All Hallow's Love von Leia_de_Flourite (Eine Halloween-Story) ================================================================================ Kapitel 1: 2003 --------------- Disclaimer: Sämtliche aufgeführte Charaktere gehören entweder den liebreizenden Frauen von CLAMP oder sind der keltischen Mythologie entnommen worden. In recht fragwürdiger Weise. Zitate aus Songtexten oder Büchern sind als solche ausgewiesen. Nur für die Handlung könnt ihr meinem verwirrten Gehirn die Schuld geben. -- And I need to be patient; and I need to be brave Need to discover how I need to behave And I'll find out the answers when I know what to ask But I speak a different language And everybody's speaking too fast KT Tunstall, “Miniature Disasters” Die Nacht war jung und die Luft lau. Nicht das kleinste Lüftchen wehte, als hätte der Wind beschlossen inne zu halten und sich umzusehen, was denn vor sich ginge. Es war All Hallow’s Eve, die Nacht vor Allerheiligen. Die Kelten glaubten, dass zu dieser Zeit das Tor zwischen unserer Welt und der Welt der Toten und Dämonen offen stand, auch wenn in der heutigen, konsumorientierten Zeit nicht mehr viel davon übrig geblieben war außer Kerzen in ausgehöhlten Kürbissen und Kindern, die gruselig verkleidet von Tür zu Tür rannten und um Süßigkeiten bettelten. Wenn es nach Kurogane ging, so hätte er gern auf dieses Fest verzichten können, aber der Rest der „Familie“ war ganz wild darauf , also hatte Sayaka-san ihn gebeten, Kobato-chan und die Zwillinge auf ihrer Tour zu begleiten. Denn nicht nur Kinder hatten an Halloween Gefallen gefunden; immer wieder missbrauchten ein paar Halbstarke das Fest als Ausrede um sich heillos zu betrinken und sich mit bösartigen Scherzen an Leuten zu rächen, die ihnen schon das ganze Jahr über auf die Nerven gegangen sind. Und nach zwei, drei Bier gingen einige sogar soweit, unschuldige Kinder anzupöbeln, insofern konnte Kurogane Sayaka-sans Besorgnis verstehen, aber er glaubte nicht, dass er in dem Falle viel ausrichten könne. Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um den jungen Mann genauer zu betrachten. Er war sechzehn Jahre alt, schien aber einer der Glückspilze zu sein, denen die Pubertät nicht zu sehr zusetzte. Er war hoch gewachsen und überragte sowohl seine „Brüder“ und „Schwestern“, als auch alle Erzieher im Waisenhaus. Seine breiten Schultern und die muskulösen Arme ließen die meisten an einen Football-Spieler denken doch tatsächlich war der einzige Sport, den der Jugendliche betrieb Schwertkampf. Seine Statur verdankte er wohl einer günstigen genetischen Veranlagung, doch sicher sein konnte er sich da nicht. Seine gebräunte Haut war der einzige Hinweis, den der Junge auf seine Herkunft hatte; man hatte ihn als Baby in einem Korb auf den Stufen des Waisenhauses abgesetzt mit einem Zettel auf dem die Worte „Youou Kurogane“ standen. Niemand wusste, ob es sich dabei um Vor- und Nachnamen oder Nach- und Vornamen handelte sodass die Leiter des Waisenhauses beide Namen als Vornamen registrieren ließen. Er stach in jeder Masse heraus, doch es war nicht seine Größe, die andere einschüchterte und irritierte, es waren seine dunklen roten Augen, die nicht ganz von dieser Welt zu sein schienen und deren schmale Pupillen seinem mürrischen Blick etwas animalisches verliehen. Wenn er die Lippen zu einem schiefen Grinsen verzog, konnte man seine spitzen Eckzähne sehen. Nichtsdestotrotz war er durch und durch ein Mensch. Was angesichts der Geschichte, die ich plane zu erzählen nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit ist. Kurogane seufzt und fährt sich mit einer seiner irgendwie zu groß geratenen Hände durch das strubbelige nachtschwarze Haar und stößt dann einen scharfen Pfiff aus. Zwei Häuser weiter bleiben ein Kürbis, ein Bienchen und ein zu klein geratener Batman stehen und sehen sich um. „Ich hab’ gesagt, ihr sollt nicht so weit weg laufen!