Unschuldig von yantara ================================================================================ Kapitel 1: Unschuldig --------------------- Unschuldig Watch the end through dying eyes Now the dark is taking over Show me where forever dies Take the fall and run to Heaven All is lost again But I’m not giving in I will not bow I will not break I will shut the world away I will not fall I will not fade I will take your breath away And I’ll survive, paranoid I have lost the will to change And I’m not proud, cold-blooded fate I will shut the world away “I will not bow” – Breaking Benjamin Plopp. Lider zuckten. Plopp. Ein Körper regte sich. Plopp. Der Mann richtete sich auf. Eine Hand wischte ihm übers Gesicht – seine Hand. Ausgemergelt, dünn, aber noch nicht völlig kraftlos. Es tropfte wieder von der Decke auf seinen Kopf. Doch statt sich zu ärgern, reckte der Mann das Gesicht dem undichten Gestein sogar entgegen. Plopp. Ein weiterer Wassertropfen fiel hinab in die Tiefe und benetzte seine Lippen. Die Feuchte schmeckte abgestanden – und salzig. Das Meerwasser fraß sich schon seit Anbeginn dieses Ortes durch das Gestein. Einem tobenden Drachen gleich schmiss es sich Tag um Tag gegen die Festung in seinem Reich. Ohne Erfolg. Das Grab mitten im Ozean hielt stand. Aber selbst Naturgewalten vermochten eben nicht die Hölle auszulöschen. Seine aufgesprungenen Lippen fühlten sich durch das Salz auf ihnen noch spröder und ausgetrockneter an, es brannte ein wenig. Aber dem Mann machte das nichts. Dieses bisschen Wasser war mehr als ein täglicher Weckruf für ihn, es war Erfrischung … es war Leben. Und er hatte sich einst so an dieses bisschen, diesen Strohhalm, geklammert, dass er sogar die Kraft aufgebracht hatte, seine Pritsche mit dem modrigen Laken – sein „Bett“ – genau unter die undichte Stelle zu ziehen. Jeden Morgen, den er nun von den paar Tropfen kondensierten Meerwassers geweckt wurde, wusste Sirius Black, dass er noch lebte. Dass er noch hier war. Hier …, dachte der junge Mann zynisch. Hier in der Hölle. Nur, dass sie nicht so hieß – stattdessen nannte man sie Askaban. Sirius erhob sich auf seine dünnen Beine, zum Wassernapf zu gehen. Es war ein geradezu bemitleidendes Unterfangen. Denn so kurz der Weg von der Pritsche bis zur Wasserschüssel am Gitter auch sein mochte … ihm schien es unendlich weit. Es gab Tage, da musste er gar mit sich kämpfen überhaupt zu laufen. Seine Beine wollten dann einfach nicht, fühlten sich bleiern müde an und er schien ohne eine Spur von Energie. Antriebslos. Schlafen. Dieser Gedanke huschte dann wieder und wieder durch seinen Kopf. Nur schlafen wollte er. Sehr, sehr lange schlafen – und die Augen nicht mehr öffnen. Jedes Mal, wenn Sirius sich bei diesem Gedanken erwischte, sprang er beinah von seinem „Bett“. Nein, so etwas durfte er nicht im Entferntesten denken! Denn von dort war es nicht mehr weit bis zum Aufgeben … und damit zum Wahnsinn … bis schließlich – Ende. Und er durfte nicht sterben – nicht hier. Er war doch unschuldig! Sirius setzte an zu trinken, etwas Wasser in seine ausgedörrte Kehle zu bringen. Gier, wirklichen Durst verspürte er dabei nicht. In Askaban vergaß man so was. Lange schon wusste Sirius auch nicht mehr was echter Hunger war, geschweige denn Appetit und Genuss beim Essen. Zu blassen Echos waren sie verkommen, unbedeutende Dinge in seinem Kopf, von denen er