Blauer Himmel von Yuiki ================================================================================ Kapitel 10: Die Frage aller Fragen ---------------------------------- Renjiro Sato war nicht gerade ein geduldiger Mann. Ihn warten zu lassen bedeutete für die meisten Menschen ihn das letzte Mal gesehen zu haben wenn sie nicht so wichtig waren dass er zähneknirschend darüber hinwegsehen musste – und Dates waren das nie gewesen. Und nun stand er selbst vor dem Kleiderschrank und verstand zum ersten Mal im Leben das Dilemma von Frauen die ihn warten ließen und das dann damit zu entschuldigen versuchten, dass sie eine unglaublich unbedeutende Frage stundenlang nicht hatten beantworten können: Was ziehe ich an? Allein die Tatsache dass er sich darüber den Kopf zerbrach war bereits bedenklich, und Renjiro schrieb sich in Gedanken eine Notiz an sich selbst dass er unbedingt mehr ausgehen musste wenn er den Draht zur Szene nicht verlieren wollte. Natürlich hatte er Angestellte die darüber im Bilde waren was gerade angesagt war, aber es konnte nie schaden sich selbst hin und wieder ein Bild zu machen. Während er unentschlossen ein Hemd aus dem Schrank nahm und es vor dem Spiegel betrachtete dachte Renjiro an seinen letzten nicht offiziellen Clubbesuch zurück – ein Besuch, der viel zu lange her war. Zumindest dafür, dass er immer noch in seinen Zwanzigern war! Es war ein normaler Club gewesen, keiner von seinen eigenen, um nicht an die Arbeit erinnert zu werden. Er hatte ein wenig getanzt und etwas getrunken, aber die suchenden Augen waren ihm schon zu sehr zur zweiten Natur geworden. Augen, die sofort erkannten mit welcher Absicht sich ihm jemand näherte. Augen, die Probleme erahnten bevor sie sich wirklich entfalteten. Es war schwer, einen lockeren Abend zu genießen wenn einem die künstliche Lockerheit so ins Auge sprang, weil man sie selbst vermarktete; wenn man nicht abschalten konnte weil man unbewusst nach Schwierigkeiten Ausschau hielt die es zu schlichten galt. Renjiro schüttelte den Kopf und legte das Hemd zurück in den Schrank. Das XY war ein wenig speziell, daran erinnerte er sich. Exklusiv, und mit interessanten Ideen die damals seine Neugierde geweckt hatten. Ungewöhnliche Konzepte mussten weniger die Konkurrenz fürchten, und wenn sie sich bereits am Markt etabliert hatten bestand auch kein Grund zur Sorge ob es beim Publikum ankam. Der Kauf hatte sich gelohnt, auch wenn die Einnahmen natürlich nicht vergleichbar waren mit größeren Geschäften. Die Wahl fiel schließlich auf ein schlichtes weißes Hemd zu einem anthrazitfarbenen Sakko. Renjiro verstand seine eigene Kleidung als Kompliment, nie als zentralen Fokus. Noch nicht ganz zufrieden betrachtete er sich im Spiegel. Es war zu steif, zu sehr Arbeit und zu wenig künstliche Lockerheit. Er sollte  zumindest so aussehen als sei er ein normaler Kunde – schließlich plante er eine Entführung, da würde es nur auffallen wenn jemand da gewesen war der ganz und gar nicht ins Bild passte. Während er schließlich mit einem kritischen Blick Krawatte und Hose ablegte und eine künstlich verwaschene Jeans anzog, wanderten seine Gedanken zu seinem Ziel, dem seltsamen jungen Mann. Renjiro würde sich hüten sich irgendetwas anmerken zu lassen, aber der Junge interessierte ihn. Warum arbeitete er im XY, wenn er das Söhnchen reicher Eltern war? Renjiro hatte Herrn Higuchi nie getroffen, aber der Name war ihm geläufig. Der Mann stand an der Spitze eines ganzen internationalen Imperiums. Durch geschicktes Handeln befand es sich noch immer großteils im Besitz der Familie, im Gegensatz zu anderen Unternehmen dieser Größe, in denen die Gründer bestenfalls noch eine Stimme im Aufsichtsrat besaßen. Für jeden jungen, aufstrebenden Unternehmer war der Name der Inbegriff dessen, was jeder zu erreichen versuchte. Renjiro selbst hatte zwar nicht ganz die gleichen Ambitionen, konnte allerdings das Lebenswerk jenes Mannes wertschätzen da er selbst wusste wie hart der Weg ganz nach oben war. Er schüttelte die Gedanken an die Higuchi-Familie ab. Sie hatten es jedenfalls nicht nötig, ihren einzigen Sohn in einen Club wie das XY zu schicken!   