Ruby Road von Ling-Chang (Legacy of the Vampire) ================================================================================ Kapitel 3: Friday's consequences -------------------------------- Mein restliches Wochenende verbrachte ich damit, Jacks Anrufe auf meinem Handy wegzudrücken – oder es einfach gleich auszuschalten –, Hausaufgaben für die nächste Woche zu machen und in den Magazinen zu blättern, die mit der Samstagspost gekommen waren. Meine Schwester hatte uns schon wieder einen Haufen Mode- und Make-Up-Zeitschriften geschickt, in denen bestimmte Seiten mit Post-It-Streifen markiert waren. Wie jedes Mädchen interessierte ich mich sehr für die kommende Mode und war Sapphire mehr als nur dankbar, dass sie mir regelmäßig Prophezeiungen schickte und erläuterte, sodass ich die Styles leicht nachmachen konnte. Am Sonntag sah ich meine Mom, kurz bevor sie wieder zu ihrem Hostessen-Job in einem vier Sterne Hotel irgendwo außerhalb Emerald Hills abdüste. Das war okay für mich, schließlich sorgte sie für unser Überleben, denn Leben war es nicht wirklich. Erst Sonntagmittag trennte ich mich von dem Gedanken, den ganzen Tag allein herumzuhängen. Shine kam vorbei. „Du kommst genau richtig, Shine“, begrüßte ich sie und ihr Lächeln wurde breiter. „Hi, Chica! What’s up?“ „Nicht viel, den Großteil weißt du ja schon“, erwiderte ich lediglich und ihr Grinsen verschwand. Wir suchten uns Kissen und Decken zusammen, kochten uns einen Tee und verfrachteten uns auf mein Bett, wo wir es uns gemütlich machten. Shine runzelte nach einer Weile wieder die Stirn und meinte schließlich: „Das mit Jack war echt scheiße.“ „Ha! Scheiße?! Das war grottig, oberaffen-dämlich, super-mega-mäßig-stimmungskillend!“, steigerte ich ihre Aussage und war zum ersten Mal seit langer Zeit wieder froh, nur mit Shine allein zu sein. Wenn die anderen Mädchen anwesend waren, tendierte ich dazu, mich gewählter und höflicher auszudrücken, was mich meistens erst in eine solche Zwangslage brachte. „Du kannst ihn nicht mehr ausstehen“, stellte meine Freundin fest. Sie war sehr scharfsinnig und galt auch als die klügste unter uns Mädchen in der Clique. Sie band ihre schwarzen Haare stets zu einem Pferdeschwanz zurück, den sie am unteren Ende mit einem Lockenwickler bearbeitete. Ihre dunkelbraunen Augen umrahmte sie mit Kajal und Wimperntusche und machte sich meistens graue Smokey-Eyes. Sie war ebenfalls sehr stilbewusst und die Erste gewesen, die mit mir gesprochen hatte, als ich vor zwei Jahren an die Columbus Junior High School gekommen war. Kurz danach kamen wir auf die Senior und hatten sogar die gleichen Kurse belegt. „Sollte ich?“, fragte ich und trank meinen Tee schluckweise und vorsichtig pustend. Meine Augen wanderten zu Shine und sahen sie herausfordernd an. „Jack ist für viele Mädchen der Traum, Ru! Reich, schön, beliebt. Wer mit ihm zusammen ist, dem liegt die Columbus zu Füßen. Und dieser Junge hat sich total in dich verschossen. Das fand ich irgendwie romantisch, als ich dir riet, mit ihm auszugehen. Aber als du bereits zwei Tage danach nur noch genervt von ihm warst, wusste ich, dass das ein Fehler war. Der Typ ist nichts für dich! Servier ihn doch ab“, schlug sie mir vor und ihre Augen wirkten ehrlich. Ich seufzte. „Shine, das ist alles nicht so einfach! Jasmine wäre so wütend, wenn ich das täte! Sie hat sich so angestrengt, mich mit ihm zusammen zu bringen!“ „Manchmal frage ich mich, ob du wirklich so dumm bist, wie du ab und zu tust.“ „What?“ „Na ja, mach doch nicht immer dein Glück von Jasmine oder Olivia oder Beryl abhängig! Jack tut dir nicht gut, Ru und ich will, dass diese Beziehung aufhört. Ich sehe dich nur noch heulend oder fuchsteufelswild. Das ist nicht sehr gesund“, sagte sie. Ich stimmte ihr innerlich zu, äußerte aber dennoch meine Zweifel: „Shine, wir sind mit den anderen Sieben aber immer eine tolle Clique gewesen. Wenn ich Jack jetzt fallen lasse, dann stimmt doch nichts mehr zwischen uns. Jack ist dann wütend und sein bester Kumpel Samuel auch, Jasmine würde den Kontakt abbrechen und ihren fremdbestimmten Freund zu ähnlichem raten und Beryl und Olivia hängen doch immer an Jazz. Das weißt du besser als ich! Dann bliebe uns beiden nur noch eine Person: Ethan.