Love Hospital von LisanimeBluehawk ================================================================================ Kapitel 1: Prologue: An Apple A Day Keeps The Doctor Away? ---------------------------------------------------------- „Ooookay und jetzt bloß nicht ausflippen!“, dachte Anni und quietschte in sich hinein. Da stand sie auf dem runden, von wunderschönen Säulen umgebenen Platz vor dem Sir Lazlo Hospital , mit einer kleinen Reisetasche voller Klamotten neben sich und blickte zu dem großen Gebäude vor ihr hinauf, in dem sie ab heute arbeiten würde. „Ich kann mein Glück noch gar nicht fassen!“ Annis Hände schwitzten und ihr Herz hüpfte in ihrer Brust auf und ab, als ob es jeden Moment herausspringen wolle. Sie ließ ihren ruhelosen Blick über die Glastüren am Eingangsbereich des Hospitals schweifen. Jeden Moment konnte dort ein umwerfend gut aussehender Arzt erscheinen und sie mit einem wundervoll strahlenden Lächeln zu sich heran-winken, um ihr dann die Tasche abzunehmen und diese für sie in ihr eigenes kleines, privates Büro hinauf zubringen, während er ihr alles erklärte. „Unfassbar, dass ich tatsächlich angenommen wurde“, schoss es ihr durch den Kopf. „Dieses Hospital ist bekannt für seine ungewöhnlichen, aber äußerst wirksamen Heiltechniken und für seine sehr jungen und sehr berühmten Ärzte.“ Sie holte noch einmal ganz tief Luft und raffte all ihren Mut zusammen, bevor sie nach ihrer Reisetasche griff und mit unsicheren Schritten auf die gläserne Eingangstür zuging. „Hoffentlich sind meine Kollegen alle nett. - Hoffentlich muss ich keine unangenehmen Arbeiten erledigen. - Hoffentlich … hoffentlich!“ Da hatte sie die Tür erreicht und vor Aufregung drohte sie fast zu implodieren. Ihr Herz hämmerte nur so gegen ihren Brustkorb, als es passierte: Mit dem rechten Fuß trat sie auf etwas, das unter ihr einfach davon rutschte. Sie versuchte noch, ihr Gleichgewicht zurückzugewinnen, doch da fiel sie bereits, von ihrer Reisetasche hinabgezogen, dem Boden entgegen. Und dann wurde alles schwarz. Das erste, was an ihr Ohr drang, während sie allmählich wieder zu sich kam, war ein unstetes Säuseln und Plappern, welches bloß ab und zu von einem metallischen Klappern unterbrochen wurde. „Ich sage doch, den alten Apfelbaum müsste man dort wegbringen und wenn er zu wichtig oder zu schade für Feuerholz ist, müssen wenigstens die Äpfel aufgesammelt werden, bevor sie anfangen zu verfaulen. Das ist schon der dritte Unfall diese Woche und wir haben gerade Montagnachmittag.“ Ein Brummen war zu hören und dann spürte sie eine gummiartige Haut, die über ihre Beine strich. „Hilfe!!“, dachte Anni und riss die Augen auf. „Was ist das denn? Eine Schlange??“ „Ah, sie scheint wach zu sein.“ Es war eine Männerstimme und sie schien auch die Quelle des säuselnden Geplappers zu sein, das nun klar und deutlich in ihr Bewusstsein drang. Langsam verzog sich die prickelnde Dunkelheit, die ihr die Sicht versperrt hatte und es war als öffnete sich ein Vorhang, der den Blick auf die helle Bühne frei gab. Anni blinzelte verwirrt. Direkt über ihrem Gesicht hing das eines jungen Mannes. Er hatte platinblonde Haare und trug eine violette Wollmütze. Seine Lippen verzogen sich zu einem frechen Grinsen. „Guten Morgen, Dornröschen!“ „Gehen Sie mir aus dem Weg, Kinley, und starren Sie sie nicht so an. Das könnte zu einem Schock führen.“ Ein anderer Mann drängte sich in Annis Blickfeld. Er war sehr groß und schlank, sein Haar war dunkel und sein Gesicht sehr ernst. Sie beobachtete, wie der Mann mit einem Stück Watte ihr rechtes Knie abtupfte, dann neben sich zu einem kleinen silbernen Tischchen griff und eine Rolle Verbandszeug nahm. Dann schob er seine Hand vorsichtig unter ihr Bein und hob es an, um es leichter mit dem Verband umwickeln zu können. Der andere Mann lehnte sich unterdessen an die Ablagefläche hinter ihm und legte den Kopf schief. „Meine Güte, das nenne ich einen gelungenen Auftritt“, er grinste Anni schief an. Anni versuchte angestrengt herauszufinden, was er damit meinen könnte, doch dann durchfuhr ihre Stirn ein stechender Schmerz. Anni fasste sich an den Kopf und schreckte zurück, als sie eine dicke Beule ertastete. Und da kam auch die Erinnerung zurück und sie lief sofort knallrot an. Natürlich! Sie war vor dem Eingang des Hospitals gewesen, furchtbar aufgeregt und zittrig. Und dann hatte sie das Gefühl gehabt zu fallen und jetzt fand sie sich auf einer Liege in einem Behandlungszimmer wieder. Das konnte also nur bedeuten... „So schön habe ich wirklich noch keinen Menschen fliegen sehen“, sagte die Wollmütze und beugte sich wieder zu ihr hinab. „Meinst du, du kannst mir bei Gelegenheit vielleicht mal Flugstunden geben?“ „Das ist nicht zum Lachen, Kinley! Sie hätte sich ernsthaft verletzen können!“, schaltete sich nun wieder der andere Mann ein. Anni betrachtete ihn genauer. Er schien noch ziemlich jung zu sein. Erstrecht für einen ausgebildeten Arzt. Er war vielleicht zwanzig, zweiundzwanzig Jahre alt. Aber, wenn er so jung schon behandeln durfte, musste er sich in der Welt der Ärzte einen großen Namen gemacht haben... „Schon verstanden Boss“, grinste der Pfleger, der seine gute Laune nie zu verlieren schien. Dann wandte er sich wieder Anni zu: „Wieso bist du eigentlich hier? Wolltest du jemanden besuchen?“ Anni schüttelte den Kopf, was sie sofort bereute, da ihr sogleich wieder schwindelig wurde. „Nein, ich bin hier, um mich vorzustellen. Ich bin die neue Krankenschwester, Anni.“ „Hey, angenehm. Ich bin Kinley“, rief der Pfleger und schüttelte Anni überschwänglich die Hand. „Und der brummige Herr hier, der dein Knie geflickt hat, ist Doktor Anderson!“ Anni sah, wie Dr. Anderson bei dem Wort „brummig“ mit einer Augenbraue zuckte, doch er sagte nichts. „Ich bin bloß ein ganz gewöhnlicher Pfleger“, fuhr Kinley fort und wies dabei auf seine schicke Uniform, die eher etwas von einem Soldaten oder Polizisten hatte, weshalb Anni bezweifelte, dass es sich hier tatsächlich um einen ganz „gewöhnlichen“ Pfleger handelte, „aber Dr. Anderson...“ „Kinley!“, fuhr Dr. Anderson sichtlich gereizt dazwischen. „Diese junge Dame ist gerade erst aus ihrer Ohnmacht erwacht. Wenn Sie sie weiter so zuquatschen, erleidet sie womöglich einen Nervenkollaps.“ „Aye, Sir. Entschuldigung. Ich halte mich ab jetzt zurück!“, Kinley salutierte, was ihn noch mehr wie ein Soldat erscheinen ließ und ihm von Dr. Anderson ein Kopfschütteln einbrachte, während dieser seine Gummihandschuhe abstreifte. Anni fand den Arzt weit seltsamer als den Pfleger. Der verhielt sich wenigstens seinem Alter entsprechend, während Dr. Anderson sich ausdrückte, als stamme er aus dem vorletzten Jahrhundert. Junge Dame?, dachte sie, kann man heutzutage nicht einfach beim Namen genannt werden? Ich habe mich doch schon vorgestellt. „So“, Dr. Anderson entsorgte die gebrauchte Watte in einem kleinen silbernen Behälter und räumte auch die Verbandsrolle fort, während er mit ihr sprach, würdigte sie dabei jedoch keines Blickes. „Ihr Knie habe ich versorgt. Es war nur eine oberflächliche Verletzung, Sie sollten also ganz normal laufen können.“ Er wandte sich zum gehen, blieb an der Tür aber noch stehen. „Warten Sie bitte noch, bis Ihnen nicht mehr schwindelig wird, wenn Sie versuchen aufzustehen. Kinley bringt Sie dann zum Chef.“ - „Yes, Sir!“ - „Ich empfehle mich“. Und damit fiel die Tür ins Schloss. Anni starrte ihm noch hinterher. „Wieso ist er so unfreundlich und spricht trotzdem so gestochen höflich? Das passt doch überhaupt nicht zusammen“, murmelte sie. „Hey, nimm's ihm nicht übel“, sagte Kinley da. Sie drehte sich zu ihm um und blickte verwundert in sein ernstes Gesicht. „Er hat sicher seine Gründe...“ Kelly raschelte im Schrank herum, wobei ihr schlanker Rücken die schmale Türöffnung verdeckte. Dann drehte sie sich um und über ihr Gesicht zog sich ein strahlendes Lächeln. „So, das ist deine“, sagte sie und drückte Anni eine kreischpinke Schwestern-uniform in die Hände. Anni starrte die Kleider bloß an, dann sah sie zu Kelly, die sie immer noch erwartungsvoll anlächelte und verstand, dass man eine Reaktion von ihr haben wollte. Anni räusperte sich und sagte: „Die... die ist ja pink...“ „Ja“, quietschte Kelly fröhlich, „ist das nicht toll?“ Anni zwang sich zu einem Lächeln, das nur in den Mundwinkeln etwas schief geriet und bedachte dabei Kellys hellblauen Kittel mit einem neidvollen Blick. „Ja, sehr … schön...“ Das Lächeln, das Kelly ihr zuwarf, strahlte heller, als eine 200-Watt Birne. Kelly hatte langes blondes Haar und wunderschöne dunkelblaue Augen mit einem leichten Stich ins Grüne, sodass sie aussahen, wie zwei Ozeane. Dazu hatte sie volle Lippen und eine sehr schöne, weibliche Figur. Als Anni sie vorhin kennengelernt hatte, war ihr sofort ein Gedanke durch den Kopf geschossen: Warum war sie nicht Model geworden? Mit dem Aussehen hätte sie es garantiert weit gebracht. „So, und damit auch jeder erkennt, dass das hier dein Zimmer ist...“, Kelly hatte sich umgedreht und hielt nun einen schneeweißen Zettel in der Hand auf dem in pinken Lettern Annis Name stand. Darunter hatte Kelly noch ein kleines Herzchen gemalt. „Ach, wie süß von dir. Vielen Dank!“ „Kein Problem, ich hänge es dir gleich von außen an deine Tür! Bis morgen dann. Ruh dich erstmal aus und richte dich ein.“ „Okay, bis morgen dann!“ Die Tür ging auf und Kelly trat heraus. Nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte, befestigte sie das Schild daran, gleich unter dem Schriftzug, der Annis Zimmer als „Schwesternzimmer 3“ auswies. Dann wandte sie sich zum gehen, doch bevor sie ihren ersten Schritt tun konnte, kreuzte sich ihr Blick mit dem Dr. Andersons. Sein Gesicht war ernst und ausdruckslos wie immer, als er sie ansah und sich dann einfach umdrehte, den stillen Gang hinunter ging. „Hey! Warte doch.“ Anni lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Sie musste daran denken, wie nett alle Menschen waren, die sie heute kennengelernt hatte. Sogar der Chef – ein kleiner untersetzter Endfünfziger mit Schnauzer und runder Brille – hatte sie in seinem Büro herzlichst willkommen geheißen. Dann war sie Kelly vorgestellt worden, die sie gleich mit offenen Armen empfangen hatte, und sie dann zu ihrem Zimmer geführt hatte. Auf dem Weg dorthin war sie noch einmal Kinley begegnet, der ihr unbedingt seinen Kollegen Coons hatte vorstellen wollen, einen anderen Pfleger, mit gefärbten Haaren, einer gepiercten Augenbraue und drei kleinen geflochtenen Bärtchen am Kinn. Beide hatten sie frech, aber freundlich angegrinst. Mit den beiden würde sie sich sicher gut verstehen. Ebenso mit Kelly und dem Chef, nur dieser Dr. Anderson... Anni rollte sich auf die andere Seite. Aus irgendeinem Grund, ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf. Seit sich ihrer beider Augenpaare getroffen hatten, musste sie ständig daran denken, wie er sie angesehen hatte. Seine dunkelgrünen Augen waren wie zwei unergründliche Brunnen, dunkel und geheimnisvoll... Sie rappelte sich auf und ließ ihren Blick durch ihr Zimmer schweifen. Über den hellen Laminatboden, den hübschen Schrank aus dunklem Holz, das Gemälde an der Wand, das eine Winterlandschaft zeigte, ihr Bett auf dem sie saß, mit dem dunkelroten Bettbezug und dem Nachtschränkchen daneben, dass aus dem selben Holz war, wie der Kleiderschrank. Mal sehen, was die Aussicht so zu bieten hat, dachte Anni lächelnd. Sie stand auf und trat ans Fenster. Umrahmt von einem dunkelroten Vorhang, passend zum Bett, stand auf der Fensterbank eine kleine Vase mit einer einzigen weißen Blüte darin. Von hier oben aus konnte sie in den großen Garten hinter dem eigentlichen Hospital sehen. Er war durchzogen von schmalen, ebenen Wegen, die sich in der Mitte in einem Rondell trafen, wie dem, das auch den Vorplatz des Krankenhauses umgab. Allerdings befand sich in der Mitte von diesem hier ein großer Springbrunnen, der seine Fontänen in die Luft blies. An diesem Tag war es sehr still im Hospital, sowie auch im Garten. Das war Anni schon aufgefallen, als sie mit Kelly und zuvor mit Kinley durch die Gänge gestrichen war. Offenbar hatte es heute keine Unfälle gegeben und niemand schien in Not zu sein. Da entdeckte Anni zwei Gestalten unten vor dem Springbrunnen. Sie hatten bis eben noch dahinter gestanden, jetzt ging die größere von beiden mit forschen Schritten um den Brunnen herum, während die kleinere Person ihr folgte. Sie redete scheinbar aufgebracht gestikulierend auf die erste Person ein. Da blieb die erste Person stehen und drehte sich zu der anderen um und Anni wurde klar, wen sie da sah. Dr. Anderson, erkennbar an seiner einzigartigen Erscheinung, so groß und schlank und jung, während er trotzdem so weise wirkte, wie ein alter Baum, redete mit einer Frau, die sich einen grauen Mantel übergeworfen hatte. Doch Anni sah darunter ein Stück ihres hellblauen Kittels aufblitzen und ihr Haar war ebenfalls unverkennbar Kellys blonde Modelmähne. Anni erstarrte am Fenster und beobachtete die beiden, wie sie sich, nun etwas ruhiger, unterhielten, und ihre Hand wanderte, fast unbemerkt von ihr selbst, zu ihren Lippen, als sie sah, wie Kelly Dr. Anderson umarmte. Sie blieben eine ganze Weile so stehen und dann sah Dr. Anderson plötzlich zu ihr hinauf. Und auch, wenn er sie unmöglich sehen konnte, hatte Anni das Gefühl, er würde ihr direkt in die Augen schauen. Sie wich vor dem Fenster zurück und warf sich wieder aufs Bett. Ihr Herz klopfte schnell, wie ein Metronom im zwei sechzehntel Takt und ihre Knie waren weich wie Götterspeise. Da spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem rechten Knie. Vorhin auf der Liege, wo Dr. Anderson sie verarztet hatte, hatte sie noch keinerlei Schmerzen verspürt, jetzt aber pochte es unaufhörlich. Anni schloss die Augen und dachte an Dr. Andersons dunkle, grüne Augen. In seinem kühlen Blick hatte sie etwas zu sehen geglaubt, dass ihr bekannt vorkam. Ein Gefühl, eine ganz schwache Regung nur, etwas, das sich bisher auf keine andere Weise auf seinem Gesicht gezeigt hatte. Wie hatte er wissen können, wo sie sich befand? Hatte er ihren Blick auf sich gespürt? Aber woher sollte er wissen, wo genau sich ihr Fenster befand? War er vielleicht ein Vampir? Bei dieser Vorstellung lief ihr ein angenehmer Schauer über den Rücken, der sie frösteln machte. „Was auch immer es ist, ich werde sein Geheimnis ergründen! Das schwöre ich mir!“ Dr. Robert Nils Anderson hatte Kelly ziemlich aus der Fassung gebracht. Er hatte es keinesfalls darauf angelegt, von ihr umarmt zu werden, aber wenn sie es so nötig brauchte... Immerhin war er kein Unmensch. Während sie sich an ihn schmiegte, spürte er dieses Prickeln in seinem Nacken, das ihn schon begleitet hatte, als er vorhin in dem Behandlungszimmer diese tollpatschige neue Krankenschwester versorgt hatte. Er wandte den Kopf und ließ seine Augen an der Fassade des Hospitals hinaufgleiten, bis sein Blick an dem Fenster hängen blieb, wo er ihr Zimmer vermutete. Dieses Mädchen würde sich hoffentlich nicht in Angelegenheiten mischen, die es nichts angingen. Kapitel 2: Ninja, Butler & Teddy -------------------------------- Anni sog genüsslich den Duft von frischen Hackbällchen ein. „Hmmmm, himmlisch.“ Nachdem sie zusammen mit Dr. Nyles endlich das Sekretariat gefunden hatte, hatte sie sich auch gleich einen Lageplan des Hospitals mitgenommen, wo alle Stationen und die dazugehörigen Stockwerke angegeben waren. Als sie gegen halb zwei mit der ihr zugeteilten Aufgabe fertig geworden war – im Keller die Wäsche der Patienten aufzuhängen und das war eine ganze Menge Wäsche – hatte sie sich auf ihrem Plan über den Standort der Cafeteria schlau gemacht. Diese befand sich im zweiten Stock und Anni stellte erfreut fest, dass dort noch einige andere Ärzte und Pfleger und Krankenschwestern saßen, die offenbar von anderen Stationen kamen. Sie hatte sich ein Tablett geschnappt und sich in die Schlange der Wartenden eingereiht, die allerdings hauptsächlich von Patienten besetzt war. So langsam spürte sie ihren Magen rebellieren und beim Anblick des frischen Essens lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Endlich war sie an der Reihe und bediente sich großzügig am Buffet. Sie war ganz überrascht, was für eine große Auswahl es gab: In einem riesigen Topf wurde Erbsensuppe angeboten, daneben Spagetti Bolognese, verschiedene bunte Salate, Bratkartoffeln, Frikadellen und mehrere Sorten Obst und Gemüse. Anni bediente sich gerade an den Hackbällchen, als eine wohlbekannte Stimme direkt neben ihr erklang. „Wie ich gehört habe, haben Sie sich heute Morgen ganz schön verlaufen, nicht wahr?