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Verzeih mir, mein Bruder...

Aber ich bin gefallen.
von

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Verstehen.

Es war Abend.

Draußen war alles dunkel und leise hörte man den Wind in den Blättern flüstern.

Gilbert seufzte. Der Albino lag gelangweilt auf dem Rücken in seinem großen Bett. Die Stereoanlage neben ihm brüllte laut und er fragte sich, wann sich der Erste beschweren würde, obwohl es ihm eigentlich egal war. Denn ändern würde er daran sicher nichts.

Leise sang Gilbert mit, obwohl er den Text kaum kannte. Um was ging es in dem Lied?
 

But if I die, please

I want you to survive.
 

Von unten hörte er einige schreiende Stimmen. Eine gehörte Ludwig, das erkannte er sofort.

Doch die anderen… Feliciano? Vash? Roderich?

Hm. Er konnte sie einfach nicht zuordnen, und ehrlich gesagt wollte er das auch gar nicht. Hauptsache sie waren endlich weg und er hatte seinen kleinen Bruder für sich allein. Wenigstens er erinnerte sich noch daran, welche Geschichte er besaß.

Langsam streckte er seinen Arm aus und schlug auf die Anlage. Die Musik wurde leiser, er hatte also getroffen, was der junge Mann treffen wollte.

„Haaaach…“, Gilbert erhob sich, „Dann gehen wir mal los, nä?“ murmelte er und streichelte sanft das gelbe Vögelchen auf seinem Kissen. Dieses piepste nur, flog einige Male um seinen Kopf und machte es sich dann in dessen kurzen, weißen Haare gemütlich.

„Hm?“, neugierig streckte er seinen Kopf aus dem Fenster. Der Besuch war gegangen, nur noch Roderich war zu sehen. Sofort hellte sich seine Laune sichtlich auf und er hastete zur Treppe.

„West!?“, rief der Albino leise durch seine Etage und wartete kurz. Aber allem Anschein war sein Bruder noch unten im Wohnzimmer.

Kurz überlegte Gilbert, dann rannte er auch schon die lange, dunkle Treppe runter.

Unten angekommen blieb er kurz stehen und holte tief Luft, dann ging er langsam auf die Tür des Wohnzimmers zu. Im ganzen Haus war es dunkel, er erkannte nicht viel und orientierte sich an dem schmalen Lichtstreifen, der unter der Tür durchfiel und leicht die gegenüberliegende Wand beschien.

„Nein…Lu- ahh~…“

Der Silberhaarige stockte. Gehörte diese gedämpfte Stimme nicht Feliciano?

Langsam spürte er die Eifersucht in sich hochkriechen. Er wollte Ludwig nicht teilen müssen.

Doch dann umflatterte sein Vögelchen einige Male seinen Kopf und flog schließlich zur Tür, wo es sich auf die Klinke setzte. Der Preuße musste gegen seinen Willen lächeln. „Stimmt, mein Kleiner. Ich sollte hier nicht einfach rumstehen…“

Vorsichtig und bemüht leise zu sein, setzte er einen Fuß vor den Anderen, bis er schließlich vor der Tür stand.

Gilbert schluckte noch einmal, klopfte dann kurz und hielt wieder inne. In seinem eigenen Haus anzuklopfen… Wie irrational.

Die Geräusche im Zimmer verstummten und er vernahm ein verwirrtes „Huh?“ von seinem Bruder. In diesem Moment hätte es ihn nicht verwundert, wenn er vergessen worden wäre. Der junge Albino biss sich auf seine Unterlippe, verkrampfte die Hand zu einer Faust und kniff die blutroten Augen zusammen. Er durfte jetzt bloß nicht schwach werden.

„…Wer ist da!?“, rief Deutschland verwirrt und gleichzeitig bedrohlich.

Gespielt fröhlich riss Preußen die Tür auf.

„Heey, West! Erinnerst du dich nichma‘ mehr an deinen awesome-großen Bruder!?“, grinsend lehnte er im Türrahmen.

Ja. Ein guter Schauspieler war er schon immer gewesen.
 

Dort, auf Ludwigs Schoß, mit offenem Hemd und verwühlten, unordentlichen Haaren, saß Italien. Am liebsten wäre Gilbert sofort wieder weggerannt, obwohl das so gar nicht seine Art war.