“, brüllte der junge Mann über die Distanz hinweg und konnte hören, wie Kobato jammerte. „Aber du trödelst immer so rum, Onii-san“, quengelte sie und hüpfte ungeduldig auf und ab, wobei die Fühler an ihrer schwarzen Kappe wippten. Kurogane grummelte nur und vergrub die Hände in den Hosentaschen, als er den Kindern hinterher trottete, die schon wieder an der nächsten Tür klingelten. Er trödelte ja wohl überhaupt nicht, er sah nur nicht ein, dass sie so eine Hektik nur wegen den blöden Süßigkeiten machen mussten. Wenn die Tüten voll waren, waren sie halt voll. „Süßes oder es gibt Saures!“, konnte er die Kinder jubeln hören und musste sich dann doch ein Schmunzeln verkneifen. Das mochte der wohl überflüssigste Feiertag überhaupt sein, aber so lange die Kleinen Spaß daran hatten, war es okay. Selbst ihm steckten die Leute hin und wieder Süßigkeiten zu, obwohl er gar nicht darum gebeten hatte, dabei war er nicht einmal verkleidet. „Und, was war es diesmal?“, hakte er nach, als die kleine Gruppe wieder auf ihn zugerannt kam. „Zungenmal-Lollis“, rief Syaoran Li, der Kürbis, begeistert aus. „Und Schokokäfer“, ergänzte sein älterer Zwilingsbruder Syaoron, der an jenem Abend den dunklen Ritter von Gotham City verkörpern durfte. „Aber was ist, wenn sie aus unseren Tüten heraus krabbeln?“, fragte Kobato-chan schüchtern, während sie mit ihren Fingern krampfhaft die Tüte zu hielt. Syaoron musste lachen und Syaoran versuchte stammelnd sich für die Unhöflichkeit seines Bruders zu entschuldigen. Die drei waren so vertieft Gespräch, dass sie gar nicht bemerkten, wie es im Gebüsch raschelte. Kurogane war alarmiert. Da war irgendwas an der Hecke, die die Grenze zwischen den beiden Grundstücken markierte. „Jungs!“ Die Li-Zwillinge blickten auf. „Nehmt die Kleine in eure Mitte. Und bleibt genau hier stehen, bis ich was anderes sage, klar?“ Drei kleine Köpfchen nickten angesichts dieser Anweisung, die keinen Widerspruch duldete. Sie konnten Kuroganes Anspannung sehen und wenn ihr „großer Bruder“ angespannt war, dann bedeutete das meist nichts Gutes. Also drängten sie sich zusammen wie die drei Spatzen in dem Gedicht von Christian Morgenstern und beobachteten wie der große Junge mit einigen raschen Schritten zu der Quelle des Raschelns pirschte. Es konnte eine Katze sein oder ein Waschbär, sagte Kurogane sich. Vielleicht auch ein Hund oder ein Opossum, aber so richtig glaubte er nicht daran; es schien etwas Größeres zu sein. Es wäre nicht das erste mal, dass sich ein Spinner von hinten anzuschleichen versuchte, um keine Kinder zu erschrecken und wenn das wieder der Fall sein sollte, dann hoffte Kurogane für den Typen, dass er nicht allzu sehr an seinen Zähnen hing. Rascheln, rascheln. Und leises Schluchzen. Der Junge meinte zwischen den Zweigen etwas Helles durchscheinen zu sehen… und mit einem ’RATSCH’ schoss es heraus und kullerte genau vor seine Füße. Es war ein Junge mit schmutzigem, zerkratztem Gesicht, vielleicht elf Jahre alt, aber er rieb sich die Augen wie ein Fünfjähriger. Und heulte, als würde die Welt untergehen. Das blonde Haar war total durcheinander und überall hingen grüne Blätter darin fest. „Hey, alles okay?