Schwarz: Initiation von JinShin (mit wildest_angel) ================================================================================ Kapitel 4: ----------- 4. Crawford saß in dem funktional gehaltenen Arbeitszimmer am Rechner und tippte seinen ersten Bericht an SZ. Über Schuldig schrieb er nicht viel – nur, dass er ihn ausgewählt und mit nach München genommen hatte, und dass sie noch mindestens zwei Wochen zur Einarbeitung brauchten. Er konnte sich nicht verkneifen, den Ausbildungsplan von Rosenkreuz zu kritisieren, weil der Junge noch über keine Fahrpraxis verfügte. Jetzt musste er sich darum kümmern, dass er voll einsatzfähig wurde, was zusätzliche Zeit kostete. Als Schuldig in der offen stehenden Tür erschien, drehte er sich mit dem Schreibtischstuhl zu ihm herum. Er setzte an, ihn zu fragen, ob er etwas benötigte, aber darum ging es Schuldig gar nicht. Crawford stand auf. „Komm. Gehen wir ins Wohnzimmer.“ Er hatte nicht damit gerechnet, dass Schuldig so rasch zum Gespräch kommen würde. Eigentlich hatte er an den nächsten Tag dabei gedacht, aber gut, wenn der Junge schon mal da war… Obwohl er immer noch nicht wirklich fit aussah. Seine Bewegungen waren vorsichtig und zeugten von Schmerz, und sein Gesicht war noch immer bleich, und unter den Augen zeigten sich dunkle Ringe. Der gehörte eigentlich ins Bett! Brad setzte sich auf das breite Sofa, lehnte sich an und schlug lässig die Beine übereinander. „Nur zwei Sachen“, sagte er in geschäftsmäßigem Ton. „Diese Kopfschmerzen… hast du das oft?“ Ein wenig unsicher stand der Telepath in der Tür und sah zu, wie der Amerikaner auf seinem Notebook herum hämmerte. Er räusperte sich leise, um auf sich aufmerksam zu machen und schüttelte dann bei der ersten Frage des Anderen nur leicht den Kopf. "Du wolltest mit mir reden?" beantwortete er die unausgesprochene Frage und nickte leicht, als Brad meinte, sie sollten ins Wohnzimmer gehen. Behutsam setzte er sich auf die Couch, die ihm immer noch ein klein wenig Angst einjagte - sie war sicher sündteuer gewesen, was, wenn er sie aus Unachtsamkeit ruinierte? Crawfords Frage allerdings ließ diese Bedenken verpuffen, weil sich Schuldig auf die Antwort konzentrieren musste. "Nein. Nur wenn ich ... wenn ich an meine Grenzen gehe", seufzte er leise. "Allerdings werden diese Grenzen von Mal zu Mal größer..." „Naja… Ehrlich gesagt, war das meine Absicht“, antwortete Crawford langsam. „Es ist wichtig, dass ich deine Grenzen kenne, damit ich im Ernstfall weiß, was ich von dir verlangen kann - ohne dich gleich für den Rest des Tages außer Gefecht zu setzen. Davon kann später unser Leben abhängen. Wir werden das also üben. Ich erwarte von dir, dass du auch selbst auf deine Grenzen achtest, ich kann nicht immer für dich mit denken. Das ist gerade jetzt am Anfang wichtig, wo wir uns noch nicht so gut kennen. Dein Gehorsam in allen Ehren – ich weiß, das trichtern sie uns sorgfältig ein, und es wird sicherlich oft genug der Fall sein, dass ich genau das von dir erwarte: blinden Gehorsam. Aber wenn es hart auf hart kommt, möchte ich, dass du deinen eigenen Kopf einschaltest. Es ist mir wichtiger, dich unbeschadet wieder zu haben als den Auftrag wie geplant zu erledigen – es sei denn, ich sage vorher was anderes.