Blauer Himmel von Yuiki ================================================================================ Kapitel 6: Ein unruhiger Morgen ------------------------------- Die Zimmerdecke ließ sich in der Dunkelheit kaum erahnen. Vögel zwitscherten vor dem Fenster, doch die Sonnenstrahlen bemühten sich vergeblich, die Fensterläden zu durchdringen. Akio lag auf dem Rücken und wagte nicht sich zu bewegen. Er hatte gehört, dass die Schmerzen nach einem Unfall am nächsten Morgen am Schlimmsten waren, weil in der Nacht noch so viel Adrenalin und sonstige Stoffe in seinem Körper unterwegs waren dass der Schmerz unterdrückt wurde. Also lag er jetzt da und versuchte den Moment hinauszuzögern, in dem er sich bewegen musste und die Schmerzen wahrscheinlich durch seinen Körper schossen. Aber eigentlich war es doch egal wann er aufstand, oder? Es würde in jedem Fall schlimm werden, also konnte er sich dieser Herausforderung auch gleich stellen. Das Telefon nahm ihm die Entscheidung ab, es klingelte laut und vernehmlich aus dem Nebenraum. Akio wandte den Kopf nur um wenige Zentimeter, um die Leuchtanzeige seines Weckers zu erkennen. 07:03 Uhr. Wer auch immer gerade anrief nahm offensichtlich keine Rücksicht auf Menschen, die zu dieser Uhrzeit noch schliefen. Akio zumindest empfand es als furchtbar unhöflich, um diese Uhrzeit angerufen zu werden. Na gut, er musste irgendwann ja sowieso aufstehen, da konnte er auch gleich ans Telefon gehen. Sehr langsam und sehr vorsichtig schwenkte er die Beine Richtung Bettkante und setzte sich auf. In seinem Kopf drehte sich alles und eine leichte Übelkeit stieg in ihm auf, doch ansonsten tat ihm eigentlich nichts mehr weh als am Abend zuvor. Das Handy klingelte weiter, und Akio ärgerte sich es nicht entweder auf lautlos geschaltet, oder es zumindest in Reichweite seines Betts mitgenommen zu haben. Was war das überhaupt für eine furchtbar penetrante Person? Wenn nach so langem Klingeln niemand abnahm, ging man doch normalerweise davon aus, dass die Person die man erreichen wollte eben nicht erreichbar war. Das Handy klingelte weiter. Akio unterdrückte ein genervtes Seufzen, welches allerdings außer ihm sowieso niemand gehört hätte und stemmte sich hoch. Sogleich wurde der Schwindel wieder schlimmer, allerdings stellte Akio fest dass er ansonsten anscheinend voll funktionsfähig war. Mit langsamen Schritten, um sein Gehirn nicht zu überlasten, das gerade dabei war in Generalstreik zu treten, ging Akio in den Nebenraum hinüber. Akio's Wohnung bestand aus zwei Räumen und einem Bad, was für einen alleine lebenden Studenten in Tokyo ein unglaublicher Luxus war. Trotzdem war es nicht vergleichbar mit den unendlichen Zimmerfluchten, die er im Herrenhaus in Europa kennengelernt hatte, allerdings hatte er sich dort sowieso nie wirklich wohl gefühlt. In dem größeren Raum befanden sich eine Kochnische und etwas, das einem Wohnzimmer glich. Auf dem Boden neben dem Fernseher lag die Tasche, die er gestern dabei gehabt hatte. Sie schien von den Vibrationen des Handys fast auf und ab zu hüpfen. Akio wollte sich danach bücken, besann sich aber eines Besseren als ihm dabei sein Magen den Hinweis gab, dass er auch ohne Inhalt alles was sich darin befand auf eine schnelle Reise nach oben schicken würde, sollte Akio dieses Vorhaben tatsächlich in die Tat umsetzen wollen. Also ließ er sich in der Hocke nieder und begann in seiner Tasche nach dem randalierenden Handy zu suchen. Als er es endlich in der Hand hielt erkannte er die Nummer, die ihm gestern schon 14 entgangene Anrufe beschert hatte. Diesmal entwich ihm ein Seufzen das er nicht aufhalten konnte. Er nahm das Gespräch an: "Guten Morgen, Miu." Ein