„Ach…Gilbert. Du bist es nur…Was machst du denn hier?“ –Ich war einsam, du Idiot.

„Ähm, ich wohne hier!?“

„Ja, mir schon klar. Ich dachte, du wärst nicht da.“, erwiderte sein blonder Bruder ausdruckslos und legte seinen Kopf auf Felicianos Schulter ab. Jener sah allerdings nur verängstigt in Preußens Richtung.

Er dachte, ich wäre nicht da? …Kann man mich so leicht übersehen?

Im Kopf schon einige Mordtheorien durchgehend, beobachtete der Ältere Ludwig mit leerem und traurigem Blick. Ihm war zum Heulen zumute, Durfte er denn kein Glück haben?

Zuerst fiel er als Nation.

Dann wurde er von Deutschland getrennt.

Und nun hatte selbst sein Bruder keine Zeit mehr für ihn.

Die Anderen sahen ihn auch immer nur abschätzig an.

Und mittlerweile geriet er in Vergessenheit. Niemand erinnerte sich mehr an seine glorreiche Zeit.

Warum nur…?

„-der? GILBERT!“

„Preußen-san?“, meldete sich nun auch der kleine Italiener zu Wort. Sie rissen den silberhaarigen aus seinen Gedanken und erschrocken bemerkte dieser, das etwas Warmes, Nasses seine Wangen hinunterlief.

Ja. Sie bestätigten ihm nur seine Vermutung nicht mehr wichtig, nicht mehr am Leben zu sein.

So stand Gilbert erst einmal eine Minute dort, bis er realisierte, was dies bedeutete.

„Ähm.. Also, ja… A-also, ich glaube, ich…ich störe.“, brachte Gilbert stotternd, mit zittriger Stimme hervor, drehte sich um und rannte ohne nachzudenken aus dem Haus, direkt in den Regen hinein. Das hastige „Warte! Gilbert, bleib hier!“ hörte er schon gar nicht mehr.
 

Erschöpft ließ der Preuße sich in einer Seitengasse auf den Boden fallen.

Er wusste weder, wie lange er gerannt war, oder wo er sich jetzt befand. Es wehte ein kühler Wind, sein Vogel war auch nicht mehr da.

Leer blickte Gilbert sein linkes Bein an. An irgendeiner Ecke musste er hängen geblieben sein, denn die schwarze Jeans war vom Oberschenkel bis zu dem Knie aufgerissen und langsam sickerte rote Flüssigkeit hinaus, auf die kalten Steine. Den Schmerz spürte er allerdings nicht und so hob er den Kopf gen Himmel und kümmerte sich nicht weiter darum. Seinen Körper zierten so viele Narben, da machte eine mehr oder weniger auch nichts aus.

„Regen. Wie passend…“, flüsterte er leise und brach in Tränen aus, die keiner sah.

„Pru-chan?“

Gilbert sah auf. War er eingenickt?

Um sein Bein herum hatte sich bereits eine kleine, rote Lache gebildet, die von dem Regen weggespült wurde, sodass es fast nach einem Massaker aussah.

„Fuhuhu… Bist du eingeschlafen? Wie untypisch für dich~“

„Ach, halts Maul. Ich bin jetzt nicht in der richtigen Stimmung, Russland.“ Gilbert hatte Kopfschmerzen. Genau genommen, wollte er nur noch nach Hause, bis ihm einfiel, dass er dort nicht hin konnte.

„Ich wollte dir eigentlich nur einen Schirm geben…Es regnet noch immer, weißt du?“

Wieder dieses verhasste Lächeln. Vielleicht sollte er mal einen Krieg anfangen, dachte er sich. Doch dann bemerkte er, dass er das ja gar nicht mehr machen konnte.

Ohne Truppen…Ohne Land…Ohne Stolz.

Vollkommen durchnässt sprang der junge Albino auf und zuckte kurz zusammen. Einige Tropfen fielen auf sein strohblondes Gegenüber und violette Augen sahen ihn verärgert und gleichzeitig verwundert an.