“ Er grinste schief. Trotzdem es ihm wirklich bescheiden ging, grinste der junge Telepath. "Du wirst meine Grenzen nie wirklich kennen", korrigierte er ihn. "Ich kenne sie ja selber nicht. Ich arbeite sehr hart daran, auszutesten, was alles machbar ist. Bisher habe ich das heimlich gemacht, sonst wäre das heute nicht möglich gewesen. Aber ich spüre, dass da noch viel mehr geht..." Dann legte er den Kopf ein wenig schief und betrachtete den Älteren nachdenklich. "Glaube nicht, dass ich nicht in der Lage bin, meinen Kopf einzuschalten. Ich werde dir in jedem Augenblick gehorchen, in dem ich einen Befehl von dir für mich selbst verantworten kann." Eines war dem Jungen heute klar geworden: Ihnen beiden stand mit ihren Fähigkeiten die Welt offen, nichts konnte sie aufhalten, wenn sie es nicht wollten. Und damit war er niemandem gegenüber mehr verantwortlich, nur sich selbst. Solange sich Crawfords Pläne mit seinen eigenen deckten, würden sie perfekt zusammenarbeiten, und der Amerikaner konnte niemanden finden, der seine Befehle schneller und kompromissloser ausführen würde als der Telepath. "Ich werde mich also auch auf Befehl von dir nicht in Lebensgefahr bringen." Das musste Crawford klar sein - er würde alles für ihn tun. Außer sterben. Noch wusste er nicht, dass sich auch diese Einstellung schon bald ändern würde. Man merkte, dass der Junge noch keine Erfahrungen in Außeneinsätzen gesammelt hatte. Crawford erwiderte sein Grinsen mit einem milden Lächeln. Schon sein Befehl, in zu begleiten, konnte Schuldig in Lebensgefahr bringen… Aber es ging ihm vielmehr darum, Schuldig klar zu machen, dass ihm sein Team wichtiger war als SZs Weisungen. Noch deutlicher wagte er es allerdings noch nicht zu formulieren, solange er Schuldig nicht gut genug kannte. Obwohl ihm seine Intuition sagte, dass Schuldig perfekt war. In jeder Hinsicht. Was auch immer dieses Gefühl zu bedeuten hatte. Und der Telepath hatte ja auch so das Wesentliche in seiner Aussage verstanden. „Dann sind wir uns ja darin einig, dass du am Leben bleibst“, sagte er also mit einem Anflug von Humor. „Ist mir auch zu anstrengend, alle paar Monate einen neuen Teamkollegen einzukleiden…“ Der Junge war schwer einzuschätzen – in einem Augenblick noch verunsichert und schüchtern. Und im nächsten Augenblick machte er dann solche selbstbewussten Äußerungen wie eben. „Das Zweite, was ich dir sagen wollte…“ Jetzt breitete sich wieder ein echtes Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Das war richtig gut vorhin. Der Typ wäre echt stehen geblieben, bis wir ihn umgefahren hätten! Nur an der Feinmotorik solltest du noch arbeiten…“ Zustimmend nickte der Telepath und lachte leise. Er stellte sich gerade bildlich vor, wie der Ältere wieder und wieder loszog, um einen neuen Kollegen auszustaffieren. Na, das konnte er ihm doch echt nicht antun... Und er hatte ja sowieso nicht vor, sich so schnell umbringen zu lassen. Crawfords Lob über seine Vorstellung heute ließ den Jungen breit grinsen. "Ich weiß, dass ich das noch üben muss", stimmte er zu und zuckte ein wenig verlegen mit den Schultern. "Aber das sollte das kleinste Problem sein." Es stand ohnehin auf seiner To-do-list, auch solche Sachen weiter und weiter zu trainieren. Aber das behielt er wohlweislich für sich, um den Fragen zu entgehen, wie er das anstellen wollte. "Aber gut, wenn es dir 'gefallen' hat", schmunzelte er. "Und ja. Er wäre stehen geblieben bis zum bitteren Ende. Er hätte meinen Griff nicht lösen können." Schuldig wusste, wie selbstsicher er im Moment klang. Vielleicht sogar arrogant. Aber hey! Er hatte auch allen Grund dazu. "Gehen wir morgen dann wieder einkaufen?", wechselte er das Thema und sah den Älteren mit überraschend großen Augen und einem wahrlich gekonnten Chibi-Blick an. Da war wieder so eine Wandlung – von dem abgebrühten Rosenkreuzagenten zu einem kindlichen Teenager… Mit Sicherheit würde es mit diesem facettenreichen Teamkollegen interessant werden. „Ich weiß, dass er stehen geblieben wäre – ich hab ihn an der