Emotional Confusion von Heartsbane ================================================================================ Kapitel 2: Bringing Back Old Memories ------------------------------------- .♣. _______________________________________________________________________________ Gemächlich öffnete Cedric die metallene Tür zu seinem Spind und zog einige der abgewetzten Bücher heraus, um sie wenig liebevoll in seinen Rucksack zu stopfen. Ein lautes Seufzen verließ seine Lippen, als er die Tür mit einem groben Ruck, der seinen Frust mehr als deutlich zur Schau stellte, wieder zudrückte. Dabei hatte der Tag eigentlich ganz gut begonnen. Seine Mutter war von dem kleinen Einkaufsbummel anscheinend insoweit befriedigt gewesen, als dass sie sich nicht mehr ganz so eng an ihn kettete und Cedric war vorsichtig der Überzeugung erlegen, dass dies zumindest eine Weile anhalten würde, was ihn eigentlich hätte schon fröhlich genug stimmen sollen. Allerdings war seine Laune mit einem rapiden Tempo in den Keller gesunken, als er heute Morgen Ashton Lauderdale, einen blonden, sonnengebräunten Frauenschwarm aus seinem Jahrgang, über einen unangekündigten Test in Psychologie hatte diskutieren hören. Was Cedric’s Herz sofort einen Schlag lang hatte aussetzen lassen, denn immerhin war er die letzten fünf Stunden lediglich damit beschäftigt gewesen, irgendwelche Kreise und Kringel in sein gähnend leeres Psychologieheft zu kritzeln. Was allerhöchstens die abstrakte Verwirrung bildlich darstellen konnte, die dieses Fach in ihm hervorrief, aber ansonsten recht wenig Möglichkeit für Verbindungen offenließ. Folglich war sein Hirn eine trockene Wüste, die keinen einzigen Tropfen Wissen beherbergte, was ihn leicht beunruhigte in Anbetracht der nahenden Bedrohung. Bei dem Gedanken daran, konnte er ein unwohles Grummeln nicht unterdrücken. „Du hast dich ja noch gar nicht zu dem vergangenen Nachmittag mit deiner Mutter geäußert.“ Cedric blickte ein wenig orientierungslos um sich, bis er Aleksi neben sich erkannte, der ihn freundlich anlächelte. Im Gegensatz zu gestern war er heute etwas dezenter geschminkt und hatte sich auch vorerst von seinen hohen Plateauschuhen getrennt. Das Schwarz blieb aber weiterhin alleiniger Herrscher über seine Kleidung. „Naja, bei Jamie’s verzweifelter Rede blieb auch nicht viel Zeit dafür“, entgegnete Cedric und lächelte ebenfalls schwach. In der Tat hatte der Jüngste ihrer Gruppe heute Morgen im Bus alle Aufmerksamkeit an sich gerissen, da er in nahezu unendlicher Länge seinen Nachmittag erzählt hatte. Lautstark und leidend hatte er den schmunzelnden Jungen von dem grauenvollen Auftrag berichtet, auf seine drei kleinen Brüder gleichzeitig aufpassen zu müssen. Keine wirkliche Neuigkeit, denn Jamie entstammte einer Familie mit insgesamt sechs Kindern, allesamt Jungen, was unweigerlich dazu führte, dass er auf die Jüngeren aufzupassen hatte. Früher waren seine älteren Brüder Marvin und Derick noch dafür verantwortlich gewesen, aber nachdem ersterer mit seinen immerhin schon dreiundzwanzig Jahren ausgezogen war, um in Philadelphia zu studieren, hatte es unvermeidbarerweise auch Jamie getroffen. Denn Derick hielt mit neunzehn nicht mehr viel von dem Job als Babysitter und verbarrikadierte sich regelmäßig in seinem Zimmer oder floh gleich ganz aus dem Haus. Was Jamie als einzige Option für seine Eltern übrigließ und so hatte er am gestrigen Nachmittag samt Abend eben wieder eine ganz eigentümliche Art gehabt seine Zeit zu verbringen. „Da muss ich dir zustimmen“, lächelte Aleksi nun ruhig und blickte Cedric mit einem Ausdruck an, den er nicht wirklich deuten konnte und auch davon ausging, dass es nichts Besonderes darin zu entdecken gab. Und doch war da irgendetwas, das er nicht aus Aleksi’s Anblick heraus deuten konnte. Es dauerte ein wenig, bis ihm dämmerte, dass der andere lediglich darauf wartete, dass Cedric von seinem Ausflug mit der Mutter erzählte. „Es war… annehmbar“, seufzte er also und schloss kurz die Lider. „Wir waren in der Stadt, einkaufen. Zwar wäre ich zeitweise fast durchgedreht, aber Seth hat mich zum Glück mit seinen SMS lange genug abgelenkt, bis es meiner Mutter auch zu viel wurde. Wegen ihrer Füße, versteht sich.“ Cedric war in der Tat manchmal sogar froh, dass seine Mutter so viel arbeiten musste, denn an manch seltenen Tagen war das der ausschlaggebende Punkt, warum sie sich einfach erschöpft auf das Sofa legte und ein wenig ausspannte, ohne Cedric ihrerseits zu belästigen. „Das freut mich für dich“, erwiderte Aleksi und Cedric konnte hören, dass er es wirklich ernst meinte, was ihm nur gleichsah, da der Finne immer in der Lage war sich wegen jeder Kleinigkeit für andere zu freuen. „Ich würde dir gerne noch weiter zuhören, aber ich glaube, der Unterricht beginnt in wenigen Minuten.“ Cedric sah wieder auf und nickte. „Ja, stimmt. Wir sehen uns dann in Physik. Mach’s gut.“ Ein freundschaftliches Lächeln schlich sich auf seine Lippen, ehe er es Aleksi gleichtat und sich umdrehte, um sich auf den Weg zum Französischraum zu machen. Seth, Nye, Jamie und Cyan waren bereits vorausgegangen. Das Klassenzimmer war nicht weit entfernt und so saß Cedric ein paar Minuten später schon auf seinem Platz und blickte zu Jamie, der Cyan und Nye anscheinend immer noch von seinem erlebten Tag klagte. „Ist er immer noch nicht fertig?“, fragte er Seth, welcher lautlos zu ihm getreten war, ließ den Blick aber etwas verständnislos bei Jamie, der gar keine Notiz von ihm genommen hatte. „Ja, anscheinend hat sich Lewis die Hand aufgeschnitten, als er gerade damit beschäftigt war Corbin davon abzuhalten aus Trotz einen Haargummi zu schlucken“, erklärte Seth und schmunzelte leicht. Cedric drehte blitzartig den Kopf zu ihm und legte die Stirn ungläubig in Falten. „Eh…?! Er wollte einen Haargummi essen?“ Seth nickte, kurzzeitig bildeten seine Lippen ein noch amüsierteres Schmunzeln, das aber anscheinend eher wegen Cedric’s Reaktion hervorgerufen wurde als wegen dem eigentlichen Thema. „Warum?“ Cedric’s Stimme war vor Irritation ein wenig höher geworden. „Keine Ahnung“, meinte Seth und zuckte mit den Schultern. „Du weißt doch wie kleine Kinder so sind. Die machen alles, um den Eltern und älteren Geschwistern eins auszuwischen.“ „Aber einen Haargummi…!“ Cedric verzog angeekelt das Gesicht. „Außerdem ist er mit neun nicht unbedingt so klein, um noch solche Faxen zu machen.“ „Du würdest dich wundern“, grinste Seth plötzlich und bevor der verdatterte Cedric nachfragen konnte, was er damit meinte, hörte er schon ein eifriges Händeklatschen, das um Aufmerksamkeit bat. „Alle Mann an ihren Platz. Der Unterricht beginnt“, rief Mrs. Caulfield, ihre noch recht junge Französischlehrerin und sofort begannen die Schüler ihre Plätze einzunehmen. Einen Haargummi… Bin ich froh, dass ich keine Geschwister habe. Cedric war gerade darin versunken, sein Französischheft aus dem Rucksack zu ziehen, als er plötzlich spürte, wie sich irgendetwas ganz nahe an seinem linken Ohr zu ihm beugte und sich so nur einige Millimeter von ihm entfernt befand. Ohne zu wissen was genau, spannte er sich aus einem Impuls heraus ein wenig an. „Hey, Cedi-Boy. Ich hab noch ein Wörtchen mit dir zu reden. Lauf mir also ja nicht weg, verstanden?