Morbus von Queen_Of_Wands (Unter Tyches Bann) ================================================================================ Kapitel 1: Unter Tyches Bann ---------------------------- Es war dunkel in dieser Nacht. Sie stand am Rand des Lichtkegels einer Straßenlaterne. Eine schwarze Motte kreiste um ihren Kopf und ließ sich auch nicht davon beirren, dass die junge Frau mit ihrer Hand nach ihr schlug. Die Luft war trocken und kühl und Valerie zog den Schal enger um den Hals. Vor ihren Lippen bildete sich weißer Rauch, der in langen Schwaden über ihrem Kopf gen Himmel stieg. Die Frau mit dem kinnlangen blonden Haar wartete an diesem Winterabend auf ihren Bus, doch die Beleuchtung des Wartehäuschens war ausgefallen und so hatte sie im Licht der naheliegendsten Laterne Schutz gesucht vor der Dunkelheit und der Starre, in die sie die Schwärze der Nacht versetzte. Die Lichter des Busses tauchten auf und als er vor ihr hielt, beeilte sie sich einzusteigen. Verglichen mit der Außentemperatur war es in dem Fahrzeug angenehm warm. Valerie hielt dem Busfahrer ihr Ticket entgegen und ging dann bis zum Ende durch um sich hinten auf einen der Sitze zu setzten. Die Blonde atmete erleichtert aus, was einem erlösten Seufzen ziemlich nahe kam, und schloss die Augen bevor sie sich gegen die Fensterscheibe lehnte. Sie war bei Gott kein Angsthase, doch diese Nacht kam selbst ihr unheimlich vor. Ihr, die sonst immer innerlich lachte über die Menschen, die hinter jeder Ecke einen potenziellen Entführer, Vergewaltiger oder Mörder wahlweise mit Axt oder Kettensäge sahen. Heute konnte sie diese Menschen zum ersten Mal zumindest ansatzweise verstehen. Valerie schob keine Paranoia oder machte sich selber unnötig Panik, doch das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb. Als Valerie die Augen wieder aufschlug, stockte ihr der Atem. Ganz vorne in dem Bus saß eine Gestalt- mit den langen rotbraunen Locken höchstwahrscheinlich eine Frau- die den Blick ungerührt und starr auf die Scheibe gerichtet hielt, ohne dass sie von ihrer Umgebung etwas mitzubekommen schien. Dass sie durch die starke Reflektion, die dem Betrachter nur wieder den Innenraum des Busses zeigte, etwas erkannte, war zu bezweifeln und doch sah sie wie gebannt nach draußen. Eine irrationale, nicht zu erklärende Angst kroch der Blonden den Nacken hoch und krallte sich dort fest. Valerie hatte kein Problem mit dieser Frau, weil sie da war, sondern weil diese ganz sicher noch nicht da gewesen war, als sie eingestiegen war. Die Blonde war die einzige gewesen, die sich in dem Bus aufgehalten hatte. Gleichzeitig konnte sie mit aller Sicherheit sagen, dass sie auch nicht mitbekommen hatte, wie die Rothaarige zugestiegen war. Natürlich, Valerie hatte die Augen für kurze Zeit geschlossen gehalten, doch sie hätte sicher den „Guten-Abend“-Gruß des Busfahrers gehört und genauso sicher das Quietschen der Schranke, die ein sofortiges Durchkommen im Falle einer großen Masse an Passagieren verhinderte. Verwirrt lehnte sie sich zurück und fuhr sich durch die kurzen Haare. Ihre Reaktion war übertrieben gewesen, eindeutig. Valerie war müde und ganz bestimmt war sie kurz eingenickt. Der Bus setzte sich in Bewegung und die junge Frau entschied, dass ihr überanstrengtes Bewusstsein ihr einfach einen Streich gespielt hatte. Einen ziemlich üblen zwar, doch diesen zu ertragen war leichter, als sich in abstrusen Theorien über diese rätselhafte Frau zu ergehen. Wieder schloss Valerie die Augen und