Renjiro verschloss den Gürtel aus festem dunklem Leder mit einer silbernen, unauffälligen Schnalle. Als seine Fingerkuppen darüber strichen erschauderte er. Er wusste wie gut diese Schnalle in der Hand lag, wie geschmeidig das Leder sein konnte… Für einen winzigen Moment verband sich das Bild des Opfers seines Auftrags mit seinen Erinnerungen an weiches Fleisch das sich unter dunklem Leder wand, an heiseres Keuchen dem die Kraft zum Schreien fehlte und an ein heißes Glücksgefühl, das ihn durchfloss. Kräftiger als nötig schloss Renjiro die Schranktür und verschloss darin auch alle falschen Gedanken die er in diesem Zusammenhang haben konnte. Er würde den Teufel tun und sich an einem Ziel der Organisation vergreifen! Renjiro war nicht lebensmüde, und etwas zu tun das nicht zu deren Plänen passte war nicht gerade eine Lebensversicherung. Aber er konnte nicht leugnen dass der Junge ihm grundsätzlich zusagte. Würde er nicht ein wenig zu jung wirken. Würde Renjiro noch immer dieser Art von Vergnügen frönen. Und wäre dieser Junge nicht verdammt noch mal das Ziel seines Auftrags! Verärgert über seine eigene mangelnde Disziplin segnete er mit einem letzten Blick sein Outfit ab und rauschte dann aus dem Schlafzimmer.   Die Musik drang bereits aus dem Boden herauf und ließ diesen schwach beben, als Akio in den kleinen Raum im 2. Stock huschte der als Umkleide und Aufbewahrungsort für die Kostüme der Tänzer des XY diente. Mit einem Nicken begrüßte der einzige Anwesende Akio und kramte dann weiter in dem metallenen Spind vor dem er stand. Akio verstaute seine Tasche gegenüber und begann sich zu entkleiden. Die Augen des anderen, der ihn verstohlen beobachtet hatte, wurden größer. "Scheiße, du bist ja echt verletzt!" Akio kippte fast um als er versuchte sich umzudrehen und gleichzeitig seine Jeans auszuziehen, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig abfangen. Hinter ihm stand Nao und schien ein wenig verlegen. "Sorry...ich dachte du hast dir 'n schönen Tag auf meine Kosten gemacht. Aber du siehst scheiße aus, also war es wohl die Wahrheit." Akio zog die Augenbrauen hoch. "Danke für das liebevolle Kompliment, ich wollte schon immer mal gesagt bekommen dass ich scheiße aussehe." entgegnete er dann allerdings mit einem Schmunzeln. Ohne viel Aufhebens schlüpfte er in die weißen, eng anliegenden Hotpants die zu seiner Arbeitsuniform gehörten. Nao beobachtete ihn dabei zweifelnd. "Willst du das unseren Gästen wirklich antun? So knapp wie die sind muss jeder der dich heute sieht die Schrammen und blauen Flecken sehen. Die denken noch du bist in irgendwas Illegales verwickelt..." Kritisch betrachtete Akio seine Beine. Sie sahen schlimmer aus als sie sich anfühlten, aber er hatte sich auch ein weiteres Schmerzmittel von Nancy geben lassen bevor er aufgebrochen war, also spielte es wohl keine Rolle wie sie sich anfühlten. Sein linker Oberschenkel schimmerte an der Außenseite komplett lila und sein rechtes Knie war leicht angeschwollen. Hinzu kamen die vielen kleinen Kratzer und Schrammen die er sich durch den Stoff seiner Hose hindurch zugezogen hatte. Auch das kurzärmlige Hemd mit der schwarzen Weste, die ebenfalls zur Uniform der Bedienungen gehörten, würde seine zerschrammten Arme nicht ausreichend verbergen. Nao zog ihm den Stoff aus der Hand und drückte ihm seine normalen Klamotten in die Arme, in denen Akio hergekommen war. "Heute ist es wohl besser du trägst deine Alltagskleidung..." erklärte er, und es klang viel zu