Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 16: Wiedersehen ----------------------- Obwohl das Schild am Eingang in geschwungenen Buchstaben verkündete, dass geschlossen war, stellte Russel rasch fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Er betrat das Café, das Seline ihm am Abend zuvor als Rendezvous Point genannt hatte – gut, als solcher war es von ihr nicht beschrieben worden, aber er mochte diesen Begriff, selbst wenn er aus dem Militärischen kam, für ihn trug er etwas Romantisches mit sich. Maryl und Vincent folgten ihm mit deutlich abweisenden Gesichtern, sie wirkten nicht sonderlich begeistert davon, einfach in ein geschlossenes Geschäft zu platzen. Im Gastraum war niemand zu sehen, aber aus einem der hinteren Räume erklang lautes Rascheln, gefolgt von einem leisen Seufzen, mit dem sich über die Arbeit beklagt wurde. Gleich darauf wurde der Person offenbar bewusst, dass jemand hereingekommen war, da er aus dem Hinterzimmer rief, dass noch nicht geöffnet sei. Russel ließ sich davon allerdings nicht stören, sondern ging einfach hinter den Tresen, um das Hinterzimmer zu betreten, wo er tatsächlich einen genervten Ryu vorfand, der offenbar gerade mit Bestellungen beschäftigt war und nicht einmal aufblickte. „Ich sagte, wir haben geschlossen!“ „Das habe ich schon verstanden“, erwiderte Russel ruhig. „Aber ich dachte, ich schaue trotzdem mal vorbei.“ Erst als er die Stimme des anderen hörte, blickte Ryu auf. Er brauchte nicht viel mehr als die grünen Haare zu entdecken, um genau zu wissen, wen er da vor sich hatte. „Russel!“ Zwar lächelte er bei dieser Erkenntnis, aber dem Grünhaarigen fröstelte es dennoch. Es war unverkennbar, dass Ryu sich darüber freute, ihn zu sehen, aber seine Augen blieben von alldem unberührt als ob sie eigentlich jemand ganz anderem gehören würden und nur durch eine Verwechslung in seinem Gesicht gelandet waren. Nachdem er Russel und Maryl, die ihm noch immer gut im Gedächtnis waren, begrüßt hatte, wandte er sich Vincent zu, der ein wenig entfernt von ihnen stehengeblieben war. „Ich muss nicht lange raten, um zu wissen, wer Sie einmal waren. Aber es wäre mir angenehm, wenn ich Ihren jetzigen Namen wüsste.“ Es wunderte Russel nicht im Mindesten, dass Ryu ihn wiedererkannte, der Schwarzmagier war damals sein erster Gefährt nach seinem Leibwächter Lionheart gewesen und die beiden hatten sich immer gut verstanden. Diese äußerst höfliche Art aber verwirrte ihn. Irgendwas musste in den letzten neunzig Jahren mit ihm vorgefallen sein, dass er sich so verhielt. „Vincent Valentine“, stellte der Gefragte sich vor und Russel stellte verärgert fest, dass er seinen Mittelnamen wegließ, was wohl bedeutete, dass er gegenüber Ryu keine derart große Distanz verspürte wie bei ihm. „Ich nehme mal an, Seline hat euch hergebeten“, meinte Ryu, nachdem er alle dazu gebracht hatte, sich zu ihm an den Tisch zu setzen, auf dem sich Berge von Dokumenten und Büchern stapelten. Russel warf nur einen kurzen Blick auf einen der Preisführer, dann wandte er sich lieber wieder ihrem Gastgeber zu und nickte. „Richtig, ich habe sie letzte Nacht getroffen. Mich wundert ja, dass ihr jetzt zusammen ein Café führt.“ „Was heißt hier zusammen?“, brummte er. „Ich mache die ganze Arbeit, sie taucht nur alle paar Tage mal auf und tut so als sei sie die Chefin.