“ „Ist Ethan so schlimm?“ „Nein, das meine ich nicht. Aber nur zwei Freunde zu haben, wirkt irgendwie uncool“, erwiderte ich. „Aber dafür sind diese Freundschaften dicker als eine Stahlmauer, Darling. Und außerdem … Wen interessiert’s schon, wenn wir manchmal uncool sind“, antwortete Shine. „Die Schule, die Leute in der Stadt … unsere Clique, vielleicht? Ich will keinen Streit.“ „Den wird’s so oder so geben, ob nun morgen oder in einer Woche, wenn du ihn schon wieder nicht rangelassen hast“, meinte Shine und ich wusste, dass sie Recht hatte. Ich wollte aber nicht, dass alles kaputt ging, was ich mir hier aufgebaut hatte. Nachdem ich vor zwei Jahren hier angekommen war, hatte ich zunächst Angst gehabt, wie man auf mich hier reagierte, doch schon ziemlich bald gehörte ich zu den Coolen dazu, nur weil Shine mich angesprochen hatte und herausgekommen war, dass ich die kleine Schwester von einer Top-Designerin war. Endlich hatte ich das Gefühl, wieder normal sein zu dürfen. In Raleigh, North Carolina, hatte ich furchtbar unter meiner berühmten Schwester gelitten, weil sie mich immer übertrumpfte und alle von mir erwarteten, dass ich mindestens mit ihr gleichzog. Doch ich war einfach nicht Sapphire. Ich mochte in der Schule besser sein als sie, inzwischen hatte ich sogar einen besseren Kleidungsstil und mein Make-Up war gekonnter, doch so originell war und voller Talent steckte ich nicht. Aus mir kam kein Designer hervor. „Was mache ich bloß?“, stöhnte ich und versenkte meinen Kopf in meinen Armen. Shine seufzte als Zustimmung und meinte dann, wie um das Thema zu wechseln: „Hast du wenigstens noch irgendwas im TV gesehen. Hinterher, meine ich.“ „Wieso? Ich hab kein TV gesehen“, antwortete ich rein aus Reflex und zuckte selbst zusammen. Du bist so dumm, Ruby! Dumm, hörst du?! Hoffentlich fragt sie nicht! „Was hast du dann gemacht, nachdem der Abend so mies verlaufen ist?“, hakte Shine nach. Ich seufzte und musste zwangsweise nach einer Ausrede suchen. „Um ehrlich zu sein, war ich hinterher noch in meiner Lieblingsbar. Du weißt schon, dem „Heels“. Da hab ich ein paar Cocktails zum Abkühlen getrunken. Ich war ziemlich fertig“, hielt ich mich so nah wie möglich an der Wahrheit fest. Shine kannte mich zu gut. Sie wusste, dass ich etwas ausließ. „Und?“ „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wen ich da getroffen habe!“, rief ich aus und zog sie näher zu mir heran, bevor ich weitersprach: „Oak Tree Senior High School Schüler!” “Nein!”, quiekte sie. „Doch, doch! Ich schwöre!“, kicherte ich und bemerkte das Glitzern in Shines Augen. Okay, sie wollte die Story haben. Die konnte sie haben! „Es waren Neun, so viele wie wir in der Clique sind. Fünf Jungs und vier Mädchen.“ „Diese Snobs gehen in das „Heels“? Was machen die denn dann den ganzen Abend?“, fragte Shine, während sie versuchte, sich diese Leute vorzustellen. Sie runzelte die Stirn, als sie es nicht schaffte. „Sie haben genauso gefeiert wie wir und sogar härtere Mischungen getrunken als ich“, berichtete ich ihr und sie sah mich skeptisch an. „Ehrlich! Whiskey-Cola oder Vodka-Energy ist nichts dagegen! Die Jungs waren Kampftrinker!“ „Snobs trinken Alkohol?!“, wiederholte Shine meine Geschichte ungläubig. Doch ihr schien der Gedanke auch zu gefallen, denn sie meinte plötzlich: „Oh, warum bin ich nicht mitgekommen?! Ich wünschte, ich hätte es gesehen! Glaubst du, die kommen da noch einmal hin?