Blauer Himmel von Yuiki ================================================================================ Kapitel 2: Eigentlich war das Navi schuld ----------------------------------------- Akio war sich seiner Emotionen im Moment nicht ganz sicher. Sie schwankten aber definitiv irgendwo zwischen Wut auf die anderen, Wut auf sich selbst, Verletztheit und irgendwo auch...Verwirrung. Was war mit seinem Gesang denn nicht in Ordnung gewesen? Die Enttäuschung der anderen war nach dem vorangegangenen Lob fast noch verletzender. Außerdem war er wegen dieser blöden Ballade jetzt spät dran und musste sich beeilen um sich noch irgendwo etwas zu Essen zu besorgen, bevor er zur Arbeit musste. In dem Moment klingelte sein Handy. Akio warf einen kurzen Blick darauf. Na toll, schon wieder dieser Verrückte, der es heute Mittag schon vierzehn Mal versucht hatte. Akio war jetzt genau in der richtigen Stimmung diesem Stalker mal so richtig die Meinung zu sagen, aber das ging schlecht neben dem Laufen her, und um stehen zu bleiben fehlte ihm definitiv die Zeit. Seine Wut über die nervigen Anrufe gewann jedoch die Oberhand in diesem inneren Konflikt - er blieb stehen und nahm den Anruf entgegen. Als es so lange klingelte und immer noch niemand abnahm, wurde Miu wieder nervös. Doch gerade als sie den Hörer vom Ohr löste und ihn traurig wieder auf die Gabel legen wollte, hörte sie am anderen Ende ein Klicken - jemand hatte abgenommen! Akio atmete tief durch. Dann legte er los: „Okay, ich hab KEINE AHNUNG wer du bist oder was VERDAMMT NOCHMAL du von mir willst, aber mir reicht diese Scheiße jetzt!! Wenn du noch EINMAL anrufst werde ich EXTREM SAUER. Und glaub mir, das würde dir nicht gut tun.. WOHER zum Teufel hast du diese Nummer überhaupt!? Was WILLST DU DRECKSKERL eigentlich von mir?!" Die Passanten drehten sich nach ihm um, sichtlich ungehalten über die Lautstärke und Wortwahl, mit der er in sein Handy sprach. Akio kümmerte sich nicht darum, er hätte noch viel mehr zu sagen gehabt, wäre er nicht in diesem Moment von einer leisen, zitternden Stimme am anderen Ende unterbrochen worden. "Aa...Akio-nii.." Man hörte Miu's Tränen fast durch das Telefon hindurch. Noch nie hatte jemand so mit ihr gesprochen! Die Bedeutung vieler Worte hatte sie gar nicht verstanden, nur dass sie hart und unfreundlich ausgesprochen worden waren und sicher keine schöne Bedeutung hatten. Akio stutzte. Nur ein Mensch auf der ganzen Welt nannte ihn so. Plötzlich wurde ihm alles klar. Die unbekannte Nummer, die unzähligen Anrufe, keine hinterlassenen Nachrichten. Und natürlich das zerbrechliche Stimmchen am anderen Ende der Leitung. Das war ja SO typisch. "Miu-chan? Bist du das?" Miu erzitterte als sie ihren Namen hörte. Diese Stimme kannte sie! Die freundliche, liebevolle Stimme ihres Bruders. "Akio-nii!" Jetzt flossen Miu erst recht die Tränen über das Gesicht, doch diesmal waren es Tränen der Freude, die sie nicht mehr zurückhalten konnte. Akio seufte auf, leise genug, dass Miu es nicht hören konnte aber laut genug, dass es ihm ein erleichterndes Gefühl gab. Er hatte noch keine 10 Sekunden mit ihr geredet und war jetzt schon genervt. "Wie geht es dir, Schwesterchen?" Ein glückliches Lächeln bildete sich auf dem tränennassen Gesicht. "Gut. Sehr gut! Papa hat gesagt du bist in Tokyo!" Akio war klar worauf Miu hinauswollte. "Ja, da hat er recht." Natürlich, Akio's Vater hatte ihn schließlich hierhergeschickt, also war er indirekt sogar an dieser Situation schuld. Zwar folgte Akio absolut nicht den Plänen die ihr Vater für ihn gehabt hatte, aber zumindest den Landeswechsel hatte er sich gefallen lassen. Akio warf einen schnellen Blick auf die digitale Uhr am Handy. 