wusste, dass sie einmal existiert hatten. Manchmal, in seinen langen Stunden hier, hatte Sirius dennoch versucht, sich zu erinnern: an den zarten Schmelz von Schokolade in seinem Mund, das krosse Geräusch, wenn man Pommes aß, den süßen Geschmack der kleinen Erdbeeren aus dem Verbotenen Wald. Nichts. Nichts war geblieben. Er konnte sich einfach nicht erinnern – alles, was er fand war … Leere. Selbst die einfachsten Freuden hatte man ihm genommen. Doch das schlimmste war nicht der klaffende Spalt in seiner Erinnerung – es war seine eigene Unfähigkeit, diesem Verlust ein Gefühl zukommen zu lassen. Es war ihm egal geworden. Sirius setzte die Schüssel ab. Mit dem dreckigen Ärmel seiner Sträflingskleidung wischte er sich über den Mund. Obwohl … eigentlich war es keine Sträflingskleidung. Es waren dieselben Sachen, die er vor so vielen Jahren anhatte: der Tag, an dem er nach Askaban kam. Das Hemd unter seinem Umhang war längst ausgeblichen, ein mattes Hellgrau mit so zahlreichen Flecken, das es wohl der beste Reinigungszauber nicht mehr hätte retten können. Irgendwann einmal war es steingrau gewesen und sauber – ein Geschenk zu seinem Geburtstag. Von ihr. Marlene. Es war merkwürdig, wie viele Gesichter mit der Zeit verschwammen – aber ihres war immer klar vor seinen Augen gewesen. Die schöne Marlene McKinnon. Nur ihr Lachen, Sirius wusste nicht mehr wie ihr Lachen geklungen hatte; ihre Stimme, wenn sie traurig gewesen war oder ihre Wut, falls Sirius wieder etwas angestellt hatte. Alles war er sah, war ein schönes, stummes Gesicht. Sie hätte nach Amerika zurückgehen sollen. Doch sie blieb und starb. Wie der Rest ihrer Familie. Sirius erfuhr es erst zwei Tage später bei einem Treffen des Ordens. Und im ersten Moment konnte er nur denken, wie komisch doch Marlenes letzter Satz gewesen war: „Und übrigens hast du da Dreck im Gesicht, Black!“ So hatte sie sich verabschiedet. Nicht mal ein „Tschüss“ oder ein „Wiedersehen“ – Sirius hätte damals fast angefangen zu lachen, während andere ihre Taschentücher hielten. Es war einfach zu irreal gewesen. Die Wut und Trauer hatten ihn erst Wochen später heimgesucht – solange hatte er sie zurückhalten können. Und mit ihnen kam die Reue. „Du nimmst einfach nie etwas ernst, Sirius! Du bist immer noch ein Kind – und ich kann mit keinem Kind zusammen sein. Merlin, verstehst du das nicht? Wir sind in einem Krieg, Sirius. Das hier ist ernst!“ Aber Sirius hatte nichts ernst nehmen können – hätte er das getan, Askabans Wahnsinn hätte ihn schon da bedroht. Es war seine Art, vor all dem zu flüchten. Auch vor Marlene. Ihre Gefühle hatten ihm Angst gemacht – aber es waren erst seine eigenen, vor denen er wirkliche Panik verspürt hatte. Er hatte dafür bezahlt. Er hatte für alles bezahlt. Marlene war gestorben und er hatte nie erfahren, wie es war, neben ihr aufzuwachen. Stattdessen wollte man ihm sogar den Mord an ihr noch anhängen. Er hätte Marlene McKinnon verraten. Er wäre der Spion gewesen. Er hätte alle belogen, sagten sie. Und hatte er Marlene nicht auch umgebracht? Wenn er nicht davongelaufen wäre, wäre sie in der Nacht vielleicht bei ihm gewesen. Alles hätte anders verlaufen können. Seine Feigheit war der Mörder gewesen – was machte es, das andere die Taten ausführten? Er war dennoch ein Verbrecher. Sirius schüttelte die Gedanken los. Ich bin unschuldig. Ich bin unschuldig. Ich gehöre nicht hier