“, fragte der Größere… und hoffte, dass die blonde Heulsuse einfach Nein sagen würde, damit er wieder gehen konnte. Denn eigentlich hatte er vor genau drei Sekunden das Interesse an der Sache verloren, nachdem sich die Situation als ungefährlich erwiesen hatte. Anstatt jedoch die gewünschte Antwort zu bekommen, schluchzte der Junge noch lauter und nun wurden auch Kobato-chan und die Zwillinge neugierig, also schlichen sie sich auf Zehenspitzen an. „Du~hu, Kurogane, was ist mit dem?“, fragte Bienchen Kobato, während sie an dem T-Shirt des Schwarzhaarigen zupfte. ’Großartig’, dachte Kurogane, ’genau das hat mir gerade noch gefehlt’. Aber er kannte einen Trick, wie man mit Heulsusen umgehen musste. Er schnappte sich einen Schokoriegel aus seinem eigenen spärlichen Bestand und wedelte damit vor der Nase des Kindes herum. „Siehst du den hier?“, fragte er, mit der Verpackung des Riegels knisternd, „den kannst du haben, wenn du aufhörst zu heulen.“ „Und wenn du Kurogane-nii-san sagst, warum du weinst, kann er dir bestimmt helfen“, fügte Syaoran an – sehr zum Leidwesen des Älteren. Aber der Bengel hatte natürlich irgendwie Recht, sie konnten den Jungen ja nicht einfach hier zurück lassen. Der Blonde hörte auf, sich die Augen zu reiben und blickte auf. Sein Blick traf Kuroganes. Der Ältere hätte beinahe den Schokoriegel fallen lassen. Was ihm da entgegen blickte waren zwei goldgelbe Katzenaugen mit verengten Pupillen... dann blinzelte der Junge und die unheimlichen Katzenaugen waren verschwunden. An ihrer statt waren zwei azurblaue Iriden; etwas verwässert von all dem Weinen und das weiß seiner Augen war rosa verfärbt vom Reiben, aber ansonsten recht normal. Dann inspizierten die wasserblauen Augen das silbrig glänzende Süßigkeitspapier. Eine schmale, schon fast feminin zarte Hand wurde zögerlich nach dem Geschenk ausgestreckt nur um sich dann wieder zurück zu ziehen. „Was ist das?“ Die Stimme des fremden Jungen war ein wenig heiser, vor allem aber war sie Stimme eines Teenagers, der im Stimmbruch steckte. Kurogane musste seine Altersschätzung ein wenig nach oben korrigieren. Es war, als hätten die Worte des anderen einen Damm gebrochen, denn plötzlich quasselten die drei Kleinen alle gleichzeitig auf ihn ein. „Wie, du weißt nicht, was das ist. Hast du denn noch nie Schokolade gesehen?“ „Wie heißt du denn?“ „Und wie alt bist du?“ „Du siehst aber ulkig aus, bist du nicht von hier?“ „Shhh, Kobato-chan, so was sagt man nicht!“ Kurogane schloss die Augen und versuchte, das Gebrabbel auszublenden. „Jetzt lasst ihn doch erst Mal zu Wort kommen, verdammt!“ Und damit drückte er dem Blonden den Riegel in die Hand, ob er nun wollte oder nicht. Die blasse Hand war eiskalt. „Uuuuh, Onii-san hat ein schlimmes Wort gesagt“, verkündete Kobato-chan, „da wird Sayaka-sensei aber mit dir schimpfen!“ „Dann sag’ es ihr doch nicht!“ „Entschuldigung...“, murmelte der blonde Junge zögerlich. Sofort wandten sich alle Köpfe wieder dem ‚Neuen’ zu, der das Geschenk mit einigem Widerwillen anstupste, als wäre es eine tote Eidechse. „Kann ich das wirklich haben?“ „Sonst hätte ich es dir ja kaum gegeben, oder?