„Wo gehöre ich überhaupt hin!?“, mehr als ein heiseres Flüstern drang nicht aus Gilberts Mund.

„Hmm…Gute Frage, kleines Pru-chan. Zu Deutschland wohl nicht. Zum kleinen Polen auch nicht. Zu mir auch nicht mehr… Wäre es denn nicht einfach besser, wenn du verschwinden würdest? ~“

Ivan grinste. Er hatte den jungen Preußen noch nie so hilflos gesehen. Selbst als er einmal am Ende war, von seinem Bruder getrennt wurde und alles verloren hatte, selbst da versuchte er seinen Stolz aufrecht zu erhalten.

Diese Schwäche auszunutzen genoss der großgewachsene Russe deswegen umso mehr.

„Verschwinden…?“ Gilberts rote Augen durchbohrten ihn unsicher und vollkommen durcheinander machte sein Gegenüber einen Schritt zurück, stieß gegen eine Mauer und wirbelte herum. Fast als erwartete er dort einen Feind vor sich. Er hob die Arme und strich ungläubig über den kalten Stein.

Die schmalen Schultern zitterten leicht, die Hände verkrampften sich und langsam sackte die einst so stolze Nation in sich zusammen.

„Verschwinden…“, wiederholte er ungläubig, mit gebrochener Stimme.

„Yep~“

„…Wieso!?“, leise redete der Albino mit der Wand. „Ich existiere doch noch… Oder?“

„Existieren? Wo ist dein stolzer Adler abgeblieben? Wo sind deine Leute hin? Wo ist dein Gebiet? Sag es mir, kleines Preußen.“

Mit großen Schritten überbrückte Russland die letzten Meter Abstand zwischen ihnen, bis er hinter ihm stand und vernahm wie er leise schluchzte.

Dann kniete er sich vorsichtig hinter den Albino und legte schützend die Arme um ihn.

„Du weißt es nicht, nicht wahr?“, sagte Ivan leise.
 

Es klingelte. Sofort sprang Deutschland auf, stolperte, rannte zur Tür und riss sie auf.

Dann erstarrte er. Sprachlos starrte er zuerst in Russlands lächelndes Gesicht und dann auf das zusammengekauerte Bündel in seinen Armen.

„Wa…“, mehr brachte er nicht raus.

„Ich habe deinen Bruder in einer Seitengasse aufgelesen. Und da ich sowieso in der Gegend war, dachte ich mir, dass ich ihn zurück bringe~“

Er grinste breit, hielt Ludwig seinen nassen, schlafenden Bruder hin und wartete.

„Nyaaa, ich geh dann mal wieder~“, er ging einige Schritte zurück, drehte sich dann noch einmal dämonisch grinsend um und meinte: „Achja. Ich an deiner Stelle würde gut auf ihn aufpassen.“
 

Ludwig schloss leise die Tür, blieb dann allerdings noch ratlos stehen und sah seinen Bruder an. Wie leicht er doch war.

„Feliciano! Ich bräuchte die Couch. Machst du sie bitte frei?“, rief der Deutsche ins Wohnzimmer, ging selber aber durch den langen, kalten Flur ins Bad. Wie alles andere auch in diesem Haus war es hier sehr sauber, nur in den Ecken lag heimlich Staub. Vorsichtig bewegte Ludwig sich eher schleichend über die Holzdielen, er wollte seinen Bruder nicht wecken.

Dieser gab jedoch erst ein undefinierbares Geräusch von sich, kuschelte sich an seinen jüngeren Bruder und krallte sich schmerzhaft, mit der linken Hand in das schwarze Shirt des großgewachsenen Deutschen.

Es stockte ihm der Atem, sosehr dass er für einen kurzen Moment fast den Halt und Gilbert aus seinen Armen verlor. Erschrocken blieb er stehen.

Er sah ihn an, wohl wissend, dass er die geheimste Wahrheit über sich selbst in den Händen trug.
 

„Bruder?“, fragte er vorsichtig und strich ihm die verschwitzten, weißen Haare aus der Stirn.

Ganz vorsichtig drückte er ihn näher an sich und strich mit den Fingern drüber. Wie er dort in Ludwigs Armen lag, wirkte er so leicht zerbrechlich.