her! Seine knochigen Hände umklammerten dabei die Gitterstangen. Wie oft hatte er diese Haltung in all der Zeit angenommen? Sirius wusste auch das nicht mehr. Er hatte irgendwann aufgehört zu zählen. Genauso wie die Tage, die er schon hier war. An den Wänden konnte man noch Spuren davon sehen. Kerben, mühsam eingeritzt ins harte Gestein, markierten einen vergangenen Tag. Vorher hatte er das im Kopf gemacht. Aber irgendwann begann er unsicher zu werden, zu vergessen, wie viel und überhaupt zu wissen, ob es nun Tag oder Nacht – ob er erst eine Stunde hier war oder bereits Jahrzehnte. Das war der Moment gewesen, in dem er die Hoffnung verlor. Hoffnung auf einen fairen Prozess. Hoffnung auf Aufklärung. Hoffnung, dass die Wahrheit schon noch raus käme. Aber er war nicht anders als die anderen Gefangenen hier. Man kommt rein, hält seinen Glauben über Tage erst glühend aufrecht, bis er schließlich verkümmert und stirbt – genau wie man selbst. Ausgesaugt von ihnen. Doch, ich bin anders!, schrie Sirius in seinem Kopf. Ich bin unschuldig! Ich darf nicht sterben! Ich kann nicht sterben … Er musste diese negative Stimme vertreiben. Die Stimme, die ihm wieder und wieder einzureden versuchte aufzugeben; nicht weiter Widerstand in einem Kampf zu leisten, den er längst verloren hatte. Die Stimme, die wollte, dass er ins eigene Vergessen abdriftete, um diesem Ort endlich zu entkommen. Es wäre so leicht … Sirius schüttelte heftig seinen Kopf. Er würde dem Delirium nicht freiwillig die Tür öffnen! Er musste wach bleiben. Für Harry. Ja, Harry … Wenn nicht für sich selbst – dann für ihn. Ich bin der einzige, den er noch hat. Sie haben ihn mir anvertraut. Plötzlich schien der Gedanke an seinen Patensohn Sirius’ Hoffnung wieder zu erwecken. Er sah sein Gesicht genau vor sich. Pausbäckig und mit einem wilden Gewirr sprießender, rabenschwarzer Haare. Genau wie sein Vater. Aber die Augen … anfangs babyblau, begannen sie langsam grün zu werden. Wie die der Mutter. Sirius erinnerte sich, dass er vor gar nicht allzu langer Zeit mit dem kleinen Kerlchen noch gespielt hatte. Hatte aus Spaß Funken auf ihn niederregnen lassen und sich wieder und wieder in einen Hund verwandelt. Und Harry hatte sich gefreut. Sirius’ Lippen wollten sich zu einem Lächeln formen. Doch es sollte nie kommen. Denn Harrys Gesicht verschwand. Stattdessen waren dort anderen Gesichter. Tote Gesichter. Der Schrecken in ihren Augen erzählte von ihren letzten Augenblicken. James. Lily. Sirius hatte sie nicht retten können. Jetzt waren sie kalt und leblos – und es war seine Schuld. Sirius’ Schuld. Warum hatte er bloß diese Idee gehabt? Diese saudumme Idee. Er wusste, dass James auf ihn hören würde – und das hatte er ausgenutzt. Er sah sich wieder und wieder seinen perfekten Plan aussprechen: „Nimm nicht mich, nimm ihn. Vertrau mir, Krone! Darauf werden sie nie kommen – und ihr seid in Sicherheit.“ Sirius hatte sich so genial in diesem Moment gefühlt, als hätte er Voldemort selbst an der Nase rumgeführt. Dabei war er der dümmste Mensch der Welt. Seine Arroganz hatte James umgebracht. Sein bester Freund … Vielleicht hatte seine Mutter recht gehabt? Und es hätte ihn besser nie gegeben? Schon stand Walpurga Black wieder vor ihm, ihre Stimme schrill und zornig: „Du bist nicht mein Sohn! Solchen Abschaum habe ich nicht geboren! Du Blutsverräter bist nicht wert, den Namen Black zu tragen! Hätte ich dich doch nur ertränkt, als du noch ein Baby warst!