“ Cedric spürte den kühlen Atem sanft gegen seine Haut streichen, als Cyan diese Worte in sein Ohr flüsterte. Instinktiv überlief ihn ein Frösteln. „Auch Sie, Mr. Blair“, wies die Lehrerin den Blonden dann in ruhigem Ton zurecht, woraufhin Cyan sich aus seiner gebeugten Position erhob und grinsend zu seinem Platz schritt. Cedric konnte nicht anders als sich sofort umzudrehen, sobald der andere nicht mehr in seiner unmittelbaren Nähe war. Ein Wörtchen mit mir reden…? Was soll das denn heißen? Verwirrt sah Cedric Cyan nach, betrachtete seinen kräftigen und doch schmalen Rücken, der unter dem engen T-Shirt deutlich zu erkennen war, während er die wenigen Schritte nach hinten ging. Als er sich langsam auf seinem Platz niederließ und offenbar bemerkte, dass Cedric ihn anstarrte, zwinkerte Cyan ihm aufmunternd zu. Sofort verzog Cedric leicht das Gesicht und wandte sich schnell wieder nach vorne. Und warum kann er mir das nicht einfach normal sagen? Cedric bemerkte zunächst gar nicht, dass sich die Falten auf seiner Stirn nicht wieder glätteten, sondern eine Weile tiefe Furchen in die Haut gruben. Seine Gedanken waren einfach zu sehr damit beschäftigt herauszufinden, was Cyan mit einem ‚Wörtchen’ gemeint haben könnte. Doch auch wenn er noch so angestrengt nachdachte, er kam einfach nicht darauf. Wer weiß, was er jetzt wieder für eine absurde Idee hat… Cedric wollte es unbedingt wissen. Die wenigen Worte von Cyan waren wie eine Nadel gewesen, welche sich tief in sein Fleisch gebohrt und ein langsam schleichendes Gift injiziert hatte. Und dieses breitete sich nun stetig in ihm aus. Aber es war hoffnungslos. Solange die Französischstunde nicht vergangen war, würde er es ohnehin nicht erfahren. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als die unzähligen Fragen beiseitezuschieben und sein Buch zu öffnen, wie es Mrs. Caulfield gerade in einem perfekten Französisch von ihnen verlangte. Mehr als warten geht ohnehin nicht. Also kann ich mich genauso gut konzentrieren… Und so beugte sich Cedric leicht über die ihnen erteilte Textaufgabe, um gehorsam dem einzigen Fach, das ihn mit ein wenig Elan und Talent fesselte, zu folgen. „Cedi-Boy.“ „Hm…?“ Cedric sah fragend auf, als Cyan zu ihm trat und mit ihm gemeinsam den Raum verließ. Der Französischunterricht hatte gerade geendet, was bedeutete, dass sie sich auf den Weg in die nächste Unterrichtsstunde begeben mussten. Cedric in Physik, Cyan in Mathe. Nye hingegen war auf die Toilette verschwunden, während Seth mit Mrs. Caulfield noch wegen eines abgegebenen Aufsatzes sprechen wollte, so hatte er mit diesen Worten zumindest Cedric noch vor einer Minute verabschiedet. Und Jamie hatte währenddessen mit einem Mitschüler noch etwas wegen eines Projektes in Musik zu klären. Somit hatte sich Cedric ausnahmsweise alleine auf den Weg zum nächsten Klassenraum gemacht. „Ich hab doch gesagt, du sollst mir nicht weglaufen“, meinte der Ältere grinsend, da Cedric ohne auf ihn zu achten einfach den Raum verlassen hatte. Erst jetzt dämmerte es Cedric, dass Cyan ja noch mit ihm reden wollte. Sofort sah er ihn neugierig an. „Ja, also was ist los?“, fragte er ungeduldig, während sie sich einen Weg durch den überfüllten Gang bahnten. „Du hast mich schon wieder einfach vergessen.“ Cedric blinzelte bei dieser Antwort orientierungslos, während Cyan leicht das Gesicht verzog und ihn eine Spur vorwurfsvoll ansah. Vergessen…? Was meint er damit? „Wie ‚vergessen’?“, fragte er also und kam sich unangenehmerweise selbst ein wenig dämlich vor aufgrund seiner Ahnungslosigkeit. „Du hattest versprochen mir auch zu schreiben.“ „Oh.“ Cedric spitzte bei dieser Aussage leicht den Mund und verharrte einige Sekunden so. Sein erzwungenes Versprechen hatte er vollkommen vergessen, vor allem, da er es nicht gewohnt war, Cyan ebenfalls SMS zukommen zu lassen. Der Blonde hatte meistens so viel mit seinen Mädchen zu tun und nutzte seine Zeit, um ihnen Nachrichten mit dubiosem Inhalt zu schicken, dass für Cedric oder jemand anderen ohnehin keine Motivation mehr übrigblieb. Cedric selbst hatte das nie besonders gestört, immerhin waren seine finanziellen Mittel beschränkt und Seth als sein bester Freund hatte da nun einmal Vorrang. Zu guter Letzt hatte er die ganze Sache mit dem Versprechen ohnehin einfach nicht allzu ernst genommen. „Tut mir leid, hab ich ganz vergessen“, entschuldigte er sich auch sogleich und blickte dementsprechend bittend zu dem anderen hoch, welcher ihn einen Moment musterte. „Aber Seth hast du nicht vergessen, wie üblich“, schmollte Cyan dann plötzlich und wandte sich ab, doch Cedric konnte erkennen, dass er es nicht so ernst meinte, auch wenn es nicht vollkommen gespielt war. Die Stirn leicht gerunzelt, sah er ihn an. „Ich hab doch gesagt, dass es mir leid tut. Sonst schreiben wir doch auch so gut wie nie.“ „Vielleicht wollte ich das mal ändern?“ Cedric legte den Kopf leicht schief und betrachtete Cyan’s Profil, als er diese Entgegnung hörte. Fieberhaft suchte er nach einem scherzenden Ton in der Stimme des anderen, konnte allerdings nicht einmal einen Hauch davon finden, was ihn doch ein wenig irritierte. Das ändern? Wieso denn auf einmal? „Wieso ändern?“, fragte er sogleich nach, wartete bis Cyan den Kopf langsam wieder zu ihm drehte. Sie waren auf ihrem Weg schon fast am Ende angekommen, der Mathematikraum war nur noch einige Schritte entfernt. „Warum denn nicht?“, erwiderte Cyan und lächelte leicht. „Wir haben außerhalb der Schule nicht mehr wirklich viel miteinander zu tun. Also nur wir beide. Früher war das doch auch anders. Weißt du noch?“ Cedric blieb stehen, ebenso wie Cyan. Sie standen genau neben der offenen Tür, in deren Raum sich immer mehr Schüler begaben. Früher....? Cedric dachte über die Worte seines Gegenübers einige Sekunden schweigend nach. Cyan hatte nicht ganz Unrecht, das wusste Cedric nur allzu gut. Kurz nachdem Cyan Seth und ihn in der dritten Klasse angesprochen hatte, war Cedric den hartnäckigen, eisblauen Augen nicht mehr entkommen. Jeder Versuch sich ihnen zu entziehen, weiter nur zurückgezogen ein Leben als vollkommener Außenseiter zu führen und lediglich Seth ein kleines Stück in seine traurige Welt zu lassen, war an ihnen gescheitert. Denn Cyan hatte nicht nachgegeben, aufdringlich und unbarmherzig hatte er sich weiter vorgebohrt. Ihn mit seiner offenen, fröhlichen Art so gefesselt, bis er letztendlich zu Cedric’s Kern vorgedrungen und dieser glücklich und erleichtert aufgegeben hatte. Cyan sprach die Wahrheit, das war sicher. Früher hatten sie beide fast genauso viel zusammen unternommen, nur sie beide, wie Seth und Cedric es getan hatten. Sie waren offiziell keine besten Freunde gewesen, aber die Kluft zwischen Seth und Cyan war nicht so eindeutig spür- und sichtbar gewesen, wie es jetzt der Fall schien. „Ja, klar weiß ich das noch“, murmelte Cedric, während er versuchte langsam wieder zurückzukehren aus den alten Erinnerungen. Ein ehrliches Lächeln spielte um seine Lippen, als er wieder zu Cyan hochsah. „Es tut mir wirklich leid. Nächstes Mal schreibe ich dir auch. Oder einfach so, muss ja nicht immer sein, wenn ich gerade halb sterbe wegen meiner Mom.“ Cyan lachte daraufhin leise. „Geht klar. Aber jetzt beeil dich lieber. Sonst kommst du noch zu spät.“ Cedric nickte und verabschiedete sich schnell von Cyan, der sich zu den anderen im Klassenzimmer gesellte. Cedric erhaschte einen kurzen Blick auf Nye, der gerade von der Toilette zurückkam und hob ebenfalls die Hand, als dieser ihn kurz grüßte. Dann wandte er sich allerdings rasch wieder um und eilte schnellen Schrittes zum Physikraum. Wieder mehr mit Cyan unternehmen… Ein weiteres Lächeln huschte über seine Lippen. Die Vergangenheit, die Jahre ihrer ganz frühen Kindheit, bargen viele schöne Erinnerungen. Und vielleicht konnten sie ja einige davon wieder zurückbringen. Cedric hatte die gesamten Stunden bis zur Mittagspause hinter sich gebracht, allerdings nicht ganz unbeschadet, wie er nun schmerzlich feststellen musste. Sein Kopf fühlte sich an, als würde das Blut darin langsam vor sich hinkochen und gleichzeitig knetete sich sein Magen stetig selbst durch. Zumindest war die Vorstellung davon unangenehm realistisch. „Alles okay?