19:13 Uhr. Mist, es wurde echt knapp. Andererseits...wenn er es jetzt hinter sich brachte, hatte er wenigstens einen plausiblen Grund dafür, bald wieder zu gehen. "Ich habe gerade ein wenig Zeit..soll ich dich besuchen kommen, Miu-chan?" Miu konnte ihr Glück kaum fassen. Ihr großer Bruder schien unbewusst sofort zu erahnen, was sie sich so innig wünschte! Das musste so etwas wie Telepathie sein! Vor Freude brachte sie zuerst keinen Ton heraus, dann war ihre Zustimmung durch ein leises "Mhm~" zu hören. "Ich komme aber nur, wenn meine kleine Schwester mir etwas Leckeres zu essen macht," schränkte Akio sein Angebot sogleich ein. Es blieb dabei - er musste Etwas essen bevor er zur Arbeit ging, und die Zeit reichte definitiv nicht mehr, um nach Hause zu seinem Lieblingsimbiss zu fahren. Er hoffte nur, dass Miu nicht allzuweit von dem Ort entfernt wohnte, an dem er sich gerade befand. Miu sah sich hilfesuchend nach Nancy um. Kochen? Das war ihr bisher immer verboten worden... Aber sie wollte Akio sehen, ihn glücklich machen. Und wenn es nur mit so einer Kleinigkeit wie einer Mahlzeit war. "Natürlich! Warte nur, ich mache bestimmt etwas ganz Leckeres!" Schon allein ihr Tonfall ließ erahnen, wie eifrig sie sich ans Werk machen würde. Akio grinste, während Nancy die Gesichtszüge entglitten. Na also. Seine Schwester war so leicht hinter's Licht zu führen...wobei das natürlich zu extrem ausgedrückt war. Ihr Verhalten schrie nur eben danach, wenigstens ein bisschen ausgenutzt zu werden, und im Gegensatz zu den Menschen die Miu sonst umgaben - die Dienerschaft - hatte Akio da keine größeren Skrupel. Was nicht hieß, dass er nicht fuchsteufelswild werden konnte, wenn andere dasselbe versuchten; er war schließlich trotzdem ihr großer Bruder und da gehörte es einfach dazu auf sie aufzupassen! "Okay, wo muss ich hin? Nein warte, eine Wegbeschreibung wär besser, ich blick in dieser Stadt noch nicht durch. 'Ne Adresse sagt mir gar nichts." erklärte sich Akio. Er sah sich nach Straßenschildern in seiner Nähe um. "Hm..ich bin im Moment an der Kreuzung 91. Straße und Corridor 5." Und wieder wanderte Miu's Blick zu Nancy. Sie kannte sich in dieser Stadt nicht besser aus als ihr Bruder, durfte sie das Haus doch nicht verlassen! Von den Corridors hatte sie gehört, sie waren vor wenigen Jahren neu angelegte riesige Querstraßen, die sich durch ganz Tokyo zogen und zusammen mit den Highways das schnelle Vorankommen in der bis ins Unendliche gewachsenen Stadt garantieren sollten. Ein Aufschrei war damals durch die Bevölkerung gegangen als zahlreiche geschichtsträchtige Gebäude den Corridors weichen mussten und die Kosten für dieses gewaltige Projekt bekannt wurden. Aber wo sie lagen wusste Miu natürlich nicht. Hilflos streckte sie Nancy den Hörer entgegen: "Wie kommt man von der Kreuzung zwischen der 91. Straße und dem Corridor Five hierher?" Akio wartete geduldig während des Schweigens seiner kleinen Schwester. Eine leise Wut stieg in ihm auf - hielten sie Miu etwa immer noch im goldenen Käfig gefangen? Schon als er im Alter von sechs Jahren das erste Mal in das große Herrenhaus seines Vaters in Europa gekommen war, hatte die damals erst vier Jahre alte Miu keinen Kontakt zur Außenwelt gehabt, und daran hatte sich auch in den folgenden elf Jahren nichts geändert. Für ihren Vater war das Mädchen Kapital - nur unbeschadet war es viel wert. Und auch dieses 'viel' war zweifelhaft; Akio wusste, dass Miu's Mutter