“, murrte der Schwarzhaarige. „Hey. Hey, man macht erst die Folie ab, bevor man es essen kann!“ „Oh...“ Das blasse Gesicht lief erst rot an, aber als Kobato und die Zwillinge zu kichern anfingen, musste auch der Blonde über sein Missgeschick lachen. Nach einigen Versuchen hatte er es endlich geschafft, den köstlichen dunkelbraunen Inhalt von seinem silbrigen Gefängnis zu befreien und kaute. Erst versuchte er es mit kleinen Stückchen, dann wurde er gieriger aber immer wieder huschten seine Augen zu der Vierergruppe vor ihm, so als brauche er Bestätigung das Richtige zu tun. Mittlerweile hatte Kurogane eingesehen, dass das alles wohl doch länger dauern würde und er setzte sich auf den Rasen; die – ein kurzer Blick zum Namensschild am Briefkasten – die Oswalds würden es ihnen schon nicht übel nehmen. Die Kinder folgten seinem Beispiel. „Also, wie heißt du und was ist dein Problem?“ „Fye.“ Fye wischte sich den Mund mit dem schmuddeligen Ärmel seines weißen Umhangs ab. Das Kleidungsstück mochte einmal weiß gewesen sein und Kurogane konnte sich nicht helfen, aber irgendwie sah es nach einem Bademantel aus. „Und ich bin schon dreizehn Jahre alt. Ich war unterwegs mit den Feen und den Kobolden, aber dann habe ich sie verloren. Also habe ich nach dem Weg gefragt und Yorin, dieses blöde Irrlicht, hat mich in die Irre geführt. Und jetzt kann ich das Tor nicht mehr finden und wenn ich vor Sonnenaufgang nicht zu Hause bin, dann kann ich nicht mehr durch... und ich sehe meinen Bruder nie mehr wieder...“ Fye fing wieder an zu schluchzen, also drückte Kurogane ihm einen weiteren Riegel in die Hand. „Kannst du dich an irgendetwas aus der Gegend erinnern, wo das Tor steht?“, hakte Syaoran nach. Von den Beiden Li-Zwillingen war er der Vernünftigere, soweit man das von einem Achtjährigen sagen konnte. „Da waren Bäume, ganz viele. Und Haselnusssträucher. Und steinerne Bänke, die im Kreis um ein Becken aus Sand errichtet waren.“ „Du meinst den Spielplatz?“, fragte Kobato-chan. Fye starrte sie an. „Spielpl... Spiel...“ Er schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht.“ Das war der Moment, an dem Kurogane zu begreifen begann, dass etwas mit dem Jungen nicht ganz stimmte. Er glaubte nicht, dass die Verständigungsprobleme etwas mit Sprachdefiziten zu tun hatten. Fye sprach ihre Sprache ohne Probleme, ohne Akzent, er konnte also kein Ausländer sein, doch er benahm sich wirklich nicht wie jemand ’von hier’. „Ja, das klingt wirklich nach einem Spielplatz. Der Kaiser Pinguin-Spielplatz ist ganz in der Nähe, nicht? Wir können Fye-kun doch auf unserer Runde ein wenig mitnehmen und uns dann dort umgucken“, schlug Syaoron vor. Kurogane winkte ab. Das Süßigkeiten sammeln war endgültig in den Hintergrund gerückt. Was, wenn der Blonde aus einem Krankenhaus weg gelaufen war? Wenn er sein ganzes Leben in einer Anstalt verbracht hatte? So blass und durcheinander wie er war, wäre das sogar möglich. Oder noch schlimmer: was, wenn er so merkwürdig war, weil da in seinem Kopf was nicht richtig tickte? Kurogane hatte Sayaka-san versprochen auf die Kleinen aufzupassen und sie mit einem Verrückten spielen zu lassen war alles andere als ’aufpassen’. Was sagten die Leute im Fernsehen noch mal, wenn sie testen wollten, ob jemand richtig tickte? „Weißt du, welchen Tag wir heute haben?“ Fye nickte. „Heute ist die zweite Nacht von Samhain, All Hallow’s Eve, das heißt, nach dem aktuellen Kalender...