“, hörte er Seth’s besorgte Stimme leise neben sich, da dieser anscheinend seinen Zustand bemerkt hatte. Was Cedric nicht sonderlich schwer erschien, denn er hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und die Hände zu beiden Seiten in seinen Haaren vergraben, um seinen dröhnenden Kopf durch die Berührung der kalten Finger ein wenig zu beruhigen. Nicht gerade die beste Pose, um den Eindruck purer Gesundheit zu vermitteln. „Ich will nach Hause“, quengelte Cedric ohne seine Position auch nur ansatzweise zu verändern. Seine Stimme klang schwach, er hatte einfach keine Kraft und auch keine Lust sich anzustrengen, um zu sprechen. „Wer will das nicht“, brummte Nye von irgendwoher, allerdings war ihm seine Abwesenheit deutlich anzuhören. Cedric sah nur auf, hob den Kopf dazu aber nicht, denn er wusste, das Nye in seinem Blickfeld saß. Er war auch nicht überrascht, als er auf den Grund für sein Desinteresse stieß. Wie so oft hatte Nye ein Buch in den Händen und las zurückgelehnt darin, während er gedankenverloren den Lutscher in seinem Mund drehte. Cedric wunderte sich immer wieder, wie viele versteckte Eigenschaften ihre Gruppe eigentlich aufwies, Eigenschaften von denen man nie erwartet hätte, dass sie auf die jeweilige Person zutrafen. Zunächst Aleksi, dessen düsteres, bedrohliches Äußeres und sein lammfrommes, hilfsbereites Inneres komplette Gegensätze darstellten. Dann Cyan, der nach außen hin wie ein typischer unnahbarer Schulstar wirkte, aber eigentlich zu jedem freundlich und aufgeschlossen war. Und zuletzt natürlich noch Nye, der sich verhielt als wolle er den Repräsentanten für alle rebellischen Teenager Amerikas spielen, die sich zu cool für jede Art von Reife fühlten, aber in Wirklichkeit jede Woche mindestens zwei Bücher verschlang und sich zu guter Letzt auch noch überraschenderweise für Politik interessierte. Cedric sah kurz zu ihm und vergaß sich ein wenig in seiner Verwunderung über die seltsamen Eigenarten ihrer Gruppe, ehe er sich entschloss, lieber nicht zu antworten. Nye wollte wahrscheinlich ohnehin nicht reden, denn wenn er in eines seiner Bücher vertieft war, dann fuhr er jeden gnadenlos an, der ihn dabei störte. Selbst wenn er denjenigen vorher noch selbst angesprochen hatte. „Dir scheint’s nicht gut zu gehen. Vielleicht solltest du auch wirklich nach Hause“, meinte Seth dann plötzlich und Cedric erbarmte sich doch dazu, sich wenigstens ein bisschen zu ihm zu drehen. Erst jetzt sah er, dass sein bester Freund die Stirn leicht in Falten gelegt hatte und ihn genauso besorgt musterte, wie seine Stimme bereits geklungen hatte. „Ach, der lässt mich doch nie gehen…“, murrte Cedric und drehte sich wieder weg, um kurz die Augen zu schließen. Das brodelnde Gefühl in seinem Kopf wollte einfach nicht verschwinden, verursachte vielmehr ätzende Übelkeit, was Cedric nur noch schlechter gelaunt werden ließ. Es ist schon schlimm genug ohne diese Kopfschmerzen..! Man, hau ab! Während Cedric innerlich mit seinem Kopfweh stritt, mischte sich Jamie nun auch noch in das Gespräch ein und versuchte Cedric dazu zu bringen, endlich zu kapitulieren. „Der lässt doch jeden heim, das weißt du genau. Hennegan nimmt das nicht so ernst wie andere.“ „Da hast du schon recht… Aber wenn ich dann mal wirklich heimgehen muss, dann lässt er mich vielleicht genau da nicht mehr gehen, weil ich mich vorher schon zu oft abgemeldet habe“, entgegnete Cedric und grummelte leicht. Hennegan, ihr Schulleiter, legte zwar unheimlichen Wert auf Repräsentation und dass alles in den richtigen Bahnen ablief, aber was solche Nichtigkeiten wie sich abmeldende Schüler anging, so drückte er oft genug aus purem Desinteresse ein Auge zu. Was die Grundstütze der Wertschätzung seiner Schüler darstellte, denn somit gestaltete es sich bei ihnen auf der High School leichter einfach nach Hause zu gehen, wenn man keine Lust mehr hatte als es in anderen amerikanischen Schulen wahrscheinlich der Fall war. Trotzdem konnte Cedric diesen Vorteil nicht oft nutzen, da er in der Tat ein, seiner und auch Cyan’s und Nye’s Meinung nach, unnötiges Moralgefühl verspürte, sobald er vor dem alten, vollbärtigen Mann stand und wartete bis er seine Unterschrift auf den Zettel setzte. Außerdem nutzte Cedric jede nur erdenkliche Sekunde, die ihn von seinem Zuhause und folglich seiner Mutter fernhielt. Und das hatte er auch heute vor. „Aber du siehst wirklich nicht gut aus…“, widersprach Seth immer noch, allerdings merklich aus Sorge, denn seine sanfte Stimme beinhaltete kein Drängen oder gar einen Befehl. Er wollte Cedric lediglich dazu bringen, auf sich Acht zu geben. Das wusste er. Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen, als er dem Schwarzhaarigen antwortete. „Danke, Seth, aber-“ „Ich mach mir auch Sorgen um dich, Honey. Vielleicht solltest du dich zu Hause ein wenig hinlegen, hm?“ Cedric spürte, wie ihn Kälte umfing, als Cyan die Arme um ihn legte und ihn leicht zu sich zog. Er konnte sich kaum bewegen, da seine eigenen Arme nun leicht gegen seine Brust drückten und ihm so auch den letzten Rest an Bewegungsfreiheit nahmen. „Cyan, hör auf…“, murrte Cedric leise, aber gequält und drehte den Kopf leicht zu ihm. Er konnte direkt in die stechenden Augen blicken, was ihn einen Moment lang irritierte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Cyan schon wieder so nahe bei ihm sein würde, obwohl er es sich hätte denken können. Immerhin wurde er schon wieder regelrecht an seinen Körper gepresst. „Aber wieso denn? Ich hatte nur gehofft, du fühlst dich ein wenig besser in meiner Nähe“, erwiderte der Blonde nun und Cedric konnte sehen, wie sich seine Mundwinkeln langsam zu einem Schmunzeln formten. Cedric seufzte nur, zu kraftlos um jetzt eine Diskussion mit Cyan anzufangen. Er wehrte sich auch nicht weiter, sondern blieb einfach so wie er war, gefangen in den Armen des anderen, und ließ den Kopf wieder leicht sinken. Als er sich auf das kochende Blut in seinem Kopf konzentrierte, wurde ihm auch die Kälte um sich herum etwas bewusster. Cedric konnte nicht verleugnen, dass sie ihm doch angenehm erschien, die Hitze in seinem Gehirn eindämmte. Fast entglitt ihm ein erleichtertes Seufzen, aber er konnte sich doch noch zurückhalten. Stattdessen räkelte er sich ein wenig, machte Cyan somit klar, dass er ihn nun wirklich loslassen sollte. „Hau jetzt endlich ab, Cyan…“ „Cedi-Boy! Was bist du denn schon wieder so giftig zu mir?“, schmollte Cyan sofort wieder, während er ihn noch ein wenig mehr zu sich zog. Cedric lehnte sich automatisch etwas weiter von Cyan weg, da er dessen Gesicht schon bedenklich nahe gekommen war. Er spürte, wie sich langsam Unruhe in ihm breitmachte, denn auch wenn die Grenze bezüglich körperlicher Nähe bei seinen Freunden um einiges höher lag als bei fremden Personen, so war das eindeutig zu viel für ihn. Cyan hatte seine Späßchen noch nie so ausgeweitet, war ihm im wahrsten Sinne des Wortes noch nie so auf die Pelle gerückt. Umso schlimmer für Cedric, der nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Er wollte nur weg von dem Jungen, der ihn Gefahr laufen ließ wieder mit seinem sozialen Defizit in Konflikt zu geraten. „Cyan, lass das…!