Sub Iove - Unter freiem Himmel von Ixtli ================================================================================ Opus 91, № 1 ------------ lat. Sub "unter" + Iovis "Jupiter; Gott des Himmels". Sinngemäß: "Unter freiem Himmel" Es gibt viele Arten von Gebäuden, wovon die meisten denjenigen, die sie tagtäglich betreten, eine gewisse Geborgenheit vermitteln sollten. Man sollte das, was immer man auch in dem Gebäude zu erledigen hatte, gerne tun. Und es gab Bähbem Manor, das geduckt und finster dreinschauend wie ein beleidigter Riese inmitten eines weitläufigen, von einem Schmiedeeisernen Zaun umgebenen Gelände hockte und wütend vor sich hin schmollte. Bähbem Manor wollte keinen Besuch von Außerhalb, der vielleicht etwas zu neugierig durch die Zimmer ging und nach eventuell verborgenen Geheimnissen suchte. Dabei hatte es mehr zu bieten, als das unfreundliche Äußere vermuten ließ. Alleine anhand der mühevoll über Generationen hinweg zusammengetragenen Einrichtung und der Tapeten, die die Wände zierten, konnten die Räume auf Bähbem Manor einen in einer bestimmten Art unbewusst zum Handeln lenken. Waren sie klar und ohne besonders dekorative Muster in sämtlichen Räumen, in denen etwas gelehrt wurde, waren sie im Gegensatz dazu heiter und ausgelassen in Zimmern, in denen vor allem die kreativen Sinne angesprochen werden sollten. Wie hier im Musikzimmer. Eines der wenigen Zimmer, in denen sich Makoto wohlfühlte, weil es fast vollkommen ohne die unvermeidliche, nahezu überall anwesende bedrückende Holzvertäfelung auskam. Hier war reichlich Platz für allerlei Muster, die mit ihren tanzenden Windungen und beschwingten Bögen das Auge und den Geist auf Wege führten, die nie zu enden schienen. Das alles war Makoto im Laufe der letzten Wochen aufgefallen. Seit Itsuki ihn das erste Mal noch vor Tagesbeginn aus dem Bett gescheucht und – den damals vor Müdigkeit nicht ganz des Denkens mächtigen Makoto – in dieses Zimmer gedrängt, förmlich hineingeschoben, und ihn zum Flügel hin dirigiert hatte. Und weil er nicht wusste, was er hier vor Unterrichtsbeginn sollte, hatte Makoto das erste Mal den Blick gehoben und ihn antwortsuchend auf die Wand vor sich gerichtet. Die Antwort, die sich ihm dort zwischen verschlungenen Ranken und sich öffnenden Blüten offenbarte, war nicht unbedingt die, die er selbst erwartet oder die Itsuki sich womöglich erhofft hatte – der Flügel steht nicht zur Zierde hier! -, sondern es war schlicht die Erkenntnis, viel zu lange mit gesenktem Blick durch die tunnelartigen Flure des Anwesens und seines Lebens geschlichen zu sein. Dieser Gedanke hatte sich wie ein Grabstein angefühlt, der die ganze Zeit zwar gewackelt hatte, nun aber umgekippt war und auf seiner Brust lag und ihm den Atem raubte. Zuerst war er so klein wie das Lehmpüppchen, das sie vor Jahren in den Ruinen unter Bähbem Manor gefunden und heimlich aufgepäppelt hatten. Und genau wie dieses fremde Wesen war der dunkle Gedanke, der aus dieser Erkenntnis hervorgewachsen war, immer größer geworden und schließlich genauso zerfallen, je beharrlicher ihn Itsuki seitdem hierher drängte. Obwohl Makoto nicht mehr unbedingt gedrängt werden musste. Manchmal war er lange vor Itsuki hier und saß an dem schwarzen Flügel, bis Itsuki irgendwann auch den Raum