den Rest seines Essens zu verzehren, bevor es ganz kalt war.
 

Duke kam seinem Freund über die Schlossauffahrt entgegengelaufen.

„Nanu, wo hast du deine holde Schönheit gelassen?“

„Sitzt noch im Turm und soll meinetwegen da versauern. Die will überhaupt nicht gerettet werden, was soll ich mir da die Mühe machen?“

„Und dein Vater? Was ist mit dem Thron?“

„Wird sich schon finden.“ Bakura saß ab, überging Dukes Kopfschütteln und warf ihm den nutzlosen Ratgeber vor die Füße. „Wenn du willst, kannst du ja dein Glück versuchen. Vielleicht lässt sie dich eher zu sich.“

„Warum, mir fliegen die Herzen auch so zu“, lachte Duke. „Aber ich hätte da eine Idee. Wie wäre es mit einer kleinen Wette?“

„Was für eine Wette?“ Er sah den Schwarzhaarigen misstrauisch an, das spitzbübische Lächeln gefiel ihm nicht.

„Ich wette mit dir, dass du es nicht schaffst, die Kleine zu retten. Wenn doch, helfe ich dir, an meinen Cousin Marik ranzukommen. Ich weiß, dass du was von ihm willst. Einem kleinen Abenteuer wäre er sicher nicht abgeneigt.“

„Und wenn ich verliere?“

„Darf ich mich einen Abend mit Ryou treffen. Alleine.“

„Nur über meine Leiche!“ Er konnte sich denken, wo diese Verabredung enden würde. „Morgen hab ich sie da rausgeholt.“
 

Gesagt, getan, am nächsten Morgen stand er wieder vor dem Turm. Es wäre doch gelacht, wenn er das nicht schaffte. Bakura warf sich die Kapuze des dunklen Umhangs über, den er sich besorgt hatte und der dem von Mai ähnelte, und trat unter das Turmfenster.

„Rapunzel, lass mir dein Haar herab!“

Gestern hatte er sich stundenlang in seinem Gemach eingeschlossen und diesen Satz geübt, bis er das Gefühl hatte, die Stimme der Frau imitieren zu können. Joey stand verwundert auf, heute hatte er nicht mit Mai gerechnet. Natürlich freute er sich über ihren unverhofften Besuch. Letztes Mal hatte sie gesagt, sie könne erst wieder in ein paar Tagen zu ihm kommen, weil sie in ein weiter entfernt liegendes Tal wandern wollte, um besondere Kräuter zu sammeln. Er löste seine Haare, die er im Nacken zusammengebunden trug, und wickelte sie um die Spindel, die er neben dem Fenster an einem Haken befestigte. Sofort begann das blonde Haar zu wachsen, bildete einen Zopf und wurde immer länger, bis es den Boden erreichte.

„Kann es sein, dass du zugenommen hast, Mai?“, ächzte er, als Bakura die ersten Meter erklommen hatte. „Oder viel Gepäck? Du kommst mir heute etwas … schwerer vor. Aaaaauuu! Zieh doch nicht so. Soll ich etwa Haarspliss kriegen?“

Bakura kümmerte es herzlich wenig, ob er ihm laufend an den Haaren zog oder nicht. Er wollte nur nach oben, sich Rapunzel über die Schulter werfen und sich mit ihr mithilfe des Seils, das er mitgenommen hatte, aus dem Turm abseilen. Joeys Finger trommelten derweil ungeduldig gegen die Mauer, an die er gelehnt stand. Sonst brauchte Mai nicht so lange, um zu ihm zu gelangen.

„Wie schön, dass du mich doch besuchst“, wandte er sich mit einem herzlichen Lächeln um und versteinerte mitten in der Bewegung. „D-du … du bist nicht Mai.“

„Gut erkannt. Ich freue mich, dass du es dir doch noch anders überlegt hast“, sagte Bakura, der gerade über das Fenstersims stieg. „Also lass uns gehen, Ra –“

Bakura blinzelte und schüttelte ungläubig den Kopf. Das. Ist. Jetzt. Nicht. Wahr. Für einen Moment musste er sich an dem hölzernen Fensterrahmen festhalten, um nicht versehentlich aus dem Fenster zu fallen. Joeys Augen weiteten sich erschrocken, der einzige Teil seines Körpers, der momentan zu einer Regung fähig war. Hätte er doch nur hingesehen, bevor er seine Haare verlängert hatte. Mai hatte ihm immer wieder eingeschärft, sich nicht mit Fremden einzulassen.

„Hey, du bist ja ’n Kerl!“, deutete der andere mit dem Finger auf ihn.

„Was dagegen?“ Allmählich kam wieder Leben in ihn.

„Und du trägst ein Kleid. Auch noch mit Rüschen.“

Der Prinz verzog angewidert das Gesicht. Sein Gegenüber kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut, so hatte er in den ersten Jahren immer in den Spiegel geblickt. Inzwischen war davon nur noch Gleichgültigkeit übrig geblieben. Er wusste nicht, was damals in Mai gefahren war. Als sie ihn im Turm einquartiert hatte, war er noch der Hoffnung gewesen, die Maskerade habe endlich ein Ende und er dürfe wieder als Junge herumlaufen. Leider weit gefehlt. Die Zauberin hatte sich so daran gewöhnt, eine hübsche Tochter namens Rapunzel statt eines Sohns namens Joey zu haben, dass sie es ihm verweigert hatte, sich wieder seinem Geschlecht entsprechend zu kleiden. Das hellblaue Kleid, das er heute anhatte, war Mais Geschenk zu seinem achtzehnten Geburtstag gewesen. Er stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn herausfordernd an.

„Na und, ich hab nichts anderes. Soll ich etwa nackt herumlaufen?“

Bei diesen Worten konnte Bakura beim besten Willen nicht anders, auf sein Gesicht trat ein breites, anzügliches Grinsen. Er musterte ihn genüsslich von oben bis unten.

„Netter Vorschlag, Kleiner. Soll ich dir beim Ausziehen helfen?“

Er zuppelte an Joeys Rock, der daraufhin zwei Meter Sicherheitsabstand zwischen sie brachte.

„Vor solchen Kerlen wie dir hat mich Mai gewarnt. Verschwinde.“

„Tse. Du ziehst dich nicht nur an wie ’n Mädchen, du verhältst dich auch so.“

„Du kannst ja gehen, wenn es dir nicht passt. Es zwingt dich niemand, hier zu sein.“

„Aber dich.“

„Mai hat mich nicht gezwungen!“, verteidigte er sofort seine Ziehmutter. „Ich bin gern hier.“

„Ebenso gern, wie du dieses Kleid trägst?“

„Äh … Also …“

Was sollte er da groß lügen, es war ja so. Er hätte einiges dafür gegeben, wieder eine Hose tragen zu dürfen.

„Fangen wir anders an.“ Bakura räusperte sich und riss sich von dem Gedanken los, wie der Blonde ohne das Kleid aussehen könnte. „Rapunzel ist sicher nicht dein richtiger Name. Wie heißt du wirklich?“

„J … Joey. Und erfahre ich jetzt endlich, wer derjenige ist, der meinen Turm seit drei Tagen belagert?“

„Du hast die Ehre mit Bakura, Prinz von Alvaria“, stellte er sich mit einer formvollendeten Verbeugung vor. Trotz seiner Abneigung, was den Benimmunterricht anbelangte, gab es hin und wieder Zeiten, in denen er doch mal kurz aufpasste. „Und wer ist diese Mai, deine Gefängniswärterin?“

Ohne auf eine weitere Einladung zu warten, ließ sich Bakura auf einen der Stühle fallen und legte die Füße gemütlich auf dem Tisch ab. Schon bei dem Gedanken daran, hinterher alles putzen zu müssen, damit Mai nichts von dem Überraschungsbesuch erfuhr, seufzte Joey innerlich. Er hasste Hausputz.

„Sie ist meine Mutter. Und sie hat mich nicht mit böser Absicht hergebracht, sie will mich nur beschützen.“

„Beschützen – vor was denn? Den Eichhörnchen?“

„Vor den Menschen. Es gibt zu viele böse auf der Welt, sagt sie.“

Zögernd setzte er sich Bakura gegenüber hin, immer noch unsicher, ob er ihn nun rauswerfen oder noch etwas Zeit in seiner, wenn auch etwas unflätigen, Gesellschaft verbringen sollte. Er hatte sich die ganzen letzten Jahre gewünscht, wenigstens einmal mit jemand anderem zu sprechen.

„Und denkst du, ich gehöre auch dazu, zu diesen bösen Menschen?“

Bakura beugte sich ein Stück zu ihm vor. Erst jetzt, aus der Nähe betrachtet, fiel ihm der warme schokoladenbraune Ton von Joeys Augen auf, die sowohl Neugier als auch Unschuld und Naivität ausstrahlten und ihn in gewisser Weise an die seines Bruders erinnerten.

„Hmm … Du belagerst mich tagelang, klaust mein Mittagessen …“, begann er aufzuzählen.

„Das war keine Absicht“, fiel Bakura ein, „aber mein Kompliment, kochen kannst du.“

„Danke“, er holte Luft, um seine Gedanken wieder zu sammeln, „du verschaffst dir mit einem Trick Zugang zu mir …“

„Stört dich das wirklich so sehr, dass ich da bin?“

Der jüngere Blonde zuckte etwas zurück. Während ihres Gesprächs hatten sie sich einander immer weiter genähert, bis ihre Nasenspitzen kaum mehr als zwei Fingerbreit voneinander entfernt waren.

„Nicht direkt stören …Es ist ungewohnt“, überlegte er. „Sonst kommt mich nur Mai besuchen.“

„Du verlässt deinen Turm nie?“

„Geht schlecht, an den eigenen Haaren runterzuklettern. Du solltest jetzt gehen, Bakura, ich habe noch einiges zu tun, bis sie wieder herkommt. Sie ist es gewohnt, dass ich meine Arbeit bis dahin fertig habe.“

„Was dagegen, wenn ich dich morgen noch mal besuche?“

„Na ja … warum nicht“, willigte er ein. Immerhin bot das ein wenig Abwechslung von seinem Alltag.

„Wenn du dann so freundlich wärst.“ Bakura stand auf und stellte sich neben das Fenster, wo er sich von Joey abseilen ließ. Er bestieg sein Pferd und überließ es diesem, ihn sicher nach Hause zu tragen. Um selbst auf den Weg zu achten, war er zu abgelenkt. Die Geschichte würde ihm Duke niemals glauben.

Ich gehöre mir

Kapitel 4

Ich gehöre mir
 

„Erzähl mir keine Märchen“, sagte Duke zwei Stunden später. „Aber damit hast du die Wette verloren, mein Freund. Sie – oder besser er – ist nach wie vor im Turm.“

„Du kriegst keine Verabredung mit Ryou. Wenn ich dich erinnern darf, unsere Wette bezog sich ausdrücklich auf ein Mädchen, das dort lebt. Folglich ist sie hinfällig.“

„Finde ich gar nicht“, brummte er, enttäuscht darüber, dass ihm schon wieder eine Möglichkeit entgangen war, sich mit Ryou zu verabreden. „Wirst du ihn denn noch mal besuchen?“

„Weiß ich noch nicht“, wich Bakura aus. „Mal sehen.“

Als er sich am Abend zu Bett begab, konnte er lange nicht einschlafen. Seine Gedanken kreisten um seinen neuen Bekannten. Sie hatten etwas gemeinsam. Beide lebten sie in einem goldenen Käfig, nur dass Joey das nicht zu merken schien. Er wollte wissen, was für ein Mensch sich dahinter verbarg, was diese Mai dazu veranlasst hatte, ihn einzuschließen … einfach alles. Sein Käfig umfasste wenigstens die ganze Hauptstadt und die Wälder, aber Joey hatte nie etwas anderes als die Mauern seines Turms vor Augen. Bakura konnte sich nicht vorstellen, dass er mit diesem tristen Leben so einverstanden war. Als es ihm gelang, seine Gedanken weit genug zur Ruhe zu zwingen, damit er schlafen konnte, war das Morgengrauen keine volle Stunde mehr entfernt.

In den nächsten Tagen hatte er keine Gelegenheit, aus dem Palast zu kommen. Sein Vater war der Meinung, er müsse sich mehr auf seine Ausbildung als Kronprinz konzentrieren, anstatt seine Zeit in Wirtshäusern und am Spieltisch zu vergeuden. Dafür hatte er Yami sogar die Erlaubnis erteilt, vor dem Eingang zum Unterrichtsraum einen Wachposten aufzustellen, um Bakura jederzeit einfangen und zurückholen zu können, sofern er die Stunde vorzeitig verlassen wollte.
 