Erschrocken drehte Gilbert den Kopf. Er starrte ihn an - und für den Bruchteil einer Sekunde schien es, als sei da eine Regung in seinen Augen.

Ein Schimmern von Entsetzen.

Ein Schimmern von Angst.

Eine kurze Zeit beobachteten sie sich gegenseitig.

Der Albino sah seinen jüngeren Bruder an wie eine verletzte Katze, die jederzeit dazu bereit war, zu flüchten, oder sich zu verteidigen.

„Lass mich bitte runter…Deutschland.“

Perplex kam dieser der Bitte nach, wohl bedacht, sein Bein nirgends anstoßen zu lassen.

„Was sollte das?“, kam auch sogleich die etwas gereizte Frage des weißhaarigen.

„Bruder… Ich wollte dir helfen…Was war überhaupt los!?“, besorgt durchbohrte er sein Gegenüber mit den hellen, blauen Augen, nur um leicht verzweifelt feststellen zu müssen, dass Gilbert einige weitere Schritte zurück wich.

Erst sah der Preuße mit geschlossenen Augen auf den dunklen Holzboden, bis er sich wieder fing und mit gewohntem Grinsen den Jüngeren anstrahlte.

„Mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung, Lud~“

„Aber…“

„Kein Aber!“, grinsend beugte er sich ein wenig nach vorne, sein Bein entlastend.

Ja, so kannte man ihn. Und trotzdem konnte Ludwig einfach nicht diesen leeren Schimmer in den roten Augen seines Bruders ignorieren, die doch eigentlich fröhlich zu ihm hinüber blitzen sollten.

Irgendetwas fehlte.

Und das schon lange Zeit.

Der Blonde hob den Arm, streckte die Hand aus, wollte Gilbert trösten – obwohl er nicht wusste, warum. Doch zu seinem Entsetzen musste er feststellen, dass dieser, immer noch mit dem gleichen Ausdruck, weiter zurück wich.

„Naja. Ich geh mal schlafen, bin müde.“, fast beiläufig schielten seine roten Augen über Ludwigs Schultern, denn er entdeckte dort den kleinen braunhaarigen Italiener.
 

Hastig stolperte er daraufhin zwei Schritte nach vorn, fing sich an der Wand ab und keuchte leise. Doch als sein kleiner Bruder ihn stützen wollte, sahen ihn rote Augen wütend an und er riss sich los.

„Ich brauche keine Hilfe.“, fauchte er, fügte dann aber noch leise hinzu „Nicht von jemandem, dem ich egal geworden bin.“

Damit verschwand er so lautlos wie immer in sein oberes Stockwerk.

Zurück blieb ein völlig verstörter Ludwig, der sich mit der Hand durch die hellen, blonden Haare wühlte.

Was war nur geschehen, was er nicht mitbekommen hatte? Welches Detail hatte er übersehen!?

Hinter ihm ertönten leise Trippelschritte und zaghaft legte ihm Feliciano eine Hand auf den Rücken.

„Feliciano…?“, er sprach mit leiser, zittriger Stimme.

„Hm?“, kam auch gleich die vorsichtige Antwort.

„Er…Hat mich Deutschland genannt.“

Fall.

Eine Woche war seit diesem Vorfall vergangen. Eine Woche, in der die beiden Brüder sich aus dem Weg gingen und Gilbert die Tage in seinem ordentlichen, hellen Zimmer verbrachte. Viele Male hatte sein Bruder versucht mit ihm zu reden, viele Male hatte er abgelehnt. Schließlich hatte er aufgegeben und beschäftigte sich wieder mit seiner Arbeit, bei der er nun keine Hilfe von dem Preußen mehr bekam.
 

Seufzend stand der Silberhaarige von seinem großen Bett, mit dem schwarzen Bezug auf, blieb kurz stehen und öffnete die Rollläden. Gleißend helles Licht drang in das Zimmer und schützend riss sich Gilbert seine Hände vor die Augen. Draußen war es bereits Mittag, einige Kinder spielten auf der großen Straße fangen und rannten dabei immer weiter auf die Überreste der Mauer zu. Aus dieser Höhe sahen sie fast aus wie kleine Ameisen. Eines der Mädchen fiel hin, weinte, doch Preußen wandte sich ab und begutachtete sein Zimmer.