betrat und sich neben ihm auf der gepolsterten Bank niederließ. Das neblige Licht des gerade anbrechenden Morgens streckte zaghaft leuchtendweiße Knochenfinger durch die noch kahlen, dürren Äste der Bäume und versuchte, das Anwesen zu erreichen und zu durchfluten. Doch ebenso wie die beiden am Flügel Sitzenden, war es viel zu zeitig dran. Das wenige verwaschene Licht, das es durch den Nebel bis an die riesigen Fenster geschafft hatte, fiel erschöpft und kraftlos durch die hohen Glasscheiben des Musikzimmers und erleuchtete dieses diffus. Es war Makoto nicht entgangen, dass Itsuki seine randlose Brille abgenommen hatte und das fragile Teil nun zusammengeklappt in einer Hand hielt. Es gefiel ihm nicht, wenn Itsuki seine Brille abnahm. Das hatte immer etwas beunruhigendes an sich. Von den Blicken, die ohne Brille irgendwie zu ungehindert auf Makoto ruhten, ganz zu schweigen. Unermüdlich und mit einer bewundernswerten Engelsgeduld gesegnet, saß Itsuki nun schon seit Stunden neben Makoto, der mit leerem Blick das aufgeklappte Notenbuch vor sich anschwieg. Seine blassen Finger schwebten nur einige Zentimeter reglos über den elfenbeinernen Tasten. Was lag ihm an Brahms?! Brahms war längst tot, was ein Vorteil für den Komponisten war. So würde er das Desaster, zu dem Makoto wahrscheinlich dessen Stück wieder zerhacken würde, wenigstens nicht mit anhören müssen, aber Itsuki würde es und genau wie Makoto wusste auch er, dass er es nie so fehlerfrei hinbekommen würde wie Itsuki. Egal, wie oft und wie lange sie noch hier in diesem Raum mit dem falschen Himmel über ihnen sitzen würden. Der Grabstein mochte weg sein, doch sein mit Gras überwucherter Sockel war noch immer fest in der Erde verankert. Und Itsuki sah ihn immer noch an. Abwartend. Die ärgerliche Falte studierend, die sich zwischen Makotos Augenbrauen gebildet hatte. Wenn er doch nur nicht so schauen würde. So, als schulde ihm Makoto irgendeine Regung... "Das ist doch sinnlos." Makoto atmete tief aus. Er konnte spielen wie er wollte, ihm fehlte einfach das Einfühlungsvermögen, aus diesen aneinandergereihten Punkten, die wie Krähen auf ihren Stromleitungen saßen, ein harmonisches Stück werden zu lassen, wie es der Komponist sich vorgestellt haben musste. Dafür hatte sich Brahms sicher nicht die Nächte um die Ohren geschlagen, damit Makoto nun einen Sinngemäßen Trauermarsch daraus machte. Krähen konnte man nicht das Singen beibringen. Krähen blieben Krähen. Sie trugen höchsten die Särge zu den Klängen des Trauermarschs zu den Gräbern. Makoto wandte den Kopf und begegnete Itsukis immer noch auf ihm ruhenden Blicken. Er hätte ja wenigstens abstreiten können, dass Makoto eine Krähe war, stattdessen saß er seit Wochen neben ihm und versuchte ihm etwas einzutrichtern, wofür Makoto offensichtlich weder genügend Fingerspitzengefühl, noch die Ausdauer, eben dies zu erlernen, besaß. Mit welcher Begründung tat Itsuki das? Um sich auf seine Kosten zu amüsieren? Und auf einmal gehorchten Makotos Finger. Sie krümmten sich, bis beide Hände Fäuste bildeten, die er erhob und mit einer Geschwindigkeit auf die Klaviatur hinabsausen ließ, dass der gesamte Korpus des Flügels unter dem Schlag wie ein verwundetes Tier aufschrie und vor Schmerzen zu vibrieren schien. Selbst überrascht von den