keine Ehefrau gewesen war, was Miu erstens zu Akio's Halbschwester machte und zweitens die Möglichkeiten einschränkte, sie zu verheiraten - und etwas anderes hatte ihr gemeinsamer Vater definitiv nicht für Miu eingeplant, das hatte er in all den Jahren seit ihrer Geburt deutlich gezeigt. Jegliches Interesse an Miu war spätestens in dem Moment verflogen, in dem er seinen rechtmäßigen Erben, also Akio, wieder in die Finger bekommen hatte. Akio schüttelte die unangenehmen Erinnerungen ab, als er eine vertraute Stimme aus dem Handy vernahm. "Hat dein Handy keinen Navigator installiert?" Es war Nancy's Stimme, die sich in den vergangenen Jahren nicht verändert hatte. Nancy hatte sich fast sechs Jahre lang vergeblich daran versucht auch aus Akio einen so braven, harmlosen Menschen zu machen, wie Miu es geworden war, war dabei aber auf das Problem gestoßen es mit einem Kind zu tun zu haben, das elf Jahre lang Freiheit außerhalb des goldenen Käfigs kennen gelernt und genossen hatte, was die Bändigung durchaus nicht erleichterte. Und es kam hinzu, dass- Stop. Noch mehr Erinnerungen die es beiseite zu schieben galt. Navigator. Oh. Mist. Daran hatte er gar nicht gedacht. "Äh..doch, klar. Sorry, hatte ich vergessen. Ich mach mich dann mal auf den Weg, bye." Freudig streckte Miu Nancy die Hand entgegen um den Hörer zurückzunehmen, doch Nancy legte ihn direkt zurück auf die Gabel. "Dein Bruder hat schon aufgelegt, tut mir leid, kleine Lady." Miu's Gesicht hatte nicht einmal die Zeit für einen Moment einen leicht traurigen Gesichtsausdruck anzunehmen, da begann sie schon wieder zu strahlen. "Nancy, du musst mir unbedingt helfen etwas für Nii-chan zu kochen! Er hat nämlich ganz arg Hunger!", und sie lief in Richtung Küche. Nancy schaute ihr entsetzt hinterher. Was dachte sich der junge Master denn dabei?! Was in aller Welt sollte passieren, wenn Miu sich beim Kochen schnitt, verbrannte oder sonst etwas passierte?! Wie unverantwortlich konnte man eigentlich sein? Schnell folgte sie Miu, um wenigstens das Schlimmste abzuwenden. Erst nachdem er aufgelegt hatte bemerkte Akio, dass er keine Adresse hatte, die er in das Navigationsprogramm seines Handys eingeben konnte. Bevor er noch mehr Zeit verschwendete um noch einmal zurückzurufen stellte er allerdings fest, dass Miu's Adresse vorsorglich von seinem Vater in dem kleinen Gerät eingespeichert worden war - hätte er sich ja denken können. Der Navigator ließ eine kleine flirrende Karte in der Luft über dem Handy-Bildschirm erscheinen und eine freundliche Frauenstimme erklärte ihm, dass er eigentlich nur der 91. Straße bis zu ihrem Ende folgen müsste um dort dann nach rechts abzubiegen und bis zum Beginn der 94. Straße zu laufen. Geschätzte Zeit: 23 Minuten. Währendessen zeigte ein leuchtender Pfeil auf der Karte ihm den Weg an. Nun, das war zeitlich wohl gerade so noch zu schaffen. Akio wollte den Navigator gerade aussschalten, als der Weg plötzlich rot zu leuchten begann und der Pfeil einen anderen Weg einschlug, den Corridor 5 entlang bis zum Einbiegen in die 94. Straße. Die Frauenstimme sagte in ihrem perfekten, höflichen Ton: "Wir raten von der genannten Route ab und empfehlen stattdessen den angezeigten Weg. Geschätzte Zeit: 47 Minuten." Akio starrte das Handy an. "Wieso?" Okay, es war vielleicht dämlich mit einem Computer zu reden, aber so etwas war ihm auch noch nie passiert.. "Wir sind nicht befugt, darüber Auskunft zu geben. Wir raten von der genannten Route ab. Bitte folgen Sie den Anweisungen." Und wieder wurde der Weg über Corridor 5 erklärt. Irritiert