Fast war Joey enttäuscht, als er den Ruf hörte und feststellte, dass es Mai und nicht Bakura war. Er hatte mehrere Tage nach ihm Ausschau gehalten. Wahrscheinlich hatte er ihn schon vergessen, gleich nachdem er seinen Freunden von ihm erzählt und sie sich vor Lachen über ihn ausgeschüttelt hatten. Es war besser, sich keinen falschen Hoffnungen hinzugeben und sich wieder mit der Situation abzufinden. Es würde weiterhin nur Mai in seinem Leben geben.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte Mai. „Du wirkst heute bedrückt.“

„Nein, alles wie immer. Ich bin nur nicht ganz so weit mit meiner Arbeit gekommen, wie ich dachte.“ Dazu hatte er zu oft aus dem Fenster gesehen. „Hast du alles gefunden, was du brauchtest?“

„Ja, der Trank ist so gut wie fertig. Meine Kolleginnen werden beim Kongress Augen machen.“

„Welcher Kongress?“, erkundigte er sich.

„Oh, hab ich dir das nicht erzählt? Ich bin zum diesjährigen Kongress der Magierinnen, Hexen und Feen eingeladen. Das Programm ist großartig, Vorträge, Themenabende, Treffen ehemaliger Magieschülerinnen, ein Wettbewerb um den besten neuen Zaubertrank, den ich zu gewinnen gedenke …“

„Wie lange bist du weg?“

„Die Anreise ist etwas länger, zwei Wochen werden es bestimmt, bis ich zurück bin. Aber du musst dir keine Sorgen machen, vorher schaffe ich dir genug Vorräte heran, dass du nicht hungern musst. Ich würde ja nicht gehen, es ist nur so, die Vorsitzende des Magischen Rats, Ishizu Ishtar, hat mich gebeten, selbst einen Vortrag zu halten. Sie meinte, sie habe mich in einer ihrer Visionen auf dem Podium gesehen. Da konnte ich nicht absagen.“

„Ich kriege die Zeit schon herum.“

Mai verbrachte anderthalb Tage damit, zwischen dem Turm und ihrer Hütte zu pendeln, um Joey mit den nötigen Wasser- und Lebensmittelvorräten zu versorgen. Nachdem der letzte Sack Mehl und die letzte Wurst verstaut war, glich das Turmzimmer einem Warenlager. Das reichte gut, um mindestens noch eine Person durchzufüttern. Die beiden ahnten nichts von ihrem grimmig dreinblickenden Zuschauer im Gebüsch, der sich fragte, was sie da treiben mochten. Solange Mai bei ihm war, konnte er nicht versuchen, sich Joey bemerkbar zu machen.

„Das sollte alles sein.“ Mai wischte sich die verschwitzten Hände ab und sah sich zufrieden um. „Also dann, stell keinen Unsinn an.“

Sie küsste ihn zum Abschied auf die Wange, schulterte ihren Korb und ging. Bakura schoss wie ein Pfeil aus dem Gebüsch.

„Joey, hörst du mich?“

„Bakura?“ Er sah nach unten. „Ich dachte, du kommst nicht mehr und … hättest mich vergessen.“

„Darf ich nun zu dir rauf, ja oder nein?“, kam die leicht gereizte Antwort. Oben angelangt sah er sich um. „Willst du ein Geschäft aufmachen oder ein Gasthaus? Etwas einsame Gegend dafür.“

„Nein, Mai ist für eine Weile weg. Sie –“

„Rapunzel! Ich hab was vergessen!“

Angesprochener ließ seinen Blick hastig durch den Raum schweifen.

„Unters Bett mit dir“, zischte er und zog an Bakuras Arm, „oder in den Schrank. Mai wird sehr ärgerlich werden, wenn sie dich hier sieht.“

Die Schranktür klappte zu, just bevor Mai ganz oben angelangt war.

„Was hast du denn vergessen?“ Joey schielte vorsichtig Richtung Schrank. Wenn Mai ihn bloß nicht fand.

„Was sehr wichtiges, das Salz.“ Sie zog einen dicken Beutel aus ihrem Korb. „Wie willst du sonst kochen.“

„Danke“, murmelte er, nahm ihr das Salz ab und verstaute es bei den anderen Gewürzen.

„Ist wirklich alles in Ordnung?“

„Ja, doch. Hast du schon alles gepackt?“

„Nein, da stecke ich noch mittendrin. Deshalb kann ich mich leider auch nicht länger bei dir aufhalten, sonst schaffe ich das nicht bis zur Abreise. Wir sehen uns in zwei Wochen.“

Nachdem sie unten angekommen war, band Joey sein Haar zusammen und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Das war gerade noch gut gegangen …

„Was machst du auf meinem Bett?“

„Das ist bequemer als dein Besenschrank.“ Bakura drückte die weiche Matratze herunter und lehnte sich in die Kissen zurück. „Mai ist für ein paar Wochen weg, wie nett.“

Sein Lächeln ließ Joey einen Schauer über den Rücken laufen. Ob das nun gut oder schlecht war, dessen war er sich noch nicht sicher.

„Willst du da stehen bleiben, bis du Wurzeln schlägst? Oder denkst du, ich fresse dich?“

Kosten würde er schon gern von ihm, aber auf eine andere Art. Das hatte ihm sein Körper in den letzten Tagen auf eindrucksvolle Weise mitgeteilt. So gut wie jeden Morgen. Joey ließ sich langsam am Fußende seines Bettes nieder und zupfte unsicher an seinen Kleidern herum.

„Du brauchst was anderes zum Anziehen, Joey. Ein paar vernünftige Hosen.“

„Sag das Mai, sie erlaubt mir keine. Ich hab sie oft genug danach gefragt.“

„Sie ist jetzt aber nicht da. Ich versuche mich morgen wieder aus dem Schloss zu schleichen, dann bringe ich dir was mit.“

„Warum musst du dich aus dem Schloss schleichen?“ Seine steife Haltung löste sich etwas.

„Mein Vater hat etwas dagegen, wenn ich mich draußen herumtreibe. So ähnlich wie bei dir, nur dass ich mehr Bewegungsfreiheit habe. Ehrlich, ich verstehe nicht, dass du das mit dir machen lässt.“

„Ich habe dir gesagt, sie meint es nicht böse.“

„Sicher doch“, unterbrach er ihn mit vor Sarkasmus triefender Stimme. „Deshalb isoliert sie dich von allem und jedem. Wann hast du das letzte Mal im Gras gelegen und dir die Sonne aufs Gesicht scheinen lassen?“

„Was geht dich das an, du bist doch selbst total blass.“

„Das tut gerade absolut nichts zur Sache“, wiegelte Bakura ab. „Hast du überhaupt mal was mit anderen Kindern zu tun gehabt, als du klein warst?“

„Selten.“ Joeys Stirn legte sich in Falten, während er überlegte. „Das letzte Mal war kurz bevor ich hierher kam. In Alva, auf dem Markt, da waren ein paar Kinder, mit denen ich Ball gespielt habe.“

Bakura legte den Kopf schief und musterte ihn nachdenklich.

„Ich glaube, ich erinnere mich.“ Er beugte sich vor und zog grinsend an einer Strähne, die aus Joeys Pferdeschwanz gerutscht war.

„Hey, das tut weh! Du! Du warst das damals?“

„Ja, war ich. Du stellst dich an wie damals, du Mädchen.“

„Ich bin kein Mädchen!“ Joey stieß ihn an, um ihn von sich wegzuschubsen, wurde am Arm gepackt und umgerissen. Er fand sich mit dem Rücken auf der Bettdecke wieder.

„Warum benimmst du dich dann so?“

„Tue ich überhaupt nicht.“ Seine Stimme wurde immer lauter, während er gegen Bakuras kaum gelockerten Griff um seine Arme kämpfte. „Lass mich los, verdammt, was soll das?“

„Wenn du dich aufregst, siehst du richtig süß aus“, lachte er und verharrte in der nächsten Sekunde mitten in der Bewegung. Das habe ich nicht gerade laut gesagt?

Der Blonde sah ihn perplex an. Hatte Bakura ihm eben ein Kompliment gemacht? Und warum lief er auch noch rot an, etwa deswegen? Sein Gesicht fühlte sich wie Feuer an.

Durch die mühsam erarbeitete prinzliche Selbstbeherrschung zog sich ein breiter werdender Riss. Wie sollte er so einem Engel noch länger widerstehen? Seine Lippen legten sich auf die verführerischen roten des Blonden, den überraschten Protest ignorierend.

Joey wusste nicht so recht, was hier vor sich ging. Er hatte gelernt, ein Kuss sei etwas zwischen einem Liebespaar, Mann und Frau … Aber warum gefiel ihm das Gefühl nicht nur, welches Bakuras Berührung auslöste, weshalb begann er sie sogar zu erwidern?

Der Prinz löste seinen Griff, seine Finger tasteten sich über Joeys Arme nach oben zu seinem Hals und seiner Brust. Seine Träume waren schon lebhaft gewesen, doch das Original zog er tausendfach vor, selbst diesen kleinen Vorgeschmack. Eine Hand verirrte sich in den weißen Haarschopf und zog ihn weiter herunter.

„Das … das war schön“, murmelte Joey, als sie sich voneinander lösten. „Nur … macht man das nicht eigentlich mit einer Frau?“

„Ich werde dir noch vieles beibringen müssen“, lächelte Bakura nachsichtig. Zum Teufel mit dem Ball und den ganzen Prinzessinnen. Sein Herz hatte er soeben unwiderruflich vergeben.
 

Noch nie in seinem Leben war der Prinz so froh gewesen, Duke seinen Freund nennen zu dürfen. Ohne seine Hilfe, häufig in Form kurzfristiger Ablenkungsmanöver, hätte er es so manches Mal nicht geschafft, aus dem Schloss herauszukommen. Yami passte scharf auf ihn auf und seine öffentlichen Verpflichtungen wurden mit jedem Tag mehr. Sein Vater hatte Schreiben an alle wichtigen Königs- und Fürstenhäuser der Nachbarreiche gesandt, dass sein Sohn auf Brautschau sei. Mindestens jeden zweiten oder dritten Tag traf ein Botschafter mit einem Bildnis der zu verheiratenden jungen Dame des Landes ein, das er vertrat.

Umso mehr genoss er die Zeit, die er mit Joey verbrachte. Nach vier Tagen hatte er ihn so weit, über eine Strickleiter aus dem Turm zu klettern und mit ihm einen Spaziergang durch den Wald zu machen. Er wusste genau, dass Joey dort nicht dauerhaft leben wollte, sich aber nicht traute, sich länger als ein, zwei Stunden vom Turm zu entfernen. Ihm blieb nur, ihn in kleinen Schritten daran heranzutasten, hoffend, dass ihm die Freiheit bald zu gut schmeckte, als dass er darauf verzichten wollte. Eine weitaus härtere Probe für seine Geduld stellte jedoch Joeys Weigerung dar, mehr als ein paar Küsse und Streicheleien zuzulassen. Er wollte ihn nicht dazu zwingen, selbst wenn es ihn nervte, jedes Mal selbst Hand anlegen zu müssen, wenn er nachts aus seinen Träumen erwachte. Dafür mochte er die naive Art des Blonden zu sehr und auch wenn er bei anderen nie so geduldig gewesen war und sich schließlich genommen hatte, was er wollte … Bei ihm konnte er das nicht. Er war gestern drauf du dran gewesen, ihn aufs Bett zu werfen und ein Blick aus diesen unschuldigen Hundeaugen hatte ihn wieder weich werden lassen. Es war wie verhext. Fast war er schon geneigt zu glauben, Mai habe ihm doch nicht nur Kräuterkunde, sondern auch etwas von ihren anderen Künsten beigebracht.

Joey dagegen, dem Bakura mit den Hosen, die er zu ihrem dritten Treffen wie versprochen mitgebracht hatte, eine riesige Freunde gemacht hatte, musste sich mit einer Reihe ganz anderer Probleme herumschlagen. Wenn sein Freund nicht bei ihm war, spürte er eine Sehnsucht, welche die nach Mai weit überstieg. Seine Berührungen brachten in ihm Saiten zum Klingen, von deren Existenz er vorher nicht mal etwas geahnt hatte und ihm Träume schickten, die ihn schweißgebadet, schwer atmend und mit einem Ziehen in den Lenden aus dem Schlaf auffahren ließen. Nicht zu vergessen, dass er sich durch ihre häufigen Ausflüge immer mehr daran gewöhnte, durch die Gegend zu streifen.