Staubpartikel schwebten im Sonnenlicht langsam durch sein Zimmer, auf dem Weg zum Boden, auf der Erde lagen verteilt seine Kleider, in denen es sich Gilbird gemütlich gemacht hatte und nun darin schlief, der Schrank war offen, der Schreibtisch vermüllt. Seine Stereoanlage war schon lange von dem Nachttisch gefallen und lag nun in den Überresten einer Nudelsuppe. Doch es kümmerte ihn nicht weiter. Mit einem kleinen, fast unmerklichen, Kopfschütteln wollte er zu seinem Schrank gehen, ihn schließen. Nachdem er sich einen Weg durch sein Chaos gebahnt hatte und nach der Tür greifen wollte, bemerkte Gilbert Schritte. Er blickte zu Tür.
 

„Bruder!“, sagte sein Bruder leicht keuchend. Er war aus der Übung, „Kommst du wenigstens einmal nach unten und isst gemeinsam mit mir?“

„Hm. Wenn du möchtest.“, ohne einen Sinn darin zu sehen folgte er Ludwig nach unten. Ging vorbei an dem weißen Piano und dachte an Österreich. Doch der Hass, den er normalerweise spürte, blieb aus. Und mit einem weiteren schmerzlichen Gedanken erinnerte er sich daran, dass er nutzlos geworden war.

„Bruder?“, vorsichtig griff Ludwig nach dessen Arm, mit großer Sorge in seinem Blick, da Gilbert einfach stehen geblieben war.

„Hm?“, emotionslos sah Preußen ihn an, „Achja. Was gibt’s eigentlich zu essen?“

„Ähm… Pfannkuchen.“

„Achso.“, schnell ging der Ältere ins Esszimmer, setzte sich an den großen, gläsernen Tisch und wartete mit gespielter Langeweile darauf, dass der Deutsche ihm das Essen brachte.

„Geht es dir wirklich gut?“, ertönte es aus der Küche und er konnte einige Teller klappern hören.

„Wie oft willst du das noch fragen?“, genervt legte er seinen Kopf auf die Arme und beobachtete durch seine trüben, roten Augen die Umgebung. Einer der Hunde lag zusammengerollt auf dem grauen Teppich, ein anderer ging langsam zu ihm.

„Ich frage dich solange, bis du mir endlich eine gescheite Antwort gibst.“, sagte sein jüngerer Bruder und stellte ihm einen Pfannkuchen vor. Er selber setzte sich gegenüber von dem silberhaarigen Preußen, damit er ihn gut im Blick hatte.

Sie fingen an zu essen. Die Vögel zwitscherten laut, eine leichte Böe kam durch das offene Fenster ins Zimmer und zerzauste Gilberts Haare. Wirr lag ihm sein Pony im Gesicht, doch der einst so eitle Albino störte sich nicht weiter an solch kleinen Details. Wann hatte er damit aufgehört? Vor einer Woche? Vor einigen Monaten? Er wusste es nichtmehr.

„Also?“, Ludwig sah ihn prüfend an.

„Es ist alles in Ordnung, jetzt glaub mir doch endlich.“

„Nein, das tue ich nicht!“

Gilbert seufzte, „Es ist alles in Ordnung, wirklich!“, er grinste. Er sollte nicht grinsen.

„Wenn du das meinst…“, schließlich gab Ludwig nach. Er wusste, dass es keinen Zweck hatte, seinen Bruder zum Reden zwingen zu wollen.

„Ich geh dann mal ein wenig putzen.“, der Albino stand auf, brachte seinen Teller weg.

„Soll ich dir helfen?“

„Nein, danke. Ich schaff das schon.“
 

Waren es schon immer so viele Treppen gewesen? Langsam zählte er in seinem Kopf mit. 69, 70…71… Kurz stoppte Gilbert, kniete sich hin und begutachtete einen Kratzer im Holz. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie dieser hinein kam und kurz musste er lächeln.

Schließlich stand er wieder auf, ging weiter, auf seine Etage zu.

Ich werde alt.