“ „Bestimmt“, stellte ich fest und wand mich innerlich. Von all den Dingen … Jetzt konnte ich nicht einmal mehr in meine Lieblingsbar gehen, weil ich sonst den rattenscharfen Typen wiedersehen müsste. Er war sicherlich richtig wütend. „Waren sie denn wenigstens ansehnlich?“, bohrte Shine nach und ich lachte. „Mehr als das! Einer von ihnen war „rattenscharf“. Heißer als Jack allemal!“ Hoffentlich fasste sie das jetzt nicht falsch auf und interpretierte ein gewisses romantisches Interesse in meine Worte hinein. Doch Shine war zu begeistert, um darauf einzugehen. „Awesome! Brandheiße Boys von der Oak Tree?! Geht es denn noch cooler?! Reich, klug und schön zugleich und das in einem höheren Maß als Jack?! Moment. Warum geht Jack eigentlich auf die Columbus?“ „Soweit ich das weiß, ist er durch die Aufnahmeprüfung der Oak Tree gefallen“, murmelte ich. „Oh, Gott, ernsthaft?! Wie dämlich muss er da bitte sein?! Die ist doch dafür designt, dass reiche, dumme Snobs sie auf jeden Fall bestehen – selbst ohne lernen vorher.“ „I have absolutely no idea, Shine“, erwiderte ich ebenfalls etwas ungläubig und spottend. „Na ja, auch egal. Wo waren wir? Ach ja! Brandheiße Jungs. Also: Wie viele? Wie partysüchtig? Gute Tänzer? Single?“, plauderte Shine weiter und sah mich erwartungsvoll an. Ich grinste und antwortete ganz langsam, um die Spannung zu steigern. Meine Freundin quengelte, weil ich ihr zu langsam war. „Fünf Jungs waren da, vier waren echt heiß und einer brandheiß.“ „Nein! Mir ist was entgangen, verdammt!“ „Gute Tänzer waren sie alle, hatten auch ziemlich viel Spaß beim Feiern und Tanzen … und Trinken. Hart im Nehmen waren sie schon, würde ich sagen“, versuchte ich mich, zu erinnern. „Single? Waren sie Single?“, drängte Shine mich und ich überlegte. „Zwei davon nicht. Innerhalb der Clique hatten sich zwei Paare gebildet, musst du wissen. Aber die drei anderen Jungs schon.“ „COOL!“, rief Shine aus und ergriff meinen Arm, bevor sie mir ins Ohr flüsterte: „Warum sagst du mir das erst jetzt? Wir hätten gestern noch so schön feiern gehen können! Aber heute ist Sonntag und morgen müssen wir wieder zur Schule!“ „Sorry, Kleine“, erwiderte ich eigentlich überhaupt nicht entschuldigend. War ich froh, dass Shine nicht gestern schon vorbei gekommen war! „Gehen wir nächste Woche ins „Heels“? Bitte, bitte, bitte! Ru! Du musst mich ihnen vorstellen!“ „Shine, so lange bist du noch nicht wieder Single, dass du es so nötig hättest, jetzt wieder einen Freund zu haben! Was ist mit Elias?“, versuchte ich von einem Versprechen abzulenken. „Elias, Schmias, Pias. Mir doch egal! Der ist weg vom Fenster. Er wollte mich nicht mehr und ich bin es leid, ihm nachzulaufen. Wer nicht will, der hat schon!“, tat sie ihren Exfreund ab und bevor ich noch weiter vom Thema ablenken konnte, quasselte sie schon weiter. Immer wieder bat sie mich in der nächsten Stunde, während wir uns etwas zu essen machten und uns vor den Fernseher setzten, sie nächstes Wochenende ins „Heels“ zu begleiten – natürlich ohne die Clique. Für sie war das Thema „Jack“ vorbei, in ihren Augen waren wir bereits auseinander. Doch der miese Trennungsteil würde erst kommen und das machte mir am meisten Angst. Er war so gefrustet von acht Monaten Sex-Entzug, dass er mir gut und gerne auch eine reinwürgen könnte. Da war ich mir sicher. Also stritt ich abwesend ab und konzentrierte mich ganz darauf, wie die Trennung meiner Meinung nach ablaufen sollte. Wann, wo, wie? Alles musste geklärt sein, damit es perfekt ablief und nicht ich die Leidtragende war. Meine Clique wollte ich ja nicht auch noch verlieren. Weil ich ihr anscheinend zu beschäftigt wirkte, meinte Shine plötzlich: „Hast du was zu verbergen?“ Von ihrer Direktheit ehrlich überrascht, zog ich die Augenbrauen in die Höhe und sah Shine erstaunt an. Erst dann brachte ich es fertig, ihr zu antworten. Aber mein Zögern ließ sie natürlich stutzig werden. „Nein, wieso fragst du?