Die zwei Wochen von Mais Abwesenheit vergingen wie im Flug. Am Abend vor ihrer Rückkehr bedauerte er es richtig, wieder in seinen Turm zu müssen. Es war Anfang Juni, die Sonne schien warm vom Himmel und hatte sie an einen versteckten kleinen See geführt, an dessen Ufer sie sich nach dem Schwimmen ins Gras gelegt hatten, die Finger ineinander verschränkt.

„Du musst nicht da hoch“, begann Bakura, der ihm die Zweifel ansah. „Du könntest auch mit mir kommen, ins Schloss.“

„Bakura, du weißt, das kann ich nicht. Mai wüsste nicht, wo ich bin und würde sich Sorgen um mich machen.“

„Es ist schön und gut, an andere zu denken“, versuchte er ihn mit sanftem Ton zu überzeugen, „nur wäre es nicht an der Zeit, dass du auch an dich denkst? Kannst du dir nicht vorstellen, das hinter dir zu lassen und mit mir zu kommen?“

„Und dann? Du hast gestern selbst gesagt, dein Vater verlangt von dir zu heiraten. Uns aber ist dieser Bund verwehrt.“

„Das ist mir egal. Ich will dich, nicht eins dieser eingebildeten Weiber.“

Joey seufzte leise und strich ihm über die Wange.

„Wir haben beide unsere Verpflichtungen, aus denen wir nicht rauskommen. Ich kann Mai nicht im Stich lassen …“, Bakura hob zu einem Widerspruch an, den er unterband, indem er ihm einen Finger auf die Lippen legte, „und du nicht dein Land. Alvaria ist ein schönes Reich, es braucht dich.“

„Würdest du auch so rede, wenn ich nicht der Kronprinz wäre? Wenn ich, sagen wir, ein einfacher Ritter ohne Land und Reichtümer wäre?“

„Und Mai?“

Bakuras Blick verdunkelte sich.

„Lass sie wenigstens ein Mal außen vor. Was ist es, was du willst?“

„… Dich“, flüsterte Joey, drückte seine Lippen kurz auf Bakuras und kletterte dann rasch die Leiter hinauf. Wenn er ihn noch länger ansah, lief er Gefahr, ihn zu bitten, ihn auf der Stelle mitzunehmen.
 

Etliche Meilen entfernt saß Mai mit Ishizu und zwei anderen Kolleginnen am Tisch und stocherte lustlos in ihrem Abendessen herum. Sie hatte längst auf dem Rückweg sein wollen, wäre nach ihrer ursprünglichen Planung morgen angekommen. Jetzt saß sie hier fest, da Agiza, die Hexe aus dem Dunklen Wald, wegen Geiselnahme und Kannibalismus angeklagt und vor das Hexengericht gestellt worden war. Es hieß, sie habe kleine Kinder zu sich in den Wald gelockt, um sie zu essen. Seit drei Tagen liefen die Verhandlungen bereits, Agiza weigerte sich hartnäckig, auch nur das Geringste zu gestehen. Manchmal nervte es Mai, einen Sitz im Hexenrat zu haben.
 

Bakura lief in seinem Gemach wie ein Raubtier im Käfig auf und ab und überlegte, was er tun sollte. So ungern er es zugab, Joey hatte mit dem Recht, was er gesagt hatte. Er war der Thronfolger – verflucht seien diese dreiundzwanzig Sekunden – und musste folglich für die nächste Generation Sorge tragen, damit ihre Königslinie nicht abbrach. Aber wie sollte das gehen? Eine Dreierbeziehung zu führen, war keine Option, weder für ihn noch Joey und eine Frau würde da noch weniger mitspielen. Und ihn verlassen? Auf keinen Fall. Eigentlich hatte er nur eine Möglichkeit, und wenn diese seinem Vater nicht gefiel … dann konnte er es nicht ändern.

Den Umstand, dass Mitternacht vorüber war, ignorierte er geflissentlich und marschiere aus seinem Zimmer, um ein paar Türen weiter anzuklopfen. Beim zweiten Mal hämmerte er mit der Faust gegen das Holz, bis ihm ein schlaftrunken wirkender Ryou öffnete, der noch dabei war, den Morgenrock um sich zu schlingen.

„Was ist denn?“, gähnte er.

„Wir müssen reden, kleiner Bruder.“

„Hat das nicht bis morgen Zeit?“

„Je eher, desto besser“, sagte er und drängte sich an ihm vorbei in den Raum. Ryou musste schon tief und fest geschlafen haben, die Vorhänge seines Himmelbettes waren zugezogen. Die Brüder setzten sich vor den Kamin. Mit jedem Wort Bakuras wurde Ryou wacher, schüttelte zwischendurch ungläubig den Kopf und musste sich zwingen, ihn nicht zu unterbrechen.

„Das ist nicht dein Ernst“, sagte er am Ende von Bakuras Ausführungen. „Willst du das wirklich?“

„Ich glaube, es gibt keinen anderen Weg. Und seien wir mal ehrlich, ich –“

„Aber du …“

„Schlaf erst mal eine Nacht drüber.“

„Das würde ich eher dir raten“, erwiderte Ryou.
 

Der Blick Joeys schweifte besorgt über die Umgebung. Mai war den zweiten Tag überfällig, das sah ihr gar nicht ähnlich.

„Hey, Joey! Kann ich hochkommen oder ist Mai schon zurück?“

Bakura stand unten und winkte ihm zu. Die Strickleiter, die er vor ein paar Wochen mitgebracht hatte, wurde zu ihm heruntergelassen.

„Tut mir leid, dass ich gestern nicht kommen konnte. Ich musste ein paar wichtige Dinge klären.“

Er stieg durch das Fenster und zog die Leiter hinter sich hoch.

„Was war denn so furchtbar wichtig?“, schmollte Joey.

Gott, wie süß, dachte sein Gegenüber und wusste wieder einmal nicht, ob er den Blonden nun an sich ziehen und küssen oder sich den Mund mit Seife ausspülen sollte, weil er schon wieder Worte wie süß und niedlich mit ihm in Verbindung brachte, die in seinem Wortschatz eigentlich überhaupt nichts verloren hatten. Erst als Joeys Blick fragend wurde, merkte er, dass er ihn die ganze Zeit angestarrt hatte, ohne auf seine Frage zu antworten.

„Ich habe mit meinem Bruder gesprochen, ob er bereit wäre, an meiner Statt König zu werden.“

„Du … du willst auf den Thron verzichten? Etwa meinetwegen?“, fragte er entgeistert.

Joey wusste nicht, was er sagen sollte und ließ sich aufs Bett fallen. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Er wäre nie im Leben auf den Gedanken gekommen, ihn darum zu bitten. Sein Freund setzte sich neben ihn, legte den Arm um seine Schultern und zog ihn an sich.

„Wenn das der einzige Weg ist, mit dir zusammen sein zu können, ja. Ich hab mir eh noch nie viel aus dem ganzen Königsein gemacht. Für so was bin ich einfach nicht geschaffen, da ist Alvaria mit Ryou weit besser dran, glaub mir. Wärst du unter diesen Bedingungen bereit, mit mir zu gehen?“

„Hmm … Gib mir etwas Zeit, das zu verdauen“, bat Joey. „Ich muss darüber nachde … Was wird das?“

„Ich helfe dir nur beim Nachdenken“, flüsterte der Weißhaarige und fuhr fort, an seinem Ohr zu knabbern.

„Als hilfreich würde ich das nicht gerade bezeichnen.“

Er wandte den Kopf ab, um ihm sein Ohr zu entziehen. Bakura ließ sich davon nicht im Mindesten stören, seine Zunge glitt von Joeys Ohr zu seinem Hals weiter, an dem er saugte, bis ein rotes Mal zurückblieb. Seine Finger tasteten sich unter das Hemd des Blonden, über die warme Haut und seinen Rücken hinauf. Joey gehörte ihm, er würde nicht zulassen, dass Mai ihn ihm wieder nahm. Da war er wie ein Wolf, was er einmal in seinen Fängen hatte, ließ er nicht mehr los.

Joeys Lippen schnappten nach seinen, fingen sie zu einem Kuss ein. Er nestelte an der Schnürung von Bakuras Hemd und schob es beiseite, ließ die Finger über die trainierten Muskeln gleiten. An seinem Herz hielt er inne und lauschte dem schnellen Pochen, das im Takt seines eigenen schlug. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sein sollte, wieder ohne ihn zu leben. Seine Arme schlangen sich um seinen Nacken und zogen ihn nach unten, ohne den Kuss zu unterbrechen.

Über dem Spiel ihrer Zungen merkten sie kaum, wie sie sich gegenseitig halfen, sich ihrer Kleider zu entledigen und sich in das helle Leinen zurücksinken ließen. Sie erkundeten, schmeckten einander, wobei Bakura überrascht feststellte, dass das sogar Spaß machen konnte (bei seinen früheren kurzen Liebschaften hatte er sich nie die Zeit für dergleichen genommen). Sie ließen sich treiben, kosteten jede Sekunde aus und hielten nur manchmal kurz inne, um dem Keuchen des anderen zu lauschen, das sich bald in kehliges Stöhnen verwandelte. Als sich Bakura schließlich aus Joey zurückzog und neben ihn legte, hatte die Abenddämmerung eingesetzt und tauchte den Raum in Goldtöne.

„Ich komme mit dir“, murmelte Joey erschöpft und kuschelte sich an seinen Freund. „In zwei Tagen, so lange möchte ich noch auf Mai warten. Sie verdient es, dass ich ihr alles persönlich erkläre.“
 

Es war ein seltsames Gefühl, seine Sachen zu packen, stellte er zwei Tage darauf fest. In den vielen Jahren, die er hier verbracht hatte, war ihm der Turm zu einem Heim geworden. Ein Heim und dennoch auch ein Gefängnis. Wenn er zurückkam, um mit Mai zu sprechen (sie hatte sich bisher nicht blicken lassen und länger konnte er nicht warten), würde er sie fragen, warum sie ihn eingeschlossen hatte. Darauf hatte sie ihm immer die Antwort verweigert, aber er fand, er hatte ein Recht darauf, es zu erfahren. Genauso wollte er gern wissen, was aus seiner Familie, insbesondere seiner kleinen Schwester geworden war. Serenity musste etwa siebzehn sein und war sicher ein hübsches Mädchen geworden. Sobald im Schloss alles geklärt war und Bakuras Vater erfahren und verarbeitet hatte, dass sein jüngerer Sohn die Nachfolge antreten sollte, wollten Joey und Bakura aufbrechen und nach seinen Verwandten suchen.

Er sah sich um, ob er nichts vergessen hatte. Seine persönlichen Sachen befanden sich in einem Rucksack auf dem Stuhl, der Anhänger, den ihm seine Tante geschenkt hatte, hing um seinen Hals. Auf dieses Schmuckstück hatte er immer sehr sorgfältig geachtet. Kurz nachdem Mai ihn mitgenommen hatte, war er verschwunden, am nächsten Tag hatte er ihn am Flussufer wiedergefunden. Die Kleider hingen im Schrank und darüber, sie endlich hinter sich lassen zu können, war er mehr als froh. Er nahm den Brief vom Schreibpult und lehnte ihn gut sichtbar an die Vase mit bunten Wiesenblumen, damit Mai ihn gleich fand. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Bakura kam, um ihn abzuholen, höchstens noch eine Stunde.

„Rapunzel, lass dein Haar herab!“

Die Worte ließen ihn heftig zusammenfahren, er richtete sich kerzen-gerade auf. Darauf, jetzt noch auf seine Stiefmutter zu treffen, war er nicht eingestellt. Seine Gedanken überschlugen sich. Schnell alles verstecken, ein Kleid überwerfen und ihr alles in Ruhe erklären oder sie einer Schocktherapie aussetzen? An sich wollte er nicht mit der Tür ins Haus fallen.

„Ja, gleich!“, rief er händeringend, warf die Strickleiter unter das Bett und zog die Decke zurecht.