“, knurrte er also, endlich mit ein wenig mehr Forderung in der Stimme und trotzdem eher schwächlich. Sein Kopf tat nach wie vor weh, großartig Nachdruck hinter seine Worte konnte er somit nicht legen. „Ich hab aber nicht wirklich Lust dazu, Cedi-Boy“, antwortete Cyan grinsend und lockerte seinen Griff kein Stück. Cedric wurde sich bewusst, dass die Unsicherheit drohte ihn zu überwältigen, sich stetig in seiner Brust ausbreitete. Ein Anflug von Angst strich über ihn hinweg, wie es immer der Fall bei Unbekannten gewesen war, denen er auch nur infolge einer Aufgabe im Sport- oder auch allgemeinen Unterricht zu nahe gekommen war. Dass er diese Gefühle nun bei Cyan spürte, machte alles nur noch ungewohnter, noch schockierender. Manchmal nerven seine Spielchen echt… Warum macht er das? Ich verstehe es einfach nicht… Seit gestern hängt er den ganzen Tag an mir dran, wie ein Kind, das zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Was nicht sein kann, Cyan hat wohl mehr als genug davon. Und vor allem würde er die nicht bei mir suchen. Also will er mich wohl einfach nur wieder ärgern und nerven. Wieso aber dann so… so… anzüglich und vor allem so oft?! Ich verstehe es einfach nicht. Und den Kopf dazu habe ich nun wirklich nicht… Cedric starrte Cyan einfach nur an, eine Spur hilflos und verzweifelt. Er konnte ihn jetzt einfach nicht anfauchen oder sich sonst irgendwie befreien, sondern kniff nur leicht die Augen zusammen. Erneut seufzend ließ er die Schultern hängen und entspannte sich ein wenig, entschlossen einfach klein beizugeben. Wenn Cyan nicht nachgeben wollte, dann musste er das eben tun und seine Mätzchen über sich ergehen lassen. Doch kaum hatte Cedric diese Entscheidung für sich getroffen, schien jemand anderer Erbarmen mit ihm zu haben, denn plötzlich spürte er, wie Cyan’s Arme mit dem konsequenten, wenn auch sanften Kraftaufwand eines Unbeteiligten von ihm gezogen wurden. „Cyan, nimm ein wenig Rücksicht auf Cedric. Ihm geht es ernsthaft schlecht“, hörte er Seth neben sich in versöhnlichem Ton bitten. Dankend wandte er den Kopf zu ihm und lächelte leicht. Heute war wirklich kein Tag für anstrengende Auseinandersetzungen und dämliche Zweideutigkeiten. „Ach, Seth, schon wieder musst du mir den Spaß verderben“, brummte Cyan und setzte sich wieder richtig hin. Seufzend verschränkte er die Arme und stützte das Knie gegen die Kante des Mensatisches. „Du stehst wirklich immer zwischen Cedric und mir.“ Cedric hob auf diese Aussage hin eine Augenbraue und schaute skeptisch zu dem Blonden, der jetzt doch wieder leicht schmunzelte und deutlich machte, dass es nur eine weitere scherzhafte Bemerkung gewesen war. Seth schüttelte nur leicht lächelnd den Kopf, anscheinend ebenfalls amüsiert und wandte sich dann wieder an Cedric, der das Ganze nun einfach abtat. Er hatte andere Sorgen, die Cyan’s aufdringliches Verhalten stillschweigend zur Seite drängten und mit Krawall und Remmidemmi auf sich selbst aufmerksam machten. Sogar die lähmende Unsicherheit war zusammen mit Cyan’s Kälte einfach hinfort geweht worden. „Oh man…“, hauchte er, legte eine Hand an die Stirn und grummelte erneut. Es war einfach kaum auszuhalten in diesem Zustand, aber er wusste auch, dass es vorbeigehen würde. Solche Kopfschmerzen hatte er öfters, eine Art Ausdruck von Überlastung wegen des Schul- und Alltags. Nichts Ungewöhnliches, wie er befand. „Aber im Ernst Cedric, du solltest heimgehen“, machte ihn Seth nun wieder auf sich aufmerksam, zeigte ihm, dass er es offensichtlich nicht für so unbedenklich hielt wie er selbst. Seine Aussage hatte schon ein wenig mehr Eindringlichkeit inne als zuvor und Cedric legte daraufhin leicht die Stirn in Falten. Auch wenn er partout nicht dem Vorschlag Seth’s folgen wollte, so schlich sich der Gedanke über die Möglichkeit es doch zu tun, unweigerlich in seinen Kopf. Einige Sekunden schwieg er und zog es in Betracht sich doch abzumelden, immerhin hatte er noch vier Stunden zu überstehen. Und als ihm bewusst wurde, dass eine davon Mathematik war, da war er schon fast soweit zuzustimmen. Aber im letzten Moment gewannen die Moral und wohl auch die Sturheit doch noch die Überhand und Cedric schüttelte bedacht den Kopf. „Nein, es geht schon.“ Seth schien von dieser Antwort alles andere als begeistert zu sein, denn sofort näherten sich seine elegant geschwungen Augenbrauen ziemlich nahe an und er betrachtete Cedric lange schweigend. Dieser wusste, dass er am liebsten weiter auf ihn eingeredet hätte, aber es gehörte nicht zu der Art seines besten Freundes jemandes Meinung mit allen Mitteln umzustimmen. Generell drängte er niemanden zu etwas, sondern hielt sich immer dezent im Hintergrund. Was Cedric in diesem Moment auch dankend begrüßte. „Wenn Cedric jedes Mal heimgehen würde, wenn es ihm schlecht geht, dann würde er nie aus dem Haus kommen“, warf Nye dann plötzlich mit einem spöttischen Tonfall ein und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit erneut auf sich. Er hatte es allerdings immer noch nicht für nötig befunden auch nur den Kopf zu heben und las stattdessen einfach in seinem Buch weiter. Cedric fragte sich, ob er die ganze Zeit schon zugehört hatte oder ob er einfach die Fähigkeit besaß zu lesen und gleichzeitig alle Konversationen zu verfolgen. „Nye, du verhältst dich unhöflich gegenüber einem Freund“, stellte Aleksi an Cedric’s Stelle fest, denn letzterer nahm es dem Braunhaarigen nicht wirklich übel, auch wenn er das vielleicht hätte tun sollen. Er wusste aber, dass es nicht böse gemeint war. Nye sprach eben immer seine Gedanken aus, egal wie unpassend oder verletzend sie waren. Nye selbst interpretierte seine Worte meistens nicht so, wie es nachträglich auf andere Personen wirkte. Und selbst wenn ihm bewusst war, dass er mit seinen Aussagen Dinge ansprach, die besser nicht laut geäußert werden sollten, so war es ihm in der Regel auch egal. „Na und?“, bestätigte Nye sogleich Cedric’s Einschätzung, ohne sich wirklich für seine Rüpelhaftigkeit zu interessieren zu scheinen. „War jetzt nicht persönlich gemeint, aber seien wir doch mal ehrlich… Cedric hat jeden Tag eine seiner Phasen. Ob nun mit oder ohne Kopfschmerzen, das hier ist auch nix anderes…“ „Nye!“, wies ihn nun Seth zurecht, wenn auch eher tadelnd als wütend. Er verzog leicht den Mund, als er den Braunhaarigen mit hochgezogener Augenbraue ansah. Cedric sprach weiterhin kein Wort, denn er hätte nicht gewusst was er sagen sollte. Natürlich waren Nye’s Worte heftig und auch wenn es schon des Öfteren ähnliche Situationen gegeben hatte, so konnte er das Ganze nunmehr nicht einfach als unterhaltende Bemerkung auffassen. Denn das war sie nicht, Nye meinte das schon vollkommen ernst. Aber Cedric konnte auch nicht leugnen, dass er recht hatte. Er verfiel wirklich fast täglich solchen eingebildeten Depressionen, wenn auch nicht einmal ansatzweise mit einer richtigen Krankheit zu vergleichen, aber rein von seinem Verhalten her konnte man schon daran erinnert werden. Und Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel waren zumeist einfach nur Nebenerscheinungen, die seinen Frust auf die Welt körperlich zur Schau stellten. Cedric senkte leicht den Blick, da er ein Gefühl von leichter Scham in sich aufkeimen spürte. Er wusste, dass er nichts dafür konnte. Es war ja keine Schauspielerei, die er seinen Freunden vorführte, sondern einfach eine unbewusste Reaktion seines Inneren, die er nicht kontrollieren konnte. Aber er wollte auch nicht, dass seine Freunde deswegen genervt waren oder wie Nye wahrscheinlich schlecht von ihm dachten. „Du solltest echt nicht so fies zu Cedric sein… Wenn er Kopfschmerzen hat, dann ist das nicht gerade angenehm für ihn. Egal aus welchem Grund“, setzte Jamie nun an Seth’s Stelle nach, wenn auch eher zögerlich. Der Jüngste ihrer Gruppe war immer etwas vorsichtig was Nye anging, da die beiden sich gerne in die Wolle kriegten und das meistens in einem schweigenden, tagelang andauernden Wettkampf endete. Den Jamie immer verlor und geradezu winselnd zu Nye zurückkroch, um ihn um Verzeihung anzubetteln. Ersterer war einfach zu konsequent und desinteressiert an Unterhaltungen mit Jamie oder sonst irgendwem aus ihrer Gruppe, als dass er sich daran gestört hätte nicht mehr mit ihnen zu reden. Mit Ausnahme seines besten Freundes Cyan, mit dem er aber nie stritt und die Problematik so ohnehin umging. Nye hat einfach am wenigsten Bezug zu uns. „Ist schon okay, Jamie“, meinte Cedric dann auch leise und sah den Braunhaarigen an, um ihm zu bedeuten, dass er still sein sollte, nachdem Nye nur mit einem gelangweilten Brummen geantwortete hatte. Jamie tat wie geheißen, wenn auch mit einem unsicheren Blick und wandte sich wieder seinem aufgeschlagenen Geschichtsheft zu. Eine Weile herrschte Schweigen, während jeder seinen eigenen Angelegenheiten nachging. Cedric hatte sich zurückgelehnt und die Arme durchgestreckt, um die Handflächen auf den Tisch zu legen. Gerade als er tief durchatmete und versuchte das unangenehme Brummen in seinem Schädel ein für allemal auszublenden, schob sich ein blonder Haarschopf in sein Gesichtsfeld und kurz darauf hatte Cyan seine Hand schon wieder mit der eigenen umschlossen. „Cedi-Boy, du musst sowieso hierbleiben. Ohne dich wird Geschichte doch so unendlich langweilig. Und die Stunden ohne dich überlebe ich eh nicht, wenn ich mich nicht einmal auf die wenigen mit dir freuen kann, Honey.