vernünftig in Akio's Ohren, der von diesem Vorschlag absolut nichts hielt: "Nein! Wenn ich die nicht trage", er hob die Uniform ein wenig an, "dann werden die Leute denken ich würde...ich würde...mich anbieten." Nao brach in Gelächter aus. "Na und? So ein Sittenfall ist das nun auch wieder nicht. Sollte jemand Interesse zeigen kannst du ja nein sagen. Wir nehmen auch nicht JEDEN Kunden, die sind Absagen also gewohnt. Du wirst schon nicht dran sterben wenn man dir mal ein paar begehrliche Blicke zuwirft..." Die Ursache für Akio's starken Protest lag in der Arbeitsteilung im XY. Die Tänzer hatten natürlich ihre eigenen Kostüme, und für die Leute an Bar, Kasse und diejenigen, welche Getränke und Snacks an die Tische brachten, gab es eine verbindliche Uniform. Klar war diese auf ihre eigene Art aufreizend, aber sie war gleichzeitig ein Stopschild für die Gäste. Wer sie trug war tabu, zumindest solange er sie trug. Aber diejenigen die frei arbeiteten kamen in ihren eigenen Klamotten, schließlich waren sie offiziell selbst Gäste. Würde Akio ohne seine Uniform da rausgehen würde er den Eindruck vermitteln nach einem Freier zu suchen, und das war ein Eindruck, den er keinesfalls vermitteln wollte! Akio warf Nao einen düsteren Blick zu der sich köstlich zu amüsieren schien und pfefferte sowohl seine normale Kleidung als auch die Uniform in den Spind. Nao zuckte mit den Schultern und meinte: "Klar, du kannst auch nackt gehen. Das vermittelt dann aber in vielerlei Hinsicht einen falschen Eindruck. Just sayin'." Und er verließ den Raum. Akio seufzte genervt auf und zog erst einmal sein Handy aus seiner Tasche. Nicht dass Miu ihn in der letzten halben Stunde schon wieder vermisst und angerufen hatte. Nach ihrem unerwartet langen Gespräch mit Chris im Garten war dieser relativ bald aufgebrochen um seine Sachen zu packen da er am nächsten Morgen einziehen sollte, jetzt da klar war dass es mit den beiden voraussichtlich funktionieren würde. Danach hatte sich Miu's Aufmerksamkeit wieder Akio zugewandt und er hatte es nur mit Nancy's Hilfe geschafft ihr überhaupt zu entkommen. Akio traute seiner Schwester durchaus zu dass sie in Sorge um ihn ihren Vater alarmierte nur weil er eine Weile nicht an sein Handy ging. Akio hatte Miu nicht erzählt dass er in einem Gentleman's Club arbeitete, wie das XY sich offiziell nannte. Ihre Sorge würde ins Unermessliche steigen wenn sie wüsste dass er nachts noch unterwegs war…und auch noch in einem Viertel der Stadt in dem es durchaus Leute gab die vermutlich Interesse an seinem Hintern hatten. Daher war es wichtig Miu - zumindest was das anging - im Dunkeln zu lassen. Akio hatte vor, ihr eine Nachricht zu schicken dass er jetzt ins Bett ging, damit sie nicht anrufen würde. Als er den Bildschirm aufleuchten ließ sprang ihm eine neue Nachricht von Hiro entgegen. "Erzähl mir morgen was dein Paps von dir wollte, ja?" Verwirrt starrte Akio auf die Nachricht. Woher wusste Hiro denn, dass er sich morgen mit seinem Vater traf? Akio runzelte die Stirn, dachte aber nicht weiter darüber nach sondern schrieb nur kurz Miu die geplante Nachricht und schlüpfte schließlich schweren Herzens in seine alten Klamotten bevor er Nao die Hintertreppe hinunter in den Club folgte.   Ryo ließ den dicken weißen Umschlag auf den Tisch fallen und genoss das satte Klatschen, mit dem dieser aufschlug. Taro, der bisher auf den Fernseher konzentriert war und Ryo's Rückkehr komplett ignoriert hatte, drehte den Kopf. "Wie viel?" Ryo zuckte mit den Schultern und zog sich das verschwitzte Shirt über den Kopf. "Keine Ahnung, hab nicht nachgezählt." Taro's Augen wurden zu schmalen Strichen und in einem gefährlich ruhigen Tonfall wiederholte er: "Du hast nicht nachgezählt?" Ryu spähte zum Bad hinüber, es war offen. Oh Gott, es gab keine Worte dafür wie sehr er sich