leiser und begeisterter Aufschrei tönte ihm vom anderen Ende der Leitung entgegen. "Akio-nii, bist du schon wach? Wie geht es dir? Ah, ich bin so froh deine Stimme zu hören! Bist du gut zuhause angekommen? Ist alles in Ordnung? Ist gestern Nacht irgendetwas Seltsames passiert? Geht es dir gut? Soll ich Nancy vorbeischicken?" Akio ließ sie reden. Er meinte eigentlich Miu nichts davon erzählt zu haben dass er angefahren worden war. Woher wusste sie, dass er nicht ganz auf der Höhe war? Er hatte es ja nicht einmal Nancy erzählt, die ihm frische Kleidung besorgt und sich um seine kleineren Prellungen und Schürfwunden gekümmert hatte. "Es ist alles okay, Miu. Mir geht es schon viel besser heute, falls du meinst dass ich gestern vielleicht ein bisschen angeschlagen ausgesehen hab." versuchte er seine kleine Schwester zu beruhigen. Überraschenderweise schien sie davon allerdings nichts zu wissen: "Gestern? Was war gestern? Hast du dir wehgetan? Du warst verletzt? Ich dachte nur deine Kleidung war dreckig…?" Akio schlug sich mit der flachen Handfläche gegen die Stirn. Das hatte er sich jetzt aber selbst eingebrockt. "Nein nein, keine Sorge, alles okay. Warum genau rufst du denn so früh an?" Miu's Stimme klang nachdenklich als sie antwortete: "Ich dachte, vielleicht...naja, weißt du...hier ist heute Nacht eingebrochen worden, und ich habe mir Sorgen gemacht, ob das nur zufällig unser Haus war oder ob sie hinter unserer Familie her sind. Ich habe Papa angerufen, aber er hat gesagt es geht ihm gut. Er war sehr wütend dass so etwas passiert ist. Er hat die Security-Firma, die das Viertel bewacht zur Schnecke gemacht und so..." Akio erschrak zutiefst. "Ist mit dir und Nancy alles in Ordnung?!" Seine Stimme zitterte. Ein sanftes Lachen beruhigte ihn gleich darauf. "Es geht uns gut, Akio-nii-chan. Es ist nur seltsam..." Miu's Stimme verlor sich. Akio stutzte. Was war seltsam? Genau das fragte er seine kleine Schwester dann auch. "Oh…weißt du..." begann sie die Erklärung. "Es geht uns ja gut, aber es ist seltsam...es wurde nichts gestohlen. Außer dem Schloss und der Alarmanlage ist nichts kaputt. Es ist, als hätten die Einbrecher nicht gefunden was sie gesucht haben..." Akio erschauderte. Was hatten die Einbrecher gesucht? Was hatten sie im Haus vermutet, was in der Nacht nicht mehr dort gewesen war? Plötzlich verstand er, warum Miu ihn so früh am Morgen voller Sorge anrief. Beruhigend sagte er noch einmal: "Mir geht es wirklich gut, Miu, hier ist alles in Ordnung." Zwar konnte Akio sich nicht vorstellen warum in aller Welt jemand hinter ihm her sein sollte, aber ihm war klar, dass Miu diese Idee natürlich sofort gekommen war. Akio hatte einen reichen Vater, von dem man vermutlich eine lohnende Summe Lösegeld erpressen konnte. Allerdings war Miu ebenso die Tochter dieses Mannes. Hätte jemand vorgehabt ihn zu entführen und ihn nicht gefunden, hätte er stattdessen einfach die Tochter mitnehmen und die gleiche Summe erpressen können. "Papa hat entschieden dass Nancy und ich jetzt einen Bewacher bekommen sollen..." Miu klang sehr unsicher. "Hast du heute schon etwas vor? Ich bin ein bisschen unsicher...jemanden zu treffen der plötzlich bei uns leben soll." Akio verstand Miu nur zu gut. Sie war keine neuen Begegnungen gewohnt, schließlich hatte ihr Vater immer sein Bestes getan um Miu von der Welt fernzuhalten. "Möchtest du, dass ich dabei bin wenn du die Person kennenlernst?" fragte er deshalb fürsorglich. Miu's Stimme bebte vor Freude als sie bejahte. "Er kommt heute Nachmittag um 15 Uhr! Wenn du vielleicht ein wenig früher da sein könntest, nur für den Fall dass er überpünktlich ist..." deutete Miu an. Akio musste lächeln. "Keine