Leben von Yusuke ================================================================================ Kapitel 3: 21.02.1981 --------------------- 21.02.1981 Ich liege hier in diesem fremden Bett. Ich glaube, es gehört der Frau, die mich gestern als Erste begrüßt hat. Draußen ist es noch dunkel. Ich sehe den Mond. Die haben die Gardine nicht richtig zugezogen. Aber ich traue mich nicht, aufzustehen, um sie zuzuziehen. Also bleibe ich liegen. Schlafen kann ich nicht. Ich hab schon Schäfchen gezählt und versucht, mir selbst eine Geschichte zu erzählen, aber ich kann das nicht. Über mir schläft noch Jemand. Wir teilen uns das Zimmer. Er ist nett und ich glaube, so wie ich, jetzt fünf Jahre alt. Er hat viel geredet gestern. Viel zu viel. Und so schnell, dass ich gar nicht antworten konnte, aber reden wollte ich sowieso nicht. Er hat mich gefragt, warum ich hier bin. Aber ich weiß das nicht. Warum bin ich hier? Vielleicht mache ich nur Urlaub. So wie letztes Jahr mit Mama und Papa, da waren wir am Meer. Und es war viel zu kalt zum Schwimmen, aber ich bin trotzdem ins Wasser gegangen und nicht mehr raus gekommen, bis auch Papa ins Wasser gekommen ist, um mich wieder rauszuholen. Das war lustig. Dann laufen mir Tränen über die Wangen. Schon wieder muss ich weinen, wie ein Baby. Ich will doch nicht mehr weinen. Ich kann nichts machen, immer weiter läuft Wasser über mein Gesicht. Und dann sehe ich ein Gesicht. Ich erschrecke. Atme tief ein. Der Junge über mir guckt mich komisch an. Ich weiß seinen Namen überhaupt nicht. Langsam klettert er die kleine Leiter runter und steht dann vor mir. Kommt ganz nah und guckt mich an. "Weinst du?" Eilig wische ich mir über das Gesicht um zu verstecken, dass ich wirklich geweint habe. Leise flüstere ich ein 'Nein' und drehe mich weg. Und dann spüre ich etwas an meiner Wange, ich öffne die Augen und drehe mich um. Ich sehe, wie der Junge mich immer wieder mit seinem Finger pickst und mich anlächelt. "Am Anfang war ich auch traurig und dann hab ich ganz viele Freunde gefunden. Möchtest du auch mein Freund sein?" Ich sehe ihn an. Es ist schwer für mich zu lachen, aber ich schaffe ein kleines Lächeln und nicke leicht. Er grinst mich noch mal an und klettert wieder nach oben. Mir geht es irgendwie besser, aber wenn ich an Mama und Papa denke, hilft mir gar nichts. Wieder bin ich traurig, aber auch müde. Sehr müde. Ich… Und am nächsten Morgen sitze ich mit ein paar anderen Kindern, auch so alt wie ich, an einem Tisch und sie essen alle Brot oder Müsli. Ich gucke ihnen zu, aber Hunger hab ich nicht. Die Schüssel steht vor mir, ich rühre da drin herum. Will es aber nicht essen. Mein Gesicht spiegelt sich in der Milch. Sie ist kalt. Mama hat sie mir immer warm gemacht. Ich mag sie nur warm. Dann kommt Jemand von den Erwachsenen und nimmt mir die Schüssel weg. Sie lächelt mich an und streicht mir über den Kopf. Die anderen Kinder scheinen mich gar nicht zu sehen. Sogar der Junge, der bei mir im Zimmer ist, guckt mich nicht an. Ich stehe auf und verstecke mich in meinem Zimmer, in meinem Bett unter der viel zu dünnen Decke. Diesmal weine ich nicht mal mehr. Ich glaube ich bin ausgetrocknet. Wie die Blumen, die ich Mama einmal zum Geburtstag geschenkt habe. Nach einem Tag, hingen die einfach runter. Ich habe mein ganzes Taschengeld dafür gespart und dann sind die doofen Blumen kaputt gegangen, aber Mama hat sich trotzdem gefreut. Plötzlich ist die Decke verschwunden. Vor mir steht der Junge und grinst mich an. Er hat meine Decke in der Hand. Das ist gemein, will er mich jetzt ärgern? "Komm spielen" Ich sehe ihn wieder an. Er hat mich also doch nicht vergessen. Das freut mich irgendwie, aber spielen will ich sowieso nicht. Ich schaue auf den Boden und schüttele langsam den Kopf. Und dann werde ich auch schon mitgerissen. Jetzt sitze ich hier auf diesem langweiligen Spielteppich, wo Straßen und Autos