Windschutzscheibe kleben sehen…“ Crawford schob seine Brille zurecht – eine Geste, die Schuldig noch oft zu sehen bekommen würde. „Und ich werd nachher noch einkaufen gehen – wir brauchen Lebensmittel. Tja, und mit deinem Zimmer… bleibt es denn dabei, dass du nur einen Schrank möchtest? Ansonsten ist es vielleicht doch besser, jemand kommen zu lassen, der sich um alles kümmert… Ich hab wenig Lust, Regale anzuschrauben, Vorhänge aufzuhängen und die Wand zu streichen… Aber auf jeden Fall wirst du morgen deine erste Fahrstunde haben – ah, darum muss ich mich auch noch kümmern.“ Ein kleines Grinsen huschte über Schuldigs Gesicht. "Ah, ja", meinte er verschmitzt, legte dann den Kopf schief und musterte seinen Kollegen skeptisch. "Und warum musste ich mich dann so schinden, wenn du es ohnehin gesehen hast? Du hättest dann doch sowieso gewusst, dass ich es kann." Das war nicht böse gemeint, es interessierte ihn einfach nur. "Kann ich mitkommen?", lautete die nächste Frage des immer noch recht angeschlagenen Telepathen bezüglich des Einkaufens. Nachdem er heute die Vielfalt gesehen hatte, die es zu entdecken galt, konnte er nicht genug davon bekommen. Er wollte alles kennen lernen und alles bis zum Schluss ausreizen. Und selbst wenn es nur Lebensmittel waren, die sie besorgten... Zu der Zimmerfrage konnte er nur den Kopf schütteln. "Nein... Ich glaube, ich will doch nicht nur einen Schrank", meinte er schlagartig wieder schüchtern, und er hoffte, dass er mit dem, was er sich in der Zwischenzeit überlegt hatte, nicht den Rahmen und Brads Geduld sprengte. Aber er hatte in den Erinnerungen der anderen Menschen heute eine Menge gefunden, was er haben wollte. Wie der Amerikaner gesagt hatte, er hatte sich Inspiration geholt - und wusste haargenau, wie sein Zimmer aussehen sollte, wenn es nach ihm ging. Was es ja anscheinend tat. "Dann lass jemanden kommen, dem ich erklären kann, was ich will und wie ich mir das vorstelle", bat er und hängte gleich noch eine Frage an: "Aus welchem Stoff ist eigentlich die Bettwäsche?" Immerhin wollte er sich bei eventuellen Erklärungen ja auch nicht komplett blamieren, weil er von nichts eine Ahnung hatte. Die nächsten Worte des Älteren brachten dann seine Nerven zum kribbeln, und obwohl er sich noch wie gerädert fühlte und sein Schädel noch immer enervierend pochte, schien sein ganzes Gesicht anzufangen zu leuchten. "Ehrlich? Ich bekomme morgen schon Fahrstunden?" Das war ja ... grandios! Schuldig hibbelte auf dem Sofa herum. "Eine nur? Oder gleich mehrere?" Das war etwas, das er unbedingt lernen wollte! Und er hatte auch schon eine Ahnung, wie sein Auto aussehen würde, wenn er erst einmal den Führerschein hatte. Bei dem Gedanken daran begannen die grünen Augen noch mehr zu strahlen. „Eins nach dem anderen“, lachte Brad. „Erstmal muss ich einen geeigneten Fahrlehrer für dich finden… Die Bettwäsche ist aus Satin. Und du kannst gerne mitkommen zum Einkaufen, aber, ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, wenn du dich ausruhen würdest. Damit du morgen wieder fit bist. Tja… und zu deiner ersten Frage.“ Er wurde jetzt wieder ernst und sprach ein wenig nachdenklich weiter, suchte sorgfältig nach den richtigen Worten für den nächsten Satz. „Die Zukunft ist ein zartes Pflänzchen, das mit viel Sorgfalt gepflegt werden will... Sie ist nicht so klar zu lesen, wie die Gedanken der Menschen. Schon kleinste Eingriffe in den Ablauf der Dinge können weiter in der Zukunft liegende Geschehnisse entscheidend verändern, schon ein veränderter Gedanke kann das. Darum sind auch Zeitreisen in die Vergangenheit so problematisch. SZ beißt sich schon seit geraumer