gepeinigten Tönen, die dieser Flügel produzieren konnte, hielt Makoto die Luft an. Endlich zeigte Itsuki eine Regung. Er legte seine Brille auf die Fläche neben das Notenbuch. Kurz und unergründlich lächelte er Makoto zu und noch ehe sich das gequälte Instrument beruhigt hatte, hatte er sich mit der Eleganz einer Katze von der Bank erhoben und dabei Makoto, an der Schulter seines Hemdes packend, mit auf die Beine gezogen. Ohne ihm die Chance, zu protestieren, zu lassen, schob ihn Itsuki vor sich her und hinter der Bank hervor, bis sie beide neben dem Flügel standen. Wie kam Itsuki dazu, ihn so zu behandeln? Makotos Frage blieb ein unbeantworteter Gedanke. Sein wütender Gesichtsausdruck wich Unglauben, als ihn Itsuki erneut packte und seine Finger sich fest in Makotos Oberarme krallten. Die Stoffnähte krachten warnend, als Itsuki sein überrumpeltes Gegenüber ein Stück zu sich zog, nur um ihn gleich darauf mit dem so gewonnenen Schwung wieder von sich zu stoßen. Makoto taumelte rückwärts. Sein Fuß stieß gegen etwas festes, verhakte sich und Makoto kam ins Stolpern. Haltsuchend griff er nach dem Korpus des von ihm so schlecht behandelten Instruments. Seine verschwitzten Finger rutschten an dem schwarzlackierten Holz ab, als wolle es ihm nun keine Hilfe sein, doch Makoto blieb auf den Beinen. "Du nimmst das ja ganz schön persönlich", fauchte Makoto und wünschte sich gleich darauf, den Mund gehalten zu haben. Itsuki war schneller bei ihm, als Makoto sich entschuldigen oder standfest genug auf die Beine kommen konnte, so dass ihm das, was ihn als nächstes erwartete, nichts anhaben konnte. Mit einem festen Stoß gegen die Brust ging er nun endgültig zu Boden und schlug so hart auf, dass es ihm einen Moment lang den Atem raubte und kleine schwarze Sternchen vor seinen Augen explodierten. Erschrocken schnappte Makoto nach Luft und fühlte gleich darauf, wie diese wieder aus seinen Lungen gepresst wurde, als sich Itsuki auf ihn stürzte und ihm noch vor dem Ausführen eventueller Absichten aufzustehen, ihm eben diese auf der Stelle zunichte machte. Der Staub, den sie beide aus dem alten abgewetzten Teppich aufgewirbelt hatten, legte sich langsam. Itsuki kniete über dem niedergerungenen Makoto und konnte sich ein winziges triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. Unter ihm wand sich Makoto, das Gesicht so wütend verzogen, dass es auf jeden Eindruck gemacht hätte, außer auf Itsuki. Nach einer Weile wurde Makotos Widerstand geringer. Schnell hatte er gemerkt, dass, je verbissener er wieder die Oberhand zu erlangen versuchte, Itsuki ihn nur noch unnachgiebiger zu Boden drückte. Und das gefiel Makoto ganz und gar nicht. Er musste zugeben, Itsukis Kraft und vor allem seine Schnelligkeit unterschätzt zu haben. Seine Handgelenke schmerzten unter dem Druck von Itsukis Händen, die ihn wie Schraubzwingen umklammerten und sie über Makotos Kopf an den Boden fesselten. Itsukis Fingernägel bohrten sich in sein Fleisch und hinterließen rote Halbmonde in seiner Haut, doch auch das musste irgendwann vorübergehen. Da war sich Makoto sicher. "Ich", Makoto hielt kurz inne und suchte in Itsukis Gesicht nach etwas, das ihm das Weitersprechen leichter machen würde. Ein versöhnliches Aufblitzen in seinen Augen vielleicht, weil er immerhin