“ Vor Schreck ließ Anni die Kelle in den Topf fallen und die rötliche Soße spritzte in hohem Bogen auf ihre Schwesternuniform und in ihr Gesicht. Sofort schoss ihr sämtliches Blut in den Kopf und sie begann zu schwitzen. Scheiße!, dachte sie und biss die Zähne zusammen. Verdammter, vertrottelter, blöder Mist! Ängstlich wandte sie sich zu dem Sprecher um. Direkt neben ihr stand Dr. Anderson. Auf seinem Tablett befand sich bis jetzt ein großes Schnitzel und ein sehr gesund aussehender Salat. Außerdem war sein Teller jetzt mit roten Soßenspritzern gesprenkelt und auch Dr. Andersons Hände und Gesicht hatten ein wenig Farbe abbekommen. Als Anni das sah, wurde ihr Kopf gleich noch um zwei Farbschattierungen röter, aber sie bezweifelte das das besonders stark auffiel. „E-entschuldigung“, stammelte sie, „Ich -“ Aber zu ihrer Überraschung ließ Dr. Anderson sie nicht ausreden. Stattdessen zückte er ein strahlend weißes Taschentuch aus einer Tasche seines weißen Arztkittels und begann schlicht sich die Spritzer von Gesicht und Händen zu tupfen. „Es tut mir wirklich leid, dass Sie sich meinetwegen in der Station geirrt haben. Ich hätte mich wirklich etwas deutlicher ausdrücken können. Ich hoffe doch, Sie hatten dort oben kein unangenehmes Erlebnis?“ Anni, deren Gesicht immer noch vor Scham brannte, schüttelte nur lahm den Kopf, während sie zusah wie Dr. Anderson auch die letzten Soßenspritzer von seinem Tablett wischte. „Dann bin ich ja erleichtert“, sagte er und er schien es ehrlich zu meinen. Anni glaubte sogar den Anflug eines Lächelns in seinen Augen erkennen zu können und hätte prompt beinahe ihr Tablett fallen gelassen, wenn dieses nicht vom Tisch gestützt worden wäre. Eine Weile sagte keiner von beiden etwas, dann öffnete Dr. Anderson den Mund und Annis Herz klopfte schneller. „Sie haben da noch Soße im Gesicht“, sagte Dr. Anderson. Anni wäre am liebsten gestorben. Da griff er ein weiteres Mal in seine Arztkitteltasche und zog ein zweites blütenweißes Taschentuch heraus. „Bitte sehr“, sagte er und hielt es ihr hin, „das bin ich Ihnen schuldig.“ Und diesmal lächelte er wirklich. Anni, ganz hypnotisiert von diesem Anblick griff zuerst an dem Taschentuch vorbei und nach dem dritten erfolglosen Versuch gelang es ihr schließlich, ihren Blick von Dr. Andersons Gesicht loszureißen und ihn auf das Taschentuch zu richten. Mit einem gestotterten „Dankeschön“ nahm sie es entgegen. Dr. Anderson nickte ihr zu und wandte sich zum gehen, blieb jedoch noch einmal stehen und drehte sich halb zu ihr um. „Der Tisch für Ärzte, Pfleger und Schwestern steht dort hinten“, dann drehte er sich um und ging. Anni starrte ihm noch eine Weile hinterher, bis ihr wieder einfiel, wo sie sich befand – die anderen Leute in ihrer näheren Umgebung begannen schon zu murren und einige räusperten sich sogar. So schnell sie konnte stellte sie sich eine Mahlzeit aus Hackbällchen, Bratkartoffeln und einem bunten Salat zusammen und verließ das Buffet. Bevor sie sich jedoch zu den anderen Ärzten an den Tisch setzte, suchte sie sich ein ruhiges Plätzchen weit von allen bekannten Gesichtern entfernt, und rieb sich das Gesicht ab. Anschließend überprüfte sie in ihrem Löffel, ob noch irgendwelche Soßenspuren in ihrem Gesicht zu finden waren und als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, ging sie sicheren Schrittes zum Tisch mit ihren Kollegen hinüber. Zu ihrer Freude sah sie dort auch Coons und Kinley, die sich gerade angeregt darüber unterhielten, wie man Blutflecken am besten wieder aus der Kleidung herausbekam. „Hey, da ist ja Anni!“, rief Coons, als sie sich gerade einen Stuhl zurechtrücken wollte. „Und sie sieht aus, als käme sie gerade frisch aus der OP“, bemerkte Kinley, der auf dem Tisch saß, wie immer grinsend und zwinkerte Anni zu. „Du solltest es mal mit einem Fleckenteufel versuchen, damit geht das ganz schnell wieder raus.“ „Quatsch! Dalglesh ist das einzige Mittel, mit dem -“ - „Jetzt lasst sie doch wenigstens in Ruhe essen“, fuhr die Krankenschwester dazwischen, die an dem Platz gegenüber von Anni saß und nickte ihr freundlich zu. Anni lächelte und setzte sich erleichtert hin. „Du bist die Neue hier, oder?“, fragte die sehr dünne Brünette. Sie trug die Haare in einem langen Zopf auf dem Rücken. Anni schluckte und nickte dann. „Ja, das ist mein erster Tag hier.“ „Und schon hast du dir deinen Kittel versaut“, lachte Coons. Die beiden Frauen ignorierten ihn. „Ich bin Marcy“, sagte die Brünette und reichte Anni die Hand. „Schön, dich kennen zu lernen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits“, erwiderte Anni und gleichzeitig dachte sie: Was? Wie rede ich denn auf einmal? Und nicht nur sie schien sich über ihre Ausdrucksweise zu wundern. „Hey, was ist denn mit dir los? Hast du zu viel Zeit mit Dr. Anderson verbracht?“, fragte Kinley und beugte sich neckisch zu Anni herab. Die wurde sofort knallrot – irgendwie war das heute wohl der Tag dafür... „Davon kann keine Rede sein“, erhob jetzt Dr. Anderson die Stimme. Er saß rechts von Marcy, Anni schräg gegenüber und warf Coons und Kinley jetzt einen strengen Blick zu. „Abgesehen davon, geht es Sie absolut nichts an, wie viel Zeit ich mit Anni oder einer anderen Schwester verbringe.“ „Oho“, machte Coons und stieß Kinley in die Rippen, der wiederum Anni anstupste. „Sie scheinen ja richtig aktiv zu sein, was die holde Weiblichkeit angeht...“ Dr. Andersons Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen in denen es gefährlich glühte, doch bevor er noch etwas sagen oder sich auf die beiden Nervensägen stürzen konnte, wurde die Tür zur Cafeteria weit aufgestoßen und ein Mann stürmte herein. „Robert! Ein Notfall!“, der grauhaarige Arzt trug eine Brille mit rechteckigen Gläsern, die in schwarz glänzenden Fassungen steckten. Er war geradewegs zu dem Tisch seiner Kollegen getreten. Naja, nicht wirklich getreten. Viel eher war er gerannt. Seine Augen blitzten vor Spannung und sein Kittel schien sich immer noch vom Fahrtwind zu blähen. Chefarzt Dr. Jeffrey Knox, las Anni auf seinem Namensschildchen. „Was gibt es denn?“, Dr. Anderson legte sein Besteck ordentlich neben den Teller und stand auf. „Das können wir noch auf dem Weg besprechen! Komm jetzt und nimm eine Schwester mit! Wir sind gerade ziemlich unterbesetzt!“, Dr. Knox Stimme war noch forscher als die Dr. Andersons und seine Schritte ebenso größer, als er jetzt der Tür entgegenstrebte. Auch Dr. Anderson wandte sich zum gehen. „Marcy, folgen Sie mir bitte“, sagte er noch im Gehen. „Aber ich hab noch nicht mal mit dem Essen angefangen!“, protestierte Marcy und deutete auf ihren in der Tat unangerührten Salat. „Nehmen Sie doch Anni mit.“ Dr. Anderson war stehen geblieben, sichtlich widerwillig. Jetzt drehte er sich um und funkelte sie an. „Das ist ein Notfall, verdammt noch mal und Anni hat zu wenig Erfahrung! Es ist schließlich ihr erster Tag hier!“ „Das schon“, sagte Anni, „aber ich habe schon früher in einem anderen Kranken-haus assistiert.“ „Da hörst du's“, sagte Marcy und schob sich eine Gabel voller Salatblätter in den Mund. Dr. Anderson runzelte die Stirn, scheinbar nachdenklich. Dann wurde ihm offenbar klar, dass er hier wertvolle Zeit vertrödelte, die womöglich Leben retten konnte und er winkte Anni, ihm zu folgen. „Kommen Sie. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Anni hatte Mühe mit ihm Schritt zu halten, während sie gemeinsam den Gang Richtung Notaufnahme hinunterrannten. Als sie den Raum schließlich erreichten, war sie ziemlich erschöpft, doch sie hatte keine Zeit zu verschnaufen. In dem Raum waren außer ihr und Dr. Anderson noch der Chefarzt, Dr. Knox, den sie so eben kennengelernt hatte und Kelly. Alle waren schwer beschäftigt damit, Platz zu machen und die sterilen Arbeitsutensilien auf silbern schimmernden Tabletts auszubreiten, während sie sich himmelblaue Kittel überstreiften und sich Gummihandschuhe über die Hände zogen. „Hier, ziehen Sie das an“, Dr. Anderson hielt Anni einen der Kittel entgegen und wandte sich dann der Tür zu, durch die gerade von zwei Pflegern eine Liege geschoben wurde. „Oh, nein! Will! Bitte beeilen sie sich! Er verblutet! Will, nein!“ Hinter den Pflegern, die die Liege nun in der Mitte des Raumes abstellten, kam eine junge Frau in den Raum gestürmt. Kelly hielt sie auf. „Ich muss Sie bitten draußen zu warten, Miss. Diesen Raum darf niemand betreten, der...“ „Aber Will! Will, hörst du mich? Will!“, weinte die Frau und versuchte sich an Kelly vorbei zu drängen. Sie war schrecklich hysterisch und so mussten die beiden Pfleger mithelfen die Frau behutsam und unter sanften Worten wieder nach draußen zu bringen. Unterdessen widmeten sich die Ärzte dem Mann auf der Liege. Er war nicht älter als neunzehn, das sah Anni sofort, also hatte er sein ganzes Leben noch vor sich. Allerdings war wohl nicht sicher, ob er davon noch viel haben würde, wenn man ihm nicht bald half. Sein rechtes Hosenbein war von Blut durchtränkt und völlig zerfetzt und auf seiner Stirn prangte eine große Platzwunde aus der es nur noch schwach blutete. Sein Gesicht war schweiß-überströmt, doch offenbar hatte er das Bewusstsein verloren. Anni beobachtete wie in Trance, wie Dr. Knox einen Tropf am Arm des Mannes befestigte, während Dr. Anderson begann, die ohnehin ruinierte Hose des jungen Mannes mit einer OP-Schere aufzuschneiden. Da erst fiel Anni auf, dass sie nun allein mit den beiden Männern und dem Verletzten war. Wahrscheinlich hatte Kelly alle Hände voll zu tun, die Freundin zu besänftigen. Da sie nicht wusste, was sie sonst tun konnte, schnappte sie sich mit Wasser und Desinfektionsmittel getränkte Wattebäusche und fing damit an, Wills Gesicht abzutupfen und zu säubern. „Das muss genäht werden“, Anni zuckte leicht, als sie Dr. Knox raue Stimme so nah an ihrem Ohr hörte. Sie schaute zu ihm auf und blickte in sein ernstes Gesicht, auf dem nun ebenfalls Schweißperlen glitzerten. Er hatte sich neben ihr über Wills Kopf gebeugt und begutachtete seine Wunde. „Können Sie das?“, fragte er. Anni nickte mechanisch. „Gut“, er drehte sich um und reichte ihr dann Nadel und Faden. „Die Narkose sollte inzwischen das ihre getan haben, sodass er keine Schmerzen spüren wird“, erklärte er mit einem kleinen Schmunzeln, als er sah, wie Anni die Nadel zaghaft an die nun sauberen Wundränder ansetzte. „Sie werden ihm also nicht wehtun.“ Anni schwitzte trotzdem, als sie die Nadel auf der Haut des Mannes ansetzte. Ihr Blick glitt dabei über sein blasses Gesicht, dessen Wangen rötlich glühten und auf dessen Stirn immer noch der Schweiß perlte. Ab und zu zuckten seine Lider als würde er jeden Moment erwachen und sich aufsetzen und sich womöglich noch selbst die Nadel in den Kopf rammen. Anni schüttelte entschieden den Kopf. Es war auf einmal so heiß... Aber sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen! Fest entschlossen biss sie die Zähne zusammen und tat den ersten Stich. Es war ein seltsames Gefühl in die Haut hineinzustechen. Der Widerstand war weit größer als bei dem Stoff einer löchrigen Socke. Nach vierzehn Stichen war die Wunde säuberlich verschlossen, trotzdem tupfte sie den Riss noch einmal mit Desinfektionsmittel ab und wischte dem Mann den Schweiß von der Stirn. Er glühte wie eine Herdplatte. Anni holte schnell ein weißes Handtuch und hielt es unter den kalten Wasserstrahl im Spülbecken, dann wrang sie es aus und legte es Will über die Stirn. „Das sieht übel aus.“ Anni fuhr herum. Die beiden Ärzte standen vornübergebeugt und betrachteten das Bein des Mannes. Sie hatten ihm inzwischen auch die restliche Kleidung vom Körper geschnitten und ihn mit einem himmelblauen Laken zugedeckt. Scheinbar war seine einzige andere Wunde die an seinem Bein und offenbar waren die beiden Männer skeptisch, ob es noch zu retten war. „Was ist denn?“, Anni war neben sie getreten und versuchte einen Blick auf das Bein zu erhaschen. Dr. Knox wich ein wenig zur Seite, damit auch sie etwas sehen konnte und sagte ohne sie anzusehen: „Dieser Mann kann seine Verletzungen keinesfalls von einem Autounfall bekommen haben, wie seine Freundin uns mitgeteilt hat. Es muss etwas anderes mit ihm passiert sein.“ Anni vergaß zu atmen, als sie sah, was mit Wills Bein geschehen war. Die ganze obere Hautschicht fehlte. Sie hatte freie Sicht auf das Gewebe, auf seine Muskeln, verwoben mit Sehnen und Blutgefäßen. Dr. Anderson hob eine Hand und folgte dem Lauf einer besonders stark vorstehenden Vene. Anni glaubte sie sogar pulsieren zu sehen. „Das sieht aus, als hätte ihm jemand etwas abgebissen“, sagte er nachdenklich. „Oder aber abgeschabt. Wie mit einer Käsehobel.“ Anni spürte wie sich auf ihrer Kopfhaut eine Gänsehaut bildete und ihr wurde plötzlich eiskalt. „Heißt das...?“ Dr. Anderson nickte langsam. „Ich glaube, jemand hat versucht, ihn umzubringen.“ Anni holte einmal tief Luft, doch Dr. Knox ließ ihr keine Zeit um ohnmächtig zu werden oder noch eine weitere Frage zu stellen. „Wie auch immer. Wir sind nicht hier nicht bei der Kripo, sondern in der Notauf-nahme, also sollten wir uns schnell darum kümmern, dass der Mann gerettet wird.“ „Wir müssen das schweißen“, murmelte Dr. Anderson. „Was?“ Er drehte sich zu Anni um. „Weißt du nicht, wie mein ein Auto herstellt?“ Was sollte das denn jetzt? Wollte er ihr jetzt etwa eine Lektion im Handwerk eines Mechanikers erteilen? Anni zuckte die Schultern. Dr. Anderson seufzte, drehte sich um und ging zu einem Schrank an der gegenüberliegenden Wand hinüber. „Die Form eines Autos besteht eigentlich aus einer Menge Einzelteile“, erörterte Dr. Knox. „Und um diese Einzelteile miteinander zu verbinden, braucht es einen sehr starken Klebstoff.“ Anni runzelte die Stirn. Wozu sollte das hier führen? „Genauer gesagt“, fuhr Dr. Anderson fort, „man muss die einzelnen Teile miteinander verschmelzen. Das nennt sich Schweißen.“ Er hielt etwas in der Hand, das wie ein großer, silberner Feuerlöscher aussah. Jetzt hob er den Schlauch, drückte den Hebel daran und oben aus der Öffnung des Schlauchs schoss eine Flamme, die sogleich den gesamten Raum in grelles Licht tauchte und ihre Schatten an den Wänden tanzen ließ. „Und das geht nicht nur mit Metall“, sagte Dr. Knox, während Dr. Anderson sich zu Will auf der Liege hinunterbeugte, „das gilt auch für Haut.“ Anni war froh, als Dr. Anderson seine Arbeit mit dem Schweißgerät beendet hatte, und noch froher darüber, dass Will von dem Ganzen nichts mitgekommen hatte. Sie hatte sich die Schmerzen gar nicht vorstellen können, die seine Nervenbahnen rauf- und wieder hinunter gejagt sein mussten. Erschöpft streifte sie sich die Gummihandschuhe ab und warf sie in den Mülleimer. Dann begann sie die benutzten Werkzeuge zu säubern und ins Spülbecken zu legen. Coons und Kinley waren vorbeigekommen um Will abzuholen und auf ein Zimmer zu bringen und Anni war erleichtert, dass die beiden sich nicht noch damit aufgehalten hatten, Witze über Schweißer, Automechaniker oder Schneider zu machen, oder was ihnen bei einer solchen Gelegenheit eben noch eingefallen wäre. Sie hatten einfach schweigend die Liege entgegen genommen, allen im Raum freundlich zugenickt, und waren dann mit dem Patienten durch die Tür verschwunden. „Sie haben sich wirklich gut geschlagen, an Ihrem ersten Tag.“ Anni sah auf. Neben ihr, keine zwei Meter entfernt, stand Dr. Anderson, mit dem Hinterteil an die frisch gewischte Arbeitsfläche gelehnt und beobachtete sie. „Sie haben wohl doch schon mehr Erfahrungen gesammelt, als ich gedacht habe. Wegen Ihres Alters war ich davon ausgegangen, dass Sie noch nicht viel mehr gemacht haben, als den Blutdruck zu messen, den Puls zu fühlen und den Patienten die Kissen auszuschlagen“, er hob entschuldigend die Schultern. „In den meisten Krankenhäusern ist das sicher auch üblich“, sagte Anni und bemühte sich, ihr Sprechverhalten und ihre Wortwahl den seinen anzupassen. „Aber ich habe mich schon immer sehr für diesen Beruf interessiert. Ich habe sogar als Kind oft Arzt gespielt.“ Sie lächelte ihn an. Dr. Anderson hob eine Augenbraue. „Das ist ja bei Ihnen auch noch nicht allzu lange her.“ Blöder Idiot!, dachte Anni entnervt und warf das letzte Skalpell ins Wasser. Sie versuchte, sich ihre Entrüstung nicht anmerken zu lassen, als sie nach einem Handtuch griff und sich die Hände daran abtrocknete. „Ich habe mich jedenfalls auch in meiner ersten Arbeitsstelle sehr engagiert und deshalb durfte ich auch schon öfter im OP assistieren“, sagte sie mit einem kühlen Augenaufschlag. Dr. Anderson sah sie schräg von der Seite her an. Auf einmal wirkte er sehr jung. Er erinnerte sie an einen Jungen, in den sie in der High School verknallt gewesen war. Carl hatte er geheißen. „Haben Sie da auch das Nähen gelernt, oder hat Ihnen das Ihre Mutter beigebracht?