“ Das klang nicht sonderlich nach der Seline, die Russel kannte, abgesehen von der Tatsache, dass sie ihren kleinen Bruder alleinließ. Aber normalerweise ging sie alles mit einem erstaunlichen Verantwortungsbewusstsein an, das ihn schon damals immer hatte staunen lassen. „Was führt euch eigentlich genau her?“, fragte Ryu weiter. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr drei freiwillig zusammen reist.“ Die Blicke aller wandten sich Russel zu, eine stumme Aufforderung, alles zu erklären, was er bislang für sich behalten hatte. Er seufzte innerlich. „Wir suchen den Göttlichen.“ „Aha.“ Für einen Moment herrschte Schweigen. Eigentlich hatte Russel sich eine gänzlich andere Reaktion darauf erhofft, etwas wesentlich Emotionaleres, aber es schien Ryu komplett egal zu sein, was sich durch die folgenden Worte auch bestätigte: „Da habt ihr ziemlich lange gebraucht, ich habe ihn neulich erst gesehen.“ „Du hast was?“, fragte Russel fassungslos. Selbst Maryl und Vincent schienen darauf blass geworden zu seine. Offenbar dachten sie alle drei dasselbe: Dass Ryu in einen Kampf mit dieser Person geraten war – auch wenn zumindest Russel sagen konnte, dass sich das nicht im Mindesten mit den Angaben von Seline deckte. „Es wird dich auch interessieren, dass die Aura des von dir Gesuchten auch an Marc haftet, deswegen hast du den Falschen aufgespürt.“ Das musste bedeuten, dass Anthony mit diesem Marc befreundet war und das passte nicht zu dem kampfwütigen Göttlichen, den sie alle drei gerade im Sinn hatten. Möglicherweise war sich Anthony seiner Kräfte auch noch gar nicht bewusst und war bislang noch keine Bedrohung gewesen. „Anthony war zum Essen hier“, antwortete Ryu. „Er schien mir ein ziemlich ruhiger, eher schüchterner Junge zu sein. Im Moment werden wir kaum was vor ihm zu befürchten haben.“ „Im Moment vielleicht“, ereiferte Russel sich sofort. „Aber er wird ja auch nicht immer so bleiben... oder?“ Darauf wusste offenbar keiner der Anwesenden eine Antwort. Aber wie erwartet, kümmerte es Vincent auch nicht weiter. „Mir geht es nur darum, ihn einmal zu sehen. Ich brauche lediglich ein Bild von ihm.“ Er erklärte dem fragend dreinblickenden Ryu ebenfalls, dass sein Auftraggeber das verlangte und fügte auch sofort hinzu, dass er nicht wusste, weswegen er so einen Auftrag bekam. „Ich denke, das mit dem Bild dürfte kein großes Problem werden“, meinte Ryu, ehe er wieder zu Russel blickte. „Aber ich fürchte, ich kann nicht zulassen, dass du ihm etwas antust.“ „Warum denn nicht? Hast du vergessen, dass er uns alle verraten und den Tod einiger von uns in Kauf genommen hat?“ „Das habe ich nicht, keine einzige Sekunde.“ Sein Blick wurde noch eine Spur kälter. Wieder einmal wurde Russel bewusst, dass Ryu von ihnen allen am meisten verloren hatte. Zwar hatte er sein Leben nicht verloren, aber dafür sein Zuhause, sein Reich, seine Untertanen und die Zuversicht, dass seine Versprechen etwas wert waren. Man konnte durchaus sagen, dass er nach dem Ende des damaligen Krieges vor den Trümmern seines Lebens gestanden hatte – und nun betrieb er ein Café. Es wäre lustig gewesen, wenn er Ryu nicht gemocht hätte, so aber fand er es einfach nur traurig. „Ich denke aber, dass du Anthony nicht die Schuld geben kannst, für etwas, das Kai verantwortet hat. Und ich denke, dass wir auch Kai die Gelegenheit geben sollten, sich zu erklären.“ Wütend über diese Worte, verschränkte Russel die Arme vor der Brust. „Sich erklären? Er hat uns alle ins offene Messer rennen lassen, da gibt es nichts zu erklären.