zuerst zu sprechen angefangen hatte. "Ich weiß ja, deine Mühe wirklich zu schätzen, aber es hat keinen-" Er konnte den Satz nicht beenden, denn Itsuki fiel ihm harsch ins Wort. "Deinen Sarkasmus kannst du steckenlassen." Itsuki spie die Worte aus, so dass Makoto erschrocken mit den Augen blinzelte, weil er, wenn er ehrlich war, erwartete, dass ihm Itsuki seine Faust wegen des Frevels an diesem gottverdammten Flügel ins Gesicht rammen würde. Doch nach diesem ersten, beeindruckenden Satz, der Makoto wohl nur einschüchtern sollte, wurde Itsukis Tonfall wieder so, wie ihn Makoto kannte. "Zuerst einmal", fuhr Itsuki leiser und beherrschter fort, "zuerst einmal musst du lernen, Instrumente pfleglich zu behandeln. Und wenn du das verstanden hast, fangen wir damit an, die Frage zu klären, ob du darauf spielen kannst oder nicht." Makoto sah verwirrt zu Itsuki hinauf. Sein Lächeln hatte nun nicht mehr diesen spöttischen Zug, wie noch kurz zuvor, und allmählich wich die Spannung aus Itsukis Körper. Seine Hände ließen ihren Klammergriff um Makotos Handgelenke sein, was ein unglaublich erleichterndes Gefühl war, weil das Blut wieder ungehindert zirkulieren konnte. Und auch seine angewinkelten Beine, die Makoto seitlich in Schach gehalten hatten, lockerten sich. Offensichtlich hatte Itsuki doch noch einen Funken Anstand in sich. Oder er war einfach nur dumm genug, Makotos Stillhalten als seinen eigenen Sieg zu interpretieren. Makotos Mundwinkel bogen sich zu einem selbstgefälligen Schmunzeln. Itsuki erwiderte das Lächeln Makotos, der schon dabei war, sich in Gedanken auszumalen, wie er Itsuki bei Gelegenheit zeigen konnte, wo der sich sein Instrument hinstecken konnte. Und Itsuki konnte jeden einzelnen Gedanken in Makotos Gesicht ablesen. "Du hast es nicht verstanden." Ertappt wich das Lächeln aus Makotos Gesicht. "Sicher habe ich das", stritt er lautstark ab und glaubte selbst nichts von dem, was er Itsuki gerade weiszumachen versuchte. Itsuki schüttelte langsam seinen Kopf, ganz so, als verstünde er Makoto einfach nicht, weil der in einer anderen Sprache redete. Siegessicher verfolgte Makoto wie Itsukis Gesicht einen scheinbar niedergeschlageneren Zug annahm. "Du hast es mal gewusst." Itsukis Stimme war kaum laut genug, um die Distanz zwischen ihnen beiden zu überwinden, so dass Makoto genau hinhören musste, wenn er die Worte verstehen wollte. Itsuki reagierte darauf, in dem er sich weiter zu Makoto hinabbeugte, der, ob er wollte oder nicht, gebannt darauf wartete, was der ihm noch zu sagen hatte. Itsukis Kopf warf einen bedrohlichen Schatten auf Makotos Gesicht. Seine Stimme blieb weiter nichts als ein heiseres Flüstern, das ihm ins Unterbewusstsein kroch und beharrlich etwas in Erinnerung rufen wollte, was Makoto eigentlich gar nicht mehr hören wollte. "Du hast es dir damals einfach abschneiden lassen, weißt du noch?" Einige von Itsukis hinters Ohr gestrichenen Haarsträhnen lösten sich, rutschten über seine Schulter nach vorne und fuhren wie seidige Finger über Makotos Wangen. Makoto hob die Hand und wischte eine Strähne weg, die ihn zu sehr kitzelte. Die die Erinnerung zu sehr kitzelte. "Die wachsen wieder nach." Makoto kannte diesen Satz. Es war der Erste, den er zu Itsuki gesagt hatte, nachdem Lehrer Isshiki ihm den