Zeit die Zähne daran aus… Und darum kann ich mit Sicherheit auch nur die nächsten Minuten vorhersagen. Denn schon mein Wissen und mein daraus resultierendes Handeln verändern ja den weiteren Ablauf mit unvorhersehbaren Folgen. Es gibt Menschen, die Ereignisse in ferner Zukunft voraussagen. Aber an diesen Ereignissen kann man in den meisten Fällen überhaupt nichts ändern – die Versuche, es zu tun, führen nicht selten sogar direkt zu dem, was man verhindern wollte…“ Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. „Es ist eine komplizierte Angelegenheit. Selbst jetzt habe ich eigentlich nicht erfahren, was ich wissen wollte – was geschehen wäre, wenn wir wirklich bis zum Äußersten gegangen wären. Weil mir von vorne herein klar war, dass wir ihn dort nicht einfach umbringen können, ohne gleich die Polizei am Hacken zu haben. Was wäre gewesen, wenn er gestorben wäre, während du noch den Kontakt zu ihm hattest? Ich habe schon einen Telepathen den Verstand verlieren sehen, als genau das während einer Mission geschehen ist. Und wann hätte ich von den Nebenwirkungen, von deinen Kopfschmerzen erfahren? Hättest du mir das gesagt?“ Fragend sah er den Jüngeren an. In seinem Blick war keinerlei Vorwurf. Ruhig hörte sich Schuldig alles an, von den ersten Antworten bis zu der ausführlichen Erklärung des Älteren, und nickte vor allem bei Letzterem verstehend. Hm, es war wirklich interessant, auch einmal etwas von anderen PSI-Kräften zu erfahren, von deren Einsatz, deren Problemen... Er dachte für seine Verhältnisse sogar lange über eine Antwort nach: fast zehn Sekunden. Dann seufzte er leise. Das Thema mit den Fahrstunden war zweitrangig, ebenso das Einkaufen. Wenn Brad wollte, würde er eben zu Hause bleiben und sich ins Bett legen. "Mh, okay", brummte er schließlich, sah Brad dann offen in die Augen und lächelte schwach. "Ich weiß, dass so etwas passieren kann. Hab ich oft genug schon gesehen. Auch bei geringeren Sachen als einer Verbindung mit einem Sterbenden. Aber..." Er setzte sich ein wenig gerader hin und hob das Kinn leicht an, seine Mimik zeigte eine unbewusste Überlegenheit. "... die waren auch nur zweit-, wenn nicht sogar drittklassig. Mir wäre nichts geschehen, wenn er unter meinem Griff gestorben wäre. Sonst könnte ich auch nicht mental töten, oder? Der Link wäre einfach abgebrochen, sonst nichts." Damit verriet er ganz unwillkürlich ein weiteres seiner Geheimnisse. Eigentlich sogar das, das er bisher am besten gehütet hatte. Als einer der wenigen Telepathen, die man an einer Hand abzählen konnte, war er in der Lage, einen Anderen telepathisch umzubringen. Was allerdings ebenso kräfteraubend war, wie die kleine Showeinlage, die er dem Amerikaner heute gegeben hatte. Dann verzog er das Gesicht in einer Mischung aus Verlegenheit und Genervtheit. "Was denkst du denn? Dass sich DAS auf Dauer verheimlichen lässt? Du hättest es spätestens erfahren, wenn ich mich bei einer Trainingseinheit übernommen hätte..." Er ließ den Kopf sinken. Mist, er hasste solche Momente, in denen er sich unzulänglich und unfähig fühlte. Dieser Augenblick hier gehörte eindeutig dazu. Dabei hatte jeder Telepath irgendwann mal mit solchen Nebenwirkungen zu kämpfen. Dass es bei den meisten fertig ausgebildeten Telepathen nicht dazu kam, hatte nur einen Grund: Sie gaben sich mit 75% ihrer möglichen Leistung zufrieden. Niemand konnte ihnen beweisen, dass sie nicht vollen Einsatz brachten. Allerdings kam so ein Verhalten für den Feuerkopf gar nicht in Frage. Er wollte seine Grenzen austesten, sie erweitern, in jeder Hinsicht. Er wollte leben, schnell und intensiv. Schließlich hatte er eine Menge