Schrei der verlorenen Kinder von lovegirlAiko ================================================================================ Kapitel 4: Der Fremde --------------------- Der Fremde Als Mai die Augen aufschlug, lag sie auf einer Rückbank eines Autos. Sie war mit einer Decke zugedeckt worden und ein Pullover diente als Kopfstütze. Sie war alleine im Wagen und durch die Fenster drangen die ersten Sonnenstrahlen des Tages. Langsam und unter Stöhnen richtete sie sich auf. Mehrmals blinzelte sie ins Sonnenlicht. Sie drehte ihren Kopf mehrmals herum. Das Auto stand auf einem Parkplatz einer Tankstelle. Diese Tankstelle war vor der Stadt, in der Mai lebte. In einiger Entfernung saß ein Mann auf einem Baumstamm, der am Rande des Parkplatzes lag. Es war der Mann, dem Mai beinahe vors Auto gelaufen war. Mai schälte sich aus der Decke und suchte im Fußraum etwas. Sie holte ihre Schuhe hervor, in die sie reinschlüpfte. Kurz blickte sie zu beiden Seiten, dann stieg sie aus und ging zu dem Mann hin. Der Mann war schon etwas älter, irgendwas zwischen 40 und 50 mochte er sein. Seine dunklen Haare ergrauten schon an vielen Stellen und ein leichter Dreitagebart war zu erkennen. Als Mai sich näherte, blickte er auf. Seine Augen waren wachsam und nachdenklich. „Guten Morgen, junge Dame! Wieder unter den Lebenden?“ Seine Stimme war tief und rauchig, aber trotzdem angenehm. Die gesamte Erscheinung des Mannes strahlte etwas Wissendes aus. Mai nickte, trotzdem schwieg sie. „Setz dich zu mir. Keine Sorge, ich beiße nicht. Hier. Ich hoffe, du magst Müsliriegel zum Frühstück. Etwas anderes kann ich dir leider nicht anbieten.“ Er wies auf das andere Ende des Baumstammes und hielt ihr einen verpackten Riegel hin. Mai zögerte nicht, sondern nahm ihn und setzte sich hin. „Danke“ murmelte sie leise. Danach schwieg sie wieder. Sie starrte vor sich hin, während sie gedankenverloren auf dem Riegel kaute. Eine Zeit lang sprach niemand. Dann ergriff wieder der Mann das Wort. „Wie heißt du? Du kannst mich einfach Joe nennen, wenn du willst.“ Mai blickte auf und sah den Mann an. „Mai“ antwortete sie kurz und bündig. Joe seufzte. „Nun, Mai, ich kann verstehen, dass du nicht reden willst, aber ich bin nicht dumm. Ich habe schon viele ähnliche Fälle erlebt. Du wurdest verfolgt, nicht wahr? Von etwas, wofür dich alle für verrückt erklären würden, oder?“ Mai kniff die Augen zusammen. „Würden Sie es denn?“ Joe lachte kurz auf. „Wenn ich dich dafür für verrückt halten würde, dann müsste ich mich selbst in die geschlossene Anstalt einweisen lassen. Mädel, hör mir mal gut zu. Ich weiß nicht, was dein Problem ist, oder wie du daran gekommen bist. Aber Fakt ist, dass ich dir nicht helfen kann, wenn du nicht redest. Mir sind ohnehin schon die Hände gebunden. Wahrscheinlich werde ich in der Stadt schon als Kidnapper gesucht, nur weil ich dir unangenehme Fragen ersparen wollte. Ich kenne die. Sie sind überall gleich. Hätte ich dich ins Krankenhaus gebracht, dann hätten sie dich solange mit ihren Fragen gequält, bis du gesagt hättest, was passiert ist. Sie würden dich für verrückt erklären und mit Psychopharmaka voll pumpen, womit du ein leichtes Ziel für die Dämonen wärst. Wenn sie dich dann eines Morgens tot auffinden würden, würden sie es als Selbstmord werten und den Fall abschließen. Ne, das hab ich schon oft genug miterlebt!“ Mais Mund klappte auf, während sie Joe zuhörte. „Wer sind sie? Woher wissen sie das alles?“ fragte sie erstaunt. Joe zuckte mit den Schultern. „Wenn man die Augen offen hält, dann kriegt man mehr mit, als die meisten glauben.