Preußen öffnete die Tür, hörte das bekannte Knarzen und betrat seine Unordnung. Missmutig sah er sich um, schloss die Tür wieder und begann schließlich aufzuräumen.
 

„So. Das muss langen.“, leise murmelnd trat er an die Wand und betrachtete sein Zimmer. Einige Stunden waren bisher vergangen, die Sonne ging bereits wieder unter und mit ihrem sterbenden Licht beschien sie diese Welt. Mit einem schwachen Lächeln sah sich Gilbert um, es glänzte schon fast vor Sauberkeit. Bis, sein Lächeln erlosch wie eine Kerze im Wind, dieser Schrank.

Dieser eine Schrank. In dem so viele Erinnerungen lagen… Schlechte, wie auch Gute, seine Kindheit, Ludwigs Kindheit und noch so viele andere Dinge.

Mit leisen, trippelnden Schritten ging er zögernd auf ihn zu, streckte den Arm aus, nur um ihn wieder zurück zu ziehen, als wäre der Schrank giftig.

Nach kurzem Zögern stellte er sich dann allerdings doch davor, öffnete ihn ganz und betrachtete den verstaubten Inhalt dieses verdammten Schrankes.

Seine Uniform hing dort, die Uniform mit der er so viel erreicht hatte. Dort hing sie, das blau ein wenig verblasst, der Hut verstaubt.

Mit einem traurigen Lächeln griff er danach, zog sie aus dem Schrank, klopfte den Stoff glatt und fing an zu Husten. Nachdem sich sein Hals wieder beruhigt hatte, betrachtete er ehrfürchtig die Uniform und spürte wie er ein wenig fröhlicher wurde. Ohne groß nachzudenken lief Gilbert zurück zu seinem Bett, schmiss die Kleidung darauf und zog sich aus.
 

„Ja. Ich bin Preußen.“, ehrfürchtig stand Gilbert vor dem großen Spiegel in Ludwigs Zimmer, den Säbel angelegt, den Hut auf dem Kopf. Dass ihm die Uniform nichtmehr so gut passte wie damals, ignorierte er. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht ging er in voller Größe zurück in seine Etage und bemerkte wohlwollend, dass die Absätze seiner Stiefel leise auf den Holzdielen klackerten.

Von unten her hörte er leise den Fernseher. Allem Anschein nach gönnte sich der Deutsche auch mal eine kleine Pause.

Der Albino lief mit großen Schritten und wohl bedacht nicht auf seinen blutroten, wehenden Umhang zu treten, in sein Schlafzimmer zurück, zurück zu dem Schrank.

Als er wieder davor stand, bereute er es fast wieder, denn das, was dort noch war, war alles andere als angenehm.

In der linken Ecke, ein wenig verdeckt von jener schwarzen Uniform, der Mantel mit etwas Blut verspritzt, entdeckte Gilbert eine Schachtel Zyankalikapseln, direkt neben einer weiteren, größeren Schachtel mit Waffen.

In diese Schachtel griff er nun, holte seine einst so geliebte MP 40. Hasserfüllt wog er sie in seiner linken Hand, wischte einen Spritzer Blut vom Lauf des Gewehres und stellte fest, dass sie noch geladen war. Achtlos warf der Preuße die Waffe auf sein Bett und schreckte damit Gilbird auf, der es sich anschließend auf seinem Hut bequem machte.

Gerade als er dabei war, einige andere Waffen zu inspizieren, klopfte es an der Tür und sein kleiner Bruder betrat das Zimmer.

„Ah, du kommst genau richtig.“, flüsterte der Albino und beobachtete wie Ludwig alle Farbe aus dem Gesicht wich und er ihn mit leicht geöffnetem Mund anstarrte.
 

Mit federnden Schritten schlenderte Gilbert durch das große Zimmer, direkt auf den Balkon zu.

„B-Bruder…Gilbert! W-Was hast du vo-!?“ – „Psst. Leise.“, der Ältere öffnete die Tür und ging mit erhobenem Kopf hinaus. Es war noch ziemlich warm, der Wind wehte sanft und einige Straßen entfernt feierte eine Gruppe irgendetwas. Der Lärm drang bis zu seinen Ohren vor.