“ Anni beschloss, nicht auf diese Stichelei einzugehen, vor allem, da sie von ihrer guten Arbeit überzeugt war, legte das Handtuch weg und wollte erhobenen Hauptes an ihm vorbei schreiten, doch da spürte sie, dass sie die ganze Sache wohl doch nicht so locker weggesteckt hatte, wie sie gedacht hatte. Ein seltsam taubes Gefühl machte sich plötzlich in ihren Beinen breit und ihr Kopf fühlte sich an als wäre darin nichts als Watte. Sie fühlte, wie die Welle des Schwindels sie überrollte und ihre Knie gaben nach. Anni schloss die Augen und riss die tauben Arme hoch, während sie den Boden immer schneller auf sich zu rasen sah, da wurde ihr Sturz sanft gestoppt und als sie die Augen öffnete, fand sie sich in Dr. Andersons Armen wieder, der sie besorgt musterte. Kapitel 3: Ein Notfall zum Mittagessen -------------------------------------- Anni sog genüsslich den Duft von frischen Hackbällchen ein. „Hmmmm, himmlisch.“ Nachdem sie zusammen mit Dr. Nyles endlich das Sekretariat gefunden hatte, hatte sie sich auch gleich einen Lageplan des Hospitals mitgenommen, wo alle Stationen und die dazugehörigen Stockwerke angegeben waren. Als sie gegen halb zwei mit der ihr zugeteilten Aufgabe fertig geworden war – im Keller die Wäsche der Patienten aufzuhängen und das war eine ganze Menge Wäsche – hatte sie sich auf ihrem Plan über den Standort der Cafeteria schlau gemacht. Diese befand sich im zweiten Stock und Anni stellte erfreut fest, dass dort noch einige andere Ärzte und Pfleger und Krankenschwestern saßen, die offenbar von anderen Stationen kamen. Sie hatte sich ein Tablett geschnappt und sich in die Schlange der Wartenden eingereiht, die allerdings hauptsächlich von Patienten besetzt war. So langsam spürte sie ihren Magen rebellieren und beim Anblick des frischen Essens lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Endlich war sie an der Reihe und bediente sich großzügig am Buffet. Sie war ganz überrascht, was für eine große Auswahl es gab: In einem riesigen Topf wurde Erbsensuppe angeboten, daneben Spagetti Bolognese, verschiedene bunte Salate, Bratkartoffeln, Frikadellen und mehrere Sorten Obst und Gemüse. Anni bediente sich gerade an den Hackbällchen, als eine wohlbekannte Stimme direkt neben ihr erklang. „Wie ich gehört habe, haben Sie sich heute Morgen ganz schön verlaufen, nicht wahr?“ Vor Schreck ließ Anni die Kelle in den Topf fallen und die rötliche Soße spritzte in hohem Bogen auf ihre Schwesternuniform und in ihr Gesicht. Sofort schoss ihr sämtliches Blut in den Kopf und sie begann zu schwitzen. Scheiße!, dachte sie und biss die Zähne zusammen. Verdammter, vertrottelter, blöder Mist! Ängstlich wandte sie sich zu dem Sprecher um. Direkt neben ihr stand Dr. Anderson. Auf seinem Tablett befand sich bis jetzt ein großes Schnitzel und ein sehr gesund aussehender Salat. Außerdem war sein Teller jetzt mit roten Soßenspritzern gesprenkelt und auch Dr. Andersons Hände und Gesicht hatten ein wenig Farbe abbekommen. Als Anni das sah, wurde ihr Kopf gleich noch um zwei Farbschattierungen röter, aber sie bezweifelte das das besonders stark auffiel. „E-entschuldigung“, stammelte sie, „Ich -“ Aber zu ihrer Überraschung ließ Dr. Anderson sie nicht ausreden. Stattdessen zückte er ein strahlend weißes Taschentuch aus einer Tasche seines weißen Arztkittels und begann schlicht sich die Spritzer von Gesicht und Händen zu tupfen. „Es tut mir wirklich leid, dass Sie sich meinetwegen in der Station geirrt haben. Ich hätte mich wirklich etwas deutlicher ausdrücken können. Ich hoffe doch, Sie hatten dort oben kein unangenehmes Erlebnis?“ Anni, deren Gesicht immer noch vor Scham brannte, schüttelte nur lahm den Kopf, während sie zusah wie Dr. Anderson auch die letzten Soßenspritzer von seinem Tablett wischte. „Dann bin ich ja erleichtert“, sagte er und er schien es ehrlich zu meinen. Anni glaubte sogar den Anflug eines Lächelns in seinen Augen erkennen zu können und hätte prompt beinahe ihr Tablett fallen gelassen, wenn dieses nicht vom Tisch gestützt worden wäre. Eine Weile sagte keiner von beiden etwas, dann öffnete Dr. Anderson den Mund und Annis Herz klopfte schneller. „Sie haben da noch Soße im Gesicht“, sagte Dr. Anderson. Anni wäre am liebsten gestorben. Da griff er ein weiteres Mal in seine Arztkitteltasche und zog ein zweites blütenweißes Taschentuch heraus. „Bitte sehr“, sagte er und hielt es ihr hin, „das bin ich Ihnen schuldig.“ Und diesmal lächelte er wirklich. Anni, ganz hypnotisiert von diesem Anblick griff zuerst an dem Taschentuch vorbei und nach dem dritten erfolglosen Versuch gelang es ihr schließlich, ihren Blick von Dr. Andersons Gesicht loszureißen und ihn auf das Taschentuch zu richten. Mit einem gestotterten „Dankeschön“ nahm sie es entgegen. Dr. Anderson nickte ihr zu und wandte sich zum gehen, blieb jedoch noch einmal stehen und drehte sich halb zu ihr um. „Der Tisch für Ärzte, Pfleger und Schwestern steht dort hinten“, dann drehte er sich um und ging. Anni starrte ihm noch eine Weile hinterher, bis ihr wieder einfiel, wo sie sich befand – die anderen Leute in ihrer näheren Umgebung begannen schon zu murren und einige räusperten sich sogar. So schnell sie konnte stellte sie sich eine Mahlzeit aus Hackbällchen, Bratkartoffeln und einem bunten Salat zusammen und verließ das Buffet. Bevor sie sich jedoch zu den anderen Ärzten an den Tisch setzte, suchte sie sich ein ruhiges Plätzchen weit von allen bekannten Gesichtern entfernt, und rieb sich das Gesicht ab. Anschließend überprüfte sie in ihrem Löffel, ob noch irgendwelche Soßenspuren in ihrem Gesicht zu finden waren und als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, ging sie sicheren Schrittes zum Tisch mit ihren Kollegen hinüber. Zu ihrer Freude sah sie dort auch Coons und Kinley, die sich gerade angeregt darüber unterhielten, wie man Blutflecken am besten wieder aus der Kleidung herausbekam. „Hey, da ist ja Anni!“, rief Coons, als sie sich gerade einen Stuhl zurechtrücken wollte. „Und sie sieht aus, als käme sie gerade frisch aus der OP“, bemerkte Kinley, der auf dem Tisch saß, wie immer grinsend und zwinkerte Anni zu. „Du solltest es mal mit einem Fleckenteufel versuchen, damit geht das ganz schnell wieder raus.“ „Quatsch! Dalglesh ist das einzige Mittel, mit dem -“ - „Jetzt lasst sie doch wenigstens in Ruhe essen“, fuhr die Krankenschwester dazwischen, die an dem Platz gegenüber von Anni saß und nickte ihr freundlich zu. Anni lächelte und setzte sich erleichtert hin. „Du bist die Neue hier, oder?“, fragte die sehr dünne Brünette. Sie trug die Haare in einem langen Zopf auf dem Rücken. Anni schluckte und nickte dann. „Ja, das ist mein erster Tag hier.“ „Und schon hast du dir deinen Kittel versaut“, lachte Coons. Die beiden Frauen ignorierten ihn. „Ich bin Marcy“, sagte die Brünette und reichte Anni die Hand. „Schön, dich kennen zu lernen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits“, erwiderte Anni und gleichzeitig dachte sie: Was? Wie rede ich denn auf einmal? Und nicht nur sie schien sich über ihre Ausdrucksweise zu wundern. „Hey, was ist denn mit dir los? Hast du zu viel Zeit mit Dr. Anderson verbracht?“, fragte Kinley und beugte sich neckisch zu Anni herab. Die wurde sofort knallrot – irgendwie war das heute wohl der Tag dafür... „Davon kann keine Rede sein“, erhob jetzt Dr. Anderson die Stimme. Er saß rechts von Marcy, Anni schräg gegenüber und warf Coons und Kinley jetzt einen strengen Blick zu. „Abgesehen davon, geht es Sie absolut nichts an, wie viel Zeit ich mit Anni oder einer anderen Schwester verbringe.“ „Oho“, machte Coons und stieß Kinley in die Rippen, der wiederum Anni anstupste. „Sie scheinen ja richtig aktiv zu sein, was die holde Weiblichkeit angeht...“ Dr. Andersons Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen in denen es gefährlich glühte, doch bevor er noch etwas sagen oder sich auf die beiden Nervensägen stürzen konnte, wurde die Tür zur Cafeteria weit aufgestoßen und ein Mann stürmte herein. „Robert! Ein Notfall!“, der grauhaarige Arzt trug eine Brille mit rechteckigen Gläsern, die in schwarz glänzenden Fassungen steckten. Er war geradewegs zu dem Tisch seiner Kollegen getreten. Naja, nicht wirklich getreten. Viel eher war er gerannt. Seine Augen blitzten vor Spannung und sein Kittel schien sich immer noch vom Fahrtwind zu blähen. Chefarzt Dr. Jeffrey Knox, las Anni auf seinem Namensschildchen. „Was gibt es denn?“, Dr. Anderson legte sein Besteck ordentlich neben den Teller und stand auf. „Das können wir noch auf dem Weg besprechen! Komm jetzt und nimm eine Schwester mit! Wir sind gerade ziemlich unterbesetzt!“, Dr. Knox Stimme war noch forscher als die Dr. Andersons und seine Schritte ebenso größer, als er jetzt der Tür entgegenstrebte. Auch Dr. Anderson wandte sich zum gehen. „Marcy, folgen Sie mir bitte“, sagte er noch im Gehen. „Aber ich hab noch nicht mal mit dem Essen angefangen!“, protestierte Marcy und deutete auf ihren in der Tat unangerührten Salat. „Nehmen Sie doch Anni mit.“ Dr. Anderson war stehen geblieben, sichtlich widerwillig. Jetzt drehte er sich um und funkelte sie an. „Das ist ein Notfall, verdammt noch mal und Anni hat zu wenig Erfahrung! Es ist schließlich ihr erster Tag hier!“ „Das schon“, sagte Anni, „aber ich habe schon früher in einem anderen Kranken-haus assistiert.“ „Da hörst du's“, sagte Marcy und schob sich eine Gabel voller Salatblätter in den Mund. Dr. Anderson runzelte die Stirn, scheinbar nachdenklich. Dann wurde ihm offenbar klar, dass er hier wertvolle Zeit vertrödelte, die womöglich Leben retten konnte und er winkte Anni, ihm zu folgen. „Kommen Sie. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Anni hatte Mühe mit ihm Schritt zu halten, während sie gemeinsam den Gang Richtung Notaufnahme hinunterrannten. Als sie den Raum schließlich erreichten, war sie ziemlich erschöpft, doch sie hatte keine Zeit zu verschnaufen. In dem Raum waren außer ihr und Dr. Anderson noch der Chefarzt, Dr. Knox, den sie so eben kennengelernt hatte und Kelly. Alle waren schwer beschäftigt damit, Platz zu machen und die sterilen Arbeitsutensilien auf silbern schimmernden Tabletts auszubreiten, während sie sich himmelblaue Kittel überstreiften und sich Gummihandschuhe über die Hände zogen. „Hier, ziehen Sie das an“, Dr. Anderson hielt Anni einen der Kittel entgegen und wandte sich dann der Tür zu, durch die gerade von zwei Pflegern eine Liege geschoben wurde. „Oh, nein! Will! Bitte beeilen sie sich! Er verblutet! Will, nein!“ Hinter den Pflegern, die die Liege nun in der Mitte des Raumes abstellten, kam eine junge Frau in den Raum gestürmt. Kelly hielt sie auf. „Ich muss Sie bitten draußen zu warten, Miss. Diesen Raum darf niemand betreten, der...“ „Aber Will! Will, hörst du mich? Will!“, weinte die Frau und versuchte sich an Kelly vorbei zu drängen. Sie war schrecklich hysterisch und so mussten die beiden Pfleger mithelfen die Frau behutsam und unter sanften Worten wieder nach draußen zu bringen. Unterdessen widmeten sich die Ärzte dem Mann auf der Liege. Er war nicht älter als neunzehn, das sah Anni sofort, also hatte er sein ganzes Leben noch vor sich. Allerdings war wohl nicht sicher, ob er davon noch viel haben würde, wenn man ihm nicht bald half. Sein rechtes Hosenbein war von Blut durchtränkt und völlig zerfetzt und auf seiner Stirn prangte eine große Platzwunde aus der es nur noch schwach blutete. Sein Gesicht war schweiß-überströmt, doch offenbar hatte er das Bewusstsein verloren. Anni beobachtete wie in Trance, wie Dr. Knox einen Tropf am Arm des Mannes befestigte, während Dr. Anderson begann, die ohnehin ruinierte Hose des jungen Mannes mit einer OP-Schere aufzuschneiden. Da erst fiel Anni auf, dass sie nun allein mit den beiden Männern und dem Verletzten war. Wahrscheinlich hatte Kelly alle Hände voll zu tun, die Freundin zu besänftigen. Da sie nicht wusste, was sie sonst tun konnte, schnappte sie sich mit Wasser und Desinfektionsmittel getränkte Wattebäusche und fing damit an, Wills Gesicht abzutupfen und zu säubern. „Das muss genäht werden“, Anni zuckte leicht, als sie Dr. Knox raue Stimme so nah an ihrem Ohr hörte. Sie schaute zu ihm auf und blickte in sein ernstes Gesicht, auf dem nun ebenfalls Schweißperlen glitzerten. Er hatte sich neben ihr über Wills Kopf gebeugt und begutachtete seine Wunde. „Können Sie das?“, fragte er. Anni nickte mechanisch. „Gut“, er drehte sich um und reichte ihr dann Nadel und Faden. „Die Narkose sollte inzwischen das ihre getan haben, sodass er keine Schmerzen spüren wird“, erklärte er mit einem kleinen Schmunzeln, als er sah, wie Anni die Nadel zaghaft an die nun sauberen Wundränder ansetzte. „Sie werden ihm also nicht wehtun.“ Anni schwitzte trotzdem, als sie die Nadel auf der Haut des Mannes ansetzte. Ihr Blick glitt dabei über sein blasses Gesicht, dessen Wangen rötlich glühten und auf dessen Stirn immer noch der Schweiß perlte. Ab und zu zuckten seine Lider als würde er jeden Moment erwachen und sich aufsetzen und sich womöglich noch selbst die Nadel in den Kopf rammen. Anni schüttelte entschieden den Kopf. Es war auf einmal so heiß... Aber sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen! Fest entschlossen biss sie die Zähne zusammen und tat den ersten Stich. Es war ein seltsames Gefühl in die Haut hineinzustechen. Der Widerstand war weit größer als bei dem Stoff einer löchrigen Socke. Nach vierzehn Stichen war die Wunde säuberlich verschlossen, trotzdem tupfte sie den Riss noch einmal mit Desinfektionsmittel ab und wischte dem Mann den Schweiß von der Stirn. Er glühte wie eine Herdplatte. Anni holte schnell ein weißes Handtuch und hielt es unter den kalten Wasserstrahl im Spülbecken, dann wrang sie es aus und legte es Will über die Stirn. „Das sieht übel aus.“ Anni fuhr herum. Die beiden Ärzte standen vornübergebeugt und betrachteten das Bein des Mannes. Sie hatten ihm inzwischen auch die restliche Kleidung vom Körper geschnitten und ihn mit einem himmelblauen Laken zugedeckt. Scheinbar war seine einzige andere Wunde die an seinem Bein und offenbar waren die beiden Männer skeptisch, ob es noch zu retten war. „Was ist denn?“, Anni war neben sie getreten und versuchte einen Blick auf das Bein zu erhaschen. Dr. Knox wich ein wenig zur Seite, damit auch sie etwas sehen konnte und sagte ohne sie anzusehen: „Dieser Mann kann seine Verletzungen keinesfalls von einem Autounfall bekommen haben, wie seine Freundin uns mitgeteilt hat. Es muss etwas anderes mit ihm passiert sein.“ Anni vergaß zu atmen, als sie sah, was mit Wills Bein geschehen war. Die ganze obere Hautschicht fehlte. Sie hatte freie Sicht auf das Gewebe, auf seine Muskeln, verwoben mit Sehnen und Blutgefäßen. Dr. Anderson hob eine Hand und folgte dem Lauf einer besonders stark vorstehenden Vene. Anni glaubte sie sogar pulsieren zu sehen. „Das sieht aus, als hätte ihm jemand etwas abgebissen“, sagte er nachdenklich. „Oder aber abgeschabt. Wie mit einer Käsehobel.“ Anni spürte wie sich auf ihrer Kopfhaut eine Gänsehaut bildete und ihr wurde plötzlich eiskalt. „Heißt das...?“ Dr. Anderson nickte langsam. „Ich glaube, jemand hat versucht, ihn umzubringen.“ Anni holte einmal tief Luft, doch Dr. Knox ließ ihr keine Zeit um ohnmächtig zu werden oder noch eine weitere Frage zu stellen. „Wie auch immer. Wir sind nicht hier nicht bei der Kripo, sondern in der Notauf-nahme, also sollten wir uns schnell darum kümmern, dass der Mann gerettet wird.“ „Wir müssen das schweißen“, murmelte Dr. Anderson. „Was?“ Er drehte sich zu Anni um. „Weißt du nicht, wie mein ein Auto herstellt?“ Was sollte das denn jetzt? Wollte er ihr jetzt etwa eine Lektion im Handwerk eines Mechanikers erteilen? Anni zuckte die Schultern. Dr. Anderson seufzte, drehte sich um und ging zu einem Schrank an der gegenüberliegenden Wand hinüber. „Die Form eines Autos besteht eigentlich aus einer Menge Einzelteile“, erörterte Dr. Knox. „Und um diese Einzelteile miteinander zu verbinden, braucht es einen sehr starken Klebstoff.“ Anni runzelte die Stirn. Wozu sollte das hier führen? „Genauer gesagt“, fuhr Dr. Anderson fort, „man muss die einzelnen Teile miteinander verschmelzen. Das nennt sich Schweißen.“ Er hielt etwas in der Hand, das wie ein großer, silberner Feuerlöscher aussah. Jetzt hob er den Schlauch, drückte den Hebel daran und oben aus der Öffnung des Schlauchs schoss eine Flamme, die sogleich den gesamten Raum in grelles Licht tauchte und ihre Schatten an den Wänden tanzen ließ. „Und das geht nicht nur mit Metall“, sagte Dr. Knox, während Dr. Anderson sich zu Will auf der Liege hinunterbeugte, „das gilt auch für Haut.