“ „Na, weil du irgendwie so wirkst. Ich merke das doch! Du hast mir erzählt, du hast den besten Abend hinter dir, hoffst aber nicht, die Oak Tree Leute wieder zu sehen?! Hallo?! Erde an Ruby?!“, empörte sich Shine und ich seufzte. Wusste ich doch, dass ihr das auffiel. „Hör mal, ich will nicht darüber reden, okay?“, startete ich einen neuen Versuch, mein Geheimnis zu wahren. Shine musste ja nicht alles wissen. Doch sie akzeptierte meine Geheimnistuerei dieses Mal nicht. „Wenn es um Jack geht, dann –“ „Es geht nicht um Jack! Der Abend war wirklich super, selbst mit Jacks Aktion!“, rechtfertigte ich mich, doch meine Freundin ließ nicht nach und bohrte weiter. „Also nicht Jack, ja? Was dann?! Hatten die Jungs alle Mundgeruch? Oder haben sie nur über mathematische Formeln geredet?“ „Quatsch!“, entfuhr es mir und ich ärgerte mich gleich wieder. Jetzt hatte ich ihr doch wieder mehr erzählt, als ich wollte. Ich fürchtete, dass ich dieses Mal nicht so leicht davon kommen würde. Also gab ich innerlich bereits auf. Shine würde weiter nachhaken, bis sie wusste, was los war. „Erzähl!“, forderte sie mich auf und ich ergab mich. „Der brandheiße Junge saß die ganze Zeit neben mir.“ „Oha, da bahnt sich was an“, kommentierte sie meinen Satz und ich lächelte schwach. „Wir haben viel getrunken und gelacht, natürlich auch geredet. Und dann sind wir tanzen gegangen.“ „Klingt normal für mich“, sagte Shine und ich nickte. „Bis dahin! Wir tanzten in der Mitte der Fläche, umgeben von einer Menge Leute, es war voll. Das Tanzen machte Spaß und weil es so eng war, tanzten wir ziemlich nah beieinander“, berichtete ich ihr und meine Freundin hielt die Luft an. Sie liebte solche Geschichten, aber sie würde mein Geheimnis bewahren, da war ich mir sicher. „Und? Weiter! Was ist dann passiert?“, erkundigte sie sich drängend. „Wir haben uns in den Armen gelegen und getanzt. Dann haben wir uns geküsst.“ „Super!“, rief sie aus und jubilierte. Doch das Schlimmste kam erst noch, was sie ja nicht wusste. „Es ging heiß her und Samstagmorgen bin ich neben ihm in seinem Bett aufgewacht. Wir waren beide nackt.“ „Scheiße“, flüsterte sie und merkte zum ersten Mal, was ich ihr die ganze Zeit hatte sagen wollen: Ich steckte in der Klemme. Shine nahm die Hand vor den Mund und sah mich an, bevor sie fragte: „Was hast du dann gemacht?“ „Ich hab mich daran erinnert, dass ich den wahrscheinlich besten Sex gehabt hatte, den ich je in meinem Leben haben werde und mich vom Acker gemacht. Ohne dass der Gute etwas bemerkt hat.“ „Du bist abgehauen?!“, empörte sich Shine. Ich nickte. „Was hätte ich denn sonst machen sollen?! Da bleiben und warten, bis er aufwacht, nur um ihm zu sagen, dass ich schon vergeben bin und das alles ein Ausrutscher war? Das hätte ihn sicherlich gekränkt.“ „Du hättest die Affäre durchziehen können!“, schlug sie mir lachend vor. Sie meinte es nicht ernst. Ich lachte trocken und antwortete: „Um dann als zweigleisig fahrende Schlampe bekannt zu werden? Danke, ich verzichte.“ „Auch wieder wahr. Aber scheiße! Der brandheiße Junge mit Niveau und du? Und du hast ihn sitzen lassen? Ich hätte ihm meine Nummer da gelassen und mich umgehend von allen Hindernissen befreit.“ „Du meinst, ich hätte mit Jack Schluss machen müssen …“ „Ja! Du weißt doch jetzt, dass es besseres auf der Welt gibt als Jack, das Arschloch“, meinte sie. „Shine!“ „Sorry“, entschuldigte sie sich für ihren Ausdruck. Doch sofort schlich sich wieder ein Grinsen auf ihr Gesicht. Die Entschuldigung war nicht ernst gemeint gewesen. Doch es störte mich auch nicht. Ich grinste zurück. In dieser Minute fühlte ich mich endlich so, wie man sich fühlen sollte: lebendig. „Hast du ihm wenigstens deine Nummer da gelassen?“ „Nein, was wäre, wenn er mich mit Jack erwischt und sich betrogen fühlt. Ich wollte ihm nicht grausam Hoffnung machen. Ich fühle mich nicht stark genug, um Jack wegzustoßen. Ich habe ziemlich heftig Angst vor dessen Reaktion“, gab ich zu und grinste schwach. Shine sah mich an und meinte: „Ist doch egal. Du hättest ihm ja sagen können, wenn er dich angerufen hätte, dass du nur kurz ein Hindernis aus dem Weg räumen musst und eurer Beziehung danach nichts mehr im Wege steht!