“ die Stirn des Jüngeren runzelte sich und der ernste Ausdruck ließ ihn weniger wie ein verängstigtes Kleinkind aussehen, „der Einunddreißigste Mocktober.“ „Oktober“, korrigierte Syaoran, aber Fye schien ihn gar nicht zu hören, sondern plauderte munter weiter: „Am All Hallow’s Eve steht das Tor besonders weit offen, sodass sogar jemand wie ich hindurch kann. Aber Vater sagt, dass es sich gar nicht mehr lohnt zu Euch zu kommen, weil die Sterblichen an diesem Tag sich über unsereins lustig macht indem sie sich verkleiden und lachen, lachen, lachen. Und wenn man sie zu erschrecken versucht, dann werfen sie mit Eiern oder Papier nach einem.“ Die magere Gestalt des Jungen erschauderte. Syaoron pfiff anerkennend, was merkwürdig aussah, denn er war Batman und Batman pfiff nie. „Du nimmst deine Rolle ja wirklich ernst, was?“ Syaoran und Kobato nickten und stimmten zu. Kurogane hingegen war überzeugt, dass das nicht zum Kostüm dazu gehörte. Der Blonde war einfach durchgeknallt. Aber es schien keine gefährliche Art der Verrücktheit zu sein, er hatte nur einen kleinen Knacks weg. „Na schön, du kannst mit uns kommen“ lenkte der Schwarzhaarige ein und die Kinder (das hieß, alle bis auf Fye) jubelten und umarmten ihren großen Bruder stürmisch, ganz einfach, weil er so ein guter großer Bruder war. Der junge Mann versuchte, vor lauter zur Schau gestellter Zuneigung nicht rot zu werden und räusperte sich: „Wir laufen die Runde zu Ende; ich setze die Kleinen zu Hause ab und wenn du bis dahin noch keine Anhaltspunkte gefunden hast, wo dieses Tor ist, dann klappere ich mit dir die Parks ab, okay?“ Kurogane dachte auch über einen Zwischenstopp bei einem Polizeirevier nach, aber das wollte er vor den Kleinen nicht laut aussprechen. Keines der vier Waisenkinder konnte auch nur im Entferntesten nachempfinden, wie Fye sich gerade fühlte. Er war elektrisiert. Überwältigt und fast überfordert mit all diesen neuen Eindrücken, schließlich war es das erste Mal, dass er die Anderswelt verlassen hatte und nun stand er gleich so vielen Sterblichen gegenüber. Sie waren so... fröhlich. Uneigennützig. Und warm. Oh ja, vor allem anderen waren sie warm. Vor allem der große Junge mit dem komplizierten Namen, der Fye einfach so seinen Vorrat an süßem Manna (was sie Schock-Lade nannten) überließ. Er begriff auch, dass es eine Hierarchie in der Gruppe gab und das der größte und Älteste wohl das Sagen hatte, daher hielt der junge Dannan es für am sichersten, in der Nähe des Größeren zu bleiben. Er fand heraus, dass Sterbliche, die zu einer Gruppe oder Familie gehörten, sich an den Händen hielten, deshalb freute es ihn, dass Kobato-chan unbedingt an seiner Hand laufen wollte, auch wenn sie oft hinfiel. Kobato-chan war nicht gut im Schnürsenkel zubinden und Schleifen konnte sie auch nicht. Er fand auch heraus, dass andere Sterbliche immer wissen wollten, wer man war, bevor sie einem die süßen Schock-Laden überreichten; das musste wohl ein Schutzmechanismus sein, damit sie einen Anderweltler erkennen konnten, wenn er vor ihnen stand. Das machte ihn schon etwas nervös, aber glücklicherweise waren Sterbliche ja leicht zu täuschen, ja, sie kauften Syaoran sogar ab, dass er ein Kürbis war und sagten Dinge wie: „Na, dich haben sie aber reichlich gegossen, so groß wie du bist, nicht wahr?