“ Anni war froh, als Dr. Anderson seine Arbeit mit dem Schweißgerät beendet hatte, und noch froher darüber, dass Will von dem Ganzen nichts mitgekommen hatte. Sie hatte sich die Schmerzen gar nicht vorstellen können, die seine Nervenbahnen rauf- und wieder hinunter gejagt sein mussten. Erschöpft streifte sie sich die Gummihandschuhe ab und warf sie in den Mülleimer. Dann begann sie die benutzten Werkzeuge zu säubern und ins Spülbecken zu legen. Coons und Kinley waren vorbeigekommen um Will abzuholen und auf ein Zimmer zu bringen und Anni war erleichtert, dass die beiden sich nicht noch damit aufgehalten hatten, Witze über Schweißer, Automechaniker oder Schneider zu machen, oder was ihnen bei einer solchen Gelegenheit eben noch eingefallen wäre. Sie hatten einfach schweigend die Liege entgegen genommen, allen im Raum freundlich zugenickt, und waren dann mit dem Patienten durch die Tür verschwunden. „Sie haben sich wirklich gut geschlagen, an Ihrem ersten Tag.“ Anni sah auf. Neben ihr, keine zwei Meter entfernt, stand Dr. Anderson, mit dem Hinterteil an die frisch gewischte Arbeitsfläche gelehnt und beobachtete sie. „Sie haben wohl doch schon mehr Erfahrungen gesammelt, als ich gedacht habe. Wegen Ihres Alters war ich davon ausgegangen, dass Sie noch nicht viel mehr gemacht haben, als den Blutdruck zu messen, den Puls zu fühlen und den Patienten die Kissen auszuschlagen“, er hob entschuldigend die Schultern. „In den meisten Krankenhäusern ist das sicher auch üblich“, sagte Anni und bemühte sich, ihr Sprechverhalten und ihre Wortwahl den seinen anzupassen. „Aber ich habe mich schon immer sehr für diesen Beruf interessiert. Ich habe sogar als Kind oft Arzt gespielt.“ Sie lächelte ihn an. Dr. Anderson hob eine Augenbraue. „Das ist ja bei Ihnen auch noch nicht allzu lange her.“ Blöder Idiot!, dachte Anni entnervt und warf das letzte Skalpell ins Wasser. Sie versuchte, sich ihre Entrüstung nicht anmerken zu lassen, als sie nach einem Handtuch griff und sich die Hände daran abtrocknete. „Ich habe mich jedenfalls auch in meiner ersten Arbeitsstelle sehr engagiert und deshalb durfte ich auch schon öfter im OP assistieren“, sagte sie mit einem kühlen Augenaufschlag. Dr. Anderson sah sie schräg von der Seite her an. Auf einmal wirkte er sehr jung. Er erinnerte sie an einen Jungen, in den sie in der High School verknallt gewesen war. Carl hatte er geheißen. „Haben Sie da auch das Nähen gelernt, oder hat Ihnen das Ihre Mutter beigebracht?“ Anni beschloss, nicht auf diese Stichelei einzugehen, vor allem, da sie von ihrer guten Arbeit überzeugt war, legte das Handtuch weg und wollte erhobenen Hauptes an ihm vorbei schreiten, doch da spürte sie, dass sie die ganze Sache wohl doch nicht so locker weggesteckt hatte, wie sie gedacht hatte. Ein seltsam taubes Gefühl machte sich plötzlich in ihren Beinen breit und ihr Kopf fühlte sich an als wäre darin nichts als Watte. Sie fühlte, wie die Welle des Schwindels sie überrollte und ihre Knie gaben nach. Anni schloss die Augen und riss die tauben Arme hoch, während sie den Boden immer schneller auf sich zu rasen sah, da wurde ihr Sturz sanft gestoppt und als sie die Augen öffnete, fand sie sich in Dr. Andersons Armen wieder, der sie besorgt musterte. Kapitel 4: In Search Of ... --------------------------- Oh, Mann wie peinlich!! Anni vergrub ihr Gesicht im Kissen. Nach ihrem kleinen Schwächeanfall im OP-Saal der Notaufnahme hatte Dr. Knox, der exakt in dem Moment den Raum betreten hatte, als Dr. Anderson sie fragte, ob alles in Ordnung sei, ihr Bettruhe erteilt. Dr. Anderson selbst hatte sie dann noch nach oben in ihr Zimmer gebracht. Den Arm um ihre Taille gelegt, hatte er sie gestützt und sie alle paar Meter gefragt, ob ihr auch ganz sicher nicht schon wieder schwindelig sei. Anni konnte sich bei dieser Erinnerung ein Lächeln nicht verkneif-en und plötzlich war ihr, als spüre sie ihn immer noch neben sich, seinen warmen, starken Arm um sie gelegt, so als wolle er sie vor allem Unheil in der Welt beschützen. „Aaargh! Was denke ich denn da?!“, Anni bäumte sich auf und boxte in ihr Kissen. „Er ist schließlich verheiratet...!“ Die Bedeutung dieser Worte versetzte ihr zu ihrer eigenen Überraschung einen Stich. Sie rollte sich auf den Rücken und seufzte ganz tief. Hoffentlich hatten sie Will helfen können... Als sie zusammen mit Dr. Anderson Richtung Aufzüge gegangen war, war sie an dem Zimmer vorbeigekommen, in dem Will nun stationiert worden war. Durch die große Glasscheibe sah sie ihn da liegen, reglos wie zuvor. Seine Freundin hielt seine Hand und immer noch kullerten ihr stumme Tränen der Verzweiflung die Wangen hinab. Anni seufzte erneut. Die arme Frau... Da klopfte es an der Tür und ohne ein „Herein“ abzuwarten, wurde sie geöffnet und Kelly kam herein, ein Tablett balancierend. „Hey, na wie geht es dir? Ist ja schlimm, was da im OP abgegangen ist.“ Mit dem Ellenbogen schloss sie die Tür hinter sich und kam dann zu Anni herüber, wo sie als erstes das Tablett auf den Nachttisch stellte und sie dann besorgt anblickte. Anni lächelte sie besänftigend an: „Naja, was soll man erwarten. Immerhin war es ja ein Notfall und wir konnten dem Mann helfen. Nur das mit dem Schweißen...“ Eine Welle der Übelkeit schwappte gegen ihren Magen und sie biss die Zähne zusammen um nicht aufstoßen zu müssen. Kelly lächelte sie mitfühlend an. „Ich hab gehört, dass du nach der OP zusammengebrochen bist.“ „Naja... vielleicht hat es daran gelegen, dass ich vorher keine Zeit mehr hatte etwas zu essen... Und das Frühstück hab ich leider auch vergessen, also...“ „Was?!“, Kelly war die Empörung in Person. „So geht das aber nicht!“ Sie zog das Tablett näher heran, auf dem sich ein Berg Sandwiches türmte, und goss aus einer Thermoskanne dampfenden roten Tee in einen Becher. „So, den trinkst du jetzt und dann isst du die alle auf“, sagte sie mit einem liebens-würdigen Lächeln, das keinen Widerspruch duldete. Als Kelly wieder verschwunden war, fühlte Annis Bauch sich an, wie ein Luftballon kurz vorm Platzen. Sie hatte ganze zwölfeinhalb Sandwiches verdrückt und dazu noch die ganze Thermoskanne ausgetrunken. Zwar knurrte ihr Magen jetzt nicht mehr, aber dafür gluckerte er ziemlich laut. Weil sie befürchtete sonst nicht mehr hochzukommen, stand sie auf und lief ein wenig in ihrem Zimmer auf und ab. Kelly hatte die gesamten zwei Stunden, die sie bei ihr gewesen war, auf sie eingeredet. Es hatte allerdings nur eine geringe Ähnlichkeit mit einer Unterhalt-ung gehabt, da Kelly ihr jedes Mal, wenn Anni ihre Zustimmung gemurmelt oder auch nur „aha“ gesagt hatte, einen finsteren Blick zugeworfen hatte: „Sollte dein Mund nicht noch mit Kauen beschäftigt sein?“ Kelly hatte ihr erzählt, dass sie Dr. Anderson auf dem Weg zu dem Zimmer begegnet war, in dem Will nun lag, dessen voller Name übrigens Will Larkson lautete. Seine Freundin hatte sich inzwischen ein wenig beruhigt, nachdem Kelly ihr mehrere Beruhigungstees verabreicht und Dr. Nyles sie auf einen kleinen Spaziergang durch den Garten eingeladen hatte. Kelly hatte ein wenig mit Dr. Anderson geplaudert und dann erzählt, dass er ihr gesagt hatte, sie solle nach Anni sehen und dafür sorgen, dass sie ihr vernach-lässigtes Mittagessen gebührend nachhole. Anni strich sich über ihren überfüllten Bauch. Dem hab ich das also zu verdanken, dachte sie grimmig. An sich war ihr Zusammensein mit Kelly aber sehr lustig gewesen. Sie hatte allerlei Klatsch und Tratsch zu erzählen gewusst. Und irgendwann hatte Anni – mit vollem Mund, da sie sonst eine Rüge fürchtete – gefragt: „Wie lange arbeitest du eigentlich schon hier, Kelly?“ „Aaach mir kommt es wie eine Ewigkeit vor“, Kelly lachte auf. „Aber es sind wohl gerade erst zwei Jahre.“ „Und... Dr. Anderson?“ „Genauso lange“, Kellys Augen leuchteten auf bei der Erwähnung seines Namens und ihr Lächeln vertiefte sich. „Und ihr habt euch hier kennengelernt?“, fragte Anni in bemüht beiläufigem Ton. „Oh, nein. Wir kennen uns schon unser Leben lang“, antwortete Kelly fröhlich und füllte frischen Tee in Annis Becher. Also sind sie auch noch so etwas wie Sandkastenfreunde? Da hab ich wohl keine Chance, dachte Anni jetzt. Sie war am Fenster stehen geblieben und blickte hinaus. Heute waren mehr Menschen im Garten unterwegs. Patienten in Rollstühlen, die von Pflegern oder Besuchern geschoben wurden und auch Kinder waren da, die ausgelassen spielten. Anni ließ ihren Blick über die Szenerie schweifen. Es wirkte alles so friedlich, wenn man einmal den Himmel außer Acht ließ, denn genau in diesem Moment verschwand die Sonne hinter dunklen Wolkenbergen, die sich groß und bedrohlich über allem aufbauten. Anni beobachtete wie das helle blau des Himmels immer mehr verblasste, bis er so grau war, wie kalter Stein. Beim ersten Donnergrollen erschauderte sie und beim zweiten sah sie, wie die Menschen nach drinnen strömten. Niemand schien bei einem solchen Wetter draußen sein zu wollen. Verständlich, wie sie fand. Sie wollte sich gerade abwenden und ihre Gedanken auf etwas anderes konzentrier-en, da entdeckte sie unten zwischen den Bäumen eine dunkle Gestalt. Einsam und von allem verlassen stand dort ein großer und schlanker Mann und blickte in den Himmel hinauf. Er wirkte angespannt, seine Schultern bildeten einen geraden, sehr steifen Strich, er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf starr in den Nacken gelegt. Seine vom Wind zerzausten Haare und sein flatternder weißer Arztkittel waren das einzige, das sich an ihm bewegte. Es war Dr. Anderson, der dort draußen stand und den es offenbar nicht zu stören schien, als nun plötzlich ein gewaltiger Platzregen niederging und seine Kleidung komplett durchweichte. Tatsächlich spürte er es gar nicht. Er nahm das Gewitter kaum war. Weder die dicke Wolkendecke über ihm, noch den eisigen Regen, die Tropfen, die sich wie winzige Speere in seine Haut bohrten, oder den Wind, der ihn zu zerfetzen drohte. Anni hatte sich einen Stuhl herangezogen und sich nun darauf gesetzt. Die Arme auf der Fensterbank abgestützt, die Stirn an das kalte Glas gelehnt, lauschte sie dem Regen, der unaufhörlich gegen die Scheibe prasselte. Inzwischen regnete es so stark, dass sie nur noch Dr. Andersons Silhouette erkennen konnte. Noch während ihre Lider immer schwerer wurden und sie die Augen kaum noch offen halten konnte, fragte sie sich, ob sie es sich nur einbildete, oder ob sie seine Schultern tatsächlich zucken sah. Und während Anni in einen ruhigen Schlaf hinüberglitt, vermischten sich Dr. Andersons Tränen mit dem Wasser, das sein Gesicht hinabrann. Als Anni erwachte, war es mitten in der Nacht. Sie hatte einen steifen Nacken und ihr linkes Bein war eingeschlafen, weil sie die ganze Zeit darauf gesessen hatte. Sie stand auf, streckte ihre Glieder und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Halb elf. Anni gähnte. Sie war noch müde, vielleicht sollte sie sich einfach wieder hinlegen. Doch da spürte sie plötzlich einen scharfen Schmerz und krümmte sich zusammen. „Oh, verdammt! Mist!“ Anni schnitt eine Grimasse. Sie musste ganz dringend zur Toilette! Sie wankte zur Tür, öffnete sie und streckte den Kopf heraus. Auf dem Flur war es leer, dunkel und still. Sie versuchte nicht daran zu denken, wie unheimlich das alles wirkte und konzentrierte sich darauf, sich zu erinnern, wo auf diesem Stockwerk die Toiletten zu finden waren. Sie folgte dem Gang nach links. In der Dunkelheit spürte sie einmal mehr wie bleiern schwer sich ihr Körper anfühlte. Der Gang machte eine Biegung und am anderen Ende entdeckte sie ein Fenster, durch das fahles Mondlicht hineinfiel und ihr den Weg erhellte. Der Flur war weiß, wie die meisten anderen auch. Der Boden war bedeckt von weißen Fliesen in Marmoroptik; nur ein paar Bilder hingen an den Wänden, die die Atmosphäre am Tag auflockerten, aber jetzt in der Nacht wirkten sie bloß dunkel und bedrohlich. Da entdeckte Anni zu ihrer Rechten eine Tür mit der Aufschrift DA. DA?, dachte sie, das steht sicher für DAmen! Hocherfreut endlich an ihrem Ziel angekommen zu sein, öffnete sie schwungvoll die Tür und erstarrte. Der Anblick, der sich ihr bot ließ sie sogar ihre zum Bersten volle Blase vergessen und sie wurde blass vor Schreck. „Suchen Sie etwas bestimmtes?“ Vor ihr stand Dr. Anderson, der gerade dabei war, sich einen dunkelgrünen Pullover überzustreifen, der perfekt mit seinen Augen harmonierte. Anni stand nun da, starrte auf seinen nackten Oberkörper und fühlte sich absolut unfähig auf seine Frage zu antworten. Was hätte sie denn auch sagen sollen? Ja, ich bin auf der Suche nach einem Klo und da dachte ich, ich schau mal in jedes Zimmer rein, dann finde ich schon eins. Dr. Anderson hatte jetzt beide Arme sinken lassen und erwiderte Annis Blick stumm. Die bekam sofort ihre Farbe wieder zurück und ärgerte sich, dass ihr Blut sich nicht zur Abwechslung Mal gleichmäßig in ihrem ganzen Körper verteilen konnte, sondern sich wie immer am liebsten vollständig in ihrem Kopf breit-machte. „Das hier ist mein privates Büro und Appartement“, sagte Dr. Anderson und nickte dabei zu seinem Schreibtisch hinüber und zu dem Bett, das gleich daneben stand. Dabei fiel Anni auf, dass seine Haare im Licht der Lampe nass glänzten. War das noch von dem Regen oder hatte er geduscht? Sie wusste es nicht und sie traute sich auch nicht zu fragen. Stattdessen blieb sie einfach stehen, barfüßig, in ihrem weißen, durchscheinenden Nachthemd und starrte ihn an. „Ich fände es deshalb nicht unerfreulich, wenn Sie das nächste Mal anklopfen würden, bevor Sie einfach die Tür aufreißen.“ Anni war sich nicht sicher, aber sie glaubte ein Lächeln in seiner Stimme zu hören, auch wenn sein Gesicht nichts dergleichen verriet. „E-entschuldigen Sie bitte“, stotterte sie und wäre innerlich fast gestorben, weil ihre Zunge sich plötzlich zu dick für ihren Mund anfühlte, sodass sie fürchtete keine drei Worte logisch aneinander reihen zu können. „I-ich war bloß... ich wollte...“ „Schon gut, ist ja nichts passiert“, Dr. Anderson winkte ab und zog sich endlich den Pullover über den Kopf. „Aber vielleicht gehen Sie jetzt besser wieder schlafen. Nicht, dass Sie morgen wieder einen Schwindelanfall haben“, nuschelte er unter dem Pulli hervor. „Okay“, Anni wandte sich zum Gehen und war schon im Begriff die Tür hinter sich zu schließen und dann den Gang hinunter zurück zu ihrem Zimmer zu sprinten, da hatte Dr. Andersons Kopf endlich die Öffnung im Pullover gefunden. „Oh, und bitte versprechen Sie mir eins“, sagte er, diesmal klar und deutlich. Anni hielt inne und drehte sich zu ihm um. „Bitte frühstücken Sie morgen, bevor Sie Ihren Dienst antreten und zeigen Sie mir bei Gelegenheit, wo Sie so gut nähen gelernt haben. Ich könnte etwas Nachhilfe ganz gut gebrauchen.