Schlamm aus den Haaren geschnitten hatte. Gott, eigentlich war es der Leichnam des von ihnen aufgezogenen Wesens gewesen, den er ihm aus den Haaren geschnitten und aus dem Gesicht gewischt hatte. Dieses seltsame, singende Wesen, dessen Wunden sie versorgt hatten, um es zurück zu seinen Eltern zu bringen, falls es denn welche gehabt hätte, weil es so war wie er – und auch wie Itsuki. Makoto senkte seine Blicke, bis er nur noch Itsukis Schultern sehen konnte. Dahinter kroch der Morgen neugierig an die Fenster. Itsukis Gesicht kam wieder in Makotos Blickfeld als der sich noch weiter zu ihm hinabbeugte. "Du hast sie nie wieder wachsen lassen." Itsukis Atem traf auf Makotos fest zusammengepresste Lippen, so nah war er ihm nun. "Ich sitze hier doch nicht, weil du lernen sollst, diese verdammten, verstaubten Stücke fehlerfrei zu spielen." "Warum denn dann? Um mir zu sagen, ich soll meine Haare wieder wachsen lassen?", spottete Makoto prompt, der kurz davor gewesen war, von Itsukis Worten überzeugt zu werden. "Ja, auch das." Itsukis Mundwinkel bogen sich zu einem Lächeln, das eher dem gefletschten Gebiss eines Raubtieres glich, kurz bevor es seine Reißzähne in das warme Fleisch seiner Beute schlug. "Weil er dir mit der Schere nicht nur die Haare geschnitten, sondern sie dir viel tiefer in deinen Kopf gestoßen hatte, wo sie dir wohl alles in winzige Fetzen zerschnitt, womit du einmal einen Haufen Lehm zu einem lebendigen Wesen werden lassen konntest." Makotos Protest verlor sich in Itsukis Kuss, der seine Lippen wie ein plötzlicher Windstoß, der ein Fenster zustieß, traf. Er war nicht vorsichtig, keine sanfte, probierende Berührung von etwas Unbekanntem. Nicht einmal annähernd. Er war ungestüm und begierig, als besäße Makoto etwas, das Itsuki gehörte und das dieser sich nun zurückholen wollte. Itsuki hatte nicht vor, Makoto wieder in den gewohnten Genuss der Überlegenheit kommen zu lassen. Zumindest nicht so schnell. Seine Zähne glitten über das weiche Fleisch von Makotos Lippen. Gerade so locker, dass sie es nicht verletzten, aber immerhin so unnachgiebig, dass Makoto nicht auf die Idee kommen würde, sein Gesicht wegzudrehen. Makoto zog seine Hände unter Itsukis hervor, der bereits damit rechnete, dass er weggestoßen würde. Doch Makoto hob die Arme, die noch etwas taub von der ungewohnten Lage waren, lediglich hoch und schlang sie etwas unbeholfen um Itsukis Rücken. Unter seinen Fingerspitzen spürte er Itsukis Schulterblätter, die sich unter dem Stoff bewegten, als er seine über Makoto gebeugte Haltung aufgab und seinen Körper in eine halb sitzende Position verlagerte. Itsukis Mund löste sich von Makotos Lippen, glitt über sein Kinn und folgte der pulsierenden Vertiefung neben seiner Kehle den Hals hinab. Sein warmer Atem trocknete prickelnd die glänzende Spur, die seine Zungenspitze auf ihrem Weg auf Makotos bleicher Haut hinterließ, während seine Hand die Knopfleiste an Makotos Hemd ertastete. Was wollte Itsuki da? Da war doch nichts, dachte Makoto bitter. Da war nur dieses bedauerliche Herz, das unter dem falschen Himmel schlug und dessen Nachhall von Wänden zurückgeworfen wurde, die ihnen Wiesen und Wälder vorgaukelten und sie dennoch erbarmungslos einsperrten. Makotos kalte Finger verschlangen sich mit Itsukis