und auch leicht verärgert schaltete Akio das Navigator-Programm aus. Wer wäre bitte so bescheuert und würde einen doppelt so langen Umweg machen, ohne einen sinnvollen Grund genannt zu bekommen?! Akio stiefelte los, natürlich die 91. Straße entlang. Schon wieder stiegen in den graublauen Augen Tränen auf. Nancy reichte ihrem Schützling ein Taschentuch und schob sie sanft aber bestimmt beiseite. Sie hatte jetzt wirklich keine Zeit sich um das verletzte Selbstbewusstsein der kleinen Lady zu kümmern, wenn sie noch verhindern wollte, dass die Küche in Flammen aufging. Wie konnte es jemand schaffen beim Versuch eine einfache Reispfanne zu kochen den Reis explodieren zu lassen, sodass er im ganzen Raum herumflog und nun klebrig wie er war Wände, Boden, Küchengerätschaften und sogar die Decke bedeckte? Nancy versuchte Schadensbegrenzung zu betreiben. Miu weinte nicht, weil der heiße, umherfliegende Reis ihr Schmerzen bereitet hatte, sondern weil sie Angst hatte, dass nichts zu Essen fertig war, wenn Akio das Haus erreichte. Ihr war klar dass sie Nancy im Weg herumging, aber sie konnte auch nicht einfach aufgeben. Renjiro rieb sich die Schläfen um die leichten Kopfschmerzen zu vertreiben, die sich anzubahnen drohten. Was genau bezweckte sein 'Arbeitgeber' mit dieser Aktion? Renjiro war eine Persönlichkeit, auf welcher der öffentliche Fokus lag. Es war riskant ihn in illegale Aktionen zu verwickeln - für ihn UND für die Organisation! Für schmutzige Geschäfte wie Entführungen und 'Hinrichtungen' gab es genug Mitglieder; Renjiro's Aufgaben lagen normalerweise in völlig anderen Bereichen. Und doch - der entschlüsselte Auftrag lag vor ihm. "Toudo University - XXXXXX Akio. Caged Bird. ID=7035." Hatte er sich geirrt? Gab es noch einen tieferen, versteckteren Code als den, der ihm bekannt war? Das konnte doch nicht alles sein? Okay, ein gewisser Akio mit unbekannter Familienzugehörigkeit sollte eingefangen werden - dafür stand die Kombination der englischen Wörter. Hinter der ID versteckte sich ein Bild des -vermutlich - jungen Mannes, das er sicher mit Hilfe seines Laptops fände, wenn er die ID an der richtigen Stelle eingeben würde. Die Kopfschmerzen wurden schlimmer. Was hatte ein solcher Auftrag bei ihm zu suchen? Natürlich kannte er Personen, die den Jungen für ihn entführen würden, und er hatte genug Geld sich sogar die fügig zu machen, die solche Jobs eigentlich nicht annahmen. Aber die Organisation verfügte nicht nur ebenfalls über die nötigen Beziehungen und Mittel - nein, sie hatte sogar Leute, die fest für solche Jobs angestellt waren. Worin also lag der Sinn, einem Laien wie ihm eine solche Aufgabe anzuvertrauen? Sollte das ein Test seiner Loyalität werden? Wollten SIE etwas Handfestes gegen ihn in der Hand haben, sollte er irgendwann Zweifel an ebendieser aufkommen lassen? Renjiro prägte sich ein was auf dem Zettel stand um ihn und das ursprüngliche Dokument danach anzuzünden und die bröselige Asche in den Papierkorb fallen zu lassen. Nicht gerade die feine Art, aber effektiver als Aktenvernichter. Danach erhob er sich, packte diverse kleine Nützlichkeiten in seine Aktentasche und verließ das Büro, natürlich nicht ohne vorher die Sicherheitsschlösser zu verschließen. Eine Sekretärin gab es nicht. Renjiro begab sich in die Tiefgarage des himmelhohen Gebäudes und suchte nach seinem Wagen, währendessen piepte er seinen Fahrer an, der sich irgendwo hier in der Nähe aufhalten musste. Als Renjiro den schwarzen Audi A8 erreichte, stand sein Fahrer bereits neben dem Wagen bereit. "Irgendwelche