“ „Das ist doch nicht so einfach, Shine!“, tadelte ich sie und sie streckte mir die Zunge heraus. Doch ich meinte, was ich sagte: So einfach war das alles nicht, wie Shine das beschrieb. Jack war nicht mein erster Freund, ich musste mich nur an Logan erinnern. Ich war süße dreizehn gewesen, als ich mit dem Nachbarsjungen aus meiner Straße zusammenkam: Logan hatte mich auf seinen Geburtstag eingeladen, ich war gekommen und er hatte mich als seine Freundin vorgestellt. Das war für mich zwar überraschend gewesen, aber ich hatte dennoch akzeptiert. Welches Mädchen wünschte sich nicht, endlich einen Freund zu haben? So konnte ich vor meinen Freundinnen wenigstens behaupten, dass ich bereits einen Freund hatte: Das ließ mich immerhin erwachsen erscheinen. Jungfrauen ohne eine Beziehungserfahrung waren in den Augen der Gesellschaft kindlich oder spätreif. Logan und ich waren sechs Monate zusammen gewesen, an Weihnachten hatte er mir gesagt, dass er ein anderes Mädchen kennengelernt hatte. Das war kurz nachdem das Mobbing angefangen hatte. Ich glaubte ihm bis heute nicht. Mit Jack war ich nach einem guten Jahr an meiner neuen Schule ein Paar geworden. Erst wollte ich ihn ewig nicht akzeptieren, dann ließ ich mich trotzdem überreden. Ein Jahr und vier Monate schwerste Überzeugungsarbeit hatte er da bereits geleistet und eigentlich musste er das immer noch, selbst nach acht Monaten dieser Beziehung. Allein seine feuchten Lippen, die er sich vor jedem Kuss extra noch mal benetzte, stießen mich ab. „Ach, Ru! Lass dich nicht hängen, Chica!“, versuchte Shine mich aufzumuntern. Ich seufzte und konzentrierte mich auf anderweitige Themen. Meistens klappte es wenigstens insoweit, dass ich mich ablenken konnte. Also begann ich ein anderes Gespräch: „Hast du die Hausaufgaben für World History gemacht?“ „Hatten wir da was auf?“, fragte Shine mich überrascht und ich sah die Panik in ihren Augen aufflackern. Mrs. Hawkins tendierte dazu, Shine beim Hausaufgabenvorlesen dranzunehmen und meine Freundin war ein Geschichtsloser. „Ja? Schon vergessen? Diesen Monsteraufsatz von 2 DIN A 4 Seiten über Napoleon Bonapartes Kriege und inwieweit sie sich vorteilhaft auf Frankreich und seine Umländer auswirkten“, wiederholte ich die Aufgabe, die ich bereits am Vortag gemacht hatte, um mich von meiner intimen Erfahrung abzulenken. Dabei hatte ich übrigens einen Bleistift zerstört: Den Schaft hatte ich so zerkaut, dass Holzspäne geflogen waren. „Nein, sag, dass das nicht wahr ist! Alles, bloß nicht Geschichte!“, bettelte Shine und es stimmte. Man konnte ihr sogar irgendwelche hyper-komplizierten Matheaufgaben aus Trigonometrie geben, die sie dann mit Freude schnell löste, aber zwei Seiten lange Geschichtsaufsätze töteten sie fast. Ich klopfte ihr freundschaftlich-mitleidig auf die Schulter und schlug vor: „Ich gebe dir einfach meine Notizen und du schreibst anhand von ihnen deinen Aufsatz. Wie wäre das?“ „Was ist der Haken? Das ist sicherlich eine beidseitige Transaktion“, durchschaute sie meinen Vorschlag und ich kicherte. „Du hilfst mir bei Trig, Darling“, antwortete ich ihr wahrheitsgemäß. Shine grinste, bevor sie mich mit ihrem Ellenbogen anrempelte und zwinkernd behauptete: „Du schaffst doch irgendwie alles alleine. Wenn ich dir nicht helfen würde, würdest du dir selbst helfen. Bist du sicher, dass du meine Hilfe nur in Mathe willst?“ „Es würde zehnmal länger dauern, wenn ich mir das alles selbst beibringen würde, also frage ich dich. Das ist für mich weniger zeitaufwendig und daher profitabler“, erwiderte ich bloß. „Klar helfe ich dir. Du bist in unserer Clique die Einzige, die ihre Schullaufbahn nicht mit einem Schulterzucken abgetan hat! Dir muss ich doch helfen!