Sorge, ich werde vor ihm da sein, Schwesterchen." beruhigte er sie. Es war faszinierend wie verängstigt Miu reagierte weil sie eine unbekannte Person treffen sollte, während sie andererseits nicht die geringste Angst um ihre eigene Person zeigte, obwohl mitten in der Nacht düstere Gestalten in ihrem Haus herumgeschlichen waren. Er verabschiedete sich und warf das Handy dann zurück in die Tasche. Als er sich aufrichtete und im Zimmer umsah stellte er fest dass ihm immer noch leicht schwindlig war und er sich lieber noch mal hinlegen wollte, schließlich hatte er noch genug Zeit bis er bei Miu sein sollte. Mit steifen Schritten kehrte er in den kleinen Raum zurück, in dem er schlief. Es fühlte sich so gut an den Kopf auf die weichen Kissen legen zu können und sich in die Decke zu kuscheln. Allerdings fiel ihm das Einschlafen nicht so leicht wie in der Nacht zuvor. Ihm ging vieles durch den Kopf, in erster Linie natürlich der Einbruch bei Miu. Er war nicht paranoid. Es gab nicht nur keinen Grund hinter ihm her zu sein, es gab auch nicht den geringsten Hinweis darauf, dass dieser Einbruch ihm gegolten hatte. Doch es gelang ihm nicht, die leise Stimme zu ignorieren, die ihm zuflüsterte, dass Miu's Gedankengang vielleicht doch nicht ganz so falsch war. Verärgert schob Akio den Gedanken an den Einbruch weit von sich. Er wollte sich keine müßigen Gedanken mehr über eine mögliche Gefahr machen, in welcher er vielleicht schwebte. Leider war das einzige andere Thema das Akio keine Ruhe ließ seine Begegnung mit dem Mann gestern. Okay, es war ja auch eher eine ungewöhnliche Begegnung gewesen, anders konnte man es nicht ausdrücken fast überfahren zu werden. Das war es allerdings nicht, was Akio so beschäftigte. Es waren seine eigenen Gedanken, die ihn verwirrten, die immer wieder zu dem Gesicht im Halbdunkel zurückkehrten. Dabei gab es eine Menge Dinge die im Moment bedeutender waren. Er hatte sogar im Taxi von dem Fremden geträumt! Er konnte sich jetzt erklären warum der Mann im Traum ihn nach seiner Adresse gefragt hatte, wahrscheinlich war das der Taxifahrer oder Nancy gewesen, die wissen wollten, wohin sie ihn bringen sollten. Das erklärte jedoch nicht, warum Akio im Halbschlaf das Gesicht des Fremden vor sich gesehen hatte. Ihn beschäftigte außerdem, warum er jenes Gesicht nicht nur in der ersten Verwirrung nach dem Unfall, sondern bis zu diesem Moment jetzt als attraktiv empfand. Was war nur in ihn gefahren? Es machte keinen Sinn. Akio hatte sich nie genauer mit sexuellen Orientierungen auseinandergesetzt. Männer standen eben auf Frauen und Frauen auf Männer. Nach ein paar Jahren rumprobieren heiratete man dann wohl, setzte Kinder in die Welt und wurde Vater. Akio’s „Rumprobieren“-Phase war bisher relativ kurz gekommen; im Gegensatz zu Miu war die Zeit in Europa zwar für ihn nicht von kompletter Unfreiheit geprägt gewesen, aber allzu viel Kontakt zu Gleichaltrigen hatte er nun auch wieder nicht gehabt, vermutlich weil sein Vater sich sorgte sie könnten Akio’s Charakter verderben. Hätte Akio sich nicht zu Frauen hingezogen gefühlt hätte er vielleicht schon mal den einen oder anderen Gedanken an das Thema verschwendet, aber dem war nicht so. Er mochte Frauen. Er mochte weiche anschmiegsame Körper. Er mochte hübsche Gesichter mit großen Augen, umrahmt von langen gepflegten Haaren. Aber warum mochte er auch dieses markante Gesicht des Fremden? Wütend auf sich selbst warf Akio sich auf die andere Seite und versuchte seinem schmerzenden Kopf zu befehlen an niedliche kleine Schäfchen zu denken die ihn begeistert ins Reich der Träume geleiten wollten. Der Erfolg war mäßig, aber irgendwann glitt er tatsächlich in