Probleme?" erkundigte Renjiro sich knapp. "Nein, Sir. Alles wie sonst, Sir." Er öffnete Renjiro die Tür zur Rückbank und wartete bis dieser Platz genommen hatte, bevor er die Tür schloss und sich zum Fahrersitz begab. Renjiro lehnte sich leicht zurück. Am besten er nahm diese problematische Aktion sofort in Angriff, je länger er es hinausschob desto mehr Gedanken würde er sich machen. Akio war sich unterdessen nicht mehr ganz sicher ob es eine gute Idee gewesen war, die Anweisungen des Navigators zu ignorieren. Die Legalität schien sich in diese Straße genauso gerne aufzuhalten wie eine Katze im Badewasser - nämlich gar nicht. Die Straße endete vor einem großen heruntergekommenen Gebäude, schmale Gassen führten zu beiden Seiten weiter. Akio blieb stehen. Okay, noch konnte er umdrehen. Aber wenn er nach der Zeitangabe des Navigators vorhin ging konnte er nicht mehr weit vom Ende des Viertels entfernt sein. Es wäre nur eine Zeitverschwendung zurückzugehen, eine, die er sich nicht leisten konnte. Akio wog das Risiko sorgfältig ab, dann schritt er entschlossen in die rechte der beiden Gassen hinein. Die Nervosität, die schleichend in ihm aufstieg, ignorierte er einfach. „Ich bin fertig für heute. Fahren Sie mich nach Hause." Renjiro genoss das sanfte Vibrieren des Wagens unter sich als dieser losfuhr. Er liebte es mit diesem Wagen auch selbst zu fahren, aber solange er einen Fahrer hatte konnte er die Zeit zum Arbeiten nutzen, das war effektiver. Auch wenn er es manchmal bedauerte nicht selbst hinter dem Steuer zu sitzen. Renjiro öffnete seine Aktentasche und holte seinen Laptop heraus. Es war ein gutes Modell - klein und praktisch passte es überall hinein, der integrierte Akku hatte eine lange Laufzeit und es fand fast überall eine Internetverbindung. Er hatte nicht auf den Weg geachtet den sie nahmen bis ihm das Notebook fast aus der Hand rutschte als der Wagen plötzlich recht unsanft in die Kurve ging und Renjiro das Gleichgewicht verlieren ließ. Renjiro funkelte seinen Fahrer im Rückspiegel an. "Meinen Sie nicht auch ich sollte mir noch heute einen neuen Fahrer suchen?" fragte er provozierend. Dieser erwiederte den Blick nicht, seine Augen waren auf die Straße gerichtet. Doch er antwortete: "Ich habe auf diese Entscheidung keinen Einfluss, Sir. Aber bedenken Sie vorher bitte die Umstände dieser Fahrt. Wir sind im 91. Viertel." Renjiro wandte den Kopf dem Seitenfenster zu. Tatsächlich, diese heruntergekommene Gegend kannte er doch. Es war das, was aus der 91. Straße geworden war, nachdem kein Ordnungshüter sich mehr hineintraute und die Anwohner begannen, den vielen freien Platz, den die Straße bedeutete, sinnvoll zu nutzen, indem er bebaut wurde. Was übrig blieb war ein Gewirr von Gassen, das den sicheren Corridor 5 vom nobleren Viertel trennte, in dem Renjiro lebte. "Und dürfte ich erfahren, was wir hier zu suchen haben?" Renjiro vermied es normalerweise absichtlich, sich hier sehen zu lassen. Ein ehrbarer Geschäftsmann, der sich in einem solchen Viertel aufhielt? Gerüchte gab es schnell, und sie konnten sehr negative Folgen haben, selbst wenn seine Verbindung zur Organisation nicht aufflog. Der Fahrer warf nun doch einen Blick in den Rückspiegel und fixierte Renjiro. "Weil es die schnellste Route zu Ihrem Haus ist. Keine Sorge, ich verstehe etwas von meinem Beruf." Renjiro brummte eine nicht verständliche Antwort, schien den Fahrer aber auch nicht abhalten zu wollen. Akio war sich sicher, dass er verfolgt wurde. Okay, vielleicht hatte er das auch selbst herausgefordert, was hatte er hier auch zu suchen? Vor