draufgemalt sind. Zu Hause hatte ich immer ganz tolle Spielsachen und nicht so einen kaputten Fusselteppich. In meiner Hand ist auch noch ein kleines Auto. Die anderen haben auch eins und fahren auf dem Teppich. Jeder weiß doch, dass Autos nicht auf Teppichen fahren. Das Spiel ist doof. Früher war mir egal, was ich mit meinen Freunden gespielt habe, die im Kindergarten. Aber jetzt? Irgendwas ist wieder komisch. Dann tippt mich Jemand am Kopf an. Ich sehe auf. Die Kinder stehen um mich herum und gucken mich an. Ich war schon wieder ganz woanders. Na gut, dann fange ich jetzt auch an zu spielen, sonst mögen die mich nicht. Im Kindergarten mochten mich alle. Ich greife nach dem Auto. Hab gar nicht gemerkt, dass ich es fallen gelassen habe. Und dann fahre ich damit auf diesem komischen Teppich herum. Irgendwie macht es mir sogar Spaß und ich glaube ich lache sogar und auch die anderen lachen. Und wir alle lachen. Irgendwann sitz auch eine der Erwachsenen neben uns und guckt uns zu, spielt auch mit. Sie spielt viel mehr mit mir, als mit den Anderen. Sie redet auch mit mir. Sie ist sehr nett. Bestimmt, weil ich neu bin. Und dann fragt sie mich nach meinem Namen. Aber ich habe doch keinen mehr. Und dann lächelt sie mich wieder an. "Deine frühere Kindergärtnerin hat gesagt, du heißt Tooru, ja?" Mein Lächeln ist nicht mehr da und ich schließe die Augen, halte mir die Ohren zu. Ich will das nie wieder hören. Gleich sagt sie mir wieder etwas ganz Schlimmes. So ist das. Zuerst sagen sie meinen Namen, dann kommt eine Pause und dann etwas ganz Schlimmes. Ich will das nicht. Ich will nicht so heißen und ich will es nicht mehr hören. Ich will nicht wissen, was passiert ist. Ich spüre, wie die Frau meine Hände nimmt und sie von meinen Ohren wegzieht. Ich sehe sie wieder an. Sie lächelt immer noch. "Du magst deinen Namen nicht, oder?" Ich mochte ihn, aber jetzt macht er mir Angst. Erklären kann ich das nicht. Vielleicht, weil dann wieder etwas passiert? Langsam nicke ich und sehe wieder zu ihr herauf. Dann nimmt sie eine Zeitung von dem Tisch und schlägt sie auf. Dann liegt das Papier auch schon vor mir. Ein paar Zeichen kenne ich, aber nur ganz wenige. Papa hat sie mir beigebracht. Das hat mir keinen Spaß gemacht. Ich habe immer weniger geübt. "Zeig einfach irgendwo drauf." Ich verstehe nicht, was das bringen soll. Ist das jetzt ein neues Spiel? Das ist ja noch doofer, als das andere. Aber ich zeige trotzdem auf das große Zeichen in der ersten Reihe. Es sieht einfach aus. Das kann ich ganz schnell lernen. Dann kann ich wieder ein Neues. Dann ist Papa ganz stolz auf mich. "Das ist das erste Kanji von Kyoto, die Stadt in der du jetzt lebst." Kyoto? Kenn ich gar nicht. In der ich jetzt lebe? Bleibe ich für immer hier? Aber Mama und Papa machen sich doch Sorgen. Nein, sie sind ja fort… "So nennen wir dich jetzt!" Sie lächelt mich wieder an. Wieso heiße ich denn jetzt wie diese blöde Stadt? Vielleicht mag ich sie ja gar nicht. "Ich heiße Kyoto?" Sie guckt mich komisch an und fängt dann an zu lachen. Lacht sich mich etwa aus? Wie gemein. Doch dann streicht sie mir wieder durch meine Haare. Sie erklärt mir das jetzt noch mal genau. Ich höre zu. "Nein, nein! Wir nehmen nur das erste Kanji. Guck mal Kyoto besteht aus zwei Schriftzeichen und einem zusätzlichen Dritten, das ist jetzt aber nicht wichtig. So du hast nur auf das erste gezeigt, also heißt du jetzt Kyo." Das hört sich gut an. Besser als der Alte. Ich hole mir ein Blatt Papier und male das Zeichen immer wieder da drauf. Ich will es lernen. Ich muss ja meinen Namen schreiben können. Aber meine Hand zittert. Ich kann nicht mal einen einzigen geraden Strich malen. Blöde Hand. Aber dann steht da das Zeichen. Mein Name. Kyo. Und mit diesem Blatt in meiner Hand, habe ich das Letzte verloren, was mir Mama und Papa gegeben haben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)