einen unruhigen Schlaf hinüber. Nach Akio’s Gefühl war keine halbe Stunde vergangen seit er sich wieder hingelegt hatte, da klingelte das Telefon ein weiteres Mal. Als Akio sich fluchend aus dem Bett wälzte war er sich sicher, dass sich die ganze Welt gegen ihn verschworen hatte. Eine kühle, weibliche Stimme begann zu sprechen, sobald er den Anruf entgegen genommen hatte: "Mein Name ist Shimizu, ich bin die Sekretärin von Higuchi-san. Spreche ich mit Akio Higuchi?" Akio erstarrte. Wie hatte er auch annehmen können sein Vater würde ihn tatsächlich in Ruhe lassen obwohl er längere Zeit im gleichen Land verweilte wie er? "Akio?" Akio zuckte zusammen als er plötzlich die raue, tiefe Stimme seines Vaters statt der neutralen Telefonzentralen-Stimme der Sekretärin hörte. Hastig antwortete er. "Ja, Vater?" Ungeduld schwang in der Stimme des Mannes am anderen Ende der Leitung mit. "Ich habe gehört du bist inzwischen in Tokyo angekommen? Wie kommt es dass du seit über zwei Monaten hier bist und dich noch nicht von selbst bei mir gemeldet hast?" Akio hörte sehr wohl die Spitze in den Worten. "Ich war sehr beschäftigt…der Umzug, die Uni, weißt du...“ versuchte er schwach eine Ausrede. Sein Vater ging gleich gar nicht darauf ein. "Ich will dich morgen Abend sehen. Ich habe etwas mit dir zu besprechen, vor allem nachdem heute Nacht bei deiner Schwester eingebrochen wurde." Der spöttische Ton in seiner Antwort überraschte Akio selbst: "Was denn, willst du mir etwa auch einen Bodyguard aufzwängen?" Die Stimme seines Vaters ließ allerdings keine Überraschung erkennen. "Du bist also schon über Miu's Situation informiert. Gut. Also dann bis morgen Abend." verabschiedete er sich kompromisslos. Mit einem Seufzen legte Akio das Handy weg und entschied sich vorerst nicht zurück ins Bett zu gehen. Ansonsten würde ihn sowieso nur irgendjemand wieder aus dem Schlaf reißen. Mit einem sehnsuchtsvollen letzten Blick Richtung Bett begab er sich ins Badezimmer um sich fertig zu machen. Renjiro verabschiedete die beiden Herren die sich bis eben noch in seinem Büro aufgehalten hatten. Sie wirkten unzufrieden, als hätten sie nicht erreicht weshalb sie gekommen waren. Als er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte gönnte er sich ein selbstzufriedenes Lächeln. Immer wieder wurde sein rascher Aufstieg angezweifelt, auf niemanden sonst hatten die Behörden so scharf ein Auge – auf seine Geschäfte, sämtliche Bewegungen auf seinen Konten und natürlich vor allem ob er irgendwelche Verbindungen zum Untergrund hatte. Mehrmals im Jahr bekam er daher Besuch von freundlichen Herren die sich zuerst größte Mühe gaben ihm etwas anzuhängen und ihn dann, sobald sie merkten dass sie nichts gegen ihn in der Hand hatten, auf höflichste Weise zu überzeugen versuchten sie relativ grundlos zu bestechen, womit sie ihn schließlich tatsächlich in der Hand gehabt hätten. Natürlich würde Renjiro sich hüten ihnen so in die Hände zu spielen. Seine Geschäfte liefen gut, auch die weniger offiziellen, nicht zuletzt weil Kaminari effektiv dafür sorgte dass Informationen über Geschäfte an welchen SIE Anteil hatten niemals die Öffentlichkeit erreichten. Weil die Geschäfte seiner Konkurrenten ganz zufällig nicht ganz so gut liefen und natürlich auch weil beträchtliche Geldströme jene erreichten die an deutlich wichtigeren Positionen saßen als diese beiden unbedeutenden Beamten. Renjiro räumte sorgfältig die Dokumente auf die er den Männern vorgelegt hatte und sein Lächeln verschwand. Noch heute würde er sich jener riskanten Sache widmen müssen wenn er diese Geschäftsvorteile nicht missen wollte. Er ärgerte sich die Aufgabe überhaupt anderen übertragen zu haben; er