dieses Mal fand sie schnell in einen angenehm dösigen Zustand irgendwo zwischen Wachen und Schlafen. Grelles Licht. Metall, das sich auf der kalten Haut schon fast wieder unerträglich heiß anfühlte. Sie war unfähig, die Augen zu öffnen und doch glaubte sie, die weiße Zimmerdecke sehen zu können, auf die ihr Gesicht gerichtet war. Sie ahnte mehr als dass sie sie sah die Schläuche, die ihren Körper zierten. Wo zur Hölle war sie? Wollte niemand sie aus diesem Alptraum befreien? Warum weckte niemand sie auf? Sie konnte diesem Wahnsinn nicht entkommen, erkannte sie mit einem plötzlichen heftigen Schlag, der ihr die Luft aus den Lungen zu pressen drohte. Sie hörte nichts. Es war, als wäre sie in einem Raum gefangen, durch den kein Ton dringen konnte. Ein Raum, in dessen Luft sie zwar Sauerstoff fand, wobei diese jedoch nicht eine einzige Schallwelle weiterleitete. Sie war einsam, so einsam wie noch nie in ihrem Leben. Ein unglaublicher, undefinierbarer Kummer kroch ihr ins Herz und verursachte unsagbare Schmerzen, die ihr Innerstes zu zersprengen schien. Sie wollte weinen, doch nicht eine einzige warme Träne machte sich auf den salzigen Weg ihre Wange hinab. Im Gegenteil fühlten ihre Augen sich seltsam trocken an, im Stich gelassen von dem Mechanismus des menschlichen Körpers, der die Bindehäute im Normalfall stetig und zuverlässig mit Feuchtigkeit versorgte. Erschrocken fuhr Valerie aus ihrem Traum hoch. Was sie aus dem Schlaf gerissen hatte wusste sie nicht, bis sie die rote Ampel vor sich sah, die den Busfahrer sicherlich zu einer Vollbremsung gezwungen hatte. Gerade noch rechtzeitig für sie, sah die Blonde, als sie den Blick aus dem Fenster richtete und auf eine ihr nur zu bekannte Umgebung blickte. An der nächsten Haltestelle musste sie aussteigen. Leicht verschlafen rappelte sie sich auf und drückte auf den Knopf, der ihren Haltewunsch zum Ausdruck brachte. Die andere Frau war verschwunden, sicher ausgestiegen an einer der vorherigen Stationen. Angenehm sanft setzte der Bus sich wieder in Bewegung, als die Ampel auf Grün umsprang. Mit einem Ruckeln kam er dann nach hundert Metern wieder zum stehen. Valerie stieg aus und wünschte dem Fahrer mit einem Kopfnicken noch eine gute Nacht, bevor sie nach draußen in die kalte Luft trat. Sie wohnte in einer kleinen Nebenstraße, vielleicht hundert Meter von der Bushaltestelle entfernt, in einer kleinen Studentenbude, aus der sie für die Zeit ihres Studiums vermutlich nicht mehr ausziehen würde. Die Blonde stand vor der Tür, während ihr Atem kleine Dampfwölkchen in die Nachtluft malte, und fingerte ihren Schlüssel aus der Tasche. Von dem kurzen Gang waren ihre Finger schon ganz klamm und gefroren und es fiel ihr schwer, das Metall überhaupt im Schloss herumzudrehen. Die Tür öffnete sich unter dem Druck, den sie mit der Hand darauf ausübte und Valerie trat ein. Die Kälte verschwand nicht, doch hier fühlte sie sich direkt ein wenig wohler. Alleine dieses Treppenhaus bedeutete für sie schon zu Hause. Die alte steinern-graue Treppe mit dem grünen Geländer und den von der Hausbesitzerin aufgehangenen Plakaten und kleinen Pflanzenampeln war ihr in den letzten drei Jahren so vertraut geworden, dass sie glaubte, schon ihr ganzes Leben lang immer und immer wieder diesen Weg hinauf und hinab zu steigen. Auch jetzt machte sie sich auf den altbekannten Weg zu ihrer Wohnung im vierten Stock. Dort angekommen beeilte sie sich, hineinzugehen in das warme Zimmer, in dem sie sich zuerst ein wenig aufwärmte