“ Sein Lächeln traf Anni unverhofft und so hauchte sie nur ein schwaches „okay“, bevor sie die Tür schloss und wieder auf dem dunklen Gang stand. Annis Gesicht könnte nicht länger sein, als sie kurz darauf ihr Zimmer betrat. Wie hatte sie sich nur so blamieren können! Und das war nicht das erste Mal gewesen. Generell schien sie sich jedes Mal wieder ins Unglück zu stürzen, sobald Dr. Anderson auch nur in ihre Nähe kam. Seit sie im Hospital angekommen war, hatte sie sich schon auf die Nase gelegt, sich und ihn mit Soße bespritzt, war nach einer OP fast umgekippt und dann hatte sie ihn auch noch in seinem eigenen Apparte-ment überrumpelt, als er sich gerade hatte anziehen wollen. Ging ging es auch nur ein Quäntchen peinlicher?! Niedergeschlagen, ob der Tatsache, dass Dr. Anderson sie nun für komplett verpeilt halten musste, schloss sie die Tür hinter sich und ließ sich völlig kraftlos daran hinunter gleiten. Doch ihr von Schamgefühlen herbeigeführtes Bedürfnis nach Ruhe währte nicht lange, als sich jetzt nämlich wieder ihr Unterleib schmerzhaft zusammenzog und sie daran erinnerte, warum sie ihr Zimmer ursprünglich verlassen hatte. Stöhnend versuchte sie wieder auf die Beine zu kommen, das Unterfangen erschwert durch ihre vor Müdigkeit steifen Glieder und ihre volle Blase. Während sie sich auf ihren Beinen hochstämmte, suchte sie mit der einen Hand nach etwas, voran sie sich hochziehen konnte und sie durchzuckte eine überraschte Freude, als ihre Finger sich um etwas metallisches schlossen, dass sich perfekt in ihre Hand schmiegte. Anni sah, kaum, dass sie aufgestanden war, zur Seite und erblickte eine Tür. Seit wann ist die denn schon hier?, fragte sie sich irritiert und öffnete die Tür. Das ist jetzt nicht wahr, oder? Der Türrahmen gab den Blick auf ein kleines, schick eingerichtetes Badezimmer frei. Mit einer Dusche, einem Waschbecken mit Spiegel und einem hübschen kleinen Klosett. Anni war froh, dass niemand da war, der sie sehen konnte. Ihr Gesicht musste ungefähr aussehen, wie das eines schlechtgelaunten Orks. Und das wäre auch gut gelaunt kein schöner Anblick. Anstatt sich jedoch über sich selbst zu ärgern, betrat sie das Bad und verschob das Grübeln auf später. Um gefühlte dreißig Liter erleichtert lag sie schließlich im Bett, ohne auch nur noch eine Spur ihrer Müdigkeit zu spüren, die vorher auf ihr gelegen hatte, schwer, wie ein bleierner Umhang. Sie lag da, Arme und Beine von sich gestreckt und starrte an die Decke. Ihr erster Tag war ganz schön spannend gewesen. Zuerst die Begegnung auf der Station für geistig Verwirrte, dann die Blamage beim Mittagessen und die OP. Anni erschauderte. Was hatte Dr. Anderson gesagt? Jemand könnte versucht haben, Will umzubringen? Mit einer riesigen Käsehobel? Keine schöne Vorstellung... Anni schloss die Augen und sah Will, wie er zuhause auf dem Sofa saß und an seiner Playstation zockte. Da klingelte es an der Tür und Will, nichts ahnend, öffnete diese, ohne nachzudenken. Vor ihm stand eine große, dunkle Gestalt mit einer Gruselmaske, die zuerst ein wahnwitziges Lachen ausstieß, nur um dann vor ihm auf die Knie zu fallen, eine gigantische Käsehobel unter seinem Gewand hervorzuholen und sie ihm über das Schienbein zu ziehen. Will hatte daraufhin dem Angreifer die Tür vor der Nase zugeschlagen und war vor Angst und Schmerz zittrig auf dem Teppich ausgerutscht, als er sich von der Tür entfernen wollte. Bei dem Sturz hatte er sich dann die Platzwunde an der Stirn zugezogen und so hatte seine Freundin ihn dann endlich gefunden. Verletzt, bewusstlos und mutterseelen-allein. Schreckliches Schicksal. Anni fröstelte und zog sich die Decke bis zum Kinn herauf. Richtig Gruselig... Sie hoffte inständig, dass sie einfach zu viel Fantasie hatte und an diesem Gedanken festhaltend schlief sie endlich ein. Er hatte das Licht gelöscht. Nur das Licht aus dem Mikroskop erhellte einen kleinen Abschnitt des Raumes. Durch das Okular betrachtete er die winzigen Hautfetzen in der blauen Lösung. Darin hoben sich dunkel die Proben aus der Wunde des Patienten ab. Dr. Anderson wischte sich über die Stirn und rieb sich die Augen. Er war erschöpft und müde. Hoffentlich erkältete er sich jetzt nicht auch noch. Es war dumm von ihm gewesen draußen im kalten Regen stehen zu bleiben. Sein Blick streifte ein Foto an der Wand. Es zeigte das lachende Gesicht einer Frau. Ihr Haar war braun, ihre Augen waren von einem tiefen grün. Wenn er krank war, konnte er nicht mehr behandeln und dürfte auch keine Krankenbesuche mehr machen. Und das würde er nicht ertragen können... Er beugte sich wieder über seine Unterlagen und verzeichnete das neue Ergebnis: Nichts. Er seufzte und wechselte das Präparat. Es war das dritte und letzte; Stücke von den ausgefranst-en Rändern der Wunde. Er stellte das Bild scharf. In der blauen Lösung waren die gleichen dunklen Strukturen zu sehen, aber dazwischen waren ein paar vereinzel-te leuchtend helle Flecken zu erkennen. Mit vor Aufregung bebenden Fingern drehte er am Feintrieb des Geräts und vergrößerte damit die Einstellung. „Volltreffer“, murmelte er. Damit ließ sich etwas anfangen. Als er sich aufrichtete, spürte er wie sich die Haut auf seinem Rücken spannte. Er runzelte die Stirn. Zum Glück hatte dieses Mädchen ihn nicht von hinten gesehen. Sicher wäre sie neugierig geworden, woher er seine Narben hatte. Aber das ging sie nichts an. Das ging niemanden etwas an. Er verbot sich jeden weiteren Gedanken an diese rothaarige Neue, die ihn förmlich zu verfolgen schien, als hätte das Schicksal sie aneinander festgeklebt, und widmete sich wieder seinen Untersuchungen. Der Grund für diese grauenhafte Verletzung musste doch zu finden sein! Kapitel 5: Kellys Little Secrets Are... --------------------------------------- Anni beging den nächsten Morgen mit einem ausgewogenen Frühstück. Ganz wie sie es Dr. Anderson versprochen hatte. Allerdings war ihre Laune an diesem Tag auch so unterirdisch, dass nur eine ordentliche Ladung Schokolade und eine Tasse heißen Kakaos sie auf das Kommende vorbereiten konnten. Mürrisch biss sie in ihren ersten, dick mit Nutella bestrichenen Toast, da kamen Coons und Kinley strahlend auf sie zu und ließen links und rechts von Anni ihre Tabletts geräuschvoll auf den Tisch knallen. „Guten Morgen, Kollegin! Haben Sie auch so gut geschlafen, wie ich?“, fragte Kinley schelmisch grinsend. Anni antwortete nur mit einem Knurren, das eher dem tiefen Grollen eines bissigen Hundes ähnelte. „Oh, mir scheint, wir haben hier einen Morgenmuffel“, sagte Coons und fragte dann mit einem leicht besorgten Unterton: „Ist alles in Ordnung?“ Ja, alles Bestens“, gab Anni zurück. „Vor allem, wenn man nach seinem so richtig schön anstrengenden ersten Tag einen Alptraum hat.“ „Hat in diesem Alptraum vielleicht eine große Fleischwunde eine Rolle gespielt?“, wollte Kinley wissen. Ausnahmsweise war das Grinsen von seinen Lippen ver-schwunden und auch Coons blickte sehr ernst, während er sein Frühstücksei köpfte. „Ja“, Anni seufzte und nahm einen großen Schluck Kakao. „Und eine Riesen- käsehobel.“ „Eine Käsehobel?“, Marcy glitt auf den Stuhl gegenüber von Anni. Wieder befand sich auf ihrem Tablett nichts außer eines Salats und eines Glases klaren Wassers. „Dr. Anderson hat gesagt, die Wunde stamme entweder von dem Biss eines Tieres oder von einem Käsehobel ähnlichem Gerät. Jedenfalls war die gesamte obere Hautschicht abgeschabt, ich hab es selbst gesehen.“ Anni hatte aufgehört zu essen. Bei der Erinnerung war ihr der Appetit vergangen. Und, überhaupt, was waren das den bitteschön für Gesprächsthemen?! Die eigneten sich ja wohl kaum für den Esstisch. „Hm... eine Käsehobel sagst du?“, fragte Coons und lutschte nachdenklich an seinem Eierlöffel. „Warte mal, du hast doch eben gesagt, die Verletzung könnte auch von einem Tier stammen“, warf Kinley ein. Seine Augen blitzten vor Aufregung und seine Wangen waren leicht gerötet. „Dann müsste es allerdings ein ziemlich gigantisches Tier gewesen sein“, entgegnete Anni, „Die Wunde zog sich fast über das komplette Schienbein und Will ist ein erwachsener Mann – und nicht besonders klein. Also müsste das Tier ein ziemlich großes Maul gehabt haben...“ „Vielleicht war es ja ein Werwolf!“ Kinley war aufgesprungen. „Ja, sicher. Und ich bin ein Vampir“, sagte Marcy todernst und pulte sich ein Stückchen Salat zwischen den Zähnen hervor. „Eeeecht?!“ Kinley war Feuer und Flamme. „Und warum isst du dann immer nur Salat?“, fragte er und deutete neckisch auf ihre Salatschale. „Nun, ich bin eben auf Diät. Hat mir mein Vampirhausarzt verschrieben.“ „Ja, klar...“ „Hey, da kommt Kelly“, sagte Coons und zeigte in Richtung Buffet. Von dort kam ihnen tatsächlich Kelly entgegen, ein Tablett in Händen und zu Annis Überrasch-ung in ganz normaler Alltagskleidung. Sie trug einen blassrosa Pullover und dazu einen dunkelgrauen Bleistiftrock. „Guten Morgen, alle zusammen!“, mit einem strahlenden Lächeln zog sie sich einen Stuhl heran und machte es sich neben Marcy gemütlich. „Geht es dir wieder besser?“, fragte sie an Anni gewandt, während sie ihren Kaffee umrührte. „Ja, mir geht’s gut“, erwiderte Anni. „Bis darauf, dass sie ein Morgenmuffel ist“, stellte Coons klar „Und, dass sie einen Alptraum hatte“, ergänzte Kinley. „Wirklich?“, Kelly klang besorgter, als nötig gewesen wäre. „Doch hoffentlich nicht wegen deines vollen Magens! Bin ich daran schuld gewesen?“ „Nein, nein. An den vielen Sandwiches gab es rein gar nichts auszusetzen. Es ist nur...“ - „Anni hat geträumt, dass ein Irrer mit einer Megakäsehobel durch die Gegend läuft und Leuten damit die Haut abpellt“, erklärte Coons ganz ernst. „Mit einer Käsehobel?“, fragte Kelly leicht verwirrt und hielt mitten in der Bewe-gung inne, ein Stück Toast, dick mit Honig bestrichen, vor den Lippen und Anni wunderte sich, warum es nicht tropfte. „Ja. Wegen Will. Diese Wunde...“ „Oh, wisst ihr es noch nicht? Robert hat gestern noch die Proben, die er bei der OP genommen hat untersucht und die Befunde ausgewertet. Wie es aussieht, hat die Haut sich durch den Kontakt mit Säure einfach aufgelöst.“ „Tja, da sieht man's mal wieder. Informationen aus erster Hand“, grinste Coons. „Aber hätte die Säure dann nicht auch das restliche Bein angreifen müssen? Also ich meine Gewebe, Muskeln, Sehnen und so“, fragte Anni nachdenklich. Kelly hob die Schultern. „Tut mir leid, mehr weiß ich auch nicht. Ich kann mir nur vorstellen, dass Will oder jemand anderes gewusst hat, was zu tun war und es geschafft hat die Säure zu entfernen, bevor noch schlimmeres passieren konnte. Oder aber ihre Konzentration war nicht stark genug und so hat sie zwar die obere Hautschicht komplett zerfressen, sich anschließend aber in nichts aufgelöst.“ „Klingt ja echt gruselig“, murmelte Marcy und rieb sich die Oberarme als wäre ihr plötzlich kalt. „Was machst du eigentlich hier, Kelly?“, fragte Kinley und wechselte so auf ein weit weniger verfängliches Thema. „Heute hast du doch deinen freien Tag oder? Warum hast du da nicht ausgeschlafen?“ „Ach, weißt du... Ich dachte ich bleibe trotzdem hier und naja... Du weißt schon.“ Anni verstand nur Bahnhof. Wovon sprach sie? Offensichtlich war sie jedoch die einzige, die hier nicht durchzublicken schien, denn die anderen nickten nur und wechselten dann das Thema. Nur Anni behielt Kelly im Auge, während die anderen sich über die neue Arztserie im Fernsehen unterhielten, die im Moment total angesagt war. Als Kelly Annis Blick bemerkte, lächelte sie ihr nur freundlich zu und Anni glaubte, einen ähnlichen Ausdruck in ihren Augen zu sehen, wie in denen Dr. Andersons. Aber bei Kelly konnte sie erkennen, dass es Traurigkeit war. Was war los bei den beiden? Hatten sie vielleicht einen Ehestreit? Anni erinnerte sich, dass sie gestern Nacht in Dr. Andersons Büro-Appartement vergeblich nach einem Doppelbett Ausschau gehalten hatte. Aber das Bett, das neben seinem Schreibtisch gestanden hatte, war von Form und Größer her nicht anders als ihr eigenes. Vielleicht hatten die beiden ja noch ein gemeinsames Zimmer. Zusätzlich zu ihren Einzelzimmern sozusagen. Oder aber das Doppelbett stand in Kellys Zimmer und er hatte sich bloß noch ein Bett zugelegt, weil er einfach mehr Zeit in seinem Büro verbrachte. Das konnte schon Grund genug für einen Ehekrach sein, fand Anni. Allerdings war es wirklich seltsam, dass er sich nicht zum Schlafen zu seiner Frau gesellte. Er konnte doch sicher leicht zwischen den beiden Räumen hin- und herpendeln. Wer schlief schon gerne an seinem Arbeitsplatz? Aber Dr. Anderson war ja bekanntermaßen auch ein wenig wunderlich. Zumindest in Annis Augen hatte er viele interessante, aber auch etwas fragwürdige Züge. Vor allem seine übertrieben höfliche Art zu reden. Alle Kollegen, denen sie bisher vorgestellt worden war, duzten einander, nur er zog es vor beim distanzierten „Sie“ zu bleiben. Und scheinbar schienen das auch alle zu respektieren. Selbst Coons und Kinley, die meist keinen besonders respektvollen Eindruck machten. Bloß Dr. Knox hatte Dr. Anderson einmal beim Vornamen genannt – und Kelly, aber die war ja seine Frau. Wenn aber Dr. Knox und Dr. Anderson solche Vertraulichkeiten untereinander austauschten, hatte dies zu bedeuten, dass sie sich weit näher standen, als Dr. Anderson zu irgendeinem anderen Kollegen. Diese Überlegungen ließen Anni nicht los. Auch als sie wenig später gemeinsam mit Marcy im Lager Bettlaken und Handtücher faltete, konnte sie ihre Gedanken nicht zum Schweigen bringen. Und was hatte die Bemerkung mit den Nachhilfestunden zu bedeuten? Normalerweise würde sie davon ausgehen, dass jemand – wenn auch ziemlich ungeschickt – versuchte mit ihr zu flirten. Aber bei Dr. Anderson kam ihr das so undenkbar vor wie ein Schneemann in der Wüste. „Hey, hast du mir überhaupt zugehört?“ Anni blickte auf. Marcy sah sie vorwurfsvoll an. „Ähm, nein, tut mir leid. Ich war in Gedanken. Was hast du gesagt?“ Marcy verdrehte die Augen. „Ich habe dich gebeten, diese Handtücher nach oben auf die sechste Station zu bringen. Auf die für geistig Verwirrte. Verteile sie an alle Badezimmer und schau auch nach, ob noch Toilettenpapier da ist.“ Anni nahm den Handwagen entgegen, der mit Handtüchern, mehreren Rollen Toilettenpapier und weiteren Drogerieartikeln ausgestattet war und machte sich auf den Weg. Noch im Aufzug musste sie an den gestrigen Tag denken. Hoffentlich blieben die Verrückten – pardon – die geistig Verwirrten diesmal auf ihren Zimmern. Tatsächlich fand sie den Flur leer vor. Leer und ruhig. Im ersten Zimmer, das sie betrat, lagen zwei Patienten. Der eine schlief und machte einen völlig normalen Eindruck. Der andere dagegen starrte an die Decke und brabbelte vor sich hin. Anni spürte einen kleinen Stich. Wie traurig. Während sie die Handtücher austauschte und das Toilettenpapier überprüfte, fragte sie sich, wie es wohl für die Angehörigen sein musste, einen geliebten Menschen so zu sehen. Völlig hilflos, dem heillosen Chaos im Inneren seines Kopfes ausgeliefert und nichts und niemand, der ihm helfen konnte. Sicher eine Situation, an der man verzweifeln konnte. Anni kam gut voran und entgegen ihrer Befürchtungen, gab es dieses Mal keine unangenehmen Überraschungen. Sie kam auch in Sebastians Zimmer vorbei, dass er sich offenbar mit dem Jungen teilte, der sich selbst Naruto nannte. Dieser saß heute friedlich in seinem Bett und malte bunte Kringel auf einen Malblock, den er in seinem Schoß liegen hatte. Dabei murmelte er etwas vor sich hin, was so ähnlich klang wie: „Nudelsuppe! Ich mag Nudelsuppe! Am liebsten Ramen mit Misogeschmack!“ Sebastian war höflich wie immer. Er stand sehr aufrecht am Fenster, als Anni hereinkam und bot ihr sogleich seine Hilfe an, als er sah, wie sie sich mit dem schweren Wagen abmühte. Doch sie lehnte dankend ab und versicherte ihm glaubwürdig, dass in diesem Fall, er der Herr war und sie die „Dienerin“, was ihn zusehends verwirrte. Als sie schließlich das Zimmer wieder verließ, konnte der mutmaßliche Butler es sich jedoch nicht verkneifen, ihr die Tür aufzuhalten. „Gutes Gelingen“, wünschte er ihr mit einem seiner breitesten und unheimlich-sten Lächeln und verbeugte sich so tief, dass seine Nasenspitze beinahe seine Zehen berührte. Anni war fast fertig. Nur noch ein Zimmer lag vor ihr. Das hatte sie beinahe über-sehen, weil es am Ende eines schmalen Seitenganges lag, an dem sie zuerst vor-beigegangen war. In dem Zimmer stand nur ein einziges Bett und die Frau, die darin saß, aufrecht wie ein Kirchturm, würdigte Anni keines Blickes, als sie eintrat. Auch, als sie mit einem freundlichen „hallo“, ihre Anwesenheit ankündigte, zeigte die Frau keinerlei Reaktion. Genau so gut hätte Anni mit der Topfpflanze sprechen können, die in einer Ecke neben dem Bett stand. Anni hängte gerade eine neue Rolle Toilettenpapier in die Halterung und wunderte sich, warum das gesamte Bad so vollkommen sauber und unbenutzt wirkte, als sich die Zimmertür öffnete und jemand hereinkam. Vorsichtig schob Anni sich aus der Badezimmertür und lugte ins Zimmer hinein. Der Neuankömmling drehte ihr den Rücken zu. Es war eine Frau, deren blonde Locken ihr um die Schultern wogten, wie bei der altertüm-lichen Darstellung eines Engels. Es war Kelly, die in ihrem blassrosa Pullover und dem grauen Rock vor dem Bett der Patientin stand. „Hallo, Mutter“, sagte sie und bedachte die Frau mit ihrem strahlendsten Lächeln, doch diese reagierte nicht. Sie nickte nicht einmal mit dem Kopf. Kelly zog, ohne den Blick von der Frau zu wenden, den Stuhl, der gleich neben ihr stand, zu sich heran und setzte sich und als sie begann mit der Frau zu reden, wurde Anni klar, dass Kelly sie nicht bemerkt hatte. Der Wagen musste die Sicht ins Innere des Bads verdeckt haben. Kelly nahm jetzt die Hand der Frau und streichelte über ihren Handrücken. „Ich habe gestern auf der Entbindungsstation eine Frau kennengelernt, die genau so heißt wie du, Mama.“ Bei dem Klang des Wortes Mama, bekam Anni das Gefühl, ein vertrauliches Gespräch zu belauschen und verspürte den Wunsch zu gehen, doch ihre Füße schienen wie festgeklebt und so duckte sie sich einfach hinter ihren Wagen und beobachtete Kelly zwischen den Stapeln neuer und gebrauchter Handtücher hindurch. Sie fuhr fort die Hand ihrer Mutter zu streicheln und redete weiter. „Ich habe ihr von dir erzählt. Was für eine tolle Mama du immer gewesen bist und wie viel Spaß wir früher zusammen hatten“, jetzt glitzerten Tränen in Kellys Augen. „Und sie hat gelacht und gesagt, sie hoffe, dass sie...“, sie schluckte, „...dass sie auch so eine tolle Mutter würde...“, ihre Stimme brach. Für einige Minuten herrschte Stille, dann sagte Kelly: „Ich soll dich auch von Robert grüßen. Er sagt, er hat dich sehr lieb.