war kein bisschen vorangekommen aber schon wussten zwei Menschen mehr auf dieser Welt von seinen Plänen und das war ein Risiko das Renjiro schon aus Prinzip nicht gerne einging. Daher hatte er sich jetzt entschieden die Sache selbst in die Hand zu nehmen – das war nicht ungefährlich, schließlich konnte er erkannt werden und später würde vielleicht jemand die richtigen Schlüsse ziehen wenn der Junge plötzlich verschwand. Aber sich ein weiteres Mal auf andere zu verlassen kam nicht in Frage. Renjiro ließ prüfend den Blick ein letztes Mal über sein tadelloses Büro gleiten bevor er nach seiner Tasche griff und es Richtung Tiefgarage verließ. Das Telefongespräch mit seinem Chef verlief nicht viel angenehmer als das mit seinem Vater, und diese Gespräche standen sowieso nicht gerade auf Akio’s Liste der Telefonate die er am liebsten führte. Sein Chef war alles andere als begeistert dass Akio in der vorherigen Nacht einfach nicht aufgetaucht war. Nach dem Gespräch entschied Akio sich spontan doch zu einem Arzt zu gehen, eine offizielle Bescheinigung würde seinen Chef vielleicht beschwichtigen. Da er schon mal am Telefonieren war rief er auch gleich Hiroshi an, dieser konnte ihm vielleicht helfen einen Arzt zu finden. "Ach du heilige Scheiße." "Das hast du aber schön zusammengefasst..." kommentierte Akio spöttisch. "Glaubst du nicht der Kerl war derjenige der dich angefahren hat? Du solltest ihn verklagen! Und zu ´nem Arzt hättest du gestern schon gehen sollen!" Hiroshi gelang der Spagat gleichzeitig ungehalten und besorgt zu klingen. "Hör auf dich wie eine Glucke aufzuführen, Hiro. Sag mir einfach wo ich einen Arzt finde der mir ´nen hübschen Zettel zum Thema Arbeitsunfähigkeit schreibt, ja?" Hiro zögerte einen Moment lang. "Ich werde mal bei mir zuhause nachfragen; ich kenne mich selber nicht so gut mit Ärzten aus, ich brauch normalerweise keinen." erklärte er dann. Nach einem weiteren Schweigen in der Leitung fragte er plötzlich angespannt: "Denkst du…glaubst du...du schaffst es zu unserem Termin am Freitag?" Akio versuchte ihn zu beruhigen, er wusste wie wichtig dieser Tag für sie alle war. "Mach dir keine Sorgen, klar komm ich. Eigentlich brauch ich gar keinen Arzt. Ich will nur mal nachschauen lassen, wegen der Arbeit halt. Der Rest wird schon wieder." Hiro räusperte sich. "Ja...also dann…ruh dich heute einfach gut aus, ja? Dann sehen wir uns in der Uni." Am Freitag hatte Night Love Dragon ein Gespräch mit einem großen Label. Sie spielten erst wenige Wochen zusammen; nie hätten sie gedacht schon so früh die Chance auf ein Debut zu bekommen. Akio, der wusste dass Hiro schon länger mit den anderen beiden zusammen spielte, konnte verstehen wie wichtig ihnen diese Chance war. Nachdem er aufgelegt hatte warf Akio einen Blick auf die Uhr. Zum Ausruhen blieb ihm eigentlich keine Zeit mehr wenn er es rechtzeitig zu Miu schaffen wollte. Während er sich anzog dachte er über das stockende Gespräch eben nach. Hiro verhielt sich ein wenig seltsam in letzter Zeit, fand Akio. Als sie die letzten Jahre nur über das Internet in Verbindung gewesen waren, während Akio in Europa gewesen war, hatte Hiroshi sich als der normale Kumpel verhalten den Akio schon seit seiner frühen Kindheit kannte. Aber seit er vor ein paar Wochen nach Japan zurückgekehrt war, war es irgendwie...anders zwischen ihnen. Unsicherer, irgendwie unbeholfen. Akio schüttelte den Kopf als müsse er den Gedanken verscheuchen. Es war nur normal dass nach all den Jahren nicht die gleiche perfekte Chemie zwischen ihnen herrschte wie in ihrer Kindheit. Absolut nichts worüber man sich den Kopf zerbrechen musste; vor allem nicht wenn schon genug verwirrende Dinge