„Ich bin wochenlang weg und du lässt mich hier stehen?“

„Einen Augenblick noch.“

Um alle Gegenstände, die er mitnehmen wollte, an ihren Platz zu räumen, fehlte ihm die Zeit. Er riss den Kleiderschrank auf und stülpte sich das erste Kleid über, das ihm unter die Finger kam. Hinter sich hörte er Flügelschläge, fuhr herum und bekam eben noch mit, wie ein großer Adler durch das Fenster flatterte und sich in Mai verwandelte. Er schwankte zwischen Schrecken und Staunen. Dass sie Tiergestalt annehmen konnte, hatte sie ihm nie gesagt.

„Ich habe mich in einen Adler verwandelt, um schneller heimzukommen. Es gab beim Kongress ein paar Komplikationen und –“ Sie brach ab und sah sich um. Ihr Blick blieb an Joey hängen, der es nicht mehr geschafft hatte, in den linken Kleiderärmel zu schlüpfen. „Was ist hier los?“

„Mai, ich … es ist so, dass ich … Als du weg warst …“, stammelte er hilflos. Er hatte Stunden gebraucht, sich seine Worte zurechtzulegen und jetzt, da er sie brauchte, waren sie weg. Mai hob seinen Rocksaum an.

„Woher hast du die Hose? Ich will eine Antwort.“

Joey blieb stumm. Sie schaute weiter, entdeckte den Rucksack und den Brief, riss diesen auf und überflog stumm die Zeilen. In ihre Augen traten Tränen.

„Du willst weg?“, fragte sie, ihm den Rücken zugewandt. „Habe ich nicht immer alles für dich getan?“

„Schon, nur … ich bin jetzt erwachsen, Mai, und ich möchte mir mit Bakura zusammen ein neues Leben aufbauen.“

„Ich habe dir gegeben, was du wolltest.“ Ihre Hand krampfte sich um den Brief und zerknitterte ihn. „Und du wirfst dich einem Dahergelaufenen an den Hals, der behauptet, ein Prinz zu sein. Willst mich Hals über Kopf verlassen. Habe ich das etwa verdient?“

„So versteh doch –“

„DU verstehst nicht!“ Sie fuhr zu ihm herum und schritt auf ihn zu, einen Ausdruck in den Augen, der sich mit vollem Schmerz in Joeys Brust brannte. „So dankst du es mir, dass ich mich all die Jahre um dich gekümmert habe. Deine Eltern wollten dich nicht, ich habe dich zu mir genommen und für dich gesorgt, als wärst du mein eigen Fleisch und Blut. Du bist ein sehr undankbarer Junge.“

„Das stimmt nicht, ich bin dir ja dankbar, nur … Mein Leben gehört mir. Lass mich das doch erklären.“

„Ich will deine Ausflüchte nicht hören!“

Joey schluckte, der zusammengeknüllte Brief in ihrer Hand ging in Flammen auf. So zornig hatte er Mai nie zuvor erlebt, er hatte auch nie gesehen, dass sie so ihre Kräfte einsetzte.

„Du wirst diesen Mann nie wieder treffen. Ich bringe dich von hier weg.“

„Mai, bitte!“

„Joey, bist du fertig?“, erklang Bakuras Stimme von draußen.

Er öffnete den Mund, wollte seinen Liebsten warnen, doch Mai war schneller. Auf eine Handbewegung von ihr schossen ein paar der Weinranken, die sich die Mauer hoch wanden, zum Fenster herein, wickelten sich um Joeys Handgelenke, das Küchenhandtuch schlang sich um seinen Mund. Er konnte nur flehend den Kopf schütteln, als sie seine Haare um die Spindel wickelte und sie zu einem langen Zopf wachsen ließ. Die Zauberin nahm eine Schere und schnitt ihm diesen ab, kaum dass er ausgewachsen war. Sie befestigte ihn am Fenster und warf ihn nach unten. Bakura war erstaunt, sonst benutzten sie die bequemer zu handhabende Strickleiter, machte sich aber an den Aufstieg. Ohne auf Joeys stummen Protest zu achten, stieß Mai ihn in den Besenschrank und schloss die Tür hinter ihm ab.

„Wir können gehen. Joey?“ Bakura sah sich um und bemerkte die festgeknoteten Haare.

„Er ist nicht mehr hier.“ Mai stand hinter ihm, er fuhr herum.

„Du bist diese Zauberin, Mai, richtig?“ Er tastete nach dem Schwert an seiner Hüfte. „Wo ist Joey? Was hast du mit ihm gemacht?“

„Du wirst ihn nie wiedersehen“, zischte Mai. „Er gehört mir.“

„Er ist nicht dein Eigentum. Ob er bei dir bleibt oder mit mir geht, ist seine Entscheidung. Nicht meine und nicht deine.“

Wenn sie es auf einen Kampf ankommen lassen wollte, bitte, den sollte sie haben. Er dachte nicht daran, ohne Joey zu gehen. In einer einzigen fließenden Bewegung zog er das Schwert aus der Scheide, riss es hoch und stürmte auf sie zu. Sein Hieb traf ins Leere, er blinzelte verwirrt. Eben hatte sie doch noch da gestanden.

„In diesem Fall hat Joey nicht zu entscheiden.“

Er wandte sich ihr zu, machte sich für einen zweiten Angriff bereit.

„Wo hast du ihn hingebracht?“, donnerte er.

„Du wirst ihn nicht finden. Vergiss ihn.“

Sie verschwand vor ihm, Sekunden bevor das Schwert sie berührt hätte. Bakura, vom Schwung seiner Waffe getragen, konnte nicht bremsen und stolperte über den quer liegenden Zopf.

Scheiß Haare!, dachte er noch und stürzte aus dem Fenster.

Für immer

Kapitel 5

Für immer
 

Joey zog und zerrte an seinen pflanzlichen Fesseln und dem Tuch. Durch die Tür drangen eindeutig Kampfgeräusche. Er musste raus und die beiden Streithähne beruhigen, sie sollten sich nicht seinetwegen die Köpfe einschlagen. Bei Bakuras plötzlichem Schrei blieb ihm fast das Herz stehen. Er ruckelte an der Tür, pochte gegen das Holz, um sich bemerkbar zu machen. Nach endlosen Sekunden wurde ihm geöffnet. Der Blick seiner Ziehmutter war finster. Sie hob den Zauber auf, die Fesseln fielen von ihm ab. Er stürzte an ihr vorbei ans Fenster.

„Bakura! BAKURA! Was hast du angerichtet?“

Der Prinz lag reglos mitten in einem großen Dorngestrüpp. Auf seiner rechten Wange klaffte eine große blutende Wunde.

„Du kannst ihm nicht mehr helfen.“

Mai packte ihn hart am Arm. In seinem Kopf machte sich ein betäubendes Gefühl breit. Er wollte sich wehren, Mai anschreien, zu Bakura hinunter und war doch kaum fähig, sich auf seinen eigenen Beinen zu halten. Er fühlte sich wie in dicke Watte gepackt, als er hinter der Zauberin den Zopf herabstieg und von ihr fortgezogen wurde. Sich losreißen und zurücklaufen konnte er nicht. Sie marschierte mit ihm quer durch den Wald, durch Bachläufe und über umgestürzte Bäume, sah nicht zu ihm zurück und achtete nicht auf die Tränen, die ihm unaufhörlich über die Wangen rannen. Bald hatte er vollkommen die Orientierung verloren, wusste nicht mehr, in welche Himmelsrichtung sie gingen. Er registrierte kaum, wie er neben Mai auf den Planwagen stieg, mit dem sie so lange durch die Lande gezogen waren. Sie durchquerten Wälder und Felder, ohne nur einem einzigen Menschen zu begegnen, den er um Hilfe hätte bitten können. Joey zählte nicht die Stunden, die sie unterwegs waren. Seine Wut wechselte mit der Zeit zu Frustration und wurde schließlich zu Resignation. Gebunden durch Mais Zauber war er nicht mal fähig, ihr ins Gesicht zu schreien, was er von ihr hielt.

Als die Sonne tiefer sank, wand sich der Pfad, dem sie folgten, zwischen zwei großen, aufrecht stehenden Monolithen hindurch. Die Bäume neigten sich zu beiden Seiten dem Weg zu und bildeten einen natürlichen grünen Laubengang. Beim Passieren der Felsen spürte Joey ein kurzes Kribbeln im Nacken. Einige Zeit später, den Wald hatten sie weit hinter sich gelassen und der Himmel färbte sich bereits rot, hielt Mai den Wagen mitten in einem steinigen Tal an, in dem außer Dornsträuchern und Gräsern kaum etwas wuchs. Der Boden war trocken und aufgerissen, es musste Wochen oder gar Monate her sein, seit es zum letzten Mal geregnet hatte. Sie stieß ihren Ziehsohn vom Wagen.

„Warum zwingst du mich dazu?“, fragte sie traurig.

Joey fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Als hätte er sie dazu gezwungen, ihn zu verschleppen. Es kostete ihn ungeheure Kraft, seine Finger zu krümmen und die Faust zu ballen. Sie wendete und schlug mit den Zügeln. Der Esel weigerte sich zu laufen.

„Beweg dich, du störrisches Vieh. Glaubst du, ich tu das gern?“

Erst als sie zur Peitsche griff und diese knallend durch die Luft schwang, setzte sich das Tier in Bewegung. Der Zauber, der Joey gefangen gehalten hatte, fiel von ihm ab. Er lief hinter ihr her.

„Das kannst du nicht machen! Lass mich zu Bakura zurück, bitte! Er braucht Hilfe.“

„Vergiss ihn!“, rief sie zurück. „Siehst du denn immer noch nicht, dass ich es nur gut mit dir meine?“

„Du hast mich eingesperrt.“

„Aber doch nur zu deinem Schutz.“

„Schutz vor was? Das stimmt alles nicht. Du wirfst mir vor, nur an mich zu denken, weil ich mit Bakura zusammen sein will. Dabei bist du diejenige, die selbstsüchtig ist.“ Er ignorierte ihr empörtes Schnappen nach Luft. „Du wolltest mich für dich allein haben, was ich wollte, war dir völlig egal. Als ich klein war, warst du wie eine Mutter für mich, aber je älter ich wurde, umso mehr hast du mich von anderen abgeschottet.“

Joey lief schneller, schloss mit dem Wagen auf, um die Frau noch einmal ansehen zu können, die ihn aufgezogen hatte.

„Es reicht mir mit dir.“

„Joey, ich nehme dich gerne wieder zu mir, wenn du mir nur versprichst –“

„Danke, ich verzichte“, schnitt er ihr das Wort ab. „Weißt du was, Mai, ich brauche deine Hilfe nicht. Ich schaffe es auch ohne dich hier raus und zu ihm zurück. Verschwinde.“

„Aber wir sind doch –“

„Hau ab!“

Sie schlug mit den Zügeln und fuhr davon. Mais Blick war stur auf die Straße gerichtet, sie kämpfte um ihre Fassung und verlor, kaum dass sie das Tal verlassen hatte. Sie hielt am Wegesrand an, zwischen ihren Fingern, mit denen sie das Gesicht bedeckt hatte, rannen Tränen durch. So hatte es nicht enden sollen. Vor ein paar Tagen noch hatte ihre Freundin Flora davon geschwärmt, was für eine herrliche, erfüllende Aufgabe sie als Fee habe, den Menschen eine glückliche Zukunft zu bereiten. Erst neulich hätten sich wieder zwei ihrer Schützlinge das Jawort gegeben.

„Und wo ist mein glückliches Ende?“, flüsterte sie.

Hatte sie als Zauberin etwa kein Anrecht darauf? Seit ihre eigene Ziehmutter und Lehrmeisterin verstorben war (sie hatte sie als Waise gefunden), hatte sie sich gewünscht, selbst Kinder zu haben. Der erste Mann, in den sie sich verliebt hatte, hatte sie aus heiterem Himmel sitzen lassen, der nächste hatte sie betrogen, ein dritter wollte sich nur ihre Zauberkraft zunutze machen. Nein, Glück mit Beziehungen hatte sie nicht gehabt. Sie hatte gedacht, alles würde anders werden, als sie Joey adoptierte … Jetzt hatte auch er sie verlassen.