ein paar Minuten hatte er das Navigator-Programm seines Handys noch einmal gestartet, in der Hoffnung, dann vielleicht besser den Weg hinaus zu finden. Die freundliche Frauenstimme von zuvor erklang sofort, noch bevor die Route berechnet worden war: "Für das Gebiet in dem Sie sich befinden bietet unsere Gesellschaft keinen Support an. Bitte verlassen Sie das Gebiet sofort, empfiehlt die örtliche Polizei. Navigation - nicht möglich. Unsere Karten stimmen nicht mit der Bebauung überein. Für das Gebiet-" Akio hatte das Handy zugeklappt und war einfach weitermarschiert. Na super, und wer war Schuld an der ganzen Misere? Dieses blöde Navi hatte ihn doch überhaupt erst auf die Idee gebracht, diesen Weg zu nehmen. Wenn es diesen Weg dann nicht mal anzeigen konnte, sollte es vielleicht Leute nicht so in Versuchung führen? Plötzlich rammte ihn unsanft etwas von links, und Akio stieß einen kurzen erschrockenen Schrei aus. Er sah für einen Moment gar nichts mehr außer einem Busch weißer Haare direkt vor seiner Nase. Wenige Augenblicke später machte er unsanft Begegnung mit dem Boden, und als wäre das noch nicht genug, fiel auch noch etwas Schweres auf ihn und drückte ihm die Luft aus den Lungen. Akio keuchte vor Schmerz auf, als sich der Ellenbogen des Etwas in seinen Magen bohrte, als es versuchte aufzustehen. Der Druck auf seinem Brustkorb verschwand, zwei Hände wurden je rechts und links neben seinem Kopf abgestützt. Ein faszinierend blaues Augenpaar blickte zwischen schneeweißen Haarsträhnen auf ihn herunter. Einen kurzen Moment starrten die beiden jungen Männer sich nur an, dann war plötzlich ein scharfen Pfiff von links zu hören, nicht all zu weit entfernt. Der Mann mit den weißen Haaren sprang auf, etwas Gehetztes lag in seinen Bewegungen, und rannte Hals über Kopf davon. Akio stützte sich auf seine Ellenbogen und richtete sich halb auf. "Autsch..'Sorry' kann der wohl auch nicht sagen.." brummte er, während er aufstand und sich den Dreck von der Kleidung klopfte. Na hoffentlich war er da nicht in irgendeine ganz unerfreuliche Nummer reingerutscht.. Er tastete nach seinem Geldbeutel, aber der war noch da. Naja, sollte ihm der Kerl doch egal sein. Akio schaute sich um. Okaaay..wo genau war er jetzt hergekommen? Und in welche Richtung ging es weiter? Hier sah alles so gleich aus..! "Es scheint wohl jemand auf Hasenjagd zu sein.." murmelte Renjiro, während er zum Seitenfenster hinausblickte. Der Fahrer warf ihm über den Rückspiegel einen irritierten Blick zu. "Hasenjagd? Ich verstehe nicht..wir sind hier mitten in der Stadt!" Renjiro ignorierte ihn einfach. Er hatte davon gehört, dass jemand sehr Einflussreiches in diesem Viertel gerne Hasen jagte, bevorzugt Schneehasen. Niedliche kleine Jungen..äh Häschen durch die Gegend hetzte, nur um sie am Ende wieder einzufangen und dafür zu bestrafen, dass sie weggelaufen waren. Renjiro konnte solcher Zeitverschwendung nichts abgewinnen. Wenn er zu viel Freizeit hatte, trank er eine Tasse Kaffee, oder schaute sich einen guten Film an. Würde er in einer festen Beziehung leben, würde er diese Zeit vielleicht mit dieser Person verbringen. Aber so etwas? Nie im Leben. Um Hasen musste man sich ja das ganze Jahr kümmern, nicht nur zur 'Jagdsaison' - ergo Zeit, die sich effizienter verbringen ließ. Das Auto lenkte jetzt nur noch im Schrittempo durch die engen Straßen, und Renjiro hatte einen guten Ausblick auf die Szenen, die sich in den Schatten unter den weit vorragenden Hausdächern abspielten. "Ihnen ist bewusst, dass Sie für den Schaden aufkommen, sollte diesem