“ Mehr sagte er nicht mehr dazu. Mai senkte sie den Kopf und starrte auf ihren Riegel. „Meine Schwester hat mir irgendein Ding an den Hals gehetzt, was mächtig genug ist, um seine Anwesenheit zu verbergen und noch Helfer unter sich stehen hat. Reicht das als Erklärung?“ Ihre Stimme war leise und dünn. Joe nickte. „Ja, das ist ein Anfang. Das, was du da beschreibst, hört sich ganz stark nach einem Dämon an. Er scheint ja einen sehr hohen Preis zu bekommen, wenn er sich derart ins Zeug legt. Ein ganzes Stadtviertel lahm legen, nur um dich durch die halbe Stadt zu jagen…“ Er schüttelte den Kopf. Mai blickte auf und sah ihn mit großen Augen an. „Dann war es also wirklich so? Kein anderer hat was mitbekommen? Ich verstehe es nicht!!!! Wieso tut er so etwas? Was könnte so wertvoll sein, dass er so etwas tut?“ Mit verzweifelter Miene stützte sie den Kopf auf die Hände. „Die Seele eines Menschen. Das wertvollste, was ein Mensch besitzt. Die Seele eines Menschen ist das, was Dämonen am meisten begehren. Dafür tun sie alles.“ Mai hatte die Stirn gerunzelt. „Und warum nehmen sie sich die nicht einfach?“ Joe lachte. „Wenn das so einfach wäre, dann gäbe es kein Leben mehr. Die Seele ist etwas, dass man sich nicht einfach nehmen kann! Wenn ein Dämon versucht, sich einfach so eine Seele zu nehmen, ohne das er Anspruch darauf hat, wird er sofort in Flammen aufgehen.“ Die Stirn von Mai runzelte sich noch mehr. „In Flammen aufgehen? Aber das macht denen doch nichts. Sie sind schließlich in den Höllenfeuern zu Hause.“ Sie zuckte mit den Achseln. Joe schüttelte den Kopf. „Das mag vielleicht sein, aber gegen das heilige Fegefeuer Gottes haben selbst die Höllenfeuer nichts entgegenzubringen.“ Mai sah den Mann verwirrt an. „Fegefeuer Gottes? Sind wir jetzt im Religionsunterricht? Wollen sie mir jetzt auch noch erklären, das Erzengel Michael ihr Bruder ist, oder was?“ Wieder lachte Joe. „Bestimmt nicht! Ich bin froh, dass ich den Engeln selten begegne. Unangenehmes Volk, das sag ich dir. Einen Hinweis: Lass dich niemals, aber auch niemals in eine Diskussion mit einem Engel ein! Egal, was es ist. Selbst wenn du Recht HAST, du wirst nie gewinnen. Merk dir das.“ Mai sah Joe verständnislos an. „Aber wenn ich doch Recht habe… Das können die doch nicht einfach übergehen.“ Joe hob nur die Augenbraue. „Doch, können sie. Und sogar noch mehr. Aber lassen wir das. Jetzt sollte ich dich besser nach Hause bringen. Sonst werde ich wirklich wegen Entführung angezeigt.“ Mai sprang auf. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und ihre Miene verriet die Angst und die Panik, die in ihr zu herrschen schien. „Nein! Ich will nicht nach Haus!“ Joe blickte sie mit forschendem Blick an. „Ich kann verstehen, dass du Angst vor dem Dämon hast, aber…“ Mai unterbrach ihn. „Es geht mir nicht um den Dämon! Meine Familie selber ist das Problem! Meine Eltern wollen mich zu einem Scharlatan schleifen, der meinen Schwestern komplett den Verstand geraubt hat! Meine älteste Schwester, der ich immer vertraut habe, hat mich sogar an ihn verraten!!!“ Mai war aufgebracht und brachte dies mit ihren geballten Fäusten und ihrem Gesichtsausdruck zum Ausdruck. Joe runzelte die Stirn. „Scharlatan???“ „Ein Typ, der sich als Wahrsager ausgibt. Er hat meiner Schwester irgendwie eingeredet, dass es Geister und Gespenster nicht gibt. Und das, obwohl sie die sehen und spüren kann! Oder sollte ich sagen, konnte?