Er setzte sich vor den tiefen Abgrund, ließ seine Beine baumeln, so wie immer. Und doch beobachtete ihn Ludwig mit einer Mischung aus Angst, Verzweiflung und Unverständnis.

„Hey, West. Erinnerst du dich noch an den Februar 1947?“, seine Stimme klang kratzig, müde.

Sofort horchte der Deutsche auf, „Ja… Daran erinnere ich mich.“, er sah zu Boden, es war ihm unangenehm darüber zu reden.

„Weißt du…Ich fragte mich immer, weshalb ich noch hier bin. Ich mein, ich bin awesome. Aber sonst?“, der Preuße streckte die Hand gen Himmel, versuchte ein Blatt zu fangen.

„Und weißt du…“

„Hm?“

„Ich glaube, dass ich es mittlerweile weiß, warum sie mich am Leben gelassen haben, obwohl ich es eigentlich nicht verdient hätte.“

„Sag nicht, dass du es nicht verdient hast. Was hätte ich denn nur ohne dich machen sollen!?“

„Du hast Feliciano, also sei ruhig.“, ernst sah er seinem Bruder in die Augen.

Wie ein kleines Kind, er schmunzelte.

„Alfred existiert, Roderich existiert, Francis existiert, Antonio existiert, Du existierst… Und was ist mit mir?“, traurig stand der Albino auf, drehte sich von dem Abgrund weg und betrachtete sein Gegenüber mit seinen trüben, roten Augen, die einst so stolz auf ihre Feinde blickten.

„Ich bin gefallen.“, fuhr Gilbert flüsternd fort, „Und ich bin mir sicher, dass die Alliierten mich nur aus einem Grund leben gelassen haben.“

„Und…Der wäre?“

„Egal, wie schlecht es einem von euch geht. Niemandem wird es so schlecht gehen wie mir. Ihr könnt immer denken ‚Tja. Dumm gelaufen, hab ich halt mal keine gute Zeit. Aber Gilbert, ja dem geht’s ja sowieso immer schlechter als mir. ‘“, ein ironisches Lachen erklang.

„Da liegst du falsch, Bruder.“

„Ach, tue ich das? Dann beweise es mir mal.“

Schweigen.

Klar, das konnte selbst sein kleiner Bruder nicht.

„West. Gehe mal raus, auf die Straße, frage mal einige Leute nach dem stolzen, freien Schwarzen Adler.

Frag nach dem Königreich Preußen.

Frag nach dem alten Fritz.

Und überzeuge dich selber. Fast keiner wird dir antworten können. Vielleicht hörst du ein ‚Was soll das sein? ‘ oder ein ‚Kann man das essen?‘“, Tränen standen ihm in den Augen, vermischten sich in dem Licht der untergehenden Sonne mit der Farbe seiner Augen und sahen fast aus wie Blutstropfen.

Verstohlen lief eine über Gilberts Wange, lief zu seinem Hals und wurde gierig von dem Stoff seines Hemdes aufgesogen.

Ludwig stand nur da. Unfähig etwas zu sagen, starrte er den Preußen an, der leer und traurig vor sich hin grinste.

„Niemand wird mich vermissen. Niemand braucht mich. Niemand wird mich mehr brauchen. Meine Zeit ist vorbei, Deutschland. Deine Zeit ist gekommen, vergiss mich nicht, ja? Vergiss nicht, wer dich zu dem gemacht hat, der du heute bist.“

Der Wind wurde stärker, zerzauste liebevoll die Haare der beiden Brüder.

„Aber, Gilbert! Du wirst doch noch gebraucht…Deine Freunde brauchen dich! Ich brauche dich!“

„Freunde?“, der Albino schnaubte verächtlich. „Wen meinst du? Roderich? Elizabeta?“

„Auch.“

Wieder ein kleines, müdes Lachen, „Gib auf, West.“

„Ich bin ein Soldat.“, trotzig sah ihn Ludwig an.

„Nein. Ich bin ein Soldat.“

„…Was hast du gesagt?“

„Deutschland. Du bist ein Reich.“

Lächelnd trat Preußen einen Schritt zurück, ließ sich in die wohlwollende Dunkelheit fallen, beobachtete wie sein Bruder, der eben noch vor Schreck gelähmt war, zu dem Rand hastete, die Hand nach ihm ausstreckte und ihm mit Tränen in den Augen nachrief.
 