“ Cedric wandte den Kopf zu ihm, beobachtete wie ihn die eisblauen Augen schelmisch anfunkelten. Cyan begann sanft mit dem Daumen über seine Hand zu streicheln, was sie Cedric schnell zurückziehen ließ, als ihn ein Schaudern überlief. Diese zärtliche Geste war schon wieder zu viel für sein Fassungsvermögen an Nähe und so starrte er seinen Freund einen Augenblick später wütend an, sagte jedoch nichts dazu. „Schau nicht so böse“, meinte Cyan nur grinsend und ließ wieder von ihm ab, um sich ebenfalls zurückzulehnen. „Aber weißt du, was mir gerade eingefallen ist?“ „Hm?“ Cedric sah zu ihm und blickte skeptisch in das schmunzelnde Gesicht. Dieser Ausdruck verhieß nichts Gutes, zumindest sah Cedric das so. Oder befürchtete es viel eher. „Wir haben doch beschlossen wieder mehr miteinander zu unternehmen“, begann Cyan zu erklären, wobei sich seine Mimik wieder zu einem normalen Lächeln entspannte. Cedric beruhigte diese Tatsache, weshalb er auch nur nickte und neugierig abwartete. „Deswegen hab ich mir gedacht, dass du doch morgen mal wieder zu mir kommen könntest. Was sagst du dazu?“, schlug der Blonde vor und musterte Cedric nun seinerseits. Zu ihm kommen? Cedric blickte Cyan etwas verwundert entgegen. Es war sicherlich schon fast fünf Monate her, seit er das letzte Mal bei ihm zu Hause gewesen war. Einen besonderen Grund für diese lange Zeitspanne gab es nicht wirklich, Cedric hatte lediglich mit seiner Mutter zu kämpfen gehabt, die ihm kaum erlaubte aus dem Haus zu gehen. Und Cyan schlug sich mit den Bürden seines eigenen Alltags herum. Denn Cyan’s Leben lief nicht so reibungslos ab, wie man es auf den ersten Blick vielleicht vermuten konnte. Das freche Grinsen und die funkelnden Augen, das heitere Lachen und das muntere Zwinkern… All diese Merkmale an Cyan waren nicht selbstverständlich. Denn ein Leben wie er es führte, war nicht heiter, war nicht zum Lachen oder zum Zwinkern. Nein, Cyan’s Leben bot keinen Anlass dazu. Vielleicht war seine Kindheit noch sorglos gewesen, aber das alles hatte sich schließlich vor gut fünf Jahren begonnen zu ändern, als Cyan’s Mutter Sonya an Krebs erkrankt war. Und vor knapp zwei Jahren hatte ihre Kraft letztendlich einfach nicht mehr ausgereicht. Ihr Tod hatte ein tiefes Loch in das Leben der verbliebenen Familie Blair gerissen, welches jeden auf seine eigene Weise in den Abgrund zog. Der Vater, der den Verlust der Mutter nie verkraftet hatte, litt immer noch an schweren Depressionen und somit war es alleinig Cyan’s Aufgabe sich um seinen jüngeren Bruder Noah zu kümmern, der es in seinen jungen Jahren noch schwerer hatte ohne die Mutter zu leben. Er hat’s wirklich nicht leicht… Cedric spürte, wie ihn wieder eine neuerliche Welle von Mitleid drohte hinfort zu spülen. Sein eigenes Gejammer kam ihm im Gegensatz zu Cyan’s Problemen so unendlich belanglos vor, dass er ein regelrecht schlechtes Gewissen bekam bei dem Gedanken an das Leben, das der andere führte. Dabei war es umso unglaublicher für ihn zu fassen, wie Cyan trotz alledem wirkte. Als würde er von gar nichts belastet sein. Er scherzte, unternahm viel, feierte ausgelassen… Cedric hatte ihn nicht mehr traurig oder sich beschwerend vorgefunden, nachdem er den ersten Schock des Todes seiner Mutter überwunden hatte. Und genau für diese Stärke bewunderte Cedric ihn. „Klar, ich würd mich freuen“, erwiderte er etwas sanfter und lächelte ruhig. Seine Wut und Aufgebrachtheit wegen der neuerlichen, neckenden Annäherung war auf einen Schlag verpufft und an ihre Stelle war ein ehrliches Freundschaftsgefühl getreten, das ihn nun statt des Mitleids überflutete. „Cool. Also dann morgen nach der Schule? Du kannst ja gleich mit dem Bus mitfahren“, grinste Cyan und schien sich ebenso zu freuen wie Cedric. „Jap. Jetzt hoff ich bloß, dass meine Mom nicht rumzickt.“ Cedric war seine Mutter ganz entfallen, was den Umstand, dass sie wahrscheinlich ihre Planung vereiteln würde, umso betrüblicher machte. Denn er wollte unbedingt Cyan besuchen, wollte wieder mehr Kontakt zu ihm haben. Wollte die schönen Erinnerungen aus Kindertagen gegen die Distanz, die durch zu wenig Bemühung für die Freundschaft entstanden war, eintauschen. „Du musst sie überzeugen, Cedi-Boy. Sag ihr, dass du sie erst gestern aushalten musstest und dafür dann eben mal den Nachmittag zu mir kommen kannst“, sagte Cyan und sah Cedric auffordernd an. Dieser schmunzelte leicht über die ehrliche Wortwahl. „Mach ich, keine Sorge.“ „Gut.“ Cyan grinste und Cedric konnte nicht anders, als es ihm gleichzutun. Er würde schon dafür sorgen, dass er Cyan besuchen und ihre Freundschaft wieder enger schnüren konnte. Egal welche Opfer er deswegen bringen musste. Cedric hatte die Zähne zusammengebissen und sich auch noch durch die letzten beiden Stunden seines Schultages gequält, auch wenn sein Kopf mehrmals unter dem ganzen Druck gedroht hatte zu explodieren. Besonders in Mathe hätte er sich am liebsten ins nächstbeste Krankenhaus einliefern lassen, hatte es allerdings dabei belassen den Kopf alle zwei Minuten erschöpft und halb verendet auf den Tisch sinken zu lassen. Mittlerweile lag Cedric ausgestreckt auf dem alten Sofa in seinem Wohnzimmer und ärgerte sich darüber, dass er so weit in das alte Ding einsank, da sich sein Kopf ohnehin schon wie in Watte gepackt fühlte und die Empfindung so nur noch verstärkt wurde. Am liebsten hätte er sich einfach auf den harten Teppichboden gelegt und gehofft, dass die Kälte dort unten ausreichte um seinen Kopf einzufrieren. Aber aus Zweifel darüber, ob die Unbequemlichkeit nicht zu noch mehr Schmerzen führte, beließ er es doch lieber bei dem flauschigen Sofa. Cedric seufzte, sah unter geschlossenen Lidern die Zeit vorbeirinnen. Und dann hörte er endlich das leise Klicken des Türschlosses, als jemand die Haustüre aufsperrte. Sofort richtete Cedric sich auf, was er eine Sekunde später bereute, denn sein Kopf dröhnte so kurz nur noch mehr. Verdammt…! Schnell kniff er die Augen zusammen, wartete bis der Druck sich wieder einigermaßen regulierte. Währenddessen horchte er genau auf die Geräusche, die von dem Raum, der Flur, Küche und Esszimmer gleichzeitig bildete, ausgingen und durch den altmodischen Rundbogen zu ihm ins Wohnzimmer schwebten. Ich habe doch tatsächlich fast schon sehnsüchtig gewartet ,bis sie nach Hause kommt. Jetzt geht’s bergab… Cedric verharrte noch eine Minute stillschweigend, ehe er die Beine vom Sofa schwang und sich bedacht langsam erhob. Mit einem leisen Grummeln schlurfte er in den anderen Raum und sah seine Mutter, wie erwartet, gerade ihre Arbeitstasche ausräumen. „Hey, Mom“, meinte er leise, während er sich neben den Küchentisch stellte, die Hand an der Kante abstützte. „Ich hab da eine Frage…“ „Hm?“, machte seine Mutter und blätterte in einem Packen aus Blättern, der vermutliche ihre Arbeitszeiten beinhaltete. „Kann ich morgen nach der Schule gleich mit zu Cyan?“ Cedric’s Ton war bemüht interesselos, er wollte nicht zeigen, wie unsicher er war. Doch seine Augen huschten vorsichtig und abwartend in dem abgewandten Gesicht der Mutter hin und her, hofften und bangten zugleich. Er wusste, dass es immer wieder ein Spiel mit dem Feuer war, seine Mutter um so etwas zu bitten. Denn wenn sie einen schlechten Tag hatte, dann endete dies nur wieder in einer ihrer beleidigten, deprimierten Phasen. Und das hieß, dass Cedric diese mit noch mehr gemeinsamen Unternehmungen ausmerzen musste. „Was? Wieso?