Leben von Yusuke ================================================================================ Kapitel 7: 12.04.1990 --------------------- 12.04.1990 Als er endlich von mir runter steigt, bemerke ich, dass es vorbei ist. Meine Schicht ist vorbei. Das Ganze wird niemals enden. Lächelnd verlässt er den rosafarbenen Raum, den man mir vor zwei Jahren gegeben hat. Ich ziehe meine viel zu kurze Hose mit zittrigen Händen hoch. Nur um sie mir wieder herunter zu reißen und das kühle Wasser in meinem Gesicht zu spüren. Es muss ungefähr vier Uhr sein. Vier Uhr früh. Wie jeden Tag, stehe ich unter der Dusche, in dem kleinen Nebenraum. Versuche verzweifelt zu verdrängen, was die letzten sechs Stunden passiert ist. Und wieder überrennen mich die Erinnerungen und wie jeden Tag, knie ich zitternd in der Wanne, während die kalten Tropfen unaufhörlich über mich laufen. Bis ich wieder hinaus steige, an dem großen Spiegel mit rosa Rahmen vorbei gehe, ohne hinein zu schauen. Ich würde es nicht ertragen. Es würde mir bewusst machen, was ich bin. Noch streife ich es mir mit dem Wasser weg. Ziehe die enge Hose wieder an. Ich habe nichts anderes. Jeden Abend bekomme ich neue Klamotten und die Alten werden mir weggenommen. Jeden Tag werden sie schlimmer. Bunter. Enger. Kürzer. Zurück in dem Raum, erkenne ich die rosa LED Ziffern der Digitaluhr. Halb sechs ist es. Ich schlürfe zu dem widerlichen Bett, nehme das in Satin gehüllte Kissen und lege mich in einer der Ecken. Ich kann nicht in diesem Bett schlafen und nicht unter dieser Decke. Und dieser Raum… Ich habe ja doch keine Wahl. Das Gebäude hab ich nicht einmal verlassen, das Zimmer schon. Zu diesem Zeitpunkt wäre ich glücklich gewesen, nie wieder herauszukommen. Ich schlummere langsam weg. Bilder schleichen sich in meinem Kopf. Bilder von dem Flur, der vor dem Zimmer liegt. Vor jeder der vielen Türen steht ein Kind. So alt wie ich. Ähnliche Sachen. Ich stehe genau wie alle vor meiner Tür. Wir alle schauen auf den Boden. Spüren die winzigen Bewegungen auf dem Boden, die unsere Körper erstarren lassen. Ein Mann im Mantel schreitet den Gang entlang. Bei ihm ist eine Frau. Die Frau, die meine Haare geschnitten hat und mir jeden Abend neue Anziehsachen bringt. Vor mir bleibt der Mann stehen. Er ist noch größer als ich dachte. Er schaut in meine Augen und nickt dann der Frau zu. Alle werden wieder auf ihre Zimmer geschickt, auch Ich. Nur ich bin nicht allein. Sanft schließt er die Tür und kommt näher. Immer näher. Viel zu nah… Schreiend wache ich auf. Klammere mich an das feuchte Kissen und schließe krampfhaft meine Augen. Versuche die Bilder zu verdrängen, die Erinnerungen verschwinden zu lassen. Ich konzentriere mich krampfartig auf etwas Schönes, etwas, dass mir Freude bereitet. Nein, bereitet hat… Müsli mit warmer Milch. Ich denke ununterbrochen daran, an die Schüssel Müsli. Es klingt komisch, aber es hilft mir. Ich lächele sogar, ich spüre es. Langsam stehe ich auf, sehe auf die Uhr. Sie zeigt an, dass es sieben Uhr ist. Ich muss mich beeilen. Nur noch einer halbe Stunde gibt es Frühstück. Wenn ich es verpasse, muss ich bis abends acht Uhr warten, bevor ich wieder etwas zu Essen bekomme. Schnell verlasse ich den Raum, will den Weg zur Cafeteria gehen. Ich höre auch schon laute Geräusche heraus. Es sind die Anderen. Die Anderen, die genau wie ich hier hin verkauft worden sind. Mittlerweile habe ich verstanden, was damals passiert ist. Zu der Zeit bin ich einfach zu jung gewesen um zu verstehen, um mich zu wehren und das bin ich immer noch. Warum ausgerechnet ich? Ich bleibe vor den beiden riesigen Türen stehen. Laute Geräusche. Die Anderen. Sie nutzen ihre einzige Zeit, in denen sie ihre Freunde sehen können. Nein, sie sind keine Freunde. Sie teilen ein Schicksal, aber sie gehören nicht zusammen. Und