gerade nach einer Dusche sehnte! Ohne Taro's Frage zu beantworten ging er hinüber- Zumindest hatte er das vor. Er kam nicht weit, der schmale Körper war aus der entspannt sitzenden Haltung heraus in lediglich einem Sekundenbruchteil über die Rücklehne der alten Couch geschwungen und Ryu spürte den stechenden Blick seines Partners von einer Sekunde auf die andere aus nächster Nähe auf sich ruhen, lauernd, jederzeit bereit in einen Angriff umzuschlagen. Ein kleiner Schub Adrenalin durchschoss Ryu und seine Muskeln spannten sich an, bereit sich zu wehren. Die Stille war drückend, obwohl im Hintergrund leise die Stimme einer Nachrichtensprecherin plapperte: "…Einbruch wird vermutlich eine erneute Debatte zur räumlichen Nähe zu verwahrlosten Straßenzügen aufwerfen. Schon seit fünf Jahren kämpfen die Anwohner um eine Neugestaltung des angrenzenden Bereichs. Mit diesem neuen, durchschlagenden Argument könnten sie nun Erfolg haben." Kühle Finger legten sich federleicht auf Ryu's verschwitzte, feuchte Haut und er zuckte zusammen. "Warum laberst du so eine Scheiße? Natürlich hast du es gezählt." schloss Taro plötzlich und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Ryu grinste. "Ich dachte sonst redest du nicht mehr mit mir…" und er schaffte es, seiner Stimme den albern-verzerrten Klang eines schmollenden Schulmädchens zu geben. Taro's Blick ließ die Temperatur im Raum direkt um einige Grad fallen. "Ich rede aber auch nicht mit Toten - und das hat sich schnell wenn du mir noch einmal eine solche Gelegenheit bietest." Daraufhin ließ er sich wieder auf der Couch nieder, die selbst unter seinem Fliegengewicht ächzend einsank, und würdigte Ryu keines Blickes mehr. "Ich hab dich auch lieb, Schatz." schnurrte Ryu und warf sein regennasses Shirt nach Taro, bevor er im Bad verschwand. Es war tatsächlich nicht gesundheitsfördernd Taro einen Grund zu geben zu vermuten es mit jemandem zu tun zu haben, der sich nur für Ryu ausgab, aber genauso wenig hilfreich war die gereizte Spannung, die jedes Mal zwischen ihnen herrschte, wenn es mal wieder passiert war. In ihrem Job konnten sie es sich einfach nicht leisten dass private Spannungen ihr Handeln als Einheit störten. Ryu stieg unter die Dusche und schloss genießerisch die Augen, als ihm heißes Wasser entgegenströmte. Im Wasser das auf die Scheiben niederprasselte verschwammen die Farben der bunten Leuchtreklamen und seiner eigenen Scheinwerfer. Renjiro stellte den Motor aus und saß für einen Moment in der Dunkelheit, das stetige Prasseln auf dem Dach erfüllte das Fahrzeug mit einer Atmosphäre wie die Ruhe vor dem Sturm – was in diesem Falle wörtlich zu nehmen war, denn draußen tobte ein Unwetter wie er es schon lange nicht mehr gesehen hatte, und in dem Moment in dem Renjiro ausstieg würde es wie ein wildes Biest auch über ihn herfallen, lauter und ungezähmter als das gleichmäßige Hämmern auf dem Autodach es vermuten ließ. Nicht gerade glücklich über die Parksituation zog Renjiro die Schlüssel ab. Er war es gewohnt in der Nähe seines Ziels parken zu können, daher war das Wetter etwas, an das er selten einen Gedanken verschwendete. Hier war er allerdings gezwungen bei der U-Bahn-Station zu parken und mehrere Minuten zu Fuß zu gehen, was bei diesem Regen und Wind hieß, dass er ganz sicher nicht trockenen Fußes dort ankommen würde. Allerdings brachte es auch nichts sich darüber zu ärgern, und da er es vorzog sich unangenehmen Situationen so bald wie möglich zu stellen, zögerte er nicht länger die Tür zu öffnen und sich auf den alles andere als angenehmen Weg zu machen. Kaum hatte er die Tür geöffnet, drängte das Wasser in den Wagen, gepeitscht von starkem Wind der den Tropfen die Schärfe von winzigen Nadeln verlieh, die sich in seine Haut gruben.   