“ Sie schrie und schrie, während Sirius’ Herz sich wieder und wieder zusammenzog, gegen seinen Willen. Aber sie war ja doch seine Mutter … die ihm endgültig klar machte, dass das nur auf dem Papier stimmte. Nicht mal ein Körnchen Liebe empfand sie für ihren Erstgeborenen. In ihren Augen war er nichts weiter als … Dreck. Als sie mit der Züchtigung durch ihren Zauberstab begann, war Sirius fast froh. Doch nur solange, bis er die toten Menschen sah. Oder eher das, was von ihnen übrig geblieben war. Sirius schien in einem Meer von Körperteilen zu stehen. Ein beißender Geruch umnebelte seine Nase. Verbranntes Fleisch. Schon hörte er Schritte hinter sich. Die Auroren. Doch sie würden den Täter nicht mehr kriegen, denn Sirius hatte versagt. Wieder versagt. Lily und James waren nicht gerächt. Die Magier zerrten ihn fort, fort vors Gericht, wo Bartemius Crouch ihn mit einem einzigen Handwink nach Askaban schickte. Sie schickten ihn fort aus der Welt in die Hölle, egal wie laut Sirius schrie. Und die Dementoren schwebten um seine Zelle, kreisten ihn ein, sogen ihn aus… „Nein“, murmelte Sirius. „Ich bin unschuldig.“ Nein, er war es nicht. Er hatte James und Lily nicht verraten. Und er hatte auch all diese Menschen nicht umgebracht. Es war jemand anderes gewesen, jemand hatte sie alle verraten, an Leute wie seine Mutter. An Voldemort. „Peter“, flüsterte Sirius. „Peter … Peter … Peter …“ Er war es. Er war der Mörder. Er war Voldemorts Scherge. Und er war noch da draußen. Sirius schlug die Augen auf. Er lag auf dem Boden direkt vor dem Gitter, ein Dementor schwebte noch in der Nähe. Er musste ihm das Essen gebracht haben – und sein eigenes hatte er sich gleich von Sirius genommen. Seine Knochen ächzten, seine Muskeln schmerzten. Aber Sirius richtete sich auf und griff nach dem Brot. Er brauchte Kraft. Mochte das Brot noch so vertrocknet sein, und die Suppe kaum mehr als schaliges Wasser, er würde essen. Nicht sterben. Und ganz sicher nicht verrückt werden. Peter konnte noch irgendwo da draußen sein. Schuldig und am Leben. Aber auch Harry war dort. Und Sirius hatte seinen besten Freunden geschworen, dass er auf ihn aufpassen würde. Dieses Versprechen würde er halten. Egal, ob er jeden Tag auf fünf Quadratmetern nacktem Stein lebte. Egal, dass er manchmal schimmeliges Brot aß und in einen Blecheimer schiss. Egal, dass seine Schönheit schwand, die einst Teil seines Stolzes war. Das alles war Sirius hier drinnen ziemlich gleichgültig geworden. Genauso wie die Schreie in der Nacht und die Stille am Tag – er wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal mit einem Menschen geredet hatte. Vor einem Jahr, als das Ministerium seinen üblichen Besuch abstattete? Es war egal. Alles war egal. Nur eins war wichtig. Peter Pettigrew konnte noch leben, während Sirius jeden Tag in der Hölle aufwachte. Doch er würde ihm nicht den Gefallen tun zu sterben. Sirius schluckte das letzte Stück Brot herunter. Er würde leben. Und irgendwann … ja, irgendwann vielleicht würde er diese Mauern verlassen. Doch solang hielt er durch. Als der Unschuldige von Askaban. Mit letzter Kraft sammelte Sirius Black seinen Willen und verwandelte sich in einen großen schwarzen Hund und kletterte zurück auf Holzpritsche. Irgendwann … Er würde warten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)