Sie fuhr von ihrem Platz auf. Auch wenn dem so war, sie musste ihm wenigstens sagen, wo sie sich befanden. Mit den Monolithen hatten sie mehr als ein einfaches Tor passiert. In ihrer Enttäuschung hatte sie ihn in eines der Elfenreiche gebracht, wo die Zeit anders als in den Gebieten der Menschen verlief. Er würde ewig durch die Wälder irren, wenn sie ihm nicht den Weg zum Portal zeigte. Wenn sie jedoch so darüber nachdachte, ein paar Tage Aufenthalt hier waren womöglich in der Lage, seine Meinung zu ändern.
 

Bakura kam stöhnend zu sich. Der Kopf dröhnte ihm, als wäre er von einer Rinderherde niedergetrampelt worden. Sein ganzer Körper schmerzte. Er versuchte vorsichtig seine Gliedmaßen zu bewegen und stellte fest, dass er seinen rechten Arm nicht richtig spüren konnte, wahrscheinlich gebrochen. Was war überhaupt passiert, er konnte sich kaum erinnern. Dunkel sah er Mai vor sich, wie er gegen sie kämpfte … Joey! Er fuhr auf, bereute dies aber sofort, der Schmerz schoss durch seinen Rücken, um ihn drehte sich alles und es dauerte etwas, bis die Welt wieder still stand. Er sah an sich herunter, das Hemd war zerfetzt, höchstens noch als Putzlappen zu gebrauchen, der einst weiße Kragen von Blut getränkt, das seine Wange herablief. Er betastete die Wunde vorsichtig, sie lief von seinem rechten Auge bis zum Kinn hinab, durchbrochen von zwei quer dazu verlaufenden Schlitzen. Seine Arme waren voller Kratzer und Schnittwunden, mehrere Dornen hatten sich ihm ins Fleisch gebohrt, die er mühsam mit der linken Hand herauszog.

„Joey!“ Schon seinen Kopf in den Nacken zu legen, tat weh. „Joey, hörst du mich?“

Er kam mehr kriechend als laufend aus dem Dorngestrüpp heraus und humpelte auf den Turm zu, ununterbrochen Joeys Namen rufend. Niemand antwortete ihm. Langsam erinnerte er sich daran, was Mai gesagt hatte. Sie musste ihn verschleppt haben. Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war, ob überhaupt noch derselbe Tag war. Sie konnten schon Meilen weit weg sein und er hatte nicht den blassesten Schimmer, in welche Richtung sie unterwegs waren. So miserabel, so hilflos hatte er sich noch nie gefühlt. Auf seinen Pfiff kamen die beiden Pferde, das zweite hatte er eigentlich für den Blondschopf mitgebracht. Er zog sich auf den Rücken seines Pferdes und ließ sich von ihm Richtung Stadt tragen. Die Strecke zwischen Alva und dem Turm war er so oft geritten, dass das Tier sie auswendig kannte.

„Bakura, was ist mit dir geschehen?“ Ryou, der sich selbst für einen kurzen Ausritt bereit machte, lief quer über den Hof und fing den vom Pferd rutschenden Bruder auf. „Ruft den Medikus, schnell!“

Das nächste, was Bakura sah, war der Baldachin seines Himmelbetts. Ryou, seine Mutter und Duke saßen an seiner Seite, tiefe Besorgnis in den Augen. Stockend begann er zu berichten. Die Königin hörte ihm schweigend zu, froh darüber, dass ihr Mann noch nichts davon gewusst hatte – erst recht nicht davon, dass ihr Sohn am eigenen Geschlecht Interesse zeigte. Wenn erst ein paar Tage vergangen waren und sich Bakura ein wenig daran gewöhnt hatte, würde er sicher einsehen, dass es für ihn und diesen Joey keine Zukunft gab. Unter den Prinzessinnen, die im passenden Alter waren, befand sich hoffentlich eine, die ihn über den Verlust hinwegtrösten konnte.
 

Es wurde bald dunkel und Joey kauerte sich zwischen ein paar großen Felsen zusammen, die ihm halbwegs Schutz vor dem kalten Nacht-wind boten. Das Kleid, das er vor ihrem Aufbruch nicht mehr hatte ausziehen können, wickelte er als Decke um sich. Sobald die ersten Sonnenstrahlen das Tal berührten, machte er sich auf den Weg. Er würde es Mai schon zeigen, er brauchte sie nicht, um zu Bakura zu kommen.

Am Ende des Tages geriet seine Meinung leicht ins Schwanken. Auf dem Hinweg hatte die Strecke viel kürzer ausgesehen, nun war es Abend und er hatte den Wald immer noch nicht erreicht, ganz davon zu schweigen, dass er weder etwas Essbares noch Wasser gefunden hatte. Trotzdem weigerte er sich, nach Mai zu suchen und sie um Hilfe zu bitten. Er wollte ihr nicht noch einmal in die Fänge geraten. Als er in den Vormittagsstunden des folgenden Tages die ersten Ausläufer des Waldes erreichte, konnte er sich kaum noch aufrecht halten. Glücklich, endlich der heißen Sonne entronnen zu sein, machte er im Schatten der Bäume eine Pause und schlief eine Weile, bevor er seine Reise fortsetzte. Es dauerte volle drei Tage, bis er das Tor aus Monolithen wiederfand und erneut das Kribbeln im Nacken bemerkte, als er es durchschritt.

Ist das derselbe Wald, durch den ich vor ein paar Tagen gekommen bin?, dachte er irritiert. Alles sah so anders aus, das Grün der Bäume war dunkler, als er es in Erinnerung hatte, viele Pflanzen waren weiter entwickelt und es blühten Blumen, für die es eigentlich noch gar nicht an der Zeit war. Wenn er richtig rechnete, musste Mitte Juni sein, nach dem Stand der Pflanzen zu urteilen aber eher Mitte August. Sie konnten doch unmöglich einen derartigen Wachstumsschub bekommen haben. Nach einiger Zeit des Umherirrens fand er einen Pfad, der aus dem Wald herausführte. Auf den Feldern, an denen er vorbeikam, lag das Getreide zu Bündeln geschnürt zum Trocknen aus. Von einem Apfelbaum am Straßenrand schüttelte er ein paar Äpfel herunter, nach tagelanger Kost aus Wurzeln und Beeren brauchte er etwas anderes zu essen. Allmählich keimte ein böser Verdacht in ihm auf. Mai musste ihn unbemerkt einem weiteren Zauber unterworfen haben, der ihm entweder vorgaukelte, die Zeit vergehe viel langsamer oder viel schneller, anders konnte er sich das alles nicht erklären.
 

Bekanntlich heilt Zeit alle Wunden. So verhielt es sich auch mit Bakuras Verletzungen. Die angebrochenen Rippen und sein Arm wuchsen bald wieder zusammen, die Striemen auf seiner Wange jedoch wollten nicht richtig verheilen und hinterließen eine große Narbe. Er ignorierte das Getuschel der Mitglieder des Hofstaates seines Vaters, das sie hinter vorgehaltener Hand führten, die Narbe würde ihn entstellen. Der kosmetische Aspekt war ihm gleichgültig, vielmehr erinnerte sie ihn beständig an Joeys Verlust. Während der ersten Wochen nach seinem Unfall hatten Ryou, Duke und Yami ihre liebe Not damit, ihn davon abzuhalten, das nächstbeste Pferd zu nehmen und sich auf die Suche nach ihm zu begeben. Der Medikus hatte jede körperliche Anstrengung verboten und an Reiten war erst recht nicht zu denken.

Seine Wunden heilten … im Gegensatz zu seinem Herz, das ihm wie ein riesiger Scherbenhaufen vorkam. Er hatte nicht eher Ruhe gegeben, als bis sein Bruder heimlich, ohne das Wissen ihrer Eltern, Boten in alle vier Himmelsrichtungen geschickt hatte, um Joey zu suchen. Es waren Wochen vergangen, sie hatten nichts in Erfahrung bringen können. Er war wie vom Erdboden verschluckt.

Der Juli ging in einen heißen August über, an dessen Ende das ganze Schloss in Aufregung geriet. Der zwanzigste Geburtstag der beiden Prinzen nahte und damit der große Ball, bei dem Bakura seine Frau wählen sollte. Ob er das überhaupt wollte, danach fragte sein Vater nicht. Hätte es nur einen Hinweis auf Joeys Aufenthaltsort gegeben, ein Flüstern – er hätte sofort das Schloss verlassen und sich auf den Weg zu ihm gemacht. Je näher die Zwangsverlobung rückte, desto weiter strebte seine Laune dem Bodenlosen zu. An manchen Tagen trauten sich die Diener kaum noch, ihn überhaupt anzusprechen, weil sie fürchten mussten, er könne mit seinem Dolch nach ihnen werfen oder seine schlechte Laune anderweitig an ihnen auslassen.
 

Gewissheit über seine Beobachtungen, die Zeit müsse während seiner Wanderung anders abgelaufen sein, erhielt Joey zwei Tage später, als er auf ein kleines Gehöft stieß und den dort lebenden Bauern befragte. Es war der 21. August und er hatte gestern, von Südosten kommend, unbemerkt die Grenze nach Dracoria, seine alte Heimat, überquert. Um nach Alvaria zu gelangen, musste er quer durch das Reich reisen. Die Frau des Bauern setzte ihm eine kräftige Suppe und Brot vor, als Hilfe dafür, dass er ihnen einen Stapel Brennholz spaltete und hinterm Haus aufstapelte, und zeigte ihm den Weg zum nächsten Dorf. In diesem angekommen erklärte sich ein fahrender Händler bereit, ihn auf seinem Karren in die Hauptstadt mitzunehmen.

Zerlumpt, hungrig und ohne eine Münze in der Tasche kam er in Dracis an. Er erkannte die Stadt kaum wieder, es waren viele neue Gebäude entstanden, weitere waren im Bau, in der ganzen Stadt pulsierte das Leben. Mühevoll kratzte er in seinem Gedächtnis ein paar Namen seiner früheren Freunde zusammen und machte sich auf die Suche nach ihnen. Der Fischer, der seine Hütte damals am Stadtrand gehabt hatte, war mit seiner Familie fortgezogen, der Sohn des Müllers befand sich auf Wanderschaft und der Sohn des Bäckers erinnerte sich nicht mehr an ihn und setzte ihn vor die Tür. Der Duft von frischem Brot und Kuchen, der aus der Backstube drang, ließ Joeys Magen noch lauter knurren. Er ließ sich an einer Hauswand auf den Boden sinken und vergrub den Kopf zwischen den Armen. Da war er nun, verlassen und mittellos, Bakura wahrscheinlich tot, denn bislang hatte er nichts über ihn in Erfahrung bringen können … Kurz flackerte in ihm der Gedanke auf, es wäre besser gewesen, auf Mai zu hören oder all dem hier und jetzt ein Ende zu setzen. Das laute, panische Wiehern eines Pferdes brach dazwischen.

„So haltet es doch auf, ihr Dummköpfe!“, rief eine tiefe Stimme unwirsch.

Joey sah auf. Er befand sich unweit des Schlosses, am Rand eines Platzes, in dessen Mitte ein großer Brunnen stand, der wie so vieles neu sein musste. Das Wasser plätscherte aus den Mäulern dreier großer weißer Drachen, die ihre Flügel gen Himmel reckten. Durch das Tor, das in den Vorhof des Schlosses führte, kam ein Pferd gelaufen, dessen Fell schwarz wie die Nacht war. Mehrere Knechte folgten ihm, die es einzufangen versuchten. Der Hengst schlug Haken und wich den Fangversuchen geschickt aus.

„Wenn ich diesen Gaul erwische! Und den Kerl, der ihn mir verkauft hat, den lasse ich hängen!“

Der Besitzer des Pferdes marschierte durch das Tor, die Hände zu Fäusten geballt und seine Untergebenen mit einem Blick wie blankes Eis anfunkelnd. Joey rieb sich die Augen, aber es konnte kaum anders sein. Das musste Seto sein, Prinz von Dracoria und sein erklärter Lieblingsfeind während seiner Kindheit. Er hatte sich verändert (nicht nur körperlich, da er jetzt über einen Kopf größer als Joey war), aber das nicht unbedingt zu seinem Vorteil. Um seinen Mund lag ein harter Zug, den er früher nicht gehabt hatte.

„Los, fangt ihn endlich.“

„Wir versuchen es ja, mein Fürst.“

Hatte er richtig gehört? Wenn Seto Fürst war, was war dann mit seinem Vater passiert, Fürst Gozaburo? In Alvaria hatte er wenigstens durch den Klatsch der Leute erfahren, was in seiner Heimat geschah, in seinem Turm jedoch hatte er wie hinter dem Mond gelebt. Das Pferd umrundete den Platz und wich dem Stallmeister, einem noch jungen Mann mit rubinroten Haaren, aus.