Die Blicke. Unzählige Blicke, Gesten, es war als würde er sie magnetisch anziehen. Mit einem erleichterten Seufzen verzog Akio sich hinter die Bar als ein Kollege ihn heranwinkte. "Das ist so gestört! Wie haltet ihr das denn aus? Konstant so angestarrt und angemacht zu werden, da wird man ja verrückt!" brach es aus ihm heraus. Sein Kollege bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. "Das ist auch kein Alltag. Die reagieren nur so weil es das erste Mal ist dass du so was machst. Das will sich eben keiner entgehen lassen, und deshalb wetteifern sie darum wer dich heute mitnimmt." Akio verschlug es für einen Moment die Sprache. Das war doch einfach unglaublich! Jetzt klang es schon so als würde er sich tatsächlich anbieten, dabei waren alle Angestellten informiert worden dass es eine rein 'kosmetische' Entscheidung gewesen war Akio in missverständlicher Kleidung herumlaufen zu lassen! Grummelnd stützte Akio sich auf der Theke ab und ließ den Blick durch den weitläufigen Raum schweifen. Das XY war um diese Zeit gut gefüllt, das Publikum ausschließlich Männer der gehobenen Klasse, die Entspannung, Reiz, und Unterhaltung nach einem anstrengenden Arbeitstag suchten. Das bunte Licht aus den unzähligen winzigen Lämpchen an den Wänden, die in regelmäßigen Abständen in verschiedenen Farben aufleuchteten, ließ sie schemenhaft und surreal wirken. Geübt bewegten sich junge Frauen und Männer in Uniformen durch die Menschen, brachten Snacks und Getränke an die Tische vor der großen Bühne, die sich links von Akio befand. Die Musik war leiser als zuvor während Akio in der Umkleide war, erlaubte Gespräche welche während der Acts nicht möglich waren, doch im Moment war die Bühne leer und würde es auch noch für ein paar Minuten bleiben. Jemand tippte ihm auf die Schulter und riss ihn so aus seinen Beobachtungen. Akio wandte sich zu dem Störfaktor um und erkannte darin eine weitere Kollegin, Yuko oder Yuka oder so ähnlich, Akio's Namensgedächtnis war nicht das Beste. "Hey Tagträumer, arbeiten, nicht schlafen!" meinte sie mit einem Zwinkern. "Ich brauche einen von euch beiden am Empfang, der andere soll hier an der Bar weitermachen, sagt der Chef. Er trifft heute anscheinend jemand Superwichtigen hier, und da soll es auf keinen Fall Stau am Eingang geben weil das einen schlechten Eindruck machen würde," teilte sie den beiden mit. Ihr Blick wanderte an Akio einmal von oben nach unten und wieder zurück und mit einem schiefen Grinsen sagte sie: "Wenn du so am Empfang stehst gibt es erst recht 'nen Stau. Bleib besser hier hinter der Bar, da fällst du nicht so auf. Der Hauptact kommt gleich, da wird dir hier schon keiner die Tür einrennen, die werden alle auf die Bühne fixiert sein." Und mit ihrem Kollegen im Schlepptau zog sie von dannen. Das XY bot auf relativ kleinem Raum Zerstreuung für überraschend viele verschiedene Stimmungen. Die Tänze reichten von unmissverständlich bis künstlerisch angehaucht, und wem nicht danach war die geschmeidigen Tänzer bei ihrem Spiel zu beobachten konnte sich fernab der Hauptbühne anders beschäftigen. Die Bar bot die Chance auf einen guten Drink, bei Bedarf auch einen guten Zuhörer in Form des Chefs, der normalerweise hier beschäftigt war; ruhige Nischen und die freie Tanzfläche boten die Möglichkeit den richtigen Begleiter für den Rest der Nacht zu finden und vorher ein wenig auszutesten und zwei große versteckte Glaszylinder, je einer an der rechten und einer an der linken Wand, boten interessante Ausblicke auf die nächsten beiden Acts, die sich dort - unerreichbar hinter hartem Glas – bereits aufreizend in Szene setzten. Akio ging hinter der Theke in die Hocke und räumte ein wenig um, suchte sich die richtigen Flaschen und Zutaten zusammen und richtete sich ein. Jeder hatte seine eigene Ordnung was die Kleinigkeiten anging, und Akio wollte bereit sein, wenn nach dem Hauptact deutlich