nachzuholen. Sein Blick lag immer noch offen und aufrichtig in den goldbraunen Augen seines Leaders. Überraschung zeichnete sich auf dem Gesicht des Amerikaners ab. Schuldig konnte mental töten? Das hatte gar nicht in seiner Akte gestanden… Wie viele Überraschungen hatte der denn noch auf Lager? Und, soso, er stufte sich selbst also als erstklassig ein. Na, bestens. Mit weniger gab sich Brad Crawford auch nicht zufrieden. „Wo wir gerade beim Thema Training sind… Die Rosenkreuz-Weisung gilt hier weiter: Nutze deine Fähigkeiten so oft es geht und lasse keine Gelegenheit aus, dich zu verbessern. Aber unter zwei Bedingungen: Du tust nichts, was SZ oder einen unserer Aufträge gefährden könnte. Und mich nimmst du bitte nicht als Übungsobjekt, das wir uns da verstehen!“ Es war eine gruselige Vorstellung, wie ein Roboter durch die Wohnung zu staksen und gezwungen zu werden, Schuldigs Mörderkaffee zu trinken. Zum Beispiel. „Und morgen joggen wir eine Runde. Mal sehen, wie es mit deiner körperlichen Fitness steht…“ Leises Lachen perlte durch das Wohnzimmer. "Nein, keine Sorge. Es macht auch keinen Spaß, wenn jemand quasi darauf wartet, dass ich irgendwas mit ihm anstelle." Was nichts anderes bedeutete, als dass Brad zumindest in dieser Hinsicht viel zu langweilig für den Telepathen war. "Und natürlich werde ich meine Fähigkeiten weiter trainieren. Nichts anderes hatte ich vor." In dieser Beziehung war er ehrgeizig - verdammt ehrgeizig. "Allerdings werde ich nicht alles trainieren können. Ich schätze, es würde dir nicht sonderlich gefallen, wenn sich in der Umgebung die Leichen anhäufen, oder?" Den kleinen Joke unterstrich er mit einem neckenden Zwinkern, schnaubte aber gleich darauf. "Joggen?" Boah! Er war nicht sonderlich fit. Er war klein, schmächtig und mager, und er hatte nie die Notwendigkeit gesehen, sich in irgendeiner Form körperlich zu betätigen. Das wurde bei Rosenkreuz auch nicht unbedingt verlangt. Schuldig verdrehte die Augen und ließ den Kopf ein wenig hängen. Das war echt grausam von Crawford! „Solange sich die Leichen nicht hier im Wohnzimmer häufen…“, sagte Brad gleichmütig. „Und solange dich niemand in Verdacht hat… Mich würde eher stören, wenn du jeden zweiten Tag außer Gefecht gesetzt wärst.“ Ungerührt fuhr er fort: „Ja, genau: Joggen. Kondition ist wichtig – auch wenn dein Schwerpunkt auf der mentalen Ebene liegt. Und jetzt ruh dich bitte aus. Ich hab noch einiges zu erledigen. Soll ich dir irgendwas bestimmtes mitbringen? Was möchtest du frühstücken?“ Über diese Antwort bekam Schuldig große Augen. Er hatte hier tatsächlich einen Freifahrtschein zum Töten? Ein unbewusstes Grinsen bog seine Mundwinkel nach oben. Oh wow! Sein Leben hatte sich wirklich von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt. "Okay", meinte er - eine Generalantwort auf sämtliche Anweisungen, die er gerade von Brad erhalten hatte. Dann seufzte er leise. Das mit dem Joggen gefiel ihm nicht wirklich, aber da musste er wohl durch... Wie es aussah, war der Amerikaner in dem Punkt unnachgiebig. Zu der Frühstücksfrage zuckte der Telepath nur die Schultern. "Es ist eigentlich egal, solange es keine Misosuppe ist...", murmelte er und sah wieder einmal ein wenig betreten zu Boden. Schon im nächsten Augenblick hob er den Blick allerdings wieder. Ihm war etwas eingefallen, das sozusagen ein Schwachpunkt bei ihm war. Etwas, dem er nicht widerstehen konnte. "Ähm... könntest du mir vielleicht... Himbeeren mitbringen?", fragte er leicht verlegen. Er liebte diese Dinger wirklich und bisher hatte er nur sehr selten Gelegenheit gehabt, welche zu essen. Dafür würde er sogar ohne zu maulen Joggen gehen... „Himbeeren, okay.