„Alister, fang ihn endlich“, verlangte Seto, der dabei war, im Kopf alle Bestrafungsmöglichkeiten für den verlogenen Pferdehändler durchzugehen. Von wegen, der Hengst sei gut zu reiten, er ließ sich nicht einmal das Zaumzeug anlegen. Alister näherte sich dem Hengst halb von der Seite, versuchte ihn zu beruhigen, da stellte er sich auf die Hinterbeine und schlug mit den Vorderhufen aus. Der Stallmeister wich ein Stück rückwärts.

„Er lässt niemanden an sich heran, Herr.“

„Das ist mir egal, fang ihn ein und bringt ihn aufs Schloss. Wenn er sich nicht reiten lässt, wird er dem Pferdeschinder übergeben. Ein Jammer um das schöne Tier.“

Die Knechte liefen, angetrieben von den Befehlen des Stallmeisters, hin und her, versuchten ihn einzukreisen. Er nutzte jede noch so kleine Lücke und brach aus. Joey schüttelte amüsiert den Kopf, das konnte noch Stunden so weitergehen. Er kam etwas näher heran, um einen besseren Blick auf die Szenerie zu haben, und versteckte sich hinter einem Karren, der Fässer geladen hatte. So wie er aussah, wollte er Seto nicht unter die Augen treten. Nach allem, was er durchgemacht hatte, hätte er dessen spöttisches Lachen nicht ertragen. Momentan war der Brünette eher damit beschäftigt, seine reiche, fünf Sprachen umfassende Sammlung von Flüchen loszulassen und dem Pferdehändler die Pest und eine ganze Reihe anderer Leiden an den Hals zu wünschen. Wie hatte er sich nur so hereinlegen lassen können! Über seiner Wut bemerkte er zu spät, wie das Pferd wendete und auf ihn zu hielt.

„Euer Durchlaucht!“, schrie Alister.

Dieser wandte ihm den Kopf zu, gleichzeitig rannte Joey los, packte Seto und riss ihn zu Boden. Der Hengst galoppierte an ihnen vorbei, in Richtung Markt.

„Früher waren deine Reflexe besser, Seto“, murmelte der Blonde, nicht merkend, wie er in ihren früheren vertrauten Ton zurückfiel. Erst der darauf folgende, zwischen Kälte ob der respektlosen Anrede und Verwunderung schwankende Blick des Fürsten machte ihm bewusst, was er eben gesagt hatte.

„Runter von mir, Bettler! Was erdreistest du dich, so mit mir zu sprechen.“

Seto stieß ihn weg, um aufzustehen. Joey sprang auf die Beine und funkelte ihn angriffslustig an. Eines hatten die Jahre nicht ändern können, ein paar Worte von Seto reichten und er sah Rot.

„Ich hätte wissen sollen, dass du es immer noch nicht gelernt hast, dich zu bedanken, Prinz … pardon, Fürst Blauauge.“

Ein paar Sekunden zu spät fiel ihm ein, dass er sich damit verraten hatte. Diesen Spitznamen hatte Joey ihm gegeben und als Einziger benutzt.

„Köter … Joey, bist du das etwa?“ Seto unterzog ihn einer eingehenden Musterung, bei der er verschämt den Blick senkte.

„Eindeutig. Wie du aussiehst … und riechst.“ Er hielt sich die Nase zu. „Hast du die letzten Jahre in einem Schweinestall zugebracht?“

„Nein, woanders.“ Er wusste selbst, dass er nicht nach Rosen duftete. „Ich möchte dich mal nach einem tagelangen Fußmarsch querfeldein und ohne wirkliche Bademöglichkeiten sehen.“

Alister und seine Knechte standen wortlos in ihrer Nähe und starrten die beiden jungen Männer an. In den letzten Jahren, seit er den Thron bestiegen hatte, war ihr König kalt wie Eis gewesen. Ihn so plötzlich auftauen und mit diesem Bettler wie mit einem alten Freund sprechen zu sehen, versetzte ihnen einen regelrechten Schock. Vollends wurde ihr Weltbild durcheinander gewirbelt, als Seto Joey nicht nur, wenn auch bloß mit einem knappen Nicken, dankte, sondern ihn sogar einlud, in der Schlossküche etwas zu essen und ihm zu erzählen, was ihm widerfahren war.

Anfangs zögerte er, dachte sogar daran, seine Beziehung zu Bakura komplett auszusparen, da er nicht wusste, wie Seto zu so etwas stand, doch die Zeit und ein Krug Bier lösten seine Zunge – zumindest in Teilen. Er erzählte ihm, sich in einen Jäger des alvarischen Königs verliebt zu haben, mit dem er hatte fliehen wollen.

„Und jetzt bist du auf der Suche nach ihm“, sagte Seto, als er geendet hatte.

„Genau“, nickte Joey und schob sich einen Bissen Brot in den Mund. „Ich weiß nicht mal, ob er überhaupt noch lebt, aber ich muss ihn unbedingt finden.“

„Hmm … Ich bin für nächste Woche zur Geburtstagsfeier von Prinz Bakura und Prinz Ryou nach Alvaria eingeladen. Wenn du bereit bist, unterwegs meinen Dienern zur Hand zu gehen, nehme ich dich mit.“

„Das …“ Nein, er konnte sich nicht verhört haben. Bakura war am Leben. „Das würdest du tun? Vielen, vielen Dank!“

Seto fand sich in einer kurzen, dafür aber stürmischen Umarmung wieder.

„Ist ja gut, krieg dich wieder ein. Bevor wir weiterreden, nimmst du ein anständiges Bad.“

Joey konnte sein Glück kaum fassen. Nur zu bereitwillig ließ er sich erst in den Badezuber mit warmem Wasser und danach in saubere Kleidung stecken. Wenn er auf diese Weise zu Bakura kam, konnte er es verschmerzen, ein paar Tage für Seto den Lakai spielen zu müssen.
 

Nach einem Radbruch, der ihre Reise um etliche Stunden verzögerte, erreichten sie am Vormittag des 2. September die Stadt Alva. Die ganze Stadt war für die Festlichkeiten zu Ehren ihrer beiden Prinzen herausgeputzt worden. Es fand sich kaum ein Haus, das nicht mit Blumen, Fahnen und Girlanden geschmückt war. Joey ritt zwischen den Dienern auf einer kleinen, ruhigen Stute (wobei er froh war, dass Alister ihm nicht auf Setos Anweisung einen Esel gegeben hatte, das wäre ihm trotz der wieder auflebenden Freundschaft zuzutrauen gewesen) und erfreute sich an dem Jubel, mit dem sie von den Einwohnern empfangen wurden. Seto begnügte sich damit, ihnen ab und zu huldvoll aus seiner sechsspännigen Kutsche zuzuwinken.

Die Stadt war voll von Menschen, in ganz Alva war kaum noch ein Zimmer in einem Gasthaus zu bekommen, da von überall her die Gäste zum Ball angereist waren und häufig, wie auch in Setos Fall, ein großes Gefolge mitbrachten. Von daher war Joey froh, dass sie direkt im Schloss logieren würden. Unter den Klängen von Fanfaren ritten sie in den Schlosshof ein, wo das Königspaar stand, um ihren Nachbarn zu begrüßen. Von ihren Söhnen war weit und breit nichts zu sehen. Der König entschuldigte sie, die beiden wären ausgeritten.

Um die Zeit zu überbrücken, half Joey den Dienern dabei, das umfangreiche Gepäck abzuladen, das in der Kutsche und einem weiteren Wagen verstaut war. Er fragte sich, wofür Seto so viel brauchte, obwohl er nur drei Tage bleiben wollte. Für ihn sah das eher nach einem halben Umzug aus. Sobald alle Gepäckstücke in der luxuriösen Suite untergebracht waren, die für den jungen Fürsten vorbereitet worden war, wurden die Diener zu ihren eigenen Unterkünften gebracht. Joey fühlte sich in gewisser Weise ernüchtert. Eben noch hatte er weiche Matratzen und feinstes weißes Leinen vor sich gesehen – hier erwarteten ihn Schlafplätze aus grobem Gewebe und Stroh.

Ach, was soll’s, dachte er sich, als er den Sack mit seinen Kleidern zum Wechseln in einer Nische verstaute. Er musste nur Bakura finden. Die ganze Zeit schon versuchte er sich vorzustellen, was sein Geliebter wohl für ein Gesicht machen würde, ihn zu sehen. Sich überhaupt auf die Suche nach ihm machen zu können, war leichter gesagt als getan. Der Haushofmeister, der sich ihnen als Dartz vorgestellt hatte, teilte die Diener der königlichen Gäste gleich zu diversen Arbeiten ein, wegen der Vorbereitungen wurde jede freie Hand im Schloss gebraucht. Joeys Versuch, ihn darüber aufzuklären, dass er gar nicht Setos Diener war, wurde mit einer Hand abgewinkt und er mit zwei Mägden in die Küche abkommandiert.

Murrend folgte er den zwei Frauen durch die Gänge. Die Wachen, die überall postiert waren, hatten zu wachsame Augen, so dass er sich nicht in einen Nebengang davonschleichen konnte. In der Küche wurden sie von hektischer Betriebsamkeit empfangen, in deren Zentrum Tristan Taylor, des Königs Oberhofkoch, stand und das Heer von Köchen und Gehilfen dirigierte. Obgleich alle Fenster weit geöffnet waren, verbreiteten die Öfen eine glühende Hitze in dem großen Raum. In großen Kesseln über einem offenen Feuer kochte die Suppe, an einem anderen wurde ein ganzes Schwein gebraten, während in den Pfannen Gemüse und Wachteln zubereitet wurden. Joey wurde dazu eingeteilt, Erbsen auszupulen, die für einen der Hauptgänge benötigt wurden, und setzte sich neben ein paar Mägde, die mehrere Dutzend Hühner von ihrem Federkleid befreiten.

„Was meint ihr, wen er nimmt?“, fragte die eine.

„Keine Ahnung … vielleicht Prinzessin Rebecca“, mutmaßte eine zweite.

„Quatsch, die ist doch noch viel zu jung.“

„Wovon redet ihr?“, fragte Joey interessiert.

„Sag bloß, du weißt davon noch nichts. Prinz Bakura wird sich heute Abend auf dem Ball verloben, es ist aber noch nichts bekannt, wer die Glückliche sein wird.“

„Dass sie glücklich sein wird, möchte ich bezweifeln“, meldete sich eine stämmige Magd mit kurzem, dunklem Haar zu Wort. „So wirklich nett war er ja nie, aber jetzt ist unser Prinz ein richtiger Griesgram geworden.“

Hätte er nicht mitten zwischen ihnen auf der Bank gesessen, er wäre umgekippt angesichts der Neuigkeiten. Bakura musste ihn für tot halten, wenn er einer Hochzeit zugestimmt hatte. Umso drängender wurde in Joey der Wunsch, ihn zu finden, ihn wenigstens einmal noch zu sehen, bevor er ihn für immer an eine noch Unbekannte verlor. In den kurzen Pausen, die Tristan ihm zugestand, sah er sich ein wenig in den Höfen des Schlosses um, immer am Überlegen, welche der vielen Fenster zu Bakuras Räumen gehören mochten, und darauf hoffend, ihn zufällig zu sehen und auf sich aufmerksam machen zu können. Als er versuchte, sich in den Gebäudetrakt zu schleichen, wo die königliche Familie ihre Gemächer hatte, wurde er von einer Wache zurückgedrängt und verwarnt, sich dort nicht nochmals blicken zu lassen, wenn er die Nacht nicht im Kerker verbringen wollte.
 

Bakura saß, fertig für den Ball gekleidet, auf dem Fensterbrett und betrachtete nachdenklich den Mond. Zwei Monate und er hatte nichts, aber auch gar nichts von Joey gehört. Länger wollte sich sein Vater nicht mehr hinhalten lassen. Wenn dieser Abend vorbei war, hatte irgendeine der Frauen, die unten auf ihn warteten, den goldenen Diamantring am Finger, der in einer Samtschachtel auf seinen Einsatz wartete. Seinem persönlichen Geschmack entsprach er nicht, er hielt ihn für zu protzig. Das völlige Gegenteil zu den beiden schmalen Silberringen mit Knotenmuster, die er von einem Silberschmied für sich und Joey hatte anfertigen lassen und nun an einer Kette um seinen Hals hingen.