Wagen etwas passieren?" fragte er gefährlich freundlich seinen Fahrer. Dieser ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen: "Keiner wird es wagen uns anzurühren. Man wird Sie für irgendeinen mächtigen Yakuza-Boss halten und niemand wird sich trauen, uns anzuhalten." Renjiro schnaubte. Mächtig? In einem kleinen uninteressanten Viertel wie diesem mochte die Yakuza vielleicht noch einen gewissen Einfluss haben, insgesamt hatte die internationale Organisation Kaminari aber das geschafft was noch wenige Jahrzehnte zuvor niemand für möglich und nicht wenige auch nicht für wünschenswert gehalten hatten - die komplette Kontrolle über sämtliche größere kriminelle Organisationen der Welt zu übernehmen. Es gab sie alle durchaus noch, aber sie waren nichts weiter als Tanzpuppen in den Händen derer, die heutzutage die wirkliche Macht hatten. Und eben jene Leute hatten ihm nun so einen unsinnigen Auftrag gegeben. Renjiro öffnete das Notebook und schaltete es ein. Nun, es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sein Fahrer recht behielt und niemand sie behelligte. Die Zeit konnte er jedenfalls nutzen, indem er sich das Bild des zukünftigen gefangenen Vögelchens ansah. Na gut, er gab es zu - er hatte sich ganz offensichtlich komplett verlaufen und irrte nun schon seit ein paar Minuten völlig ziellos in der Gegend umher. Als wenn das nicht schon Problem genug wäre, wurde auch noch das Gefühl verfolgt zu werden immer stärker. Zwei unauffällige Männer waren ihm bisher immer wieder über den Weg gelaufen. Sie waren nicht gut genug gekleidet um nicht aus diesem Viertel zu kommen, aber auch nicht ganz so heruntergekommen, wie die Gestalten, die an Hauswände gelehnt dasaßen. Diese beiden Männer schienen ihm nicht zufällig immer wieder über den Weg zu laufen - abgesehen davon, dass sie nicht den gleichen verirrten Ausdruck wie Akio hatten, waren ihre Blicke jedes Mal auf ihn fixiert, wenn er an ihnen vorbeikam. Und langsam aber sicher machte ihn das doch ETWAS nervös. Seine Schritte beschleunigten sich; die Folge war, dass die Männer ihm nun direkt folgten anstatt nur hin und wieder einmal aufzutauchen. Sie schienen keine Schwierigkeiten damit zu haben, mit seinem Tempo mitzuhalten, ja sie holten sogar auf! Vielleicht 80 Meter vor sich sah Akio helles Licht am Ende der Gasse, sie schien auf eine größere Straße hinauszuführen. Erleichterung keimte in Akio auf. Bevor er sie erreichte wurde er an der Schulter gepackt, herumgedreht und gegen die Wand des Gebäudes neben sich gerammt. Ein schmerzerfülltes Keuchen entwich ihm als sein Rücken so unsanft Bekanntschaft mit der Wand machte. "Fühlst dich wohl ziemlich sicher, kleines Häschen, was? Einfach so seelenruhig hier herumzulaufen.." Es waren die Männer, die er zuvor bemerkt hatte. Der Griff des Mannes an Akio's Schulter wurde fester und Akio wand sich leicht. "Lassen Sie mich los. Ich habe keine Ahnung wovon Sie reden." Derjenige, der ihn bis jetzt noch nicht festgehalten hatte, zog nun Handschellen aus der Tasche. Okay, das sah jetzt IRGENDWIE gar nicht gut aus.. "Ich finde es ja auch schade, dass wir uns nicht an euch vergreifen dürfen," sein Blick glitt neugierig über Akio's Körper, "aber der Boss will euch selbst bestrafen. Nur...wenn du Ärger machst, müssen wir uns nicht zurückhalten, weißt du." Sofort hörte Akio auf zu zappeln. Sie sollten ihm das nicht als 'Ärger machen' auslegen können, denn er konnte sich vorstellen, dass diese zwei Idioten nur darauf warteten einen Grund zu finden, ihn auf irgendeine Art und Weise zu bestrafen. "Wenn die