“ Ich lachte. Shine hatte Recht. In unserer Clique hielten sich nicht die intelligentesten Leute unserer Schule auf, dafür gab es ja schließlich die „Intelligenz-Clique“. Unsere war die coolste aller Vereinigungen, aber wer cool war, der hatte besseres als Schule im Kopf. Shine und ich passten dennoch sehr genau darauf auf, dass wir trotzdem immer Hausaufgaben hatten und für die Tests lernten, anderenfalls hätten wir in der Zukunft kein Gerüst, auf dem wir aufbauen konnten. Woher sollten unsere Jobs sonst kommen? Wir hatten beide nicht genug Geld oder zumindest reiche Verwandte, die uns durch unser Leben füttern würden. Jeder von uns müsste irgendwann eine Arbeit ergreifen und selbst für sich sorgen. Na gut, ich hatte meine berühmte Schwester Sapphire, aber die würde sicherlich nur in einer absoluten Notlage für uns aufkommen. Mom weigerte sich schließlich auch, das Geld ihrer Tochter anzunehmen, warum sollte diese sich dann darum bemühen, welches zu schicken? Also setzten Shine und ich uns auf ein Neues an unsere Hausaufgaben: Sie schrieb unter meiner Anleitung und Hilfe einen recht passablen Geschichtsaufsatz, der sogar länger war als zwei Seiten, was uns beide erstaunte und ich ließ mir einmal eine Aufgabe musterhaft erklären, bevor ich den Bogen heraushatte und selbst den Rest erledigte. Shine hatte somit ebenfalls schon einen Teil ihrer Hausaufgaben gemacht und war hinterher auch ziemlich froh darüber. „Puh, das hat länger gedauert, als ich dachte“, kommentierte sie den inhaltlich fehlerfreien Aufsatz stolz und ich lächelte. „Ich musste ja bloß Trig machen. Das war nicht ganz so schlimm.“ „Bist du schon mit den anderen Fächern durch?“, fragte Shine mich und ich nickte. „Alles schon gestern gemacht.“ „Ernsthaft? Du bist also von einer heißen Nacht nachhause gekommen und hast dann in aller Ruhe Hausaufgaben gemacht? Du bist aber romantisch“, meinte sie ironisch. Ich lachte. „Es muss auch solche Leute wie mich geben!“ „Ich hoffe, dass sie nie in der Überzahl sein werden. Die armen Männer, die dann jeden Morgen alleine aufwachen – alleingelassen nach einer heißen Nacht, von der sie sich eigentlich mehr versprochen hatten“, kicherte Shine und ich zuckte die Schultern. Ich wollte nicht schon wieder über dieses Thema reden. Noch konnte ich es ja vermeiden, meine widersprüchlichen Gedanken zu ordnen und mich der Konfrontation mit Jack zu stellen. „Wie spät ist es?“, murmelte meine Freundin mehr zu sich selbst als zu mir und kramte ihr Handy aus ihrer Hosentasche, anstatt auf meinen Nachttischwecker zu schauen. Sie blickte auf die Anzeige und stöhnte. „Schon nach sechs Uhr! Ich muss nach Hause! Muss heute Abend kellnern. Boah, hab ich kein Bock.“ „Schreib mir eine SMS, wenn du zuhause bist, ja?“ „Entspann dich, mich fällt bestimmt kein Notgeiler an und wenn, verpass ich ihm eine! Du weißt schon, Schwarzgurt und so.“ Ich lachte. Der arme Irre, der Shine belästigen wollte. Sie war eines der wenigen Mädchen, die wussten, wie sie sich wehren konnten und mit ihr wollte sich wirklich keiner anlegen. Erst recht nicht, wenn derjenige total betrunken war. Also verabschiedeten wir uns voneinander, indem sie mich aufmunternd ansah und ich ihr viel Glück bei ihren Hausaufgaben wünschte. Sollte sie nicht fertig werden, weil sie abends ja noch arbeiten musste, könnte ich ihr auch noch aushelfen – mein Vorschlag wurde mit einem erleichterten Lächeln quittiert. „Bis morgen, Chica.