Die Standuhr schlug zehn vor acht, es war Zeit. Vor der Tür traf er auf seinen Bruder, dessen Kleider in einem etwas helleren Blau als seine eigenen gehalten waren. In den letzten Tagen war Ryou ihm aus dem Weg gegangen, nachdem er sein Versprechen, an seiner Stelle den Thron zu übernehmen, ohne nähere Begründung zurückgezogen hatte. Bakura hatte nach wie vor Lust, ihn dafür zu erwürgen, ihn mit der ungeliebten Verantwortung sitzen zu lassen.

Punkt acht Uhr, ganz wie es das Protokoll vorschrieb, wurden vor den beiden Prinzen die Türen zum Speisesaal geöffnet und sie schritten zur Mitte des Tisches, wo sie sich zwischen ihren Eltern niederließen. Bakura schluckte, was er sah, gefiel ihm gar nicht. Das mussten mindestens zwei Dutzend junge Mädchen sein und sein Vater erwartete allen Ernstes, dass er mit jeder von denen tanzte?

Gut, dachte er. Aber wehe, eine von denen beschwert sich nachher, wenn ihr die Füße wehtun.
 

Joeys Geduld neigte sich dem Ende entgegen. Er hatte Gemüse geputzt, auf Soßen und Braten aufgepasst, dass nichts anbrannte, zwischendurch heimlich an den verschiedenen Cremes genascht, die Tristan für das Dessert vorbereitet hatte … und immer noch hatte ihn der Oberhofkoch nicht entlassen. Die ganze Zeit, die das festliche, aus sieben Gängen bestehende Bankett andauerte, hielt er ihn mit immer neuen Aufgaben in der Küche fest. Zuletzt wurde die große Torte, getragen von vier Dienern, in den Saal gebracht. Der Blonde warf einen flehenden Blick zum Küchenchef.

„Wenn der König mit seinen Gästen in den Ballsaal hinübergegangen ist, darfst du gehen“, seufzte er. „Dort gibt es ein paar Ecken, in denen du dich verstecken und zusehen kannst. Aber bleib nicht zu lange, ich brauche dich hier beim Abwasch. Maximal eine halbe Stunde, dann bist du wieder da. Verstanden?“

„Ja“, erwiderte er und hängte die Schürze, die er zum Arbeiten getragen hatte, an einen Haken.

Eine halbe Stunde später verließ er den Küchentrakt und lief, der Beschreibung Tristans folgend, durch die von Kerzen erhellten Gänge. Eine entgegenkommende Wache zwang ihn, einen Gang früher abzubiegen, wodurch er sich prompt verlief und einige Zeit durch verlassene Gänge und über Wendeltreppen irrte, bis er ein Stück voraus einen Diener mit einer Silberplatte voller Häppchen fand, der auf dem Weg zum Ballsaal war. Joey folgte ihm mit ein paar Metern Abstand und versteckte sich hinter einer großen Ritterrüstung, als sich der Mann nach ihm umdrehte.

Schließlich gelangte er zum Ballsaal, wo er sich hinter einen großen roten Vorhang stellte. Die Musik spielte, der Tanz war in vollem Gang. Es dauerte nicht lange, dann hatte er Bakura entdeckt, er wirbelte eine zierliche Gräfin über die Tanzfläche, die sich permanent auf die Lippen biss, um nicht aufzuschreien. Vom tänzerischen Talent seiner Mutter hatte er kaum etwas geerbt. Seto entdeckte er am Rand, er hatte sich in ein angeregtes Gespräch mit Duke vertieft.

Die Musik endete, Bakura verbeugte sich vor seiner Dame und wollte die Tanzfläche verlassen, da wurde ihm schon die nächste zugeführt und eine ganze Menge kichernder Frauen wartete noch am Rand auf ihn. Joey sah sich um, von hier aus würde sein Geliebter ihn nie sehen, er musste näher an ihn heran.

„Was hast du hier zu suchen?“

Er drehte sich um und sah sich einer der Wachen gegenüber. Der Mann musterte ihn argwöhnisch und umfasste seine Lanze fester.

„Gehörst du nicht zum Küchenpersonal? Scher dich zurück an deine Kochtöpfe, Bursche!“

Joey wich zwei Schritte zurück und stieß gegen einen Diener, der ein Tablett mit Schaumweingläsern trug. Der Mann verlor das Gleichgewicht. Das Geräusch von zerspringendem Glas ließ die Musik abbrechen, die Tänzer wandten sich dem Lärm zu.
 

„Das … das kann nicht sein“, kam es kaum hörbar über Bakuras Lippen, als er sich wie die anderen umdrehte.

Umgeben von Glassplittern und einer großen Pfütze aus Schaumwein stand Joey an einem der Seiteneingänge des Saales.

„Entfernt diesen Störenfried aus dem Saal!“, befahl sein Vater.

„Nein, wartet!“

Bakura ließ das Mädchen los, mit dem er eben erst zu tanzen begonnen hatte, ihren Namen hatte er sich gar nicht erst gemerkt, und ging mit größer werdenden Schritten durch den Saal. Kaum einen Meter von Joey entfernt blieb er stehen, nach wie vor nicht ganz sicher, ob er einem Trugbild aufsaß oder nicht.

„Joey? Ich … dachte, du wärst von Mai verschleppt worden.“

„Wurde ich auch“, sagte er und sah kurz unsicher in die Runde, ehe er sich wieder auf Bakura konzentrierte. „Ich hab dich unten am Turm liegen sehen, du sahst aus, als wärst du tot …“

„Wo warst du, ich habe überall nach dir gesucht – Ach, egal!“

Unter den überraschten bis schockierte Blicken der Gäste und seiner Familie riss Bakura ihn in seine Arme und küsste ihn leidenschaftlich, was Joey nach der ersten Überraschung nicht minder stark erwiderte. Was um sie herum ablief, blendeten die beiden aus, bis sich der König mit einem gut vernehmlichen Räuspern meldete.

„Dürfte ich erfahren, was hier vor sich geht? Wie kannst du es wagen, unsere Gäste derart zu brüskieren, Sohn?“

„Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich keine Lust auf eine Heirat habe“, antwortete er, den Arm fest um Joeys Taille gelegt, „jedenfalls nicht mit einer Frau. Ich fürchte, du musst dich damit anfreunden, dass Ryou der nächste König wird … Wo steckt der überhaupt?“

Er sah sich nach seinem jüngeren Bruder um. Im Saal herrschte gespenstische Stille, man hätte eine Stecknadel fallen hören können … oder das leise Rascheln des Wandbehangs, der mit Hirschen und Wölfen bestickt war. Auf ein Zeichen des Königs zog ein Diener ihn mit raschem Griff beiseite.

„Ryou!“ Der König fühlte, wie seine Beine nachgaben und ließ sich auf seinen Sessel sinken.

Der Wandteppich verbarg den Zugang zu einer nicht mehr benutzten Dienertreppe und in dieser Nische stand der Prinz in enger Umarmung mit einem brünetten Mädchen, das die Gewänder eines Dienstmädchens trug. Das Paar sah erschrocken auf, machte aber keine Anstalten, sich voneinander zu lösen. Ryou atmete tief durch, griff nach der Hand des Mädchens und ging mit ihr auf seinen Vater zu.

„Was soll das werden, wenn’s fertig ist?“

„Vater, darf ich dir meine Braut vorstellen?“

„Ein Dienstmädchen?“ Der König blickte seine beiden Söhne wie vom Donner gerührt an. Dutzende Einladungen hatte er verschickt, an allen Fürstenhöfen um eine Heirat geworben und das war die Wahl der zwei? Er konnte es nicht glauben.

„Das stört mich nicht. Ich liebe Serenity und habe ihr die Ehe versprochen.“

Bakura und Joey hatten aus unterschiedlichen Gründen das Gefühl, ihnen müssten gleich die Augen aus dem Kopf fallen.

„Du bist ja doch nicht so ein Weichei, wie ich immer dachte, Ryou.“

Bakura stieß ihn an die Schulter. Joey betrachtete Serenity von oben bis unten und zog einen ovalen, mondfarbenen Anhänger hervor, den er unter dem Hemd verborgen getragen hatte.

„Heißt deine Tante zufällig Tea? Und … hat sie dir mal so was geschenkt?“

Er hielt ihr den Anhänger hin. Serenity griff in den Ausschnitt ihres Kleides und beförderte einen Stein zutage, der seinem zum Verwechseln ähnlich sah. Sie hielten sie nebeneinander und sahen sich an.

„Das letzte Mal, als ich sie vereint gesehen habe, war ich noch ganz klein“, sagte er aufgewühlt.

„Was habt ihr?“, fragte Ryou.

„Wir sind Geschwister“, erklärten sie wie aus einem Mund.

„Tante Tea hat mir erzählt, was du für mich getan hast, da habe ich mich auf die Suche nach dir gemacht und bin letztes Jahr hier gelandet.“

Bakura schüttelte lachend den Kopf. Sein ach so unschuldiger kleiner Bruder hatte eine Affäre mit jemandem vom Personal … nein, mit Joeys Schwester, also seiner baldigen Schwägerin. Das Leben schrieb schon verrückte Geschichten. Der sichtlich überforderte König wurde von seiner Gattin beruhigt, seine Wahl sei damals auf sie gefallen, die Tochter eines wohlhabenden, aber bürgerlichen Händlers, dann sollten sie dem Glück ihrer Kinder nicht im Wege stehen. Bakura reichte den Diamantring an Ryou weiter, der diesen überglücklich an Serenitys Finger steckte.

In dem sich anschließenden allgemeinen Trubel bemerkte niemand, wie sich eine Frau mit langen, glatten schwarzen Haaren aus dem Saal schlich, ein erleichtertes Lächeln auf den Lippen. Draußen im Schlosspark ließ sie sich auf eine Steinbank sinken, die von Lavendel und späten Rosen umgeben war. Neben ihr flackerte kurz die Luft.

„Der Rat hat beschlossen, dich für zehn Jahre ins Exil zu schicken, Mai“, sagte sie und wandte sich der blonden Frau zu, die neben ihr saß. „Du wirst dich morgen nach Süden begeben.“

„Wie der Rat es wünscht“, seufzte Mai. „Und, Ishizu … Danke für deine Hilfe mit Joey.“

„Nach allem, was du mit ihm angestellt hast, hat er sein Happy End mehr als verdient, meinst du nicht auch?“

Einige Wochen später fand die Hochzeit von Ryou und Serenity, dem neuen Kronprinzenpaar, statt, die mit großem Prunk gefeiert wurde. Bakura und Joey hatten sich eine Woche zuvor im engsten Kreis die ewige Treue geschworen.
 

Serina gähnte herzhaft, sie konnte kaum noch die Augen aufhalten. Ihr Bruder Darian schlief bereits tief und fest.

„Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage, Onkel Joey?“

„Ja, mein Schatz, sie tun es noch. Aber jetzt wird geschlafen, es ist schon spät.“

Er deckte sie zu, setzte einen Kuss auf die Stirn jedes Kindes und löschte die Lampe. Als er die Tür zum Zimmer der beiden schloss, schlangen sich von hinten zwei Arme um ihn und zogen ihn an einen kräftigen Körper.

„Endlich, ich dachte schon, die zwei schlafen nie“, hörte er Bakuras raue Stimme dicht an seinem Ohr, sein heißer Atem streifte Joeys Hals.

„Hat dir die Geschichte gefallen?“

„Natürlich, sie ist doch wahr. Was hältst du davon, wenn wir uns in unser Schlafzimmer zurückziehen?“

„Gute Idee“, gähnte er. Bei langen Erzählungen wie dieser hatte er am Ende oft selbst mit der Müdigkeit zu kämpfen.

„Du bist hoffentlich noch nicht zu müde.“

Bakura ließ seine Hand gezielt tiefer gleiten und entlockte ihm ein wohliges Stöhnen.

„Dafür nie.“

Er griff nach der Hand des Weißhaarigen und zog ihn durch die verlassenen Gänge des Schlosses. Durch die hohen Fenster fiel Mondlicht und ließ die silbernen, mit einem feinen Knotenmuster verzierten Ringe an ihren Fingern funkeln.