 

„Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört.
 

Er ließ sich fallen, versuchte die Gedanken auszublenden, sah Gilbird nach, der zurück nach oben flog.
 

Geleitet von dem Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit der Völker und erfüllt von dem Wunsche,
 

Tränen verschleierten seine Sicht, sein Bruder wurde zu einer verschwommenen Silhouette, deren Worte er schon lange nicht mehr verstand.
 

die weitere Wiederherstellung des politischen Lebens in Deutschland auf demokratischer Grundlage zu sichern,


 

Der Boden kam näher, er drückte das Eiserne Kreuz fest an seine Brust.
 

erlässt der Kontrollrat das folgende Gesetz:


 

„Suum quique, West.“, murmelte Gilbert leise.
 

Der Staat Preußen, seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden werden hiermit aufgelöst.“


 

Ein leises, letztes Schluchzen entkam seiner Kehle.
 


 

Er war Preußen gewesen.

Staub.

„Weißt du, was für ein Tag heute ist?“, fragte der große Deutsche das kleine Vögelchen auf seiner rechten Schulter. Er ging einen langen friedlichen Weg entlang, der zu dem Grab seines Bruders führte. Viele Bäume zierten den Rand und einige Katzen wälzten sich glücklich im Licht der Januarsonne auf dem etwas feuchten Gras. Es war ein kühler Morgen, langsam fing es an zu regnen.

Nachdem er einige Minuten stur weitergelaufen war, erreichte Ludwig schließlich sein Ziel.
 

Unschlüssig stand er davor, wusste nicht, was er tun sollte.

„Heute ist Gilberts Geburtstag.“, flüsterte er mit leiser, brüchiger Stimme.

Der weiße Stein war vollgestellt mit den verschiedensten Dingen. Weiße und rote Rosen, Sonnenblumen, seiner Lieblingsschokolade und sogar eine Silberkette mit einem schwarzen Flügel hing direkt neben Gilberts verkratztem Kreuz.

Bei dem Gedanken an die gemeinsame Zeit, an die Zeit, die noch hätte kommen können, sank der Blonde auf die Knie. Warme Tränen rannen über sein Gesicht und er vergrub es in den Händen.

Verstohlen bildeten sich weiße Wolken vor seinem Mund und Ludwig biss sich auf die Unterlippe um nicht laut loszuschreien. Er machte sich Vorwürfe. Solche Vorwürfe…

„Oh, Bruder. Du warst solch ein hoffnungsloser Idiot, zu glauben, dass du unbedeutend geworden warst.“, mit geröteten Augen sah der Blonde auf, sah auf das Grab seines Bruders. Er spürte seine Hände nichtmehr, also entschloss er sich aufzustehen.

Kurz salutierte der Deutsche, dann drehte er sich um und ging zurück.
 

„Wir vermissen dich…“, murmelte er, „Wir vermissen dich alle.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  HiKao
2013-03-30T20:57:07+00:00 30.03.2013 21:57
Guten Abend~

Ich...Ich weiß überhaupt nicht was ich schreiben soll...
Mir fehlen die Worte...
Das war so wundervoll geschrieben, dass ich echt angefangen habe zu weinen...
Gilbert, wir lieben dich doch T^T
Es war so verdammt wunderschön und dennoch todtraurig...
Wie schon gesagt; Mir fehlen die Worte.

Danke für diese wunderbare FanFiktion. Danke...

gggggglg
HiKao
Von: abgemeldet
2011-07-06T15:27:01+00:00 06.07.2011 17:27
Ja, Gil, du Idiot, wie lieben dich doch alle! :(
So traurig... mir sind echt die Tränen gekommen...
Von: abgemeldet
2011-06-07T13:57:12+00:00 07.06.2011 15:57
Ok ich hab so geheult und mich dannach so traurog gefühlt, als ich das gelesen habe. Alleine schon der satz: "Er hat mich deutschland genannt"
Hat mich schockiert. die geschichte ist der Hammer... und
so traurig. Q__Q

Aber wir lieben alle Gilbert oder??? ^^


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