“ Shine winkte zum Abschied und ging die Treppenstufen zum unteren Stockwerk hinab. Ich schaute ihr noch eine Weile nach, natürlich winkend und ging dann zurück in die Wohnung. Ich räumte die Überreste unserer Verabredung weg und schaltete nebenher im Wohnzimmer den Fernseher an. Es lief nichts Interessantes, weswegen ich ihn gleich nach dem Spülen des Geschirrs wieder ausstellte. Zurück in meinem Zimmer überlegte ich erst, welche Kleidung ich am nächsten Tag zur Schule anziehen würde und entschloss mich, weil es bereits Herbst war, für wärmere Sachen: Eine lange hellblaue Jeans mit einem weißen Top und einem hellbraunen Poncho sowie gleichfarbigen Ballerinas. Diese Häkelkleidung war dank meiner Schwester wieder voll in die Mode eingeführt worden. Zugegeben, ich fand den Poncho dennoch sehr schön. Ich war also nicht unbedingt ein Modeopfer, dass alles toll fand, was gerade IN war. Ich entschied mich innerhalb des Sortiments für Modeartikel auch immer für das, was mir gefiel. Dann kramte ich meine braune Lederhandtasche hervor. Sie war groß genug, um sie in der Schule verwenden zu können: Alle Bücher und Hefte und Stifte und Blocks und andere Utensilien, die man eigentlich ja nicht mitnehmen durfte, wie Make-Up und Handy, passten dort bequem hinein. Außerdem war die Tasche cool und fügte sich wunderbar in mein morgiges Outfit ein. Ich warf einen schnellen Blick auf meinen Stundenplan: Wir hatten wie jede amerikanische Senior High School jeden Tag den gleichen Unterricht, dennoch hatte ich mir die Reihenfolge der Fächer noch nicht eingeprägt, obwohl es schon Herbst war. „Jeden Montag, Mittwoch und Freitag Assembly in der Zero Hour! Das ist total unnötig. Und was für unnötige Sachen die da besprechen! Und dafür muss ich schon um 8:30h da sein? Das regt mich jedes Mal auf, da war Raleigh echt besser“, kommentierte ich das Fach, das mir den Beginn und das Ende der Woche stark versalzte. In der ersten Stunde, die um 8:50h begann (ganze zehn Minuten früher als in Raleigh), hatte ich dann Shines „Lieblingsfach“: World History. Dass wir im Anschluss daran Trigonometrie hatten, fand ich nicht ganz so schlimm wie meine Mitschüler, die regelmäßig in den ersten zwei Stunden verwelkten. Mrs. Hawkins liebte Geschichte und war somit Inbegriff einer Fachwissenschaftlerin: langweilig und monoton. Mrs. Warren in Trig die reinste Katastrophe: Sie hatte die Ahnung und ihre Schüler waren dumm. Bei ihr regnete es nach jedem Test Fs, da schlackerten einem die Ohren! Doch ich kam mit beiden gut zurecht. Das lag mit großer Wahrscheinlichkeit daran, dass ich bei den Lehrern einen guten Ruf genoss. Ich war freundlich, hilfsbereit und zuvorkommend, erledigte meine Hausaufgaben und schrieb im Unterricht mit – wenigstens versuchte ich mitzukommen, wobei der Mathestoff schon ziemlich heftig war. Dank dieser Tatsache litt ich bei weitem nicht so sehr wie Jazz, die in Trig immer drangenommen wurde, wenn sie keine Ahnung hatte. Und das war übrigens sehr bemitleidenswert, weil sie ungefähr nie peilte, worum es gerade ging. Also kam sie auch ständig dran. Nach einer zwanzigminütigen Pause ging es dann frisch in Englische Literatur, eines der Fächer, bei denen die Schüler regelrecht abschalteten. Sie wählten es, weil sie wussten, dass es Mr. Dearing nicht störte, wenn sie schliefen oder redeten. Als ich auf die Senior kam und noch nicht wusste, dass mein Lehrer einen solchen Ruf mit sich schleppte, hatte ich das Fach in der Hoffnung gewählt, mehr über England zu erfahren: Leider hätte mir Amerikanische Literatur besser gefallen, wie ich später feststellte. Dennoch gehörte dieses Fach zu meinen Lieblingsfächern. Es war einfach und direkt, die Tests leicht und verständlich, wenn man denn gelernt hatte und der Lehrer war sehr nett. Shine und ich konnten uns in diesen Stunden endlich richtig entspannen, denn keiner aus unserer Clique hatte Englische Literatur gewählt aus Angst, noch einmal auf Mrs. Hawkins zu treffen, die dieses Fach ebenfalls unterrichten durfte. Um ein Uhr würde ich dann Physik haben. Mr. Sutherland begann seinen Unterricht immer pünktlich, also durfte nach der Lunchpause niemand trödeln. Ich fragte mich bis heute, warum Jazz, Beryl und Olivia dieses Fach gewählt hatten. Sie waren schließlich alle Matheloser und in Physik traf es sie nicht besser. Biologie oder