“ Cedric schluckte. Er hatte sich schon einmal definitiv verbrannt. Der fast schon geschockte Ausdruck im Gesicht der Frau ihm gegenüber, als sie rasch aufblickte, zeigte eindeutig wie sie zu der Bitte stand. Mit fast angsterfüllten Augen starrte sie in die seinen, fast so, als hoffe sie, dass er ihr nun sagte, dass es ein Scherz gewesen war. Cedric spürte, wie schon wieder die Wut in ihm hochkroch. Muss sie denn immer so überreagieren? Sie ist eine verdammte Fanatikerin…! „Naja, weil wir halt gerne mal wieder was zusammen unternehmen würden“, versuchte Cedric gezwungen ruhig seinen Standpunkt zu untermauern, da er nicht gewillt war, diesmal nachzugeben. Er wollte zu Cyan, koste es was es wolle. Trotzdem wusste er auch, dass er mit aggressivem Drängen nicht sehr weit kommen würde, weshalb seine Stimme immer noch eher leise und zögerlich klang. Unterwürfigkeit war meist die erfolgversprechendere Variante. „Du siehst ihn doch ohnehin jeden Tag in der Schule. Muss das denn dann sein, dass du den Nachmittag auch noch weg bist?“, erwiderte seine Mutter und vermittelte ihm damit, dass sie nicht vorhatte zuzustimmen. Wenn sie zu diskutieren anfing, dann war meistens schon alle Hoffnung verloren. „Mom! Das ist doch was ganz anderes“, rief Cedric, wenn auch mehr aus Verzweiflung. Diese breitete sich auch in seinen Gedanken aus, während er fieberhaft versuchte eine Lösung zu finden. Irgendwie musste er seine Mutter doch dazu bringen können, ihm wenigstens einmal zu erlauben seine Freunde zu sehen! „Ich möchte das nicht, Cedric. Du unternimmst ohnehin so viel mit Cyan und den anderen, bist fast jeden Tag weg und ich sitze alleine zu Hause. Kannst du nicht auch einmal ein bisschen Zeit mit mir verbringen? Immerhin bin ich deine Mutter, ich denke nicht, dass das zu viel verlangt ist“, meinte sie, wandte sich wieder ihrer Arbeitstasche zu und warf ein Tempopäckchen, den Geldbeutel und andere Gegenstände aufgebracht und hektisch auf den Tisch. Cedric starrte sie mit offenem Mund an. So viel Dreistigkeit und Lüge in einer Aussage hätte er nie im Leben erwartet, obwohl es eigentlich schon zum Alltag gehörte so etwas von seiner Mutter zu hören. Cedric kam es oft vor, als lebe sie in einer vollkommen verzerrten Welt, die sie sich so zusammenschusterte, wie es ihr gerade passte. Sie war so darin gefangen, dass sie die Sachen, die sie von sich gab, auch wirklich glaubte. Denn der Realität entsprachen sie definitiv nicht. Cedric saß fast jeden Tag zu Hause, kam lediglich in die Stadt, wenn ihn Seth zu seinen Shoppingtouren mitschleifte. Und das war maximal einmal in der Woche, wenn es nicht sogar dann wieder von seiner Mutter vereitelt wurde. Die restliche Zeit verbrachte er fast ausnahmslos mit ihr, hörte ihr bei nicht nachvollziehbaren Schwelgereien zu, ertrug ihre Auffassung von Spaß. Es war abnorm zu sagen, dass er jeden Tag außer Haus war, ja, es auch nur zu denken grenzte an Wahnsinn. „Mom!“, rief er erneut, da der Schock immer noch in seinen Gliedern saß. „Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Ich habe seit drei Wochen, seit ganzen drei Wochen, nichts mehr mit meinen Freunden unternommen, weil du jedes Mal gesagt hast, dass ich nicht darf! Und stattdessen habe ich meine Zeit mit dir verbracht. Weißt du nicht mehr? Philadelphia, Spaziergänge, Filme ansehen… Alles! Und gestern erst waren wir hier in Phoenixville einkaufen. Wie kannst du dann so was nur behaupten?!“ „Cedric, ich habe gesagt, dass ich das nicht will und dabei bleibt es auch.“ Cedric’s Mutter packte die Sachen, die sie zuvor aus ihrer Tasche gekramt hatte und verstaute sie an den ihnen angestammten Plätzen. Cedric sah ihr mit leicht geweiteten Augen zu, während sie sich die Küchenschürze um die Hüfte band und begann etwas zu Essen zu machen. Das kann doch nicht wahr sein…! Was mach ich gegen solche Verblendung? Cedric ließ sich kraftlos auf den Küchenstuhl sinken. Zwar waren seine Kopfschmerzen mit der Ungläubigkeit verschwunden, aber der Frust, der sich jetzt in ihm aufbaute, ließ ihn sich noch schlaffer fühlen. „Mom…“, brummte Cedric, nachdem er die Arme von sich gestreckt auf den Tisch und den Kopf auf den rechten von ihnen gelegt hatte. Alles in allem gab er bestimmt ein ziemlich jämmerliches Bild ab, aber das erschien ihm der einzige Weg, um irgendwie noch ans Ziel zu kommen. „Bitte!“ „Nein, Cedric!“, sagte seine Mutter scharf und begann eine Zwiebel in ihrer Wut äußerst gnadenlos in Einzelteile zu hacken. Cedric fragte sich, ob sie ihm das Küchenmesser wohl auch in den Bauch rammen würde, nur damit er unfähig war aus dem Haus zu gehen. Er war fast überzeugt davon. Einige Minuten vergingen schweigend, in denen Cedric ein Gefühl auf der Haut spürte, dass dem von Elektrizität glich. So schön es sich anhörte, Cedric wusste, dass es nur wegen der wachsenden Verzweiflung entstanden war. Und es fühlte sich auch zweifellos nicht gut an. Ich will morgen zu Cyan! Warum kann sie nicht einfach ja sagen? Cedric hätte am liebsten geschrien vor Ratlosigkeit, stattdessen blieb er allerdings in seiner Position und starrte an einen blanken Fleck auf der leicht gelblich gestrichenen Wand. Es war hoffnungslos, so wie seine Mutter sich gerade gab, war es unmöglich sie umzustimmen. Das stellte an einem normalen Tag schon eine Sisyphusarbeit dar, da sie immer wieder knapp davor war nachzugeben und dann doch wieder ein Verbot aussprach. Aber heute schien in der Arbeit wieder irgendeine Kleinigkeit vorgefallen zu sein, die ihre Laune gen Erdkern gezogen hatte und die in dem zähflüssigen Magma nun vor sich hinschwappte. Cedric hatte schon fast aufgegeben, sich seiner Deprimiertheit hingegeben, als seine Mutter ihm ungewollterweise doch noch einen Hoffnungsschimmer zukommen ließ. „Heute ist eine Pflanzenausstellung im Gartencenter. Ich fände es schön, wenn du mich dorthin begleiten würdest.“ Cedric sah von seinem Fleck auf und beobachtete interessiert seine Mutter, die sich angestrengt auf ihre Gemüseopfer konzentrierte. Sie schien sich bewusst zu sein, dass sie ihm so die Möglichkeit gab einen Tauschhandel abzuschließen. Und genau das würde Cedric auch tun, denn ihm war klar, dass es seiner Mutter viel bedeuten musste, dass er mitkam. Sonst hätte sie das Thema nie im Leben angesprochen. „Ich komme mit. Und morgen darf ich dafür zu Cyan“, forderte Cedric sogleich mit fester Stimme, während er seine grauen Augen fixierend auf die Gestalt seiner Mutter legte. Diese reagierte rein optisch nicht, brachte den kleinen Schimmer der Hoffnung in Cedric’s Herzen allerdings trotzdem dazu sich zu entzünden und langsam zu brennen. „Das weiß ich noch nicht.“ Seine Mutter hatte einen strengen Ton angesetzt, der die Chancen auf ein ’Ja’ nicht gerade sehr hoch schätzen ließ, aber allein die Möglichkeit verjagte Cedric’s negative Gefühle in rasender Geschwindigkeit. „Und wann ist diese Ausstellung?“, fragte er und richtete sich wieder auf, um sich zu strecken. Ein vorfreudiges Grinsen umspielte seine Lippen, das natürlich nur auf den wünschenswerten Besuch bei Cyan bezogen war, aber sich dennoch nicht verbergen hatte lassen. Und auch die kleinen Speere seiner Kopfschmerzen traten langsam den Rückzug an. „In zwei Stunden“, antwortete seine Mutter und schien sich merklich zu entspannen. Wahrscheinlich hoffte sie immer noch, dass sie ihren Sohn ein weiteres Mal den ganzen Tag an sich ketten konnte, ohne ihm zu erlauben, dass er seine Freunde sah. Aber da hatte sie sich geschnitten. Denn seine vergangenen Erinnerungen würde er mit absoluter Sicherheit bekommen. Dafür würde Cedric schon sorgen. Ich dachte, Brasilien wäre weiter weg… Cedric hob die Hand, und schlug ein Palmblatt zur Seite, das ihm den Weg versperrte. Eine Sekunde darauf spürte er, wie es wieder gegen seinen Hinterkopf prallte. Ich hasse Pflanzen! Seine Mundwinkel näherten sich noch ein wenig mehr dem Boden an, als er seiner Mutter durch den Urwald folgte, der sich vor ihnen auftat. Die Pflanzenausstellung zu der Cedric mitgeschleift worden war, hatte sich als weitläufiger als erwartet herausgestellt und so stapfte er schon seit gut zwei Stunden durch alle Biotope der Erde und wurde mit sämtlichem Gewächs, das dort zu finden war, konfrontiert. Im Moment kämpfte er sich durch regelrechte Wälder von Palmen und anderen tropischen Pflanzen, die ihn wahrheitsgemäß an den Regenwald Brasiliens erinnerten. Die Luftfeuchtigkeit war unglücklicherweise ebenso realitätsnah, was Cedric nicht nur zum Schwitzen brachte, sondern ihm auch das Atmen um einiges erschwerte. Essentiell um den Tag mit seiner Mutter zu überleben und somit noch eine Qual mehr, die er über sich ergehen lassen musste. „Schau mal, diese Bulbophyllum echinolabium da vorne! Ist die nicht herrlich? Wie kriegen sie das nur hin?