beiden werten Herren mir vielleicht erklären könnten, was genau ihr 'Boss' für ein Problem mit mir hat..?" fragte er dann in höflichem Tonfall. Hoffentlich wurde das nicht als Ironie ausgelegt..? Beide lachten laut, sie schienen sich keine Sorgen zu machen, dass jemand kam und sie von ihrer verbrecherischen Tätigkeit abhielt. "Du bist ein guter Schauspieler, Kleiner! Aber jetzt ab zurück in den Käfig! Schneehasen sind schließlich etwas Besonderes, wir wollen doch nicht, dass sie ganz dreckig werden, wenn sie hier herumrennen.." erklärte der Kleinere der beiden mit einem Blick auf Akio's hellgraues Haar. Er kam näher und wollte Akio die Handschellen anlegen. Das ging definitiv zu weit. Akio hatte wirklich keine Probleme machen wollen, aber bevor er als menschliches Versuchskaninchen bei irgendeinem verrückten Hasenliebhaber landete, legte er sich lieber mit diesen Kerlen an. Er kratzte zusammen was in seinem Gedächtnis von den Selbstverteidigungskursen übrig geblieben war die sein Vater ihm vor ein paar Jahren angetan hatte und- Akio's Körper wurde plötzlich ganz weich, er brach zusammen und rutschte dabei aus dem Griff des Mannes, der ihn festgehalten hatte. Bevor Akio zu Boden fiel, spannten sich die Muskeln in seinen Beinen plötzlich wieder an und katapultierten ihn in die Höhe. Akio nutzte den Schwung, um dem Einen der Beiden den Kopf von unten gegen das Kinn zu rammen. Er nutze den leicht schwankenden, mehr überrascht als ernsthaft verletzten Mann, um sich durch Abstützen mit der Hand auf ihm wieder selbst ins Gleichgewicht zu bringen und noch in dieser Drehung den rechten Fuß in die Luft fliegen zu lassen, wo er dann schnell unfreundliche Bekanntschaft mit dem zweiten Mann machte, der ebenfalls perplex über die augenscheinlich unerwartete Gegenwehr nicht schnell genug ausweichen konnte und mit einem schmerzerfüllten Krächzen auf die Knie fiel als Akio's Fuß seinen Hals traf. Akio stieß sich von dem ersten Mann ab, der langsam wieder die Kontrolle über sich zurückgewann, verpasste ihm eine Tritt ins Kreuz der ihn das Gleichgewicht verlieren ließ, und wirbelte herum um sich ganz der Flucht zu widmen, schließlich wusste er nicht wie lange es dauern würde bis der andere seine Überraschung überwunden hatte. Selbstverteidigungskurse hatten also doch ihren Wert, bemerkte er mit einem wilden Grinsen, während er auf das Licht am Ende der Gasse zustürmte. Akio gab sich nicht der Illusion hin er hätte seine beiden Verfolger ernsthaft besiegen können, aber er hatte die Überraschung auf seiner Seite gehabt. Jetzt musste er es nur noch schaffen zu entkommen bevor sie ihm mit aller Kraft folgen konnten - dann würde er nämlich absolut keine Chance mehr haben, er war noch nie übermäßig an Sport interessiert gewesen weshalb weder seine Kondition noch seine Geschwindigkeit eine lang andauernde Flucht ermöglichen würden. Das Licht war jedoch nicht weit entfernt, wenn er rannte konnte er es locker schaffen den Männern zu entkommen, vorausgesetzt das Licht war tatsächlich das Ende dieses schrecklichen zwielichtigen Viertels. Leise summend rührte Miu in dem Topf herum. Nancy hatte die Küche in Ordnung gebracht, ihren kleinen Schützling umgezogen und begonnen das Essen zu kochen. Jetzt gab es für Miu nichts weiter zu tun als hin und wieder im Topf herumzurühren, sodass nichts anbrannte. Miu's Laune war wieder auf dem Höhepunkt, die Tränen von zuvor vergessen. Schon in wenigen Minuten würde Akio bei ihr sein! Glückerfüllt summte sie noch etwas lauter vor sich hin. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)