darin herumschwirrten. Wie zum Beispiel der Frem- Entschieden schob Akio den Gedanken beiseite. "Ein paar leichte Prellungen und blaue Flecken, nichts Ernstes. Sie sind wirklich glimpflich davon gekommen – ich würde mir allerdings zur Sicherheit Ihren Kopf lieber noch genauer ansehen. Ihnen war heute Morgen also schwindlig?" Akio nickte. Er glaubte nicht dass ihm irgendetwas fehlte, jetzt, nachdem der Arzt ihn bereits untersucht hatte. Aber wenn er diesen Zettel wollte konnte er auch nicht alles vollkommen auf die leichte Schulter nehmen. "Ja, aber ich habe nicht gekotzt oder so. Mir ging es zwar ziemlich beschissen aber jetzt ist alles schon viel besser." Akio konnte sehen wie es im Gesicht des Mannes arbeitete. "Es ist eigentlich meine Pflicht als Arzt auf Nummer Sicher zu gehen…aber ich sehe schon dass ich damit nicht in Ihrem Sinne handeln würde. Warum sagen Sie mir denn nicht wenigstens was passiert ist? Dann könnte ich zumindest das Risiko besser einschätzen." Akio’s Blick glitt forschend über das feiste Gesicht des besorgten älteren Mannes, das von einem weißen Haarkranz gesäumt war. Wenn er ihm erzählte dass er angefahren worden war würde das einen ganzen Rattenschwanz an Problemen nach sich ziehen; es war besser wenn der Arzt nichts Genaueres erfuhr. So schüttelte er nur leicht den Kopf und erhob sich dann. Ein wenig enttäuscht stand auch der ältere Arzt auf und sie verabschiedeten sich. Zufrieden hielt Akio trotzdem wenig später ein Attest in der Hand mit dem er sich auf den Weg zu seinem Arbeitgeber machte. Ryo stand in der U-Bahn, ohne Taro. Der kleine Freak würde sich nie bequemen vor Einbruch der Dunkelheit aufzustehen; wie immer lag er noch glücklich und entspannt in ihrer gemeinsamen Wohnung in seinem kuscheligen Bett, natürlich hinter einer verschlossenen Tür die Ryo den Zutritt in Taro’s persönliches Reich verwehrte. Auch Ryo wäre gerne seinem Beispiel gefolgt, aber ihr beider Überleben hing davon ab dass sie vernünftig für ihren Job bezahlt wurden. Und der Auftraggeber des Mordes der gestrigen Nacht hatte klar gemacht dass er nur genau JETZT bereit war zu zahlen. In Ryo stieg Ärger auf, weniger auf ihren Auftraggeber und mehr auf Taro. Es war Taro‘s Job gewesen; er hatte ihn – wie eigentlich immer – ohne Ryo’s Einverständnis angenommen, und während Ryo draußen vor der Tür Wache stand hatte er sich drinnen mit dieser Frau vergnügt. Noch so etwas das Ryo an seinem Partner hasste. Er selbst bevorzugte es Aufträge schnell und sauber über die Bühne zu bringen, doch Taro machte daraus ein gestörtes Spiel, zog die Qual seiner Opfer hinaus, erhöhte das Risiko eines Tages erwischt zu werden unnötig. Mit einem Ruck hielt die U-Bahn an der nächsten Station und riss Ryo aus seinen Gedanken. Ein neuer Schwall Menschen schwappte in die ohnehin volle U-Bahn und quetschte ihn gegen die Rückwand. Genervt ließ Ryo es über sich ergehen. Was hatte er schon davon zu versuchen sich mehr Platz zu schaffen? Wenigstens war er groß genug um über die Köpfe der Menschen hinwegblicken zu können; so blieb ihm zumindest eine letzte Illusion von Freiraum erhalten. Entnervt ließ Akio sich mit der Menschenmasse treiben; Die Hoffnung eine Haltestange zu erreichen hatte er schon aufgegeben. Die typische morgendliche Rushhour war doch eigentlich schon längst vorbei! Ein Blick auf seine Uhr half ihm eine logische Erklärung für das Gedränge zu finden – es war Mittagszeit; und gerade heute schienen alle braven Arbeiterbienen für diese Zeit ihren Bienenstock verlassen zu wollen. Ein besonders hektisches Exemplar im schwarzen Anzug rammte ihn von hinten und drückte ihn auf einen schlaksigen blonden Mann zu. Unsanft wurde er