“ „Und eben da denke ich anders.“ Ryu ließ sich nicht im Mindesten aus der Ruhe bringen und zu Russels zusätzlicher Verärgerung stimmte Vincent ihm auch noch zu. „Es könnte doch tatsächlich sein, dass es nicht seine Absicht war, irgendjemandem zu schaden? Vielleicht ist er selbst genauso betroffen davon wie wir.“ „Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“ Vincents überheblicher Blick verstärkte Russels Abneigung um ein Vielfaches. „Auf der Seite der Gerechtigkeit natürlich. Und jene wird nur erreicht, wenn wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und jeden Blickwinkel analysieren, bis wir die Wahrheit extrahiert haben.“ Sowohl Ryu als auch Maryl warfen ihm bewundernde Blicke zu, während Russel nur mit den Augen rollte und dann in einem Ton, der verriet, dass er es nicht ernst meinte, „Ich hasse euch alle“ sagte. „Ich hoffe, das gilt nicht für mich.“ Automatisch wandten alle den Kopf und entdeckten Seline, die lächelnd den Raum betrat, ohne Brille, wie Russel feststellte. Er hätte am Liebsten erleichtert geseufzt, so sehr freute er sich, endlich eine vernünftige Person zu sehen. „Natürlich nicht, Liebes. Dich könnte ich nie hassen.“ Obwohl er es einige Jahre lang versucht hatte – aber alles leugnen und verdrängen half in seinem Fall wohl nicht mehr. Äußerst zufrieden über diese Äußerung setzte sie sich neben ihn und ließ sich erst einmal die anderen beiden Besucher vorstellen, obwohl sie Maryl noch durchaus kannte. Da sie kein weiteres Interesse an den beiden hatte, wandte sie sich wieder Russel zu. „Also, du meintest letzte Nacht, du wolltest mit mir sprechen.“ „Letzte Nacht?“, hakte Maryl mit knurrendem Unterton nach. Russel warf ihr nur einen kurzen Blick zu, der ihr bedeuten sollte, dass sie still sein sollte. Immerhin waren sie beide seit Jahren kein Paar mehr und reisten nur noch zusammen, weil sie keinen Ort hatte, an dem sie bleiben könnte, also gab es für sie keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Nicht zuletzt, weil er und Seline ja auch kein Paar mehr waren – und es vermutlich auch nie wieder sein würden. „Wir waren neulich im Peligro Waisenhaus“, begann er zu erklären. Bei der Erwähnung dieses Namens runzelten die Geschwister gleichermaßen die Stirn, unterbrachen ihn allerdings nicht, sondern warteten darauf, dass er fortfuhr, um ihren Verdacht zu erhärten oder zu entkräften. „Dort haben wir den Direktor dieser Einrichtung getroffen, diesen Master.“ Vincent und Maryl tauschten einen Blick miteinander, ganz offensichtlich erinnerten sie sich immer noch nicht an das, was während ihres Besuches dort geschehen war – und je öfter Russel daran zurückdachte desto mehr wünschte er sich, es ebenfalls zu vergessen. Aber erst musste er den Geschwistern davon erzählen, damit sie darüber Bescheid wussten. Danach, davon war er überzeugt, würden sie sich nicht mehr so querstellen, wenn es darum ging, den Göttlichen schnellstmöglich zu beseitigen, ehe ihm bewusst wurde, über welche Kräfte er verfügte. „Ich finde es gut, dass du ihn getroffen hast“, bemerkte Seline. „Dann kannst du mir jetzt sicherlich mehr über ihn erzählen, ich bin nämlich ziemlich neugierig. Alle anderen, die ich kenne, erinnern sich nicht an ihn.“ „Das kann ich mir vorstellen.“ Russel seufzte schwer. „Ich würde es auch gern vergessen. Aber wie auch immer. Wir kamen also dort an und wurden ins Büro des Direktors gebeten...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)