“ Ihre Mutter blinzelte. Anni presste sich die Hand vor den Mund. Noch nie hatte sie Kelly so traurig gesehen. Am liebsten würde sie aufspringen und sie umarmen, damit sie wieder so schön lächeln konnte, wie sie es sonst immer tat. Sie kannten sich zwar noch nicht so lange und Anni nannte auch nicht jeden Menschen gleich einen Freund, aber Kelly hatte sie gern und sie wollte nicht, dass sie ihr Lächeln verlor. Wer weiß, ob sie es nicht noch einmal brauchen würde. Es mussten Stunden vergangen sein, jedenfalls kam es Anni so vor, in denen Kelly der Frau, die sie ihre Mutter nannte, alles mögliche erzählte und dann war Kelly einfach eingeschlafen. Mit dem Kopf auf dem Bett, ihre Hand immer noch auf der der Frau, die Augen geschlossen und die Lippen leicht geöffnet, so als wolle sie weitersprechen, hatte aber nicht die Kraft, ganze Sätze zu formulieren. So leise sie konnte stand Anni auf und verfluchte ihre Knie, die ziemlich laut knackten, als sie sich gerade zu voller Größe aufgerichtet hatte. Doch Kelly schlief weiter tief und fest und die Frau würdigte sie immer noch keines Blickes. Also packte Anni ihren Wagen und verließ das Zimmer auf Samtpfoten, um bloß kein Geräusch mehr zu verursachen. Die Frau saß immer noch stocksteif da, Kelly neben sich. Da ging plötzlich ein Ruck durch ihren Körper und sie wandte langsam den Kopf und senkte den Blick auf das Gesicht ihrer Tochter. Ihre Mundwinkel zogen sich um Millimeter auseinander und ihre Lippen öffneten sich einen Spalt, doch kein Ton kam heraus. Eine einzige Träne rann aus ihrem rechten Auge, als sie ihrer Tochter mit der Hand das blonde Haar aus der Stirn strich. Kapitel 6: Das Kreuzverhör -------------------------- Anni hatte sich beeilt von der Station wegzukommen. Nur für den Fall, dass Kelly doch noch aufwachen und ihr hier über den Weg laufen sollte. Zwar konnte sie nicht wissen, dass Anni alles mitgehört hatte, aber Annis Gewissen zwang sie, sich vor einem Treffen mit Kelly zu drücken. So nahm sie den Aufzug in den Keller, wo sie die gebrauchten Handtücher in die Waschküche brachte, für die an diesem Tag eine andere Schwester eingeteilt war, und stellte den Wagen wieder im Lager ab. Mit einem Blick auf die Uhr stellte sie danach erleichtert fest, dass es bereits wieder Zeit fürs Mittagessen war. Ihr Magen knurrte schon ziemlich laut, was im leeren Keller einen unangenehmen Hall verursachte und es klang wie eine Meute Bären, die sich zwischen den Bergen aus weißen Handtüchern versteckten und nur darauf warteten, dass eine unvorsichtige Krankenschwester ihnen zu nahe kam. Also machte Anni sich auf den Weg in die Cafeteria, wo sie sich mit einer ordentlichen Portion Spaghetti Bolognese eindeckte und sich dann an den Tisch setzte, wo Coons sie bereits erwartete. „Na, diesmal alles ohne Soßenexplosion überstanden?“, fragte er und grinste sie an. „Ja, alles sauber“, Anni grinste zurück. Ihre schmutzige Schwesterntracht hatte Kelly gestern für sie mitgenommen und ihr dafür eine neue gebracht. „Frisch aus der Wäsche“, hatte sie gesagt und dabei mit dem grellrosa Overall um die Wette gestrahlt. Wie sehr sehnte Anni sich jetzt danach, dieses Lächeln wieder auf Kellys Gesicht erblühen zu sehen. Vor allem, nach diesem gruseligen Alptraum, der scheinbar eine Veranschaulichung ihrer vorherigen Überlegungen über den Tathergang gewesen war. Anni rollte die langen Nudeln auf ihre Gabel und schob sie sich in den Mund. So was blödes! Ihr Unterbewusstsein sollte sich gefälligst zusammenreißen! Riesige Käsehobeln, so ein Quatsch. Anni fragte sich, wo Dr. Anderson wohl steckte. Sie hätte ihn nämlich gerne nach den genauen Ergebnissen seiner Untersuchungen gefragt und außerdem wollte er doch Nähunterricht bei ihr nehmen, oder? Bei diesem Gedanken musste sie lächeln. „Ah, wie ich sehe ist deine gute Laune auch nach einem solchen Tag, wie dem gesterigen nicht wegzubekommen, stimmt's?“ Anni blickte auf. Neben ihr stand Dr. Nyles, der sie fröhlich anlächelte. Aus der rechten Tasche seines Kittels lugte der Kopf von Dr. Teddy heraus. „Darf ich mich neben dich setzen?“ „Klar“, antwortete Anni und schluckte. Falsche Reihenfolge, dachte sie und wurde rot. Dr. Nyles schien das jedoch nicht zu stören. Er stellte sein Tablett ab und setzte sich. Dann zog er seinen Teddy aus der Tasche und setzte ihn vor sich auf den Tisch. „Wo ist denn Kinley?“, fragte er an Coons gewandt, der gelangweilt auf einem Stück Fleisch herumkaute. „Ihr beide hängt doch sonst immer zusammen.“ „Ach, der ist noch in der Notaufnahme bei diesem neuen Patienten, den wir gestern Mittag reinbekommen haben. Dr. Anderson hat ihn sich geschnappt, als wir gerade auf dem Weg hierher waren. Er möchte nämlich gerne den Verband wechseln und Kinley soll ihm dabei helfen.“ „Hmm“, machte Dr. Nyles und drückte dem Teddy ein kleines Trinkpäckchen in die Pfoten. „Schlimme Sache, diese Verletzung. Sieht überhaupt nicht schön aus.“ Anni nickte. Sie wollte endlich wissen, was dahinter steckte. „Du sagst, die beiden sind bei Will?“ Coons nickte. „Gut.“ Anni stand auf, schob den Stuhl ran und nahm ihr Tablett. „Dann werde ich den beiden jetzt mal Gesellschaft leisten.“ Dr. Anderson hatte es bisher anscheinend noch nicht geschafft, einen neuen Verband anzulegen. Jedenfalls lag die Wunde noch frei, als Anni das Zimmer betrat. Dr. Anderson saß auf einem Stuhl neben dem Bett und betrachtete Wills Scheinbein, während der in seine Kissen gelehnt dalag. Kinley lehnte lässig an der Wand, den Ellenbogen daran abgestützt. Anni blieb im Türrahmen stehen und klopfte dagegen. Wills Kopf fuhr sofort herum, doch er entspannte sich etwas, als er die Krankenschwester in ihrer Kirschblüten farbenen Tracht sah. „Ah, Anni!“, Kinley wirkte hocherfreut sie zu sehen. „Endlich mal ein freundliches Gesicht. Die Luft ist hier nämlich zum Schneiden dick.“ Er wies mit dem Kopf auf Dr. Andersons ernste Miene und Anni bemerkte, dass Will seine rechte Hand in das Laken gekrallt hatte, während er die Linke zur Faust ballte. „Ich habe gehört, Sie haben eine Untersuchung durchgeführt?“, fragte sie an Dr. Anderson gewandt und stellte erleichtert fest, dass ihre Stimme nur halb so sehr zitterte wie zu erwarten gewesen wäre. Dr. Anderson bedachte sie nur mit einem kurzen Blick, ehe er sich wieder auf die Wunde konzentrierte, die mittlerweile zu einer großen, unansehnlichen Narbe geworden war. Ohne das Schweißen, würde die Verletzung jetzt allerdings noch viel schlimmer aussehen. „Ja. Ich habe bei der Operation ein paar Gewebeproben genommen und bin bei der Untersuchung auf einige interessante Hinweise gestoßen.“ „A-ach ja?“ Das war Will. Dass er stotterte bestätigte Annis Vermutung, dass er ungewöhnlich nervös war, für einen Patienten, dem der Arzt die Ursache für seine Verletzung entlocken will. Dr. Anderson richtete seine dunklen Augen jetzt auf Will und Anni war froh, dass er nicht sie im Visier hatte, denn im Raum wurde es merklich kälter. „Ja. Ich habe Spuren von Blausäure gefunden. Mittelstarker Konzentration, denn scheinbar hat sie zwar die oberste Hautschicht an Ihrem Bein total verätzt, allerdings war sie dann nicht mehr stark genug, um Ihnen dann noch den Rest zu geben.“ „Hey“, Kinley stieß Anni in die Rippen, „er hat total gesagt!“ Dr. Anderson beachtete sie gar nicht. „Da stellt sich mir natürlich die Frage, wie sie in Berührung mit dieser Blausäure geraten sind. So weit ich weiß, sind Sie weder Chemiker, noch stehen Sie in Kontakt mit einer Person, die diesen Beruf besitzt. Woher also stammt die Säure an Ihrem Bein?“ Sein Blick war so durchdringend, dass Anni fürchtete, gleich würde er Wills Stirn durchbohren und sie müsse diese abermals flicken. Will schluckte. In der nun eisigen Stille war das Geräusch beinahe ohrenbetäubend laut. „Ich... ich bin mir nicht mehr ganz sicher... Meine Erinnerungen an alles vor meinem Unfall sind verschwommen...“, er zog eine Grimasse und fasste sich an die Stirn. „Ich weiß nur noch, dass ich Lizzy gesucht habe. Sie war nicht zuhause und dann... Irgendwie bin ich um ihr Haus herum gegangen und da ist ein Eingang zu ihrem Keller. Ich habe die Tür geöffnet und dann... Dann wurde alles schwarz.“ „Hm“, machte Dr. Anderson. „Und das ist alles, woran Sie sich erinnern können?“ „Ich... ich schätze schon“, erwiderte Will, aber das Zögern in seiner Stimme verriet, dass es da noch mehr gab, an das er sich erinnerte. „Nun gut“, Dr. Anderson erhob sich seufzend von seinem Stuhl. „Kinley, ich möchte Sie bitten, dem Herrn einen neuen Verband anzulegen. In ein Paar Tagen werden wir dann auch die Fäden aus der Wunde an seiner Stirn ziehen können. Der Heilungsprozess verläuft hervorragend.“ Er ging um das Bett herum und strebte Richtung Tür, bis er genau vor Anni stand. Dort blieb er stehen und sagte: „Und wenn Sie sich an etwas erinnern sollten, geben Sie mir sofort Bescheid.“ Auch wenn die Worte an Will gerichtet waren, blickte er Anni in die Augen und sie spürte, wie ihre Wangen sich rötlich verfärb-ten, weil sie daran denken musste wie sie Kelly belauscht hatte. „Ich soll dich auch von Robert grüßen. Er sagt, er hat dich sehr lieb.“ Zugegeben. Das waren ungewöhnliche Worte aus dem Mund eines Schwiegersohns. Aber vielleicht hatte Dr. Anderson ja einen Mutterkomplex. „Und Sie kommen mit mir“, sagte er diesmal wirklich zu Anni. „Ich möchte mir noch einmal Ihr Knie ansehen. Außerdem muss der Verband gewechselt werden. Sie tragen ihn ja schon seit drei Tagen.“ Anni saß auf der Liege im Behandlungsraum und sah zu, wie Dr. Anderson ihr den Verband abnahm. Er tat es sehr schnell und äußerst geschickt. „Sie glauben ihm auch nicht oder?“ Dr. Anderson hob den Blick. „Wieso auch?“ „Ich hab das Gefühl, dass er etwas verheimlicht. Er ist vorhin nicht ganz ehrlich zu Ihnen gewesen.“ „Ja, das Gefühl hab ich auch.“ Er rollte den alten Verband zusammen und warf ihn in den Mülleimer. Dann betrachtete er ihr Knie eingehend. „Wie ich sehe, habe ich mich nicht geirrt“, sagte er und fuhr mit seinen Fingerspitzen sanft über ihre Kniescheibe. Anni erschauderte leicht, was ihr von Dr. Anderson ein spöttisches Lächeln einbrachte. Naja, wenigstens ein Lächeln... „Es ist nur eine leichte Prellung und das hier“, er strich über den Bluterguss, der sich nach ihrem Sturz gebildet haben musste, „ist auch schon besser geworden.“ Anni schwieg. Sie hatte auch schon seit längerem keine Schmerzen mehr in ihrem Knie gespürt. Dass sie überhaupt einen blauen Fleck hatte, hatte sie nicht einmal gewusst. Dr. Anderson drehte sich auf seinem Stuhl um und nahm eine Rolle Verband aus einer Schublade. „Eigentlich ist der hier nicht mehr unbedingt nötig“, erklärte er, als er sich wieder zu ihr gedreht hatte. „Aber sicher ist sicher. Und so ein Bluterguss ist ja auch nicht so schön anzusehen.“ „Glauben Sie, seine Freundin ist in die Sache verwickelt?“ Dr. Anderson blickte auf. „Wie bitte?“ „Lizzy, die Frau, von der Will, - Mr Larkson – gesprochen hat, offenbar seine Freundin, ist sie...“ „Sie ist seine Schwester“, stellte Dr. Anderson klar. „Seine Schwester?“, Anni dachte an die junge Frau, die in Tränen aufgelöst noch gestern am Bett ihres Bruders gesessen hatte. Verständliche Reaktion. Aber warum war sie heute nicht mehr da gewesen? „Es kann gut sein...,“ Dr. Andersons Bewegungen waren langsamer geworden. Seine Hände strichen in regelmäßigen Abständen über ihre Haut und immer dann, wenn das geschah, lief Anni ein Schauer über diese Stelle. Da hielt er plötzlich inne und starrte auf seine nun bewegungslosen Hände. „Das ist es“, flüsterte er. „Ähm... was denn?“ Seine Augen begegneten ihren und trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er sie immer noch nicht ansah. „Wenn...“, er verstummte, senkte abrupt den Blick und fuhr damit fort, ihr Knie mit dem Verband einzuwickeln. Beide schwiegen. Anni wartete darauf, dass er weitersprechen würde. Doch das tat er nicht. Und als er schließlich fertig war und den ungenutzten Rest Verband zurück in die Schublade steckte, stand sie ent-täuscht auf und ging langsam zur Tür. Ehe sie den Raum jedoch verlassen konnte, erhob er die Stimme: „Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?“ Sie drehte sich zu ihm um. „Meinen Sie den Nähunterricht?“ Ein Lächeln glitt kurz über seine Lippen. „Könnten Sie bitte ein Auge auf Mr. Larkson und seine Schwester werfen? Ich würde es gerne mitbekommen, wenn zwischen ihnen so etwas wie ein Plan aufkeimen sollte.“ „Wollen Sie damit sagen, ich soll die beiden beschatten?“ Dr. Anderson zögerte, dann schüttelte er den Kopf. „Nicht direkt beschatten. Ich würde es nur gerne sehen, wenn Sie sich besonders häufig bei ihm blicken ließen. Vielleicht gelingt es Ihnen eher als mir etwas aus ihm herauszukitzeln.“ „Ah“, Anni nickte verständig. „Gut, dann... Vielen Dank, wegen des Verbands.“ „Keine Ursache.“ Kapitel 7: Beschattung ---------------------- Anni hielt ihr Versprechen. Sooft es ihr eben möglich war, ging sie an Wills Zimmer vorbei und immer, wenn sie einen glaubwürdigen Grund vorzuweisen hatte ging sie auch hinein. Anni wusste, dass sie nicht die einzige war, die Dr. Anderson auf Will angesetzt hatte. Auch Kelly, Dr. Nyles und Kinley oder Coons – sie alle waren in die Sache eingeweiht und beteiligten sich an der Beschattung. So kam es, dass Will niemals allein in seinem Zimmer war, egal ob seine Schwester ihn besuchen kam oder nicht. Einmal, als Anni mal wieder bei ihm war, um seine Kissen auszu-schütteln, ihm eine neue Flasche Mineralwasser hinzustellen und sein Glas auszu-tauschen, hatte er sie plötzlich am Handgelenk gepackt. „Weißt du, was ich wirklich komisch finde?“, fragte er und Anni wusste nicht ob sie sich darüber ärgern sollte, dass er sie ohne zu fragen duzte, oder ob sie sich schleunigst davonmachen sollte, weil er womöglich etwas ahnte. „Ich finde es echt komisch, wie fürsorglich hier alle zu mir sind“, sagte er und ließ ihr Handgelenk los. Er machte einen ziemlich verdutzten Eindruck. Ganz so, als habe ihn diese Erkenntnis gerade erst und völlig unangekündigt ereilt. „Natürlich kümmern wir uns um Sie. Wir wollen doch, dass Sie gesund werden.“ „Wirklich?“, Will sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. Was war das denn für eine Frage? „Sicher. Sie sind hier in einem Krankenhaus. Und in einem Krankenhaus gibt es Ärzte, die ihre Patienten gesund pflegen wollen.“ „Hm“, machte Will und starrte an die gegenüberliegende Wand. „Aber kann es nicht auch sein“, sein Blick wanderte langsam an dem Tropf vorbei, der immer noch an seinem Arm hing und blieb schließlich an seinem Wasserglas hängen, „dass es dort auch Ärzte gibt, die genau das nicht wollen?“ Anni blinzelte. Der Mann hatte sie nicht mehr alle, oder...? Sie erstarrte. War es vielleicht wirklich möglich, dass Dr. Anderson oder einer der anderen Ärzte oder Pfleger etwas in Wills Medikamente mischten, um seine Genesung herauszu-zögern? Um so vielleicht mehr Zeit zu gewinnen um den wahren Grund für seinen „Unfall“ herauszufinden? Sie schauderte. Wenn dem tatsächlich so war... Aber, wer sollte so etwas denn getan haben? „Ist dir nicht gut? Du bist plötzlich so blass um die Nasenspitze.“ Anni riss sich zusammen und sah Will freundlich lächelnd an. Der hatte die Stirn in tiefe Falten gezogen und musterte sie skeptisch. „Nein, nein. Alles Bestens. Ich habe nur gerade überlegt, dass es bald Zeit wird, Ihre Fäden zu ziehen. Vielleicht kann ich das sogar heute schon machen. Ich werde gleich mal einen Arzt fragen.“ Sie nickte ihm noch einmal freundlich zu und verließ dann schnell den Raum. Vor Dr. Andersons Zimmer machte sie halt. Sollte sie wirklich klopfen? Was wenn er wieder beschäftigt war? Nun gut, sie hatte ihn beim letzten Mal oben-ohne gesehen; konnte es noch peinlicher werden? Da fiel ihr ein, dass er dieses Mal ja auch unten herum nackt sein konnte, weil er seine Kleider aus irgendeinem Grund mitten im Raum wechselte. Anni wollte eigentlich gar nicht so genau darüber nachdenken. Schon allein die Vorstellung – mehr als peinlich! Immer noch stand sie unschlüssig vor der Tür. Und während sie noch all ihren Mut zu sammeln versuchte, hob sie langsam die Hand und klopfte. Stille. Okay, vielleicht war er ja gerade im Bad. Sie klopfte noch einmal. Und nochmal, lauter diesmal. Nichts. Also versuchte sie die Klinke herunterzudrücken. Abgeschlossen. Er war nicht da. Anni ließ Kopf und Schultern sinken. Jetzt hatte sie sich so zusammengerissen und sich getraut zu klopfen und was war!? Er war nicht da! Ärgerlich! Sie drehte sich um und ihr Blick streifte dabei das Fenster, das auf einen Teil des Gartens hinausging, den sie von ihrem Zimmer aus nicht sehen konnte. Und da unten, eingerahmt von mehreren Büschen und einer alten Eiche, sah sie Dr. Anderson vertieft in eine Unterhaltung mit Dr. Nyles, den Teddy wie immer an seine Seite gedrückt. Da ist er also, dachte Anni und wandte sich um. Sie stand vor den Aufzügen und musste auch nicht lange warten, als sich die Aufzugtür direkt vor ihr öffnete. Im Aufzug stand Dr. Knox. „Ah, Schwester Anni, richtig? Schön Sie zu sehen. Ich bin nämlich auf dem Weg in die OP und ich wollte eigentlich nach Schwester Marcy suchen lassen, aber wo ich Sie hier treffe...