gegen diesen gedrängt und Akio hörte diesen leise stöhnen. Beschämt senkte er den Kopf; er musste den Mann schon ziemlich hart erwischt haben um solch eine Reaktion auszulösen. Ryo riss sich zusammen. Was war ihm denn da gerade für ein Laut entwichen?! Ein junger Kerl, vielleicht 16 oder 17, war gegen ihn gerempelt und hatte dabei natürlich genau die Stelle an seinem Brustkorb erwischt die Taro in der Nacht mit einem so liebevollen Tritt bedacht hatte. Gleichzeitig stieg ihm schwach der Duft von Taro’s Shampoo in die Nase. Verwirrt senkte Ryo den Blick um den Typ der ihn da angerempelt hatte genauer ins Auge zu fassen. Ein hellgrauer Haarschopf bewegte sich unter seiner Nase, Ryo drückte sich mit ziemlichem Kraftaufwand ein wenig von ihm weg um auch das Gesicht darunter in Augenschein nehmen zu können. Ein Paar tiefdunkelgrün schimmernder Augen blickte zu ihm auf. Ryo erschauderte. Wow. Er konnte auf beiden Schiffen segeln, aber außer Taro hatte ihn auf dieser Seite bisher selten jemand so richtig angesprochen. Nun, das hatte sich soeben verändert. "Sorry", sagte der junge Mann in diesem Moment auf Englisch. Seine Stimme war angenehm und wohl schon durch den Stimmbruch. Ryo wollte abwinken, merkte dass das in der vollen U-Bahn keine gute Idee war, und bewegte daher nur die Augen. "Kein Problem. Und keine Sorge, ich verstehe Japanisch." Diese Farbe faszinierte ihn. Er hatte noch nie so ein intensives Grün in den Augen eines Menschen gesehen. So klischeehaft das auch klang, sie schimmerten wie Smaragde, aber bei weitem nicht so kalt. Eher…müde? Die Augen schlossen sich, zu Ryo’s Bedauern. Akio’s Widerstand gegen die Müdigkeit war schwach, und so sehr er es auch hasste in dieser Menschenmasse eingequetscht zu sein, so war es doch gleichzeitig auch recht angenehm; die Leute standen so dicht gedrängt dass er gar nicht hätte umfallen können, selbst wenn die Beine unter ihm nachgeben würden. Der blonde Mann der wie ein Ausländer aussah hatte auf Japanisch geantwortet. Nun, auch egal. Bis zum Vergnügungsviertel in dem Akio’s Arbeitsplatz lag war es noch ein Stück. Ryo atmete vorsichtig den schwachen Duft der Haare unter seiner Nase ein. Er kam sich wie ein Perverser vor. War er am Ende jemand der einfach auf einen bestimmten Geruch abfuhr, und wer ihn trug spielte überhaupt keine Rolle? Sofort verneinte er vor sich selbst. Seine Beziehung zu Taro war viel vielschichtiger, der…Sex den sie hatten – Ryo tat sich schwer mit dem Begriff, denn was sie taten, ließ Ryo grundsätzlich wenig befriedigt zurück – war nichts als ein Bonus, ein Unfall der hin und wieder passierte. Nur was reizte ihn dann an dem jungen Mann dessen Körperwärme er durch sein Shirt hindurch fühlen konnte? Ryo rief sich zur Ordnung. Letztendlich spielte es keine Rolle. Sexkontakte, Beziehungen, Freundschaften, all das waren Begriffe aus einer anderen Welt, nicht SEINER Welt. Er würde sich hüten mit irgendeinem Menschen unnötig Kontakt zu haben. Er betrachtete das friedlich dösende Gesicht unter sich. Theoretisch könnte dieser Junge das Opfer des zweiten Auftrags der vorigen Nacht sein, der so schrecklich schief gegangen war; das geschätzte Alter passte, helles Haar hatte er auch. Natürlich war er es nicht; ein Ziel aus der 94. Straße würde wohl kaum mit der U-Bahn fahren, es ging nur um den rein theoretischen Gedanken. Müßige Gedanken, mal wieder. Deshalb hasste er es untätig zu sein. An der nächsten Haltestelle drängte er sich ins Freie. Ryo liebte Bewegung. Zum Übergabepunkt zu joggen war sowieso viel besser als Herumstehen in einem stickigen Waggon, was ihn nur auf unsinnige Gedanken brachte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)