“ Cedric hatte keine Ahnung welches abnorme Unkraut seine Mutter jetzt schon wieder entdeckt hatte, aber der Name ließ auf nichts Gutes schließen. So seufzte er auch nur genervt, als seine Mutter ihn am Arm packte und weiterzog, wobei er über einen der unzähligen Schläuche stolperte, die sich auf dem Boden wie ein Schlangennest wanden. Woher kennt sie nur diese ganzen Namen, mit denen keiner was anfangen kann? In der Tat legte seine Mutter ein breites, botanisches Wissen an den Tag, das denen der überall herumlungernden Berater in nichts nachstand. Cedric führte dies einfach auf die unzähligen Sachbücher über Pflanzenkunde, die zu Hause im Bücherregal standen, zurück und tapste ihr nach bis sie endlich vor einem Blumentopf stehen blieb, der von der Decke hing. „Ist sie nicht wunderschön? Sie dir nur an, wie lang die Blütenblätter sind! Die haben sie wirklich wundervoll hingekriegt…“, murmelte seine Mutter mit einem Hauch von Ehrfurcht in der Stimme, die von der Begeisterung aber rüde zur Seite gestoßen wurde. Cedric brummte nur und besah sich mit gelangweiltem Blick die Pflanze vor sich, die ihn mit ihren zwei lange Blütenfransen, welche ziemlich weit nach unten hingen, seltsamerweise an einen vollbärtigen alten Magier erinnerte. An sich sah sie zwar wie eine normale Orchidee aus, das konnte Cedric immerhin noch feststellen, aber die drei tentakelartigen Blütenenden machten ihm bei längerem Betrachten doch ein wenig Angst. Aus dem alten, harmlosen Mann formte sich nämlich nach und nach ein gruseliges, ekelerregendes Insekt, das ihm ganz und gar nicht geheuer war. Angewidert wandte Cedric den Blick ab. Ich muss hier raus. Langsam dreh ich nämlich vollkommen durch… Gerade als er sein Handy aus der Hosentasche ziehen wollte, um zu sehen wie viel Zeit in der grünen Hölle er schon überstanden hatte, riss er den Kopf erschrocken in die Höhe, als ein quietschender Schrei die Luft erfüllte. Verdattert drehte Cedric den Kopf nach allen Seiten, um die Ursache für dieses unangenehme Geräusch zu erfassen. Schließlich konnte er die Schuld seiner Mutter zuordnen, welche genau in diesem Moment mit ausgebreiteten Armen auf eine Frau zusteuerte, die locker Cedric’s Urgroßmutter hätte sein können. „Betsy! Ach Gottchen, wie lange ist das denn jetzt schon her?! Komm, lass dich drücken“, frohlockte seine Mutter, wobei ihre Stimme immer noch einige Dezibel zu hoch für das menschliche Gehör zu sein schien. Mit einem Strahlen im Gesicht nahm sie die rundliche, alte Frau in den Arm. „Molly, meine Liebe. Das man dich hier antrifft…! Ach, ihr Jungspunde immer. Ihr habt ja noch die Kraft, um euch hier durchzukämpfen“, erwiderte diese mit ihrer zittrigen Stimme, die Cedric vorkam, als würde sie in dieser Schwüle schon ums Überleben kämpfen. Was wahrscheinlich ihr angedeutetes Problem zu sein schien, zumindest entnahm er dies ihrer rasselnden Atmung. „Oh, du wieder, Betsy!“ Cedric’s Mutter lachte geschmeichelt auf, legte der alten Dame dabei eine Hand auf die Schulter. Cedric nutzte die Zeit und besah sich die fremde Person gelangweilt ein wenig näher. Ihr schneeweißes Haar hatte sie in knotenartiger Manier nach hinten gebunden, während eine dicke aber kleine Brille ihre schmale Nase zierte und die grünlich-grauen Augen unnatürlich groß erscheinen ließ. Ihrem Kleidungsstil nach zu urteilen, war sie mindestens schon an die achtzig, allerdings war die Spanne, in denen Menschen solche Kleidung trugen, ziemlich groß. Was seine Mutter am gestrigen Tag einwandfrei bewiesen hatte und so konnte Cedric das Alter der Frau auch nicht mit Sicherheit bestimmen. Die Anzahl an Falten in ihrem Gesicht ließ seine Vermutung allerdings zumindest als wahrscheinlich durchgehen. „Aber schau, das ist mein Sohn Cedric. Du kennst ihn ja noch nicht. Cedric, komm mal her, begrüß Betsy!“, schnatterte seine Mutter währenddessen fröhlich weiter und winkte ihn ungeduldig zu sich. Und schon wieder redet sie mit mir, als sei ich fünf… Sich wie so oft ein genervtes Stöhnen verkneifend, watete Cedric gemächlich auf die beiden zu und fand sich keine Sekunde nach dem Stehenbleiben schon zwischen zwei überraschend kräftigen Händen wieder, die sich um seine Oberarme schlossen. „So, so. Du bist also der Junge von Molly. Ganz schön ansehnlicher Bursche bist du, jaja. Die Haare vielleicht ein wenig zu lang und dieses Rot… Ich weiß ja nicht. Hätte dich schon fast mit einem burschikosen Mädchen verwechselt“, plapperte Betsy sogleich drauf los und besah sich Cedric von oben bis unten. Unter dem Adlerblick ihrer vergrößerten Augen fühlte sich dieser zunehmend unwohl, was ihn zu einem Schlucken verleitete, um sich nicht aus dem Griff zu winden, der ihn schon wieder mehr als unruhig werden ließ. Mädchen…? Wenn man so blind ist, wie die, dann vielleicht… Aber so. Ich bitte dich! Cedric konnte nicht umhin, sich doch ein wenig angegriffen zu fühlen, vermied es aber das Gesicht beleidigt zu verziehen. Alte Menschen waren eben so. „Also, Jungchen, du begleitest deine Mutter also auf die Pflanzenausstellung. Das nenne ich lobenswert. Du weiß ja, Molly, die Jugend heutzutage…! Ein Graus, sage ich dir. Die interessieren sich doch nur noch für ihre … wie heißen die doch gleich? Blechstation oder sowas… Du weißt das doch sicher, Liebchen, diese schwarzen Kästen vorm Fernsehgerät, auf denen die jungen Leute immer so begeistert herumdrücken…?“, schwatzte Betsy heiter weiter, blickte Cedric dann fragend an. „Playstation…?“, murmelte dieser leise und hob eine Augenbraue. „Ja, genau diese Dinger! Hach, da sitzen sie den ganzen Tag davor und bekommen sonst nichts mehr mit. Mein Enkel ist genauso einer. Aber dass du dich für sowas wie die Natur noch interessierst, das ist wirklich mal was Anständiges!“ Cedric räusperte sich leicht, schwieg allerdings und würgte auch den Wunsch ab, die Augen zu überdrehen. Wieder so eine alte Labertasche, die nur über die ach so verdorbene Jugend mosern kann… „Ja, mein Junge ist nicht so einer. Der passt noch auf seine Mutter auf, wie es sich gehört“, bekräftigte Molly und schlang die Arme um seinen Oberarm, nachdem Betsy ihn endlich losgelassen hatte. Cedric brummte unhörbar, verzog nur leicht das Gesicht. Es war nichts Neues, das seine Mutter ihn vor fremden Leuten in den Himmel hinauf lobte, zu Hause allerdings genau das Gegenteil als Vorwurf an ihn nutzte. Er hatte sich daran gewöhnt, dass seine Mutter sich alles so zurechtbog, wie es eben gerade am besten passte. Daran gewöhnt, dass er ihr Spielball war. Reines Unterhaltungsmittel, damit sie nicht im Sumpf ihres gescheiterten Lebens versank. Während Cedric in seinen erdrückenden Gedanken schwamm, begannen Betsy und seine Mutter ein Gespräch zwischen dem Untergang der Jugend und der Blütezeit für Tulpen, dem Cedric allerdings nicht folgte. Er hatte genug von diesen Menschen um sich herum, genug von den Pflanzen, von den Lügen, von den Täuschungen und dem durch Sensationslust erarbeiteten Tratsch. Cedric wollte einfach nur seine Ruhe haben, wollte wieder nach Hause in sein Zimmer. Und vor allem wollte er das, weswegen er die ganze Tortur eigentlich ertrug. „Mom“, unterbrach er die beiden Frauen kurzerhand in ihrem Gespräch, was Betsy’s Augen kurz noch ein wenig größer werden ließ. Anscheinend hätte sie sich einen solchen gesellschaftlichen Frevel von dem Musterbild an Sohn, den sie gerade kennenlernen durfte, nie im Leben erwartet. Doch Cedric ignorierte sie einfach, genauso wie er den nervösen Blick seiner Mutter, die offensichtlich schon wieder um ihre mühsam erheuchelte Fassade bangte, nicht weiter beachtete. „Was ist jetzt mit morgen? Kann ich nun zu Cyan oder nicht?