“ Es war ihm ein Rätsel, dass sie es geschafft hatten, sich so lange als Rasse zu etablieren. Aber irgendwie… machte es Spaß. Es machte auch Spaß, den Leuten jedes Mal zu erklären, er wäre ein Druide verkleidet auch wenn er den meisten erklären musste, was genau Druiden waren. Natürlich war es eine Lüge aber er war ein Tuatha De Dannan, (na ja, zumindest zur Hälfte) also durfte er das. Als die kleine Gruppe am Kobayashi-Waisenhaus ankam, hatte sich der Himmel schon so weit verdunkelt, dass man die Sterne sehen könnte. Kurogane wies den Blonden zurecht, dass er ja dort bleiben solle, wo er verdammt noch mal war - das „verdammt“ brachte dem Schwarzhaarigen erneut Schimpfe von den Kleineren ein - während er die Kinder rein brachte. Nachdem sich Kobato-chan, Syaoran und Syaoron also herzzerreißend von ihm verabschiedet hatten (er hatte drei Umarmungen bekommen, eine fester als die andere. Wirklich, Kobato hätte ihn fast erstickt) stand Fye einfach nur verloren vor den Toren des Waisenhauses und starrte zufrieden nach oben; für den Moment war sogar die fast volle Tüte in seinen Händen vergessen. Sterne. Sterne. So etwas gab es in Annwn nicht. Tausende kleine Kristalle, die auf diese schwarze, scheinbar endlos entfernte Decke gestickt waren, die die Menschen Himmel nannten. Aber wie konnte das dort oben der Himmel sein, von dem er gehört hatte? „Du bist also Fye-kun, ja?“ Der Blonde schreckte zusammen, und blickte die Frau an, die eben mit Kurogane zurück gekommen war. Er war nicht gut darin, das Alter von Sterblichen zu schätzen, aber sie sah älter aus als seine vier Gefährten obwohl sie zwei Köpfe kleiner als Kurogane war. Ihr schulterlanges, blauschwarzes Haar war zu einem Zopf gebunden und ihre freundlich dreinblickenden, dunkelblauen Augen steckten hinter runden Brillengläsern. Sie trug eine weiße Schürze über ihrem Kleid („Frau Holle“ war auf der Brusttasche aufgenäht) und ein weißes Häubchen auf dem Kopf und an ihren Rockzipfeln hingen noch jüngere Kinder, einige davon kaum dem Nuckelalter entwachsen. Fye nickte. „Ich seh’ schon, du bist ein wenig schüchtern, was? Kurogane-kun hat gesagt, du hast dich verlaufen. Warst du denn mit deinen Eltern unterwegs?“ Er schüttelte so energisch den Kopf, dass ihm fast schwindelig davon wurde. „Mutter ist verstorben und Vater sagt, es zieme sich nicht für ihn, das Tor zu durchschreiten. Er sagt, er habe Verpflichtungen zu erfüllen. Er hat mir erlaubt mit Stiefmutter und ihren Schergen los zu ziehen und dann bin ich irgendwann hingefallen und habe sie aus den Augen verloren.“ „Hm, das ist natürlich schlimm. Hast du denn mit deiner Stiefmutter einen Treffpunkt vereinbart, falls ihr euch verliert? Das sollte man nämlich immer tun, weißt du. Sicher macht sie sich schon schreckliche Sorgen um dich.“ Wieder schüttelte Fye den Kopf. Niemand würde sich um sein Verschwinden scheren, außer vielleicht seinem Bruder aber Yuui war zu Hause. Und ganz sicher würde keiner ihn suchen, so lange er durch sein eigenes Verschulden verloren gegangen war. Und wenn er das Tor nicht von allein fand, dann zeigte das nur, wie menschlich er war. Das war nicht gut, nicht für ein Kind wie ihn. Vielleicht würde ihn das gleiche Schicksal wie Kohane ereilen… und was dann? Er merkte erst, dass er wieder zu weinen angefangen hatte, als Sayaka-san ihm eine Hand auf die Schulter legte und ihn zu beruhigen versuchte: „Na, na, dann muss Kurogane-kun dich eben zu deinem Papa nach Hause bringen und der kann dann deine Stiefmama anrufen, dass du sicher zu Hause angekommen bist. Ich würde dich ja begleiten, aber ich habe eine große Familie, auf die ich aufpassen muss. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich dich mit ihm losschicke, oder?“ „Nein, Kuro-kun ist sehr nett.“ „Wie hast du mich gerade-“, regte besagter Kuro-kun sich auf, allerdings wurde ihm von Sayaka-san das Wort abgeschnitten: „Ja, ich weiß, aber das darfst du keinem erzählen, sonst wird er böse. Er will nämlich nicht, dass das irgendwer erfährt.“ Sie zwinkerte dem Blonden verschwörerisch zu. Der Jugendliche entschloss, das einfach nicht zu kommentieren und verschränke die Arme vor der Brust, schmollend (auch wenn er ebenso wenig zugeben würde, dass er schmollte) und einen kleinen Laut des Missfallens von sich gebend. „Können wir jetzt gehen? Ich will nämlich heut' noch vor Mitternacht zurück kommen.“ „Natürlich. Und passt auf euch auf, ihr beiden, okay?“ Fye blickte mit einem Dackelblick zu Kurogane auf, als er seine freie Hand ausstreckte. In der andern lag schwer die Papiertüte mit den gesammelten Leckereien. Es dauerte eine Weile, bis der Ältere begriff, was der Junge von ihm wollte... dann ergriff er die zierliche Hand. Und bemühte sich so zu tun, als hätte er überhaupt nichts mit dem Anderen zu tun, als wäre es blanker Zufall, dass ihre Hände in geschwisterlicher Manier einander fest hielten. Und so machten sie sich auf zum Kaiser Pinguin Park. Schweigend. Der eine stur gerade aus schreitend, der andere fröhlich hüpfend. „Hey~, Kuro-kun~?“ „Was denn?“ „Sind das wirklich alles Sayaka-sans Kinder gewesen?“ „Natürlich nicht. Das ist ein Waisenhaus.“ „Ach so.“ „... du hast keine Ahnung, was ein Waisenhaus ist, stimmt's?“ Fye blickte ertappt zur Seite. „Ahaha~ merkt man das?“ Kurogane seufzte resigniert. „Also, ein Waisenhaus ist ein Haus, in dem Kinder wohnen, die keine Eltern mehr haben. Und auch keine anderen Verwandten, die sich um sie kümmern können. Deshalb kümmert Sayaka-san sich um sie. Die anderen Kinder werden dann zu einer Art Ersatz-Familie, deshalb nennen sie sich gegenseitig Brüder und Schwestern obwohl sie gar nicht verwandt sind.“ „Und als Kobato-chan dich Onii-san nannte...“, fragte Fye zögerlich nach und rückte etwas näher, bis sein Kopf fast an den Oberarm des Schwarzhaarigen stieß. „Ja. Ich auch.“ „Oh. Deine Eltern... was ist mit ihnen passiert?“ „Keine Ahnung. Das weiß keiner.“ Kuroganes Antwort wurde begleitet von einem ärgerlichen Grummeln. Er hatte keine Lust von einem wildfremden Jungen ausgefragt zu werden, noch dazu über so unangenehme Themen, aber er wusste, dass Kinder hartnäckig sein konnten, wenn sie etwas wissen wollten. Wenn man also seine Nerven schonen wollte, musste man direkt und nur das Nötigste antworten. Der Griff der kleinen Hand um die seine verstärkte sich. „Das tut mir Leid“, flüsterte Fye. „Muss es nicht. Ist ja nicht deine Schuld.“ Fye blieb stehen. Starrte ins Nichts und lauschte. Dann ließ er Kuroganes Hand los und lief davon. „Hey, was – wo zum Henker willst du hin? Bleib stehen!“ Aber Fye war flink. Und wendig; es kostete den Schwarzhaarigen also einige Minuten, bis er den Jungen wieder eingeholt hatte und das trotz dem Vorteil der größeren Beinspanne. Als er den Blondschopf wieder fand, knuddelte der gerade mit einem Baum. Mit einer Eiche um genau zu sein. Nicht, dass das einen Unterschied machte, Kurogane schwor sich, dem Kleinen den Hintern zu versohlen, wenn er das noch mal versuchen würde. Die kleine Hatz hatte nur ein Gutes: sie befanden sich jetzt direkt am Eingang des Kaiser Pinguin Parks. „Was... sollte... das... eben?