Aussprache

Epilog

Aussprache
 

Katsuya kramte in seinen Taschen nach dem Hausschlüssel und stellte die drei Tüten, die er trug, auf der Fußmatte ab, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Ryujis Suche nach einem passenden Geschenk für Seto hatte etwas länger als gedacht gedauert und war nahtlos in eine ausgedehnte Shoppingtour übergegangen. Der Blonde hatte in einer kleinen Boutique eine Lederhose gefunden, die an den Beinen seitlich mit Schnürungen versehen war. Er war zweimal daran vorbeigegangen, beim dritten Mal hatte er sie schließlich, nach ein bisschen Drängen von Ryuji, mitgenommen. Das gute Stück würde er einweihen, wenn sie das nächste Mal ausgingen.

Er fand seine Schlüssel unter einer angebrochenen Packung Minzbonbons und kratzte sich verwundert am Kopf, als er die Tür öffnete. Er war sich ganz sicher, abgeschlossen zu haben, bevor er gegangen war. Auf der anderen Seite war er wahnsinnig in Eile gewesen, da konnte das schon mal passieren. Er zuckte mit den Schultern und trat ein, doch schon im Flur fiel ihm die nächste Ungereimtheit auf. Die Tür, die die Treppe zu seinen privaten Schlaf- und Arbeitsräumen verdeckte, war nur angelehnt und von ihr wusste er absolut sicher, dass er sie zugemacht hatte. Egal wie schnell er aus dem Haus musste, er ging nie, ohne das erledigt zu haben. Hier stimmte etwas nicht, das spürte er eindeutig.

Katsuya stellte die Einkäufe im Flur ab und schlich, dank seiner weichen Hauspantoffeln fast lautlos, die versteckte Treppe hinauf. In seinem Arbeitszimmer und im Wohnbereich wirkte auf den ersten Blick alles wie immer. Sein Blick heftete sich auf ein leeres Glas, an dessen Innenseite die Reste von Orangenfruchtfleisch hingen. Jemand war hier gewesen, nur wer? Ein Einbrecher? In dem Fall war die Frage, warum der DVD-Player und der Laptop noch an ihren Plätzen standen. Auch sonst schien nichts zu fehlen.

Er ging weiter, öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer und erstarrte. Das musste ein Traum sein, er wusste allerdings nicht, ob Wunschtraum oder Albtraum.

Mitten auf dem großen, schwarz lackierten Bett lag Bakura quer über die Kissen ausgestreckt und war in das Manuskript seines Märchens vertief, mit dem er sich in den letzten Wochen sein Problem von der Seele geschrieben hatte. Nach den ersten Seiten hatte er sich hierher zurückgezogen, da ihm das Bett zum Lesen bequemer als die Couch erschienen war. In Katsuya kam der dringende Wunsch nach einem tiefen Loch im Erdboden auf, in dem er verschwinden konnte. Auf diese Art hatte sein Freund das nicht erfahren sollen. Der Blonde wandte sich um, wollte hinausschleichen. Bakura bemerkte seine Bewegungen aus dem Augenwinkel.

„Hallo, Katsuya. Da bist du ja endlich.“

Langsam, sehr langsam drehte er sich zu ihm zurück.

„Was … was hast du hier zu suchen, Bakura?“

Seine Stimme klang in seinen Ohren wie ein Krächzen, in seinem Hals saß ein dicker Kloß.

„Ich wollte mit dir reden.“ Bakura legte den Block auf dem Nachttisch ab. „Aber du musstest ja weg. Da hab ich mir gedacht, ich warte solange auf dich. Sehr interessante Lektüre übrigens, du hast Talent, Kleiner. Nur dass du ausgerechnet aus mir einen Märchenprinz machst … darüber müssen wir noch mal sprechen.“

„Was war das andere, worüber du mit mir reden wolltest?“, versuchte er ihn abzulenken.

Bakura schwang sich vom Bett herunter – Katsuya schluckte und musste unwillkürlich an ein Raubtier denken, so wie sich ihm der andere näherte. Direkt vor ihm blieb er stehen und grinste ihn an.

„Ich wollte wissen, warum du mir seit Wochen aus dem Weg gehst. Hat sich erübrigt, würde ich sagen, deine Geschichte war da sehr aufschlussreich.“ Er warf einen viel sagenden Blick auf den Schreibblock zurück. „Katsuya, Katsuya, das hättest du echt einfacher haben können, wenn du nur den Mund aufgemacht hättest. Sonst hast du doch so ’ne große Klappe.“

„Na ja, ich … ich wusste ja nicht, wie du dazu stehst, du hast immer mit anderen geflirtet.“

„Du bist ein Trottel“, lachte Bakura und zog ihn an sich. „Aber ab sofort bist du mein Trottel.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (27)
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Von: abgemeldet
2013-09-03T18:45:33+00:00 03.09.2013 20:45
Tolles Kapitel, echt.^^

Von: abgemeldet
2013-09-03T18:15:44+00:00 03.09.2013 20:15
Halo,^^
der Anfang hört sich gut an.^^
Werde also weider lesen.^^

Bye-Bye^^
Von: abgemeldet
2013-09-03T18:15:43+00:00 03.09.2013 20:15
Halo,^^
der Anfang hört sich gut an.^^
Werde also weider lesen.^^

Bye-Bye^^
Von: abgemeldet
2011-03-23T22:28:01+00:00 23.03.2011 23:28
waaiii. wie süß war denn das! Ich seh schon, Märchen in dieser Form fangen mir an richtig zu gefallen ^^
Das ganze war einfach super! Wirklich, an dem gesamten Ff habe ich rein gar nichts auszusetzen.
Kurz um: einfach GENIAL
Von:  Mimmy-chan
2010-11-05T21:18:35+00:00 05.11.2010 22:18
*kyaaa* wie süß (*.*)

Ich find deine Interpretation von Rapunzel voll putzig und vor allem raffiniert gestallten. Immerhin hast du hier gleich zwei ramenhandlungen gehabt. Einmal die Sache mit Kaztzuja und Bakura und dann der Onkel, der sein eigenes Märchen vorträgt. Außerdem sidn deine Chraraktere richtig gut gelungen. Voll witzig wie du so eine Vielfalt an Yu-Gi-Oh! Charas einbaut hast. *ein Däumchen dafür*


Doch auch die Art und Weise wie du das Märchen verändert hast, war super.
Zu aller erst wäre da Mai zu nennen. Ich finde sie weitaus sympatischer als die Olle aus dem echten Märchen, vor allem da als die statt der Tochter den Sohn mitnimmt, ihn voller Liebe aufzieht und ihn dann nicht mehr her geben will. (Ist doch auch irgendwie verständlich. Da findet man nach Jahren endlich mal jemanden, dem man vertrauen kann, und dann kommt so ein Albtraum von einem Kronprinzen, der das Glück von heut auf morgen zerschlägt. Gut, dass sie am Ende ihre Tat eingesehen hat *hihi*)
Dann folgten ja die Jahre, in dennen Johy mit Seto umher tollte. *gg*
Nach der übereilten Abreise mussten Ziehmutter und Kind auf Tournee gehen (was für eine furchtbare Vorstellung) wobei Johy sich als Mädchen verkleiden musst -> kawaii!!!
Dennoch lief es ja am ende darauf hinaus, dass Mai Joey in den Turm gesperrt hat. Da fand ich die Idee mit der Spule, die mit der Spule von Dörnröschen verwandt war und das Haar zum wachsen anregt sehr krativ. (=^.^=)d So ein langer Zopf ist doch war sehr unhandliches. *hehe* Derweile lebt unser etwas aus dem Runder gelaufender Kronprinz ja im Schloß. Zu köstlich wie er seinem Lehrer auf die Palme bringt oder einfach nur das Gegenteil von dem ist, was man unter einem Märchenprinzen versteht. ICH LIEBE DIESE DARSTELLUNG VON IHM!
Die Beste ... die aller Beste Stelle in deinem FF war die, in der Bakura versucht in den Turm zu gelangen. Aber nicht nur die Art und Weise wie er es versucht hat, sondern auch das Motiv von einer Braut, die einfach zu handhaben wäre, war großartig. Ich hab mich echt schief und krumm gelacht XDDDD
Als die beiden dann als Paar zusammen gekommen sind, war mir Bakura ein bisschen OOC, aber hey immerhin geht es hier um Romantik. Da müssen schon mal zärtliche Gespräche fallen, obgleich dass nicht so der Vorstellung des echten Bakuras entspricht.
Traurig, dass es dann zu so einer Auseinadersertzumng kommen musst, doch hey die lief doch noch ganz klimpflich aus. Im Orginal sind dem Prinzen doch beide Augen ausgestochen wurden. *wah* *schüttel* Und dann die Narbe *hach* du hats echt an alles gedacht!
Zu cool, dass es dann Joey allein geschafft hat seinen Weg zu Bakura zu finden. Das du dabei Seto wieder mit eingeplant hast zeigt, dass du viel vorausgeplant hast, oder? Wie auch immer das war super.
Der Ball. Ja was bleibt einen da noch zu sagen? Super spannendes und vor allem überraschendes Ende. Die Sache mit Serentity und Ryou war noch mal so richtig klasse XD
Dann war der Märchenonkel beim Happy End angekommen und sein Gelebter kommt herein. Als es dann noch hieß, dass an ihren Fingern die Ringe funkeln, die Kronprinz Bakura hat anfertigen lassen, da bin ich dahin geschmolzen. *schwärm*
Lustig war auch noch mal das Ende der ersten Rahmenhandlung. Und --- mein Gott wie peinlich ist das den, wenn der heimliche Schwarm eine selbst geschriebende Geschichte über sich und den schwärmenden findet, und die auch neben den Liebesszenen Dinge beschreibt, die doch sehr intimen Wünschen entsprechen. darüber hinaus war cih auch ein bisschen erleichtert, als er hieß Johy hätte sie nur aus frust über seine eigendliche Arbeit geschrieben, denn die Vorstellung Johy als einem Shonen-Ai-Autor hat mir so gar nicht behagt. XD
Ein total lustiger Abgang einer tatal lustigen Geschichte. Xd
weiter so *gg*

chuchu mimmy-chan
Von:  MaiRaike
2010-09-06T08:20:12+00:00 06.09.2010 10:20
Was für eine wunderschöne Rapunzel-Variation!!

Die ganze Geschichte ist rund, ohne ungereimtheiten oder sprachliche verwirrungen. Der Schreibstil gefällt mir auch sehr gut!

Großes Lob!
Von:  01wolvslover
2010-06-22T17:00:14+00:00 22.06.2010 19:00
Oh Mann!
Hab ganz vergessen das, das eine Geschichte in der Geschichte ist!! XD
Die Geschichten sind einfach supergeil!!
Ich persönlich find irgendwie am geilsten wo Bakura aufm Bett liegt.
Die is echt geil! unötigerweise schreib ichs einfach nochmal hin...
Von:  Soichiro
2010-06-20T21:34:52+00:00 20.06.2010 23:34
Der Epilog ist wirklich klasse und einfach ein krönender Abschluss für diese FF ^-^
Die Geschichte ist eine klasse Idee und die Umsetzung ist einfach fantastisch
Wie du siehst bin ich wirklich total begeistert ^-^

ich bin froh, dass du deine Geschichte erwähnt hast als wir miteinander geschrieben, denn das hier hätte ich auf keinen Fall verpassen wolllen^^

Ich weiß gar nicht was ich noch sagen soll, außer dass die FF einfach genial ist!
Von:  Soichiro
2010-06-20T21:30:04+00:00 20.06.2010 23:30
Das Kap ist wirklich toll *~*
und natürlich freue ich mich riesig über das Happy End der Beiden^^

Ich hab mich in den vergangenen Kaps, die ganze Zeit schon gefragt was wohl mit Serenity ist, aber die Frage wurde ja jetzt beantwortet und ich finde die Antwort klasse xD

Und ich muss zugeben, auch ich hab mich über die kleine Seto/Duke Andeutung gefreut xD
Und ich finde auch das Pairing Ryou/Serenity wirklich interessant (ich hatte selbst schon einmal vor die beiden zu verkuppeln xDD)
Von:  Soichiro
2010-06-20T21:02:23+00:00 20.06.2010 23:02
Bakura und Joey sind soooo süß *~*
Es ist toll wie Bakura mit Joey umgeht
Und es ist ja wirklich mehr als nur deutlich wie sehr sich die Beiden lieben

Aber das Ende ist echt heftig >.<
Deswegen kann ich jetzt auch nicht mehr schreiben, weil ich einfach weiterlesen muss xD


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