“ Joe hob beschwichtigend die Arme. „Beruhige dich, Mai. Wer einmal die Gabe hat, der verliert sie auch nicht. Mach dir nicht so viele Gedanken. Wahrsager helfen den Menschen. Und überhaupt, keine schlechte Idee. Geh zu ihm und erzähl ihm von dem Dämon, der dich verfolgt.“ Mais Kinnlade klappte wieder herunter. Doch schnell hatte sie sich gefangen. Sie spannte ihre Muskeln an und blickte entschlossen auf Joe. „Dann mache ich mich mal auf den Weg. Ich danke Euch, dass ihr euch Meiner angenommen habt. Ich möchte Euch nicht weiter zur Last fallen. Macht Euch auch keine Sorgen um mich. Ich schaffe das schon. Noch mal danke.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und wollte gehen. Doch Joe war schneller. Im Bruchteil eines Momentes war er aufgesprungen und hatte sie eingeholt, bevor sie einen Schritt machen konnte. Nun baute er sich vor ihr auf. „Du gehst nirgendwohin. Ich werde dich nach Hause bringen. Erst wenn du wieder sicher zu Hause bist, werde ich gehen.“ In seiner Stimme schwang eine solche Entschiedenheit mit, dass Mai zurückschreckte. „Aber…“ Joe unterbrach sie. „Kein Aber. Du bist zurzeit in meiner Obhut und ich werde dich erst gehen lassen, wenn du bei deinen Eltern bist.“ Das erschrockene Gesicht von Mai schlug zu einer Grimasse um. „Klar. Dann viel Vergnügen mit der Polizei. Ich bin gespannt, welche Story sie denen erzählen wollen. Etwa die vom verfolgtem Mädchen?“ Die Reaktion Joes war ein bedachter Gesichtsausdruck. „Lass das meine Sorge sein. Ich hab genug Erfahrungen mit der Polizei gesammelt, um zu wissen, was ich sagen muss.“ Mai verschränkte die Arme. „Dann wünsche ich viel Spass dabei. Sehen sie mal dort.“ Mai nickte in die Richtung der Stadt. Da Joe mit dem Rücken zur Stadt stand, musste er sich umdrehen. Mai nutzte diesen Moment aus und rannte wie gehetzt von ihm weg. Sie hörte den überraschten Ausruf Joes, doch sie lief weiter. Erschöpft und müde ging sie durch die Straßen ihrer Heimatstadt, ohne zu wissen, wohin sie sollte. Ihre schwarzen Haare waren zerzaust und ihre Kleidung war über und über mit Dreck und Schmutz bedeckt. Sie bog um eine Ecke und fand sich auf einer Nebenstraße wieder, wo ein Haus besonders hervorstach. Im Gegensatz zu den anderen Häusern war es rot angestrichen worden. Blutrot. Als Kontrast zu dem Rot war eine Platte in schwarz neben der Tür gehängt. Auf der Platte stand mit gelber Farbe ‚Wahrsager Imenigo’. Das Gelb brannte richtig in den Augen des Betrachters. Die Fenster waren verhangen und geschlossen. Keine Regung war von drinnen zu sehen. Mai ballte die Fäuste und ging entschlossen auf das Haus des Wahrsagers zu. Vor der Tür blieb sie stehen. Sie holte tief Luft und klingelte. Ein hagerer Mann um die 30 öffnete die Tür. Als er Mai sah, weiteten sich seine Augen überrascht. „Na sowas! Wenn das nicht Mai ist… Das überrascht mich, dass du an meiner Tür klingelst. Und überhaupt… Wie siehst du aus?“ Mai ballte erneut die Fäuste. „Das geht sie nichts an! Ich will Antworten! Von ihnen! Sofort!“ presste sie mit rotem Gesicht hervor. Das Gesicht des Wahrsagers schlug um. Ein Lächeln huschte darüber. Er trat zurück um Mai einzulassen. „Na sowas! Dann tritt ein, meine Liebe.“ Mai biss die Zähne zusammen, dies sah man ihr deutlich an. Sie schritt durch die Türe. „Na sowas, geh ruhig durch. Darf ich dir etwas anbieten?“ Während er sprach, schloss er die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel um. Der Schlüssel verschwand in seiner Hosentasche. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)