Chemie wären vielleicht besser für diese Mädchen gewesen. Shine und ich lachten insgeheim immer über die zerfurchten Gesichter, die die Drei zogen, wenn sie mal wieder nichts verstanden. Eigentlich verstanden sie nie was und redeten daher nur miteinander, also hatten wir zwei immer was zu lachen. Da ein Fach immer eine Stunde dauerte und es keine großartigen Pausen zwischendurch gab, fing um zwei Uhr nachmittags das letzte reguläre Unterrichtsfach an: Für mich hieß das Französisch. Viele meiner Freunde hatten Spanisch gewählt, aber Shine war trotzdem immer neben mir. Mrs. Onassis war immer offen für französisch geprägte Aussagen, doch amerikanische Gedanken hatten bei ihr keinen Platz, d.h. Englisch sprechen war unter Strafe verboten. Dank ihr konnte ich Französisch nunmehr fast flüssig, deshalb mochte ich ihren Unterricht sehr gern, der von anderen jedoch immer als spartanisches Boot Camp bezeichnet wurde. Ab drei Uhr nachmittags durfte man also nach Hause gehen, doch ich gehörte diesem Verein nicht an, ich musste hinterher noch bis Vier zum Tanzen. Mrs. Marriott brachte uns von Gesellschaftstänzen über Einzelchoreographien alles bei. Ich war ihr sehr dankbar dafür, denn in der Disco beweisen zu können, was ich drauf habe, gefiel mir. Außerdem würde ich dann nicht kurz vor dem PROM oder so feststellen, dass ich nicht eine Schrittfolge kannte. Im Moment tanzten wir die Choreographien für das Musical der Drama-Gruppe, weil wir dort als (sprachlose) Nebenfiguren auftauchen würden. Das Musical würde beim fünfzigjährigen Bestehen der Schule aufgeführt werden. Es sollte ein riesiges Fest mit allem drum und dran werden, deshalb durfte natürlich auch eine solche Aufführung nicht fehlen. Insgesamt mochte ich meinen Stundenplan sehr, weil ich nicht ein Fach zusammen mit Jack hatte und nur wenig andere mit den anderen Leuten aus der Clique. Außer bei Ethan konnte ich mich nämlich bei keinem darauf verlassen, nach einer Trennung von Jack noch von einer Freundschaft reden zu können. Ethan Taylor war so alt wie ich, eingewanderter Chinese mit einem Super-Brain und dem Talent des Viel-Zu-Schnell-Redens. Shine war diejenige gewesen, die uns Drei zusammen gebracht hatte, bevor wir aus immer noch ungeklärten Gründen plötzlich Mitglieder unserer jetzigen Truppe wurden. Wir hätten uns auch jederzeit von der Clique ablösen können und keinen von uns hätte das gestört, aber wir waren lieber cool und beliebt, als dass wir einen Überlebenskampf in der High School ausführen mussten. Wir hatten schließlich Besseres zu tun. Irgendwann abends kam meine Mom dann von der Arbeit und wir machten uns irgendetwas zu essen. Ich sage hierbei extra irgendetwas, weil es nach-nichts-schmeckendes Konservenfutter war und wir beide zu müde waren, etwas Großes herzurichten. Ich liebte meine Mom, ich respektierte sie für ihr Leben und ihren Optimismus und ihre unbändige Lebenslust. Deshalb war ich auch immer ehrlich mit ihr, um ihr zu zeigen, wie viel sie mir bedeutete. Also erklärte ich ihr die Umstände meiner Beziehung zu Jack. Sie verstand mich natürlich sofort, etwas Ähnliches hatte sie ja bereits mit Pops damals gehabt. Dummerweise arbeitete sie nun für Jacks Vater in seinem Hotel, daher riet sie mir zwar, mit Jack Schluss zu machen, aber ihre Augen baten mich gleichzeitig auch, noch ein wenig auszuhalten: Mom wünschte sich bereits seit einiger Zeit wieder wegzuziehen. Am liebsten dorthin, wo meine Schwester jetzt lebte. Innerlich krümmte ich mich: Würde Jack vielleicht durch seinen Vater Rache an meiner Mutter nehmen und sich somit an mir rächen? War er so ein Arschloch? Dass er eines war, wusste ich, aber war er wirklich so SCHLIMM? In Gedanken vertieft, wünschte ich meiner Mom eine gute Nacht und schlüpfte zurück in mein Zimmer, um noch einmal gründlich über meine Vorgehensweise nachzudenken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)