mehr Kunden an die Bar kamen als bisher. In diesem Moment erlosch ein guter Teil der unzähligen winzigen Lichter an den Wänden und die Scheinwerfer über der Bühne blitzen auf. Fast alle Blicke richteten sich automatisch auf die Bühne, in deren Spiegellabyrinth jetzt ein Tänzer auftauchte. Die Spiegel, die sich gegenseitig reflektierten, waren etwas Besonderes. Sie vervielfältigten den Tänzer, zeigten ihn von jeder Seite, aus jedem Winkel, nichts blieb verborgen – und gleichzeitig alles, denn die Reflektionen konnten so verwirrend sein, dass der Unterschied von realer Person und Spiegelbild verschwamm. Nicht zum ersten Mal dachte Akio sich, dass das XY durchaus einen Hang dazu hatte seine Besucher zu quälen. Dass diese trotzdem wiederkamen bewies eigentlich nur, dass genug Leute bereit waren bares Geld dafür zu bezahlen dass man sie hinhielt und ihnen nie gab wonach sie sich sehnten. Akio wandte sich wieder seiner Arbeit zu, warf vorher aber noch einen kurzen Blick hinüber zu Yuka/Yuko und ihrem Anhängsel, die am Eingang fleißig damit beschäftigt waren den Besuchern kleine leuchtende Anstecker zu verpassen. Sie ähnelten den Ansteckern, die in normalen Nachtclubs gerne von den Besuchern getragen wurden, hatten hier im XY aber gleich mehrere wichtige Aufgaben. Einerseits veränderten sie mit fortschreitender Stunde die Farbe und ließen sowohl den Kunden selbst wissen wie lange er schon hier war, als auch denjenigen an der Kasse, wie viele Acts er dem Besucher berechnen musste. Die Berührung mit einem Chip, den jede Bedienung am Handgelenk trug, verbuchte außerdem Getränke und Snacks darauf, die am Ende an der Kasse ausgelesen wurden. So war der ganze Besuch entspannt, zahlungsfrei, und bestenfalls erfüllt von sanften Berührungen der Bedienungen die Bestellungen verbuchten. Einmalige oder zumindest seltene Besucher fanden das System wundervoll. Wer öfter kam empfand es mit der Zeit als Stigma, denn es trennte diejenigen die es trugen von denen, die es nicht tragen mussten Denjenigen, die eine exklusive Mitgliedschaft hatten. 'Mitglieder' zahlten monatlich eine beachtliche Summe und konnten dafür so lange bleiben und so viel trinken und essen wie sie wollten. Das alleine hätte wohl kaum jemanden gelockt, aber die Gerüchte über die exklusiven Special Events für Mitglieder sprachen sich herum. Akio selbst war noch nie bei einem solchen Special Event gewesen, aber er hatte von Kollegen gehört dass an diesen Abenden mit streng überprüfter Teilnahme die üblichen Grenzen verschwammen, Tänzer nicht unbedingt unerreichbar blieben, dass es allerlei verrückte Ideen, Themenparties, exotische Tänze und nicht ganz legale Challenges gab deren Belohnung Dienste waren, die eigentlich schon seit Jahren verboten waren, und das von denjenigen, die normalerweise nicht dafür zur Verfügung standen. Auch gerade deshalb wurde die Mitgliedschaft natürlich nicht einfach an jeden Interessenten vergeben. Akio's Augen folgten einem großen Mann, der nach einem kurzen Wortwechsel mit Akio's Kollegen an diesen vorbei schritt ohne sich mit Kleinigkeiten wie einem Anstecker aufzuhalten. Ein Mitglied also. Im nächsten Moment war Akio hinter der Theke verschwunden und erholte sich von seinem Schrecken - aufblitzendes feuriges Orange hatte den Mann für einen Moment vom schemenhaften Fremden zum wohlbekannten Gesicht gemacht. Wobei wohlbekannt es nicht wirklich traf; Akio hatte dieses Gesicht bisher erst ein einziges Mal in der Realität gesehen. Doch in seinen Gedanken und Träumen suchte es ihn die letzten 24 Stunden regelmäßig heim - der offensichtliche Stammkunde war niemand anderes als der kühle attraktive Fremde, der sich am Vortag in Akio's verwirrtes Hirn geschlichen hatte und sich seitdem weigerte von dort zu verschwinden! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)