wärmeren, die sich gerade anschickten, die obersten Knöpfe des Hemdes zu öffnen, und Itsuki küsste einen der zitternden Finger nach dem anderen, bis sich ihr kühler Griff wieder soweit lockerte, dass er ihnen seine Hand entziehen konnte. Er hob den Kopf und begegnete Makotos verunsicherten Blicken. Die Augen, deren blaue Iriden fast vollständig von den schwarzen Pupillen verdrängt worden waren, hatten – das wusste Itsuki, auch ohne dass er es gesehen hatte – jede seiner Bewegungen gespannt verfolgt. Nun sahen sie Itsuki an, als schwankten sie zwischen mindestens drei verschiedenen Empfindungen und eine davon war, aufzustehen und das Zimmer zu verlassen, ehe all das passierte, was ihm die anderen beiden zuflüsterten. Erneut küsste Itsuki die halbgeöffneten Lippen, aus denen der Atem verhalten und stockend drang als wolle er ihn unterdrücken, und dieses Mal war der Kuss sanfter. Tief atmete Makoto ein und wieder aus und versuchte, seine verspannte Brustmuskulatur zu lockern. Itsuki lag nun neben ihm, was ihm das Atmen erheblich erleichterte. Seine langen Haare fielen seitlich an Makotos Kopf hinab wie ein Vorhang, der sie beide von dem, was immer auch außen vorgehen mochte, abschirmte, was Makoto mehr als lieb war. Ihre Gesichter lagen im Halbschatten und Makoto hoffte, dass Itsuki nicht bemerken würde, wie sich seine Wangen röteten. Er spürte das verräterische Kribbeln dicht unter der Haut, die sich sonst blass über die Wangenknochen spannte und die sich nun langsam erwärmte, je weiter sich Itsukis Finger vortasteten. Er wollte Itsukis Blicke nicht mehr sehen. Vermutlich wären sie spöttisch gewesen, weil sich Makoto wie der erste Mensch anstellte, der geküsst wurde. Doch Itsuki ließ die Augen geschlossen. Er musste nicht sehen, was er im Begriff zu tun war. Makoto konnte so reglos wie ein auf den Rücken gefallener und erschöpfter Käfer daliegen, der es aufgegeben hatte, mit den Beinen nach Halt zu rudern, sein Herz, das so heftig schlug, dass Itsuki es unter seiner Hand spüren konnte, erzählte etwas anderes. Makotos Finger folgten Itsukis wie Schatten, als er einen der weißschimmernden Knöpfe nach dem anderen öffnete. Er hielt ihn nicht mehr auf, selbst dann nicht, als Itsuki an seinem Hemd zog, bis es aus dem Hosenbund rutschte. Es war kühl im Musikzimmer und Makoto erschauerte, als Itsuki die geöffneten Vorderseiten seines Hemdes zur Seite schob und seinen Oberkörper entblößte. In langsamen Serpentinen fuhr seine Hand über die nackte Haut. Seine Finger strichen sämtliche Erhöhungen und Vertiefungen darauf so sorgfältig nach, als müsse er sich jede einzelne davon genauestens einprägen. Wenn es einen Moment gegeben hatte, an dem Makoto gezweifelt hatte, jetzt war er vorbei. Er war schon vorbei gewesen, als er Itsukis Lippen das zweite Mal auf seinen eigenen gespürt hatte. Seine Hand war nun nicht mehr so kühl und er zitterte auch nicht mehr, als er Itsukis Hand in seine nahm und sie noch etwas zaghaft, aber bestimmt, zu seinem Schritt schob. Itsuki hätte lügen müssen, wenn er nicht doch von Makotos plötzlicher Aktion überrascht gewesen wäre. Makotos Hand, die seine gerade noch zu seinem Hosenbund geschoben hatte, bis er das kühle Metall des Knopfes unter seinen Fingern fühlte, legte sich nun auf Itsukis Wange und zog ihn