“ „Cedric, ich denke nicht, dass wir dieses Thema jetzt diskutieren sollten. Wir sprechen zu Hause. Also Betsy, die Blumenknollen, die du da gesehen hast, sind die-“ „Nein, ich will das jetzt wissen! Darf ich?“, mischte sich Cedric erneut ein, die Augen hartnäckig auf das Gesicht seiner Mutter gerichtet. Er würde sie so lange in ihrem Gespräch stören, so lange der ungehobelte Sohnemann sein, bis sie endlich nachgab. Eine bessere Gelegenheit konnte er nicht ergattern, denn nun brauchte er nur stur nachfragen und drängen. Seine Mutter hielt so viel darauf, dass sie auf ihre Umwelt wie eine heile, anständige Familie wirkten, dass sie unter dem Druck der Wahrheit irgendwann zusammenbrechen würde. „Cedric! Reiß dich zusammen“, herrschte sie ihn dann mit gedämpfter Stimme an, drehte sich zu ihm und warf unauffällige Blick in Betsy’s Richtung, welche ihm verdeutlichen sollten, dass eben genau der Fall eingetreten war, den er provozieren wollte. Seine Mutter schämte sich. Perfekt. Cedric’s Wille wuchs unter seinem Wunsch und die unsichtbare Mauer aus Zuneigung, die seine Mutter in jahrelangem Klammern aufgebaut hatte, war für den Moment einfach verschwunden. „Du wolltest Zeit mit mir verbringen, jetzt verbringen wir Zeit. Also darf ich auch zu Cyan. So war es abgemacht“, stellte Cedric eiskalt fest, obwohl er wusste, dass er somit die nette Vorstellung regelrecht abschlachtete, die seine Mutter Betsy aufgedrückt hatte. Ein Seitenblick zu der alten Dame, ließ ihn allerdings ein wenig Verwirrung spüren. Schmunzelt sie…? „Cedric..!“ Cedric’s Blick huschte wieder zu der anderen Frau. Der Ausruf seiner Mutter endete in einem ungläubigen Hauchen, als sich ihre Augen in purem Entsetzen auf ihn legten. Ihre Fassungslosigkeit bestärkte Cedric nur, sie war verwundet, wehrlos. Gleich einem angeschossenen Reh, er musste ihr nur noch den Todesstoß versetzen. „Darf ich nun zu Cyan?“ Cedric’s Stimme war kalt, herausfordernd, fast schon streng. Er wusste selbst nicht, wie er es anstellte, dass es klang, als hätte er seine Mutter in der Hand und nicht umgekehrt. Aber die Frau vor ihm schien sich in diese Vorstellung gehorsam einzufügen, denn nach einigen Sekunden Stille und einem harten Schlucken, nickte sie schließlich. „Meinetwegen…“, murmelte sie heiser, atmete tief ein. Sie hatte sich gerade mehr oder weniger selbst die Kehle aufgeschlitzt, Cedric hatte lediglich das Messer an den Hals gesetzt. Ich darf… Cedric konnte es kaum fassen. Er hatte gerade wirklich seiner Mutter die Stirn geboten und das, obwohl sie felsenfest dagegen gewesen war. Es war ihm, als habe er dies noch nie in seinem Leben geschafft, als wäre er gerade von der Maus, bedroht durch die Katze, zum Hund herangewachsen. Doch was viel wichtiger als sein glorreich errungener Sieg war, stellte die Tatsache dar, dass er den morgigen Tag wirklich mit Cyan, folglich ohne seine Mutter, verbringen würde. Nur mit einem guten Freund. Und somit endlich in der Lage war alte Erinnerungen, seine Erinnerungen zurückzubringen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte er sich um und fischte sein Handy aus der Hosentasche. Mit emsigen Fingern tippte er eine Nachricht in die Tasten und schickte sie mit einem leichten Schmunzeln an Cyan. Meine Mom hat doch noch nachgegeben, das mit morgen steht. Und jetzt hab ich dir geschrieben, Aufmerksamkeitsmangel überwunden? ;), hatte er hastig geschrieben und letzteres brachte wieder ein wenig seiner guten Stimmung zurück. Langsam schritt Cedric ein wenig in dem tropischen Gewächshaus herum und besah sich die grünen Ungetüme an Palmen, die ihm im Moment gar nicht mehr so bedrohlich vorkamen. Er konnte sich sogar ein wenig mit ihrer exotischen Schönheit anfreunden. Nur einige Sekunden hatte es gedauert bis Cyan auf die Mitteilung geantwortet hatte. Wahrscheinlich war er ohnehin dabei gewesen, etlichen Mädchen den Hof zu machen und hatte seine SMS so recht schnell zu sehen bekommen. Super! Aber klar doch, Cedi-Boy. Wenn ich weiß, dass du morgen den ganzen Tag bei mir bist, dann bringt das mein kleines Herz zum Rasen , las Cedric, blinzelte einen Moment darauf sofort irritiert. Von einem Moment auf den anderen kam es ihm noch heißer in der kleinen Halle vor und er wäre am liebsten hinaus an die kalte Herbstluft gelaufen, um nicht, ähnlich wie Betsy, beinahe dem Erstickungstod zu erliegen. Allerdings wusste er, dass sich die Hitze, die er verspürte nicht auf seine Lungen bezog, sondern vielmehr auf seine nunmehr rosigen Wangen. Der ist sowas von bescheuert…! Grummelnd schob Cedric eine Hand in die Hosentasche, warf einen prüfenden Blick zu seiner Mutter, die wieder in ein angeregtes Gespräch mit der alten Betsy vertieft war. Seine Gedanken kreisten allerdings immer noch um die SMS von Cyan, die ihn wieder aus unerfindlichen Gründen aus der Bahn geworfen hatte. Nervös biss sich Cedric auf die Unterlippe und las sie noch einmal, nur um erneut einer Hitzewelle ausgesetzt zu werden. Hoffentlich bekommst du ‘nen Herzinfarkt. Wir sehen uns morgen, Vollhonk, schrieb er immer noch etwas unruhig zurück und stellte peinlich berührt fest, dass er mit seiner rüden Antwort schon wieder gezeigt hatte, wie anfällig er für Bemerkungen dieser Art war. Und das, obwohl er Cyan nicht einmal gegenüberstand. Man, ich muss echt mal mit sowas klarkommen. Ich meine… es ist nur irgendeine doofe Bemerkung, die Cyan macht, um mich zu ärgern. Wie wenn er mir sagen würde, dass ich in Mathe ‘ne Niete bin oder so. Ich brauch nicht immer so auszuflippen, nur wenn es in… eine intimere Richtung geht. Cedric legte die Stirn in Falten und scharrte leicht mit dem Fuß auf dem kahlen Betonboden herum. Intim? Das Wort passt jetzt nicht so wirklich… Anzüglich, ja, das ist es. Boha, ich komm einfach mit diesem Thema nicht klar! Was soll ich da schon gegen machen?! Cedric seufzte laut. Es war zum Verzweifeln. Wenn allein schon banale Berührungen für ihn eine Herausforderung waren, die er nicht überwinden konnte, wie sollte er sich dann dagegen wehren, wenn eine Person an ihm klebte, wie Cyan es heute in der Mittagspause getan hatte? Noch nie war jemand so eng bei ihm gewesen, eine feste Umarmung von Seth oder auch einem anderen seiner Freunde, das war so ziemlich das Nahste gewesen, das er je über sich hatte ergehen lassen müssen. Und Cyan’s Art in letzter Zeit war eindeutig ein Kampf, der ihm Sorgen bereitete. Ich muss ihm unbedingt sagen, dass er damit aufhören soll. Definitiv. Sonst sterbe ich noch. Cedric’s Hang zur Übertreibung war nach wie vor lebendig und hatte auch nicht vor sich zu verabschieden. Allerdings erregte das leichte Vibrieren seines Handys erneut seine Aufmerksamkeit, was ihn sofort den Blick auf das Display richten ließ. Aw, wie böse, Cedi-Boy ;) Aber ehrlich: Ich freu mich. Bis morgen , stand dort und Cedric konnte nicht anders als schmunzeln. Der Tag neigte sich bereits seinem Ende zu und ließ die Sonne als flüssiges Rot durch die großen Glasfenster in den Raum schwappen, um ihn in eine samtene Wärme zu tränken. Umgeben von Grün, das Feuer gefangen hatte, blickte Cedric seelenruhig auf die Buchstaben, alles andere ausgeblendet, als würde es schlicht nicht existieren. Das Herz musste ja wieder sein… Aber… Er freute sich auch darauf mit Cyan den Tag zu verbringen, hatte seinen Wunsch verteidigt. Den Wunsch wieder mehr mit Cyan zu unternehmen. Den Wunsch es wieder wie früher werden zu lassen. Den Wunsch alte Erinnerungen zurückzubringen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)