und dann duschen ging. Der warme Strahl von Wasser tat ihrer unterkühlten Haut gut und sie merkte mit jedem weiteren Tropfen, wie sie sich mehr entspannte und eine angenehme Trägheit sich in ihren Knochen breit machte. Langsam aber sicher entspannte sie sich wieder. Als sie wieder aus der Dusche trat, nass und aufgewärmt, wickelte sie sich in ihren Bademantel und ging zu ihrem Bett hinüber. Das Bild der Frau, die sie im Bus gesehen hatte, ließ sie nicht los. Dabei kannte sie nicht einmal ihr Gesicht. Es war ihre einfache Erscheinung gewesen, die sie vollkommen aus der Bahn geworfen hatte. Valerie wusste, dass es dafür keine plausible Erklärung und keinen triftigen Grund gab. Dennoch war sie fasziniert und gefesselt von ihr gewesen und war es immer noch. Sie konnte sich das selber nicht erklären und doch hatte sie das Gefühl, dass diese Person, die sie noch nicht einmal kennen gelernt hatte, ihr Leben noch auf unglaubliche Art und Weise prägen und verändern würde. An dem Mittwoch nachdem sie diese seltsame Begegnung mit der Frau im Bus gehabt hatte, hatte Valerie sie schon beinahe wieder vergessen. Zumindest machte sie sich keine Gedanken mehr über sie und konnte so mit freiem Kopf und voll konzentriert den Hörsaal betreten, in dem in wenigen Minuten die nächste wichtige Lesung stattfinden würde. Gerade als sie sich setzen wollte, wurde sie von hinten angerempelt. „Achte doch bitte mehr auf deine Umwelt“, sagte eine Frauenstimme hinter ihr, die nicht wütend, aber belehrend klang. „Dann würden dir auch ein paar Dinge auffallen, die unglaublich ungewöhnlich sind, in deinem Leben“ Vollkommen verwirrt von dieser nicht in die Situation passenden Aussage drehte Valerie sich zu der Sprechenden um, doch in diesem Moment rauschte diese an ihr vorbei, sodass sie ihr Gesicht nicht sehen konnte. Alles was sie sah war eine Flut von langen, rotbrauen Locken, die hinter der Frau in dem weißen, schlichten Kleid und dem hellblauen Schal her wehten. Dann war sie auch schon wieder verschwunden und wäre das nicht vollkommen absurd, hätte Valerie schwören können, die Frau wäre barfuß gewesen. Ihr blieb beinahe das Herz stehen ob dieser Beobachtung. Der Anblick schlug etwas in ihr an, wie eine kleine Glocke, die zum Klingen gebracht worden war und die ihre Schwingungen nur auf ihren ganzen Körper und selbst auf ihre Seele übertrug. Verwirrt und verstört, in innerem Aufruhr, ließ sie sich auf ihren Platz nieder und öffnete den Block mit ihren Notizen von der letzten Lesung. Sie starrte darauf, ohne auch nur ein einziges Wort in sich aufzunehmen. Sie hörte Stimmen. Sie verstand nichts, doch dieses Mal waberten einzelne Gesprächsfetzen zu ihr herüber. Sie wusste, dass sie die Sprache eigentlich verstehen müsste, dass sie wissen müsste, was die aneinander gereihten Worte bedeuteten, doch die Aussage des Gesprochenen blieb ihr verborgen. Dafür spürte sie umso heftiger die Emotionen, die auf sie einschwappten, auf sie übertragen durch die natürliche Ausstrahlung der Menschen. Sie fühlte Aufgeregtheit, Nervosität und Geschäftigkeit. Das Gefühl, das sich ihr auf dabei auf die Brust legte, konnte sie nicht beschreiben. Sie hätte es nicht einmal gekonnt, wenn ihr Leben davon abgehangen hätte. So etwas hatte sie noch nie gespürt. Ihr war abwechselnd heiß und kalt und sie glaubte, ihr Blut würde mindestens mit doppelter Geschwindigkeit durch ihre Gefäße zirkulieren. Die Schmerzen kamen mit einer ungeahnten Intensität und sie bäumte sich in ihrem Bett