“ Brad verstand nicht so recht, warum den Jungen diese Bitte nun schon wieder so verlegen machte. Vielleicht war er einfach nicht gewohnt, um etwas zu bitten. Oder nicht gewohnt, dass überhaupt nach seinen Wünsche gefragt wurde. Das war bei Rosenkreuz schließlich nicht gerade üblich. Und diese Stimmungsschwankungen… daran würde sich Brad wohl gewöhnen müssen. Und das ging so schnell bei Schuldig, dass Brad da seine Präkognition wenig nützen würde. Oder nur ein einziges Thema zur Zeit anschneiden, wenn er eine Einschätzung wollte, wie Schuldig auf etwas Bestimmtes reagieren würde. Mal strotzte er vor Selbstbewusstsein, war teilweise sogar ein wenig aggressiv (die Szene gestern Abend), dann wieder wirkte er völlig verschüchtert und kleinlaut. War das die Pubertät? Oder gehörte das zu Schuldigs Wesenskern? Jedenfalls würde es nicht langweilig werden. Brad mochte langweilige Menschen nicht. „Ich kümmere mich jetzt um deinen Fahrlehrer.“ Er erhob sich und ging wieder in das Büro, das von allen Zimmern das kleinste war. Erst einmal surfte er ein wenig im Internet, um eine passende Fahrschule zu finden. Ihm schwebte da etwas ganz bestimmtes vor… Aber damit würde er Schuldig überraschen. Dann griff er zum Telefon und nahm die Verhandlungen auf. Man brauchte nur mit Geldscheinen wedeln, und meist bekam man dann, was man wollte. So war es diesmal auch. Der Chef persönlich würde ab morgen Schuldig unter seine Fittiche nehmen. Very good. Er müsste sich dann nur langsam auch mal wieder darum kümmern, dass auch wieder etwas Geld auf seine Konten floss. Aber auch da hatte er schon eine Idee… Nachdem sich Brad in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, saß Schuldig noch eine kleine Weile wie verloren auf der Couch. So wirklich realisierte er noch immer nicht, was in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen war. Und es machte den Anschein, als würde es in dem gleichen Tempo weitergehen. Fahrstunden... Schuldig schüttelte ungläubig den Kopf, grinste aber dabei. Er würde tatsächlich Fahren lernen! Mit einem Gefühl, als würde er auf Wolken schweben, stand er auf und zuckte zusammen. Autsch! Die Bewegung war nicht sonderlich schlau gewesen - sein Kopf hämmerte urplötzlich wieder los. Missmutig murrend schlurfte er zurück in sein Zimmer und legte sich vorsichtig auf das Bett, kroch unter die Decke, griff dann aber nochmal zu den Tabletten und nahm eine der stärkeren. Es dauerte nicht lange, bis das Medikament seine Wirkung tat, das beständige Hämmern unter seiner Schädeldecke leichter und er selbst schläfrig wurde. Mit einem leisen, aber sehr zufriedenen Seufzen schloss er die Augen und war gleich darauf eingeschlafen. Das Einkaufen war schnell erledigt, ein großer, gut sortierter Supermarkt war gleich an der nächsten Ecke. Es gab sogar frische Himbeeren. Brad kaufte gleich drei Schälchen. Dann griff er noch ein Frühstücksmüsli mit Himbeeren und Himbeerkekse. Der Einkaufswagen füllte sich rasch, wie immer, wenn er länger nicht zu Hause gewesen war. Frisches Brot und Aufbackbrötchen, Obst und Gemüse, Tiefkühlpizza, Konserven, asiatische Nudelsuppe und Kaffee, eine Kiste Mineralwasser, eine Kiste Apfelsaft und Schokolade! Als er die Lebensmittel in die Wohnung schleppte, bereute er schon fast, Schuldig zu Hause gelassen zu haben – der sollte bloß nicht auf die Idee kommen, Migräne als Ausrede zu benutzen, um sich vor Hausarbeit zu drücken! Hoffentlich hatte er die Himbeeren nicht zermatscht… nein – die Schälchen waren relativ unversehrt. (Fortsetzung folgt) Hosted by Animexx e.V. 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