ich gehöre eben so wenig dazu. Meine Hand verkrampft schmerzhaft als ich sie zur Faust balle. Heiße Tränen laufen über meine Wangen. Aber sie sind anders. Anders als die Tränen, die ich so oft geweint habe. Es ist keine Angst, keine Verzweiflung, keine Trauer. Alles was ich spüre ist Wut. Ich drehe mich um. Laufe der riesigen Holztür, zwei Stockwerke über mir, entgegen. Ich denke nicht nach. Platze einfach herein. Stehe nun in dem Büro, in dem ich vor mehr als zwei Jahren zum ersten Mal gestanden habe. Und der Mann, mein Boss, sitzt an seinem Tisch, lächelt mies, während er am Telefon spricht. Wahrscheinlich hat er gerade wieder das Leben eines Kindes zerstört ohne das dieses es weiß… Noch weiß es das nicht. Endlich nimmt er mich wahr. Seinen Gesichtsausdruck kann ich nicht genau deuten. Er scheint überrascht zu sein. Langsam steht er auf, geht auf mich zu und bückt sich runter. "Was ist denn?" Mit einem Mal ist meine Entschlossenheit weg. Mein Mut. Ich weiß, ich habe keinen Mut, ich bin erbärmlich. Und dennoch hab ich geglaubt mich von hier fortreißen zu können. Ängstlich schaue ich ihn an. "Brauchst du neue Kondome?" Entsetzt sehe ich ihn an. Aber er hat Recht. Etwas anderes ist von mir nicht zu erwarten. Was soll ich schon anderes wollen… Freiheit. Etwas kehrt zurück. Etwas, das verloren war. Ich spüre es deutlich. Energisch schüttele ich den Kopf, starre direkt in seine Augen. "Ich will frei sein." Er wirft seinen Kopf zurück und fängt an zu lachen. Ich schaue ihn immer noch an. Ernst. Verziehe keine Miene. Bis er nicht mehr lacht und sich mir wieder zuwendet. "Du meinst das ernst, was?" Er grinst wieder. Geht zu seinem Schreibtisch zurück und kramt in einer der vielen Schubladen. Er zeiht ein weißes Blatt Papier heraus, liest es kurz durch und stopft es zurück. Dann winkt er mich zu sich. Langsam gehe ich auf ihn zu. Stehe nun, wie er, hinter dem großen Schreibtisch. "Du kannst frei sein, wenn du willst..." Er guckt mich ernst an. Ich kann ihm nicht glauben. Wieso sollte er mich so einfach gehen lassen? "Das heißt, du kannst dich freikaufen" Fragend sehe ich hoch. Womit soll ich denn bezahlen? Ich habe Nichts. Nur die Sachen, die ich trage. Dieses widerliche Kostüm passend zu seiner freundlich aufgesetzten Maskerade. Ich schaue auf den Boden. Muss erkennen, dass er sich über mich lustig macht. Mich auslacht. Flüsternde Worte kommen über meine Lippen. Da bin ich wieder. Das feige Etwas. "Ich habe kein Geld." Er lacht leise auf und richtet sich dann sofort wieder an mich. "Ich weiß, aber du musst es nicht jetzt bezahlen. Du kannst ihn Raten zahlen." Überrascht sehe ich auf. Suche nach Sarkasmus in seinem Gesicht, doch ich finde ihn nicht. Ich will fragen, wieso er mich gehen lassen will. "Wie viel?" Die völlig falsche Frage verlässt meinen Mund. Ich bin erstaunt und aufgeregt. "15 000 000." Ich reiße die Augen auf. Wo soll ich soviel Geld auftreiben? Verdammt. Als ob ich ihm so viel Wert wäre. Hat man nicht immer gesagt, ich wäre Dreck? Abfall? Der kostet bei Weitem weniger. "350 000 pro Monat. Meine Männer finden dich und du zahlst, ansonsten muss ich dir leider das Hirn aus deinem hübschen Köpfchen pusten, also verarsch mich nicht, Kleiner." Ein süffisantes Lächeln umspielt seine Lippen. Ich denke nicht weiter nach. Meine einzige Chance dieser Hölle zu entkommen. Ich willige ein. Ich drehe mich um und will den Raum verlassen, als er mich wieder zu sich ruft. Erneut wende ich mich dem Älteren zu. Doch bevor ich ihn sehe, drückt er mich runter. Drückt meinen Kopf schmerzhaft an seinen Unterleib und beginnt laut zu stöhnen... Damals als kleiner Junge dachte ich, dass das Schmerzlichste, was es gibt, die Einsamkeit wäre, doch nun wünsche ich sie mir sehnlich herbei. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)