“, keuchte der Teenager – und schwor sich, zukünftig an seiner Kondition zu arbeiten. Die Antwort war ein warmes Lächeln als der Blonde sich ihm zu wandte – und Kurogane machte einen Satz zurück. Die Augen des Jungen waren wieder die einer Katze. „Ich kenne diesen Baum. Ich bin hier vorbei gekommen. Eichen sind stark... und geduldig.“ Fast schon liebevoll strich er über die knorrige Rinde. „Wir sind ganz nah.“ Und so rannte er weiter. Kurogane wusste nicht, was er davon halten sollte. Diese Augen... beim ersten Mal dachte er, er hätte sich das alles nur eingebildet, nur leider konnte er sich das jetzt nicht mehr einreden. Er hatte keine Ahnung, was da vor sich ging... aber spielte das eine Rolle? Er hatte versprochen, dem Jungen zu helfen. Und er hielt seine Versprechen. Und so folgte er dem eigenartigen Jungen, vorbei an Haselnusssträuchern, die leise raschelten und Blätterwirbel, die tanzten, tanzten, ohne dass auch nur das kleinste Lüftchen wehte. Vorbei an verlassenen Parkbänken, bis der Sand des Spielplatzes unter den Sohlen seiner Turnschuhe knirschte. Und dann konnte auch er es fühlen. Die Besonderheit dieses Ortes. Es war wie ein Knistern in der Luft, manchmal hörte man es, manchmal nicht. Sämtliche Härchen an seinen Armen und in seinem Nacken richteten sich auf und als er einen Blick auf seine Füße wagte, erblickte der schwarzhaarige Junge Muster, die im Sand wanderten wie Dünen. Sie waren ständig in Bewegung und erzitterten leicht, so als wären selbst sie in Aufruhr wegen der schieren Kraft dieses Ortes. „Kuro-kun, wir sind da!“, jubelte Fye, „Wir sind am Tor.“ Und das waren sie. Kurogane hatte nie viel von Geistern und Spiritualität und solchem Kram gehalten, aber hätte man ihn gefragt, wie seiner Meinung nach das Tor zur Unterwelt ausgesehen hätte, dann hätte er geantwortet: ungewöhnlich. Damit sollte er Recht behalten. Das Klettergerüst – bei Tageslicht ein harmloser, bunt bemalter Koloss aus Stahl – war kaum zu erkennen durch den dichten Nebel, der sich darin eingenistet hatte. Hin und wieder huschte ein blauer Blitz über eine der Streben. Eine Enge schloss sich um sein Zwerchfell und es fiel ihm schwer zu atmen. Fye umarmte ihn. „Danke, dass du mich hergebracht hast. Danke, danke, danke.“ Er schniefte. Kurogane fühlte sich wie festgefroren; unfähig die Geste abzuwehren oder zu erwidern stand er einfach nur da. Und bemerkte zum ersten Mal den Geruch des Blonden. Nun, es war mehr eine Nuance als ein eigenständiger Geruch und so durch und durch andersartig, dass es dafür keine Worte gab. Es roch weder vertraut noch fremd; nicht alt und nicht neu; nicht natürlich und nicht synthetisch. Andersartig. Fye ließ von ihm ab und lächelte. „Auf wiedersehen, Kuro-kun“ sagte er und ging dann in den Nebel, mitsamt seinem erbeuteten Süßigkeiten. Der Sterbliche blieb noch einige Augenblicke stehen, bis seine Abneigung gegen diesen Ort seine Starre aufhob; dann rannte er heim, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Erst als er im Kobayashi Waisenheim ankommen würde, sollte ihm auffallen, dass der Blonde ’auf wiedersehen’ gesagt hatte. Nicht ‚lebewohl’. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)