auf, unfähig, mehr als helle und dunkle Flecken zu erkennen, als sie in Panik weit die Augen aufriss. Valerie schreckte hoch und erst als sie kerzengerade auf ihrem Bett saß, konnte sie wieder ruhiger atmen. Kaum hatte sie die Augen geöffnet, war ihr ein Name durch den Kopf geschossen. Ein Name, den sie eigentlich nicht kennen konnte, der ihr aber alles offenbarte: Tyche. Göttin des Schicksals, unberechenbar und launisch. Eine Person, die das Leben von anderen aus Lust und Laune heraus zerstörte oder aus den zerbrochenen Stücken wieder aufbaute. Der Atem der Blonden ging mit einem Mal wieder schwer und heftig. Sie schnappte nach Luft und glaubte zu ersticken an der Schwere ihrer Erkenntnis. Woher kam dieser plötzliche Geistesblitz? Woher kam es, dass sie auf einmal genau wusste, wer diese Person war? Dass sie es mit absoluter Sicherheit wusste, obwohl die Tatsache, die das mit sich zog vollkommen absurd war? Sie konnte es nicht sagen und doch wusste sie mit aller Sicherheit, dass die Frau, der sie nun schon zweimal in so kurzer Zeit begegnet war, eine griechische Göttin war. Egal wie abgedreht und fantastisch das klang, für sie war das nun ein unumstößlicher Tatbestand. Du wirst sterben, war der nächste Gedanke, der ihr durch den Kopf stoß. Sie klammerte sich an ihrem Bett fest, starrte gegen die blaugestrichene Wand, die sich vor ihren Augen weiß färbte. Die Federn des Bettes wurden härter und vom einen auf den anderen Moment befand sie sich in einem Krankenhauszimmer, dem Zimmer aus ihren Träumen. Sie konnte nur noch kurz die Stimme der Ärztin hören, die einem Mann und einer Frau neben ihrem Bett sanft zusprach. „Sie fiebert. Ich möchte Ihnen keine Hoffnung machen, denn so ein schlimmes Fieber hatten wir auf unserer Station schon lange nicht mehr.“ Die Frau schluchzte auf und Valerie sank in ihrem Bett zurück, während ihr schwarz vor Augen wurde. Dr. Fortuna Claires, Chefärztin der internistischen Abteilung des Charite-Krankenhauses in Berlin, sah sich einem am Boden zerstörten Ehepaar gegenüber, die gerade den unvermeidbaren Tod ihrer Tochter hinnehmen mussten, ohne dass irgendjemand etwas dagegen tun konnte. Die Ärztin hatte nur ein paar tröstende Worte für die beiden und eine flüchtige Berührung an der Schulter übrig, bevor sie sich umdrehte und das Krankenzimmer verließ. Ihre langen, rotbraunen Locken wallten dabei in einer Flut hinter ihr her. Ihre nackten Füße schienen den Boden nicht zu berühren, als gehöre sie in eine ganz andere Welt und doch nahm niemand hier an ihrem seltsamen Auftritt jemals Anstoß. Es war, als würden ihre Kollegen, die Patienten und die Besucher die Eigenart dieser Frau gar nicht wahrnehmen. Als sie durch die Tür trat, breitete sich ein diabolisches Lächeln auf ihren Lippen aus. Einmal mehr hatte Tyche in einer Welt, die nicht mehr an ihre Existenz glaubte, ihren Anspruch auf die Kontrolle über das Leben der Menschen geltend gemacht. Es war an der Zeit, sich einem anderen Ort zuzuwenden und die Berliner wieder ihr eigenes Leben leben zu lassen. New York würde sie reizen oder Edinburgh. Am 13. Dezember 2005 verstarb Valerie Schöler aufgrund eines verschleppten pfeifferischen Drüsenfiebers. Vor ihrem Tod hatte sie über zwei Wochen lang fantasiert und sich wohl den Großteil der Zeit nicht in der Realität, sondern in einer eingebildeten Welt verbracht, in der sie die Schmerzen und die anderen Folgen ihrer Krankheit nicht hatte ertragen müssen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)