“ Und so fand Anni sich in einem OP-Saal wieder. Es war nicht derselbe, in dem sie zuvor Will operiert hatten, aber dieser sah jenem zum verwechseln ähnlich. Außerdem handelte es sich dieses Mal nicht um einen Notfall, nämlich um eine Blinddarmentfernung, wobei das Organ sich in keinem wirklich bedenklichen Zustand befand. Die besorgten Eltern des Patienten – einem kleinen, blonden Jungen namens Jerry – hatten die Operation aber sehr wohl für notwendig gehalten und so lag der Junge nun auf dem Behandlungstisch und versank in einem Narkosetraum. Ungewöhnlich an dem Jungen war allerdings, dass er die ganze Zeit über lächelte. Dieses Lächeln verschwand auch nicht von seinen Lippen, als Dr. Knox das Messer an seinem Bauch ansetzte und auch nicht, als sein Blinddarm in einer kleinen Blechschale landete. Wahrscheinlich, so dachte Anni, hatte er sich dieses Lächeln von dem Krankenhauspersonal abgeschaut. Als Neu-ankömmling hatte sie dieses Lächeln ganz schön irritiert, aber mit der Zeit gewöhnte man sich daran. Anni behielt während der ganzen Prozedur das EKG im Auge und überprüfte in regelmäßigen Abständen Puls und Körpertemperatur. Jerrys Zustand blieb durchgehend stabil, worüber Anni sehr erleichtert war. Dr. Knox redete unter-dessen über alles Mögliche und fragte sie mindestens fünf Mal, warum sie nicht Ärztin geworden war, anstatt bloß Krankenschwester. Anni ließ sich Zeit mit ihrer Antwort, sodass für eine Weile nur das Piepen des EKG und das Klappern der Geräte zu hören war – und das war eine weitere Besonderheit dieses Kranken-hauses: Im OP wurde niemals Musik gehört und es waren für gewöhnlich nicht mehr als drei Personen an einer Operation beteiligt, solange es sich nicht um einen besonders kritischen Notfall handelte, bei dem der Rat mehrerer Ärzte benötigt wurde. Heute waren sie deshalb nur zu zweit im OP und so gab es nichts und niemanden, der sie stören oder ablenken konnte. „Ich weiß nicht. Der Beruf Arzt hat mich eigentlich schon als Kind sehr ange-sprochen, aber nach dem Abitur hat mein Schnitt so nicht ausgereicht um Medizin zu studieren. Zuerst habe ich mich dann für ein soziales Jahr entschieden und so bin ich eben im Krankenhaus gelandet, wo ich ja ohnehin später hinwollte. Und dann hat mir das Dasein als Schwester so gut gefallen, dass ich gar nicht mehr daran gedacht habe Ärztin zu werden... Studiert habe ich dann später trotzdem.“ „Aha“, machte Dr. Knox und schwenkte sein Skalpell im sauberen Wasser. „Und was haben Sie stattdessen studiert, wenn ich fragen darf?“ Da entdeckte Anni draußen zwei bekannte Gesichter, die sie beinahe vergessen ließen, dass man ihr gerade eine Frage gestellt hatte. Der Raum, in dem die OP stattfand, unterschied sich nur durch eine Kleinigkeit zu dem auf der Notfall-station und die bestand in einem einzigen großen Fenster in der Wand, die der Eingangstür gegenüberlag. Anni sah Kelly und Dr. Nyles im Gang erscheinen. Halb verdeckt von der Familie des Jungen, die die OP beobachtete, so als wollte sie sicher stellen, dass Dr. Knox auch alles richtig machte. Ihre Antwort: „Lyrik“, ging beinahe in einem erschrockenen Luftholen unter, als sie sah, wie Kelly sich zuerst an Dr. Nyles Brust schmiegte, der sich kurz darauf zu ihr hinabbeugte und sie küsste. Mitten auf den Mund. „Aha. Sehr schön. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich ein paar Ihrer lyrischen Ausbrüche zu lesen bekäme. Reichen Sie mir bitte den Tupfer.“ Wie in Trance streckte Anni die Hand aus und gab Dr. Knox den Tupfer. Noch immer konnte sie die Augen nicht von den beiden Turteltauben abwenden. Was war da los? Ging Kelly etwa fremd? Und das ausgerechnet mit Dr. Nyles, den Anni keine halbe Stunde zuvor mit Dr. Anderson hatte sprechen sehen? Fast hätte sie den Tupfer fallen gelassen, aber zum Glück nahm Dr. Knox ihn ihr rechtzeitig aus der Hand ohne eine Veränderung in ihrem Verhalten zu bemerken. „So“, sagte er. „Das hätten wir.“ Auch, nachdem die OP längst vorbei und die Liege mit dem Jungen von Kinley und Coons abtransportiert worden war, bekam Anni das Bild der beiden einfach nicht mehr aus dem Kopf. Wusste Dr. Anderson davon? Und war das der Grund für ihre schwierige Beziehung? Oder flüchtete Kelly sich bloß aus Frustration in Dr. Nyles Arme? Anni sortierte die sauberen Werkzeuge zurück in ihre Schubladen. Sie war sich absolut nicht sicher, was sie glauben sollte. Aber eine Sache war klar: In diesem Krankenhaus ging mehr vor, als sie ermessen konnte. Kapitel 8: Confusing Relationships ---------------------------------- Der Samstag war Annis freier Tag und sie genoss es endlich mal wieder so richtig schön ausschlafen zu können. Bis halb elf blieb sie im Bett liegen und ließ sich von den Sonnenstrahlen in der Nase kitzeln. Bis ihr Magenknurren sie schließlich dazu bewegen konnte, aufzustehen, sich anzuziehen und in die Cafeteria hinunter-zugehen. Dort war es erstaunlicher Weise nur halb so leer, wie Anni gedacht hatte. Offenbar gab es eine ganze Menge Langschläfer unter den Patienten. Sie zählte Mindestens vierzehn Männer und Frauen in Bademänteln und Jogginganzügen, die sich am Buffet tummelten oder Zeitung lesend ihr Frühstück verdrückten. Von ihren Kollegen war allerdings keiner zu sehen. Wahrscheinlich waren die jetzt alle längst an der Arbeit. Anni grinste in sich hinein, während sie sich eine Schale mit Milch und Honig-Pops füllte. Wie schön mal wieder einfach in den Tag hinein leben zu können. Mal sehen, was er noch so für sie bereit halten würde. Gedankenverloren beobachtete sie die anderen Spätfrühstücker und entdeckte die Familie von Jerry, dem Jungen, dem sie gestern den Blinddarm herausgenommen hatten. Sie saßen nicht weit von ihr entfernt an einem Tisch. Ob sie die Nacht hier verbracht hatten? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass noch so viele Betten frei gewesen waren. Zwar waren sie nicht direkt überfüllt, aber sie behielten immer extra ein paar freie Betten, falls es nicht doch einmal zu einem Unfall kam. Wer konnte schließlich ahnen, wann der nächste schlaftrunkene Busfahrer eine Massenkarambolage verursachte oder ob nicht in nächster Zeit eine Epidemie ausbrach. „Allzeit bereit“ schien hier die Devise zu sein, wie der Chef ihr schon an dem Tag ihrer Ankunft versichert hatte. Gute Einstellung für ein so gefragtes Krankenhaus. Hier im Norden Schwedens, wo ein Großteil des Landes von Wäldern bedeckt war, gab es nur wenige große Städte und daher auch nur wenige Krankenhäuser. Das Sir Lazlo Hospital war aber ohne Frage das beste unter ihnen. So weit Anni es inzwischen herausgefunden hatte, gab es hier nicht mehr als fünf Ärzte. Dr. Knox, den Chefarzt und Dr. Anderson hatte sie ja bereits kennengelernt. Außer den beiden waren da noch Dr. Melf, ein etwa drei-ßigjähriger Mann, der sich nur selten ohne seinen pechschwarzen Ärztemantel zeigte und auch im OP-Saal seine Piercings nicht herausnahm. Dann war da noch Dr. Loreley, eine rothaarige Schönheit mit wasserblauen Augen und natürlich der Chef des Krankenhauses Dr. Wilhelmson, der allerdings schon seit einigen Jahren nicht mehr operierte. Alle diese Ärzte waren in ganz Schweden für ihre Genialität bekannt. Jeder von ihnen hatte sein Studium in einem sehr jungen Alter beendet und war für seine oder ihre besondere Kompetenz in Fragen Heilpraxis mehr als berühmt. Die wenigen Ärzte waren auch ein Grund dafür, warum ein Großteil des Personals im Hospital wohnte. Auch wenn es eher Zufall war, dass gerade Anni ein Einzel-zimmer erwischt hatte, denn wie sie von Coons und Kinley erfahren hatte, teilten sich die beiden ein Doppelzimmer – mit getrennten Betten versteht sich. Anni nahm ihr Tablett mitsamt Schale und Becher. Was sollte sie jetzt machen? Über das, was sie nach dem Frühstück machen wollte, hatte sie noch gar nicht nachgedacht. So stand sie eine Weile ratlos auf dem Gang vor der Tür der Cafeteria, die hinter ihr ins Schloss gefallen war. Sollte sie in die Stadt gehen? Aber was konnte sie dort groß machen, was hier nicht auch ging? Im Park spazieren zu gehen, war ungefähr genauso wie im Garten über die verschnörkelten Wege zu streifen. Ja, selbst einen Friseur- und einen Wellnesssalon gab es hier. Aber anstatt sich im einen oder anderen zu amüsieren, trat sie den Rückweg in ihr Zimmer an. Ihr war gerade eine Idee gekommen... Für schwedische Verhältnisse war es eindeutig zu warm. Anni hatte einen kleinen Hitzeschock erlitten, als sie das Gebäude verlassen hatte. Erst da hatte sie gemerkt, wie lange es her war, dass sie zuletzt draußen gewesen war in der Natur. Sie saß im Schatten eines alten, knorrigen Kirschbaums auf der Wiese. Im Rücken von Rhododendronbüschen gegen neugierige Spaziergänger abgeschirmt, mit dem Blick auf ein großes Blumenbeet voller Rosensträucher, Veilchen und Stiefmütterchen. Der Duft von Blumen hatte sie schon immer inspiriert. Sie schloss die Augen und sog genüsslich die Luft ein. Dann senkte sie ihren Blick auf den Block in ihrem Schoß. Er beinhaltete eine lange Liste von Gedichten, die sie geschrieben hatte, seit sie denken konnte. Angefangen mit einfachen, ungeschickten Kinderreimen, bis zu leidenschaftlichen Liebesgedichten aus ihrer Schülerzeit. Genau genommen war seit damals noch gar nicht so viel Zeit vergang-en. Anni war gerade neunzehn Jahre alt geworden und hatte ihre Schwäche für Liebesromane und romantische Geschichten und Gedichte noch immer nicht verloren. Um genau zu sein: Dr. Knox hatte sie gestern im OP daran erinnert, wie lange es her war, dass sie ihr letztes Gedicht geschrieben hatte. Zu lange. Vor allem, da in letzter Zeit so viel passiert war, dass es bitter nötig machte, ihre Gefühle zu bündeln und sie in hübsche Worte verpackt auf Papier zu bannen. Sie schlug eine leere Seite auf und spielte ein wenig mit dem Füller in ihrer Hand. Normalerweise kamen die Worte selber zu einem, man musste nur ein wenig Geduld haben und seine Gedanken schweifen lassen... „Wilde See überfällt den Strand, Doch du lässt mich nicht gehen“, schrieb sie und sie spürte förmlich, wie ihre Hand über das Papier flog und die Tinte wie ihr eigenes Blut aus ihren Fingern gesaugt zu werden schien, von einer höheren Macht angezogen. „Hältst mich mit deiner starken Hand Ich kann deine Tränen sehen. Die Zeit wird knapp – es ist so weit Ein Kuss, der allen Schmerz verzeiht Tropft süß von deinen Lippen“ „Ah, wie ich sehe, verfügen Sie über ungeahnte Fähigkeiten. Und ich dachte, Sie könnten nichts außer nähen und von einem ins nächste Fettnäpfchen treten.“ Anni fuhr herum. Hinter ihr hockte Dr. Anderson. Sein Mund zu einem unver-schämt frechen Grinsen verzogen und die Augen auf ihr Gedicht gerichtet. „Darf ich fragen, von wem hier die Rede ist?“ Augenblicklich begannen Annis Wangen zu brennen, als würde ihr Kopf mit siedend heißem Fett übergossen und sie klappte das Buch zu und drückte es schützend an ihre Brust. „E-es ist ein abstraktes Gedicht. Damit könnte jeder gemeint sein.“ „Aha. Schade, und ich dachte, es gebe da ein süßes Geheimnis zu ergründen...“, er ließ sich sehr elegant neben sie ins Gras gleiten, streckte seine Beine lang aus und stützte sich nach hinten mit den Armen ab. Was hatte das denn zu bedeuten? War das etwa wieder ein ungeschickter Flirt-versuch? Nun gut. Einen Vorwurf machen konnte sie ihm nicht, schließlich war es seine Frau, die hier fremd ging. Er musste ihren Blick bemerkt haben, denn er legte den Kopf schief und zog eine Augenbraue hoch. „Was ist denn? Habe ich Sie etwa schockiert? Vergessen Sie nicht, dass ich auch nicht viele Jahre älter bin als Sie. Wie alt waren Sie noch gleich...?“ „Ich bin neunzehn“, antwortete sie und versuchte vergeblich den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Wenn er noch größer wurde, würde sie ersticken. „Sag ich ja. Nicht viel jünger als ich.“ Sie sah ihn fragend an. „Diesen Dezember werde ich 23.“ Sie nickte und blickte dann stumm vor sich hin. An seiner Kleidung erkannte sie, dass auch er heute seinen freien Tag zu haben schien. Er trug eine dunkelblaue Jeans und ein dunkelgrünes T-shirt. Offenbar hatte er die seltsame Angewohnheit alle seine Oberteile auf seine Augenfarbe abzustimmen. „Haben Sie etwas Neues aus Mr. Larkson herausbekommen können?“ Damit war die Frage nach dem Grund für seinen Besuch bei ihr wohl geklärt. „Nein“, Anni seufzte und streckte sich nun ebenfalls aus. Das Buch legte sie neben sich, allerdings auf die andere Seite, sodass Dr. Anderson nicht herankam. „Nur, dass ihm offensichtlich aufgefallen ist, dass er sehr „fürsorglich betreut“ wird, wie er es ausgedrückt hat. Und er verdächtigt einen der Ärzte ihm falsche Medikamente zu geben um eine Genesung herauszuzögern -“ Anni verstummte. Mist! Das hätte sie nicht sagen sollen. Wer weiß, ob an der Sache nicht doch etwas dran ist. Und wenn Dr. Anderson etwas damit zu tun hatte, wusste er jetzt, dass Will misstrauisch geworden war und dass auch sie Bescheid wusste. Da bemerkte sie seinen Blick. Es war ihr unmöglich ihn zu deuten. Seine dunkle Augen verrieten wie sooft keine Regung. „Er hat es also gemerkt“, sagte er langsam und Anni machte sich steif. War das etwa ein Geständnis? Doch dann fuhr Dr. Anderson fort: „Vielleicht sollte ich die Sache mit der Beschattung doch ein wenig unauffälliger Gestalten. Aber, wie kommt der Mann nur darauf, dass wir ihm falsche Medikamente geben könnten? Das wäre der reinste Skandal.“ Anni schwieg. „Sagen Sie... haben Sie ihn vielleicht darauf gebracht?“ „Was?“, Annis Stimme war ein paar Oktaven zu hoch. Mist! Das ließ sie doch gleich schuldig aussehen. „Nein! Ich habe gar nichts über irgendwelche mutmaßlichen Fehler in seiner Behandlung gesagt!“ „Sind Sie sicher?“ Dr. Andersons Augen waren jetzt nur noch zwei sehr schmale Schlitze. „Sie haben auch ganz bestimmt nicht aus Versehen, irgendwelche Bedenken geäußert?“ Anni schüttelte vehement den Kopf. Wie war sie hier nur hereingeraten? „Hören Sie“, sagte sie und ärgerte sich über das Zittern in ihrer Stimme, „ich habe weder irgendwelche heiklen Vermutungen über durch Ärzte ausgeführte Angriffe auf Mr. Larkson mit ihm gesprochen, noch habe ich eine Ahnung, warum Sie mich gleich so unter Beschuss setzen. Wissen Sie vielleicht irgendetwas von einer falschen Medikamentenmischung?“ Dr. Anderson antwortete nicht. Er sah sie nur an. In seinem leeren Gesicht war nichts zu sehen. Weder ein Lächeln kräuselte seine Lippen, noch zeigten sich nachdenkliche Falten auf seiner Stirn. Er sah sie nur an. Dann gerieten seine Züge in Bewegung und in seinen Augen glänzte Spott. „Glauben Sie, ich würde Ihnen gegenüber auch nur ein Sterbenswörtchen davon erwähnen, wenn ich tatsächlich an einer solchen Aktion beteiligt wäre? Ich denke, das wäre doch sehr unwahrscheinlich.“ Anni schwieg. Er hatte recht. Verdammt! „Allerdings zeigt mir Ihre Frage, dass Sie kein großes Vertrauen in mich haben. Und ich bin überrascht, dass mich das so sehr trifft...“ Anni bekam große Kulleraugen, als sie in Dr. Andersons Gesicht etwas entdeckte, das sehr stark an Enttäuschung erinnerte. Konnte es wirklich sein, dass er sie mochte? Dr. Anderson sah sie an und jetzt tanzte wirklich ein Lächeln über sein Gesicht. „Warum sehen Sie mich so an, wie ein Kaninchen ein Auto im Scheinwerferlicht? Haben Sie gedacht ich bin so gefühllos wie ein Stein?“ Anni wusste nicht ob oder wie sie darauf antworten sollte und so erwiderte sie einfach nur seinen Blick. „Sie scheinen ja wirklich keine Ahnung zu haben, wie sehr ich mich für Sie interess-iere, Anni.“ „Sie... Sie dürfen mich ruhig duzen“, erwiderte Anni mit heiserer Stimme, aber sie merkte es nicht. Was hatte er eben gesagt? Er fand sie interessant? Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er gerade frisch gewischt und ausgeweidet worden. Wo waren all ihre Fragen geblieben? Wo die vielen Gedanken, die sie in den letzten Nächten bis in den Schlaf begleitet hatten? „Gut, dann wünsche ich dir noch viel Erfolg beim Dichten“, sagte er und diesmal lächelte er sie ohne jeden Spott direkt an. Er stemmte sich hoch und stand auf. Anni blickte zu ihm auf. Unschlüssig, ob sie es ihm gleichtun sollte. „Ich werde dann mal wieder gehen. Da gibt es noch einige Unterlagen, die nicht gerne warten. Wir sehen uns ja dann spätestens Morgen.“ Er wollte sich umdrehen und gehen, hielt aber noch einmal inne. „Ach ja, und nenn mich Nils... oder Robert. Was dir lieber ist.“ Anni saß noch lange da und starrte in die Rosen. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Dann durchfuhr es sie wie ein Stromstoß und sie begann wieder zu schreiben. An diesem Abend würde Dr. Anderson – Robert – ein sehr Metaphern-haltiges Gedicht an der Tür zu seinem privaten Büro finden. Kapitel 9: Überfall!! --------------------- An einem Sonntag zu arbeiten war sicher ziemlich unorthodox und Anni entschul-digte sich gedanklich einige Male, während sie ihr Frühstück zubereitete und daran dachte, was heute noch auf sie zu kam. Nach ihrem Gespräch gestern mit Robert – sie konnte es immer noch nicht glauben, dass er ihr tatsächlich das Du angeboten hatte – hatte sie sich vorgenommen nicht nur eins, sondern gleich beide Augen auf Will zu werfen. Kurz gesagt: So häufig wie nur möglich in seiner Nähe zu sein. Zum einen wollte sie wissen, was wirklich hinter Wills paranoiden Verdächtigungen steckte, und zum anderen lenkte sie das wenigstens von Robert ab. Sie biss in ihren Schokotoast und nahm einen großen Schluck Kakao. Sie hatte Dr. Anderson ja schon attraktiv gefunden, wenn er sie wie üblich nur mit diesem kalten, leeren Blick ansah, aber wenn er lächelte – das war nun wirklich die absolute Droge. Die Schokoladensoße auf der Kirsche auf dem Riesensahneberg auf dem Eisbecher der Verführung – oder so ähnlich. Diese und ähnliche Gedanken waren zwar sehr erheiternd, aber sie waren auch der Grund dafür, dass Anni jeden Blickkontakt mit Kelly tunlichst vermied. Ein weiterer Grund, abgesehen davon, dass sie sie bei dem Besuch ihrer Mutter heimlich belauscht und sie dann später beim Fremdknutschen mit Dr. Nyles beobachtet hatte. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Die süße Kelly, die kein Wässerchen zu trüben fähig schien und der freundliche und liebenswürdige Psychologe mit dem Teddykomplex. Einfach absurd. „Hast du eigentlich noch einmal einen Alptraum gehabt?“, Dr. Nyles sah sie von der Seite her besorgt an. Natürlich saß sein Teddy ihm wieder gegenüber auf dem Tisch und auch er schien Anni sorgenvoll anzublinzeln – aber das musste sie sich einbilden. „Nein, seit dem letzten habe ich eigentlich gar nicht mehr geträumt, oder ich kann mich zumindest an keinen Traum erinnern.“ „Gut“, Dr. Nyles lächelte sie an, „da bin ich aber erleichtert.“ „Woher wissen sie eigentlich von meinem Alptraum?“, fragte Anni, weil ihr gerade eingefallen war, dass er an jenem Morgen nicht mit am Tisch gesessen hatte. „Ach – ähm, Kelly hat mir davon erzählt. Weiß nicht mehr genau wann... Ist schon wieder eine Weile her...“ Er starrte nachdenklich in seine Müslischale und hielt Dr. Teddy gedankenverloren ein Stückchen Mandarine an die pelzige Schnauze. „Sie scheinen sich ja ganz gut zu verstehen“, sagte Anni in, wie sie hoffte, bei-läufigem Tonfall. Dr. Nyles blinzelte und ein roter Glanz breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Äh... ja. Wir kommen sehr gut miteinander aus...“ Er lächelte sie verschmitzt an. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und sprang auf, wobei er fast sein Tablett vom Tisch geworfen hätte. „Oh, so spät schon!“, sagte er. „Die Verrückten – ähm, meine Patienten warten sicher schon auf mich. Ich – geh dann mal!“ Und er stopfte sich den Teddy in die Tasche, schnappte sich sein Tablett und ging mit flatterndem Kittel davon. Anni hatte ihm noch eine Weile hinterher geschaut. „Haha, das sieht mehr schwer nach Verlegenheit aus“, grinste Coons neben ihr. „Wohl eher nach schlechtem Gewissen...“, murmelte Anni, stand ihrerseits auf und brachte ihr Tablett weg. Mit einem Stapel frischer Handtücher betrat sie wenig später Wills Zimmer. Sie hatte sich einen sehr guten Plan gemacht. Sie wollte heute Handtücher, Klopapier, Wasserflasche und Wasserglas erneuern und für jedes einzeln wiederkommen. Beim ersten Mal hatte Will Besuch von seiner Schwester Lizzy, die auf dem Stuhl neben seinem Bett saß. Anni grüßte beide freundlich und verschwand dann im Badezimmer. „Ich hoffe, du weißt, dass ich dich öfter besuchen würde, aber ich bin berufstätig, Will. Ich muss meine Wohnung bezahlen können.“ „Ja, ich weiß.“ Anni hatte die Handtücher längst ausgetauscht, lehnte aber weiter an der angelehnten Badezimmertür und lauschte. „Ich würde dich ja auch viel lieber bei mir zuhause empfangen, als hier in diesem stinkenden Krankenhaus mit all seinen gammligen Ärzten.“ „Sssshhhh! Vergiss nicht, dass diese gammligen Ärzte dir sehr wahrscheinlich das Leben gerettet haben.“ „Was heißt hier wahrscheinlich? Ohne die ambulante Hilfe, wärst du längst Geschichte, Will“, sagte eine fremde Stimme. Es war ein Mann und er hatte offenbar gerade erst den Raum betreten. „Mike!“ Anni hörte den Stuhl knarzen und dann über den Boden schrabben. Lizzy musste aufgesprungen sein. „Was will der denn hier?“ Die Feindseligkeit in Wills Stimme schien die Luft in Fetzen zu reißen. Wer war dieser Mike? Es gab nur einen Weg das herauszufinden. Anni öffnete die Tür und trat heraus. Dabei versuchte sie so ruhig und unbeteiligt wie möglich zu wirken, lächelte jedem im Raum zu und ging dann langsam hinaus. Auf dem Weg zu ihrem Handwagen, der beladen mit Toilettenpapier, Hand-tüchern, einem Glas und einer Flasche Mineralwasser um die Ecke stand, rief sie sich das Aussehen dieses Mike in Erinnerung. Ein mittelgroßer Mann von athletischem Körperbau. Er hatte blondes, struppiges Haar und eisblaue Augen, die seltsam kalt wirkten. Anni verstaute die gebrauchten Handtücher und nahm eine Rolle Toilettenpapier vom Wagen. In diesem Moment hörte sie den Lärm. Anni rannte um die Ecke und zurück zu Wills Zimmer, um zu sehen, was passiert war. Überrascht sah sie, dass Dr. Nyles und Coons bereits dort waren. Der Pfleger hielt Mike in eisernem Griff gepackt, Dr. Nyles hatte sich schützend zwischen den beiden und Will aufgebaut. Allerdings schien letzterer nicht weniger erpicht auf eine Schlägerei zu sein als Mike. In seinen Augen blitzte es gefährlich und Anni sah erschrocken, dass eine Ader an seinem Hals angeschwollen war und er beide Fäuste geballt hatte. „Was ist denn hier los?“, fragte sie völlig überflüssiger Weise und endlich schienen auch alle anderen zu bemerken, dass sie wieder da war. Sie kam sich ziemlich dämlich vor in ihrer albernen rosa Schwesternuniform und dem Klopapier in der Hand. Dr. Nyles lächelte grimmig. „Wie es aussieht haben wir hier einen Konflikt“, erklärte er, ebenfalls unnötiger Weise, denn der Hass war beiden Männern nicht schwer vom Gesicht abzulesen. „Was soll das denn nur?“, flüsterte Lizzy. Sie stand zwischen ihrem Bruder und Mike, die Fäuste geballt. „Der Kerl hat mich provoziert!“, knurrte Will. „Achja? Mit meiner bloßen Anwesenheit?“, erwiderte Mike nicht weniger wütend. „Ich glaube, wir klären das besser draußen. Mir scheint, Sie könnten ein wenig Sauerstoff jetzt gut gebrauchen.“ So streng hatte Anni Dr. Nyles noch nie gesehen. Selbst seinen verrückten Patienten gegenüber war er stets freundlich und einfühlsam gewesen. Mike knurrte etwas unverständliches, protestierte aber nicht, als Coons ihn auf Dr. Nyles Zeichen hin langsam losließ und dann von den beiden auf den Gang geführt wurde. Lizzy blickte noch einmal unschlüssig von der Tür zum Bett, dann rief sie ihrem Bruder noch ein „Bis dann“ zu und rannte hinaus. „Lizzy! Nein, bleib hier!“ Aber sie reagierte nicht und ließ Anni und Will allein. Er ließ den Arm langsam sinken, den er nach seiner Schwester ausgestreckt hatte und senkte den Blick auf seine Bettdecke. Anni blieb noch eine Weile atemlos stehen, dann besann sie sich und ging ins Badezimmer um ihren Ballast loszuwerden. Als sie wenig später wieder herauskam und zur Tür strebte, hielt Wills Stimme sie zurück: „Warte bitte!“ Sie drehte sich um. „Was ist denn?“ Er senkte beschämt den Blick. „Ich wollte mich nicht so schlecht benehmen“, murmelte er dann. „Aber ich kann diesen Typen einfach nicht ab.“ „Wer ist er eigentlich?“, fragte Anni und tat wieder ein paar Schritte in den Raum hinein. „Er ist Lizzys Freund. Sie sind jetzt schon eineinhalb Jahre zusammen. Aber ich trau ihm einfach nicht. Ich glaube, er zieht sie da in etwas herein...“ „Glaubst du?“, fragte Anni und stellte fest, dass sie plötzlich zum vertraulichen Du gewechselt hatte. Naja, vielleicht würde das seine Zunge ein wenig lockern. „Ich weiß es“, er sah sie direkt an. Anni spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Das schien tatsächlich zu funktionieren! „Hat das vielleicht etwas mit deinem Unfall zu tun?“, fragte sie vorsichtig. Sofort verschloss sein Gesicht sich wieder. „Nein.“ Betretenes Schweigen. Dann: „Hast du Geschwister?“ „Ja. Einen großen Bruder“, antwortete sie und bei dem Gedanken an ihn musste sie lächeln. Sie hatte ihn sehr gern. „Und hast du momentan einen Freund?“, fragte Will weiter. „Nein.“ „Hattest du mal einen?“ „Ja, einmal“, Anni zuckte die Schultern. Sie fragte sich wohin das führen würde. „Und was hat er von ihm gehalten?“ „Ich weiß nicht... Sie haben nicht sehr viel mit einander gesprochen“, erwiderte sie. Langsam wurde ihr das hier ein bisschen zu intim. „Aber glaubst du nicht, dass dein großer Bruder dich hätte beschützen wollen, wenn er der Ansicht gewesen wäre, der Typ wäre nichts für dich?“ „Ich finde, das wäre dann ja immer noch meine Sache“, entgegnete sie. Will grinste. „Und wenn du wüsstest, dass seine Freundin eine Drogendealerin ist, oder auf den Strich geht, würdest du dann etwas unternehmen?“ „Klar, das könnte ziemliche Schwierigkeiten mit sich bringen, schließlich -“, da ging ihr endlich ein Licht auf. Mike war Lizzys Freund und er hatte wohl Dreck am Stecken. Jedenfalls befürchtete Will, dass seine kleine Schwester mit Dingen in Berührung kam, die sie in großes Unglück stürzen konnten. Er wollte sie also beschützen. War er sie deshalb besuchen gekommen? Womöglich unangekündigt, um sich nicht zu verraten? Und hatte Mike ihn dann... Will sah sie immer noch an. Er wirkte zufrieden. Sie hatten sich noch eine Weile über dies und das unterhalten und dann war Will immer müder geworden, bis er schließlich eingeschlafen war. Die Erschöpfung, die sein immer noch bedenklicher Zustand mit sich brachte und die Beruhigungs- und Schmerzmittel, die seinen Körper auf der Blutbahn durchströmten, hatten das ihre getan. Anni wartete noch, bis er friedlich und gleichmäßig atmete und ging dann leise hinaus. Sie wollte nur kurz das Glas und die Flasche holen und würde dann damit fortfahren, über seinen Schlaf zu wachen. Wenn sie jemand suchte, würde er sie schon finden. Doch als sie um die Ecke bog, war ihr Handwagen verschwunden und mit ihm das Glas und die Flasche. Jemand musste ihn weg- gerollt haben. Wahrscheinlich eine andere Schwester, die mit Annis unvollendeter Arbeit fortfahren wollte oder ein genervter Pfleger, dem das Ding einfach nur im Weg gestanden hatte. Anni streifte noch ein wenig durch die Gänge, um den Wagen wiederzufinden. Will würde so lange schon nichts passieren. So lange er schlief, konnte er sich zumindest mit niemandem mehr anlegen – wenn er nicht auch in seinen Träumen gerne Schlägereien anzettelte. Als sie den Wagen auch nach einer Viertelstunde nicht hatte finden können, stieg sie in den Aufzug und fuhr hinunter in die Kantine, um sich von dort Glas und Flasche zu holen. Dann kehrte sie auf Wills Station zurück. In der Erwartung alles unverändert aufzufinden betrat sie seelenruhig das Zimmer und ließ fast ihr Handgepäck fallen, als sie Mike erblickte, der sich, mit dem Rücken zu ihr gedreht, an Wills Tropf zu schaffen machte. „Hey! Was tun Sie denn da?!“, rief sie, stellte Glas und Flasche rasch auf dem Tisch ab und trat auf Mike zu. Der war bei dem Klang ihrer Stimme herumgefahren. In der einen Hand hielt er eine leere Spritze, deren Inhalt sich jetzt zweifelsohne im Inneren des Plastikbeutels befand, der direkt mit Wills linkem Arm verkabelt war. Der war bei dem Lärm inzwischen wieder aufgewacht und starrte die beiden anderen verwirrt an. Anscheinend hatte er noch nicht ganz begriffen, was sich da vor seinem Bett abspielte. „Geh mir bloß aus dem Weg, oder dir geht es gleich, wie ihm,“ knurrte Mike und versuchte sich an Anni vorbei zudrängen, doch die hielt ihm Stand und versuchte mit aller ihr verfügbaren Kraft den größeren und natürlich viel stärkeren Mann festzuhalten. „Was haben Sie ihm da gegeben?“, fragte sie und versuchte so Zeit zu gewinnen. Mike grinste sie böse an, während er ihre Arme langsam ausein-ander zog, die sie um ihn geschlungen hatte, um ihn aufzuhalten. „Etwas, das ihn nicht mehr aufwachen lässt, wenn er gleich wieder eingeschlafen ist. Und jetzt lass mich los, ich hatte nicht vor noch eine Minute länger hier zu bleiben.“ Er riss sich vollends los und stieß sie so heftig von sich, dass Anni einen kleinen Flug quer durchs Zimmer machte. Jetzt könnte ich Kinley wirklich das Fliegen beibringen, schoss es Anni durch den Kopf. Und dann landete sie mit einem lauten Knall auf dem Fußboden, ihr Kopf prallte gegen die Tischkante und der Schmerz ließ sie wie gelähmt liegen bleiben. Wie in einem Traum hörte sie Will schreien, während Mike an ihr vorbei aus dem Zimmer lief und sich an ihrem Hinterkopf etwas warmes ausbreitete und in ihren Kragen tropfte. Aber sie hatte keine Zeit zu verschnaufen. Da war ein Typ vor ihr auf der Flucht, der schon zwei Mal versucht hatte Will zu töten. Dieser Gedanke, war das erste, das in ihren Verstand sickerte. Trotz ihrer zitternden Beine stand sie auf. Sie sah Will wild gestikulieren und irgendetwas brüllen, aber sie hörte es nicht. „Ruf einen Arzt“, sagte sie zu ihm, auch wenn sie nicht sicher war, ob sie es nicht nur gedacht hatte. „Drück den Knopf und ruf damit einen Arzt.“ Anni taumelte aus der Tür und sah sich um. Mike war noch nicht weit gekommen. Sie sah ihn gerade um die Ecke biegen. Ruhig und langsam, als wäre nichts passiert. Er war auf dem Weg zu den Aufzügen. Anni stürzte ihm hinterher. Sie wusste ohnehin schon nicht mehr wer sie war und was sie da tat. Die Hauptsache war, dass sie etwas tat. Sie holte ihn ein, gerade als sich eine Aufzugtür vor ihm öffnete. Er trat schon vor um einzusteigen, da hechtete sie vor und bekam sein Bein zu fassen. Beide fielen sie der Länge nach hin. Noch im Fallen drehte Mike den Kopf. „Du?“, rief er entgeistert. „Ich dachte...“ Und dann knallte er auf den Boden. Allerdings war da diesmal keine Tischkante, gegen die er stoßen konnte und so rappelte er sich schnell wieder auf die Beine. „Nein, ich lass dich nicht gehen“, stieß Anni zwischen zusammengebissenen Zähn-en hervor. Langsam begann die Welt um sie herum zu verschwimmen, bis sie nur noch Umrisse sehen konnte. „Ha, was willst du schon gegen mich ausrichten?“, fragte Mike, mit dem einen Fuß schon im Aufzug. „Du hässliche, kleine Zecke.“ Und er holte aus und versetzte ihr einen saftigen Tritt in die Seite. Anni spürte den Schmerz kaum. Spürte nur das Krachen ihrer Rippen und dann wurde alles schwarz. Komisch, dachte sie, als sie die Augen öffnete und über sich verschwommen Dr. Andersons Gesicht erblickte. Was hatte der denn bitteschön in ihrem Schlafzim-mer zu suchen? Zu ihrer Verwunderung schimmerten Tränen in seinen Augen und da endlich drang auch seine Stimme an ihr Ohr. „Anni, oh, Anni antworte mir bitte!“ „Sind... sind Sie hier, um von mir das Nähen zu lernen, Dr. Anderson?“, fragte Anni langsam. Ihre Zunge war ungewöhnlich schwer. So, als wäre sie aus Blei. „Ich... ich fände es wirklich nett, wenn Sie das nächste Mal anklopfen würden, bevor Sie einfach mein privates Schlafzimmer betreten.“ „Wo sie recht hat, hat sie recht!“, hörte sie jetzt Kinleys vertraute Stimme und drehte ein wenig den Kopf. Der brummte schlimmer als nach jedem Kater. „Du... du sollst mich doch Robert nennen“, stammelte Dr. Anderson und zog sie näher an sich heran. Da erst bemerkte Anni, dass sie auf dem Boden eines Krank-enhausflures lag. Wie war sie noch gleich dorthin gekommen? Sie wusste es nicht mehr. Aber in diesem Moment war ihr das auch egal. „Robert, hör auf mit ihr zu kuscheln. Du siehst doch, dass sie Schmerzen hat. Wir haben jetzt keine Zeit für Zärtlichkeiten. Das Mädchen braucht eine Behandlung“, mahnte Dr. Knox. Nur Widerwillig löste Dr. Anderson die Umarmung und half Kinley, Anni auf eine Liege zu legen. Schon wieder begann die Welt vor ihren Augen zu verschwimmen. „Wilde See überfällt den Strand, Doch du lässt mich nicht gehen Hältst mich mit deiner starken Hand Ich kann deine Tränen sehen“, krächzte Anni und in diesem Moment war es ihr ganz egal, dass Robert verheiratet war. „Die Zeit wird knapp – es ist so weit Ein Kuss, der allen Schmerz verzeiht“, ihre Stimme versagte ihr den Dienst, doch da hörte sie jemanden die restlichen Verse sprechen: „Tropft süß von deinen Lippen Ich wünscht' er fände meinen Mund Und stürzte von den Klippen Fiel tief, bis auf des Meeres Grund Wo wir uns bald erblickten Unser Schicksal musste sich verstricken Verloren in dir, verloren in mir Einzeln verloren – sind wir Zusammen endlich frei“, schloss Dr. Anderson und drückte Annis Hand. Dann war sie wieder eingeschlafen. Fortsetzung folgt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)