zu einem Kuss zu sich hinunter, der das erstaunte Lächeln, das seine Mundwinkel nach oben gebogen hatte, bedeckte. Genauso erkundend wie eben noch über Makotos Brust, strichen Itsukis schlanke Finger nun über die sich deutlich unter dem Stoff abzeichnende Wölbung. Makoto konnte sich ein wohliges Seufzen nicht verbeißen als Itsukis Hand sich erst nur leicht über seinen Schritt schob und dann mit stärker werdendem Druck darüber strich. Ehe Makoto ein Wort über die Lippen brachte, hatte Itsuki den Knopf seiner Hose geöffnet und den Reißverschluss heruntergezogen. Flink schlüpfte seine Hand unter die beiden Stoffschichten und tastete begierig nach dem warmen Körper darunter, der sich ihm entgegen drängte. Makoto hatte die Augen geschlossen und genoss Itsukis liebkosende Hand. Er öffnete sie nur kurz, als er Itsukis Bewegung neben sich spürte, der unvermittelt seine Hand aus Makotos Hose zog und sich aufsetzte. Itsuki beugte sich zu dem irritiert dreinschauenden Makoto hinab, bis sich ihre Münder berührten. "Nein, bleib", flüsterte Itsuki und drückte Makoto, der ihm folgen wollte, wieder sanft zu Boden. Er ließ seine Zunge zwischen Makotos leicht geöffnete Lippen gleiten und sog sacht an dem tiefroten Fleisch. Neben Makoto glitt in dem kunstvoll gedrechselten und auf Hochglanz polierten Bein des Flügels Itsukis schwarze Lacksilhouette an dem ebenso schwarzglänzenden Makoto hinab. Seine fahrig umherwandernde Hand erwischte eine von Itsukis Haarsträhnen und ließ sie durch seine Finger gleiten. Sie fiel auf seine Brust und folgte Stück für Stück Itsukis küssenden Lippen seinen Bauch hinab, die erst an seinem Hosenbund zur Ruhe kamen, den Itsuki mit beiden Händen ergriff und Makoto vorsichtig über die Hüften hinabzog. Nur mit Mühe konnte Makoto den überraschten Laut unterdrücken, der unwillkürlich in seiner Kehle aufstieg, als Itsukis Zunge die Spitze seiner nun vom Stoff befreiten Erektion sanft umkreiste. Mit jeder folgenden Berührung schien sein Körper schier bersten zu wollen. Trunken von Itsukis Tun, seinen weichen Lippen, die sich zärtlich warm um seine Härte schlossen, fiel es ihm schwer, noch etwas anderes wahrzunehmen. Itsuki warf einen verstohlenen Blick hinauf zu Makoto, dessen Brustkorb sich immer schwerer werdend hob und wieder senkte. So gut es ging versuchte Itsuki das eigene Verlangen zu ignorieren, das die quälende Enge in seinem eigenen Schritt langsam immer unerträglicher werden ließ. Er drückte seinen Unterleib gegen Makotos Bein und hoffte, wenigstens so etwas Erleichterung von dem Begehren zu finden, das ihn wie einen Strudel erfasst hatte. Makoto stieß den Atem aus, wie ein Ertrinkender, der gerade noch die Wasseroberfläche erreichen konnte, ehe seine Lungen barsten. Schweigend saß Makoto auf der Bank und wandte dem Flügel den Rücken zu. Seine klammen Finger schlossen den letzten Knopf an seinem zerknitterten Hemd. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete er den hellen Fleck, der noch immer still neben dem Flügel auf dem Boden lag. Itsuki hatte die Hände unter seinem Kopf verschränkt. Er war hier einfach liegengeblieben, auch nachdem Makoto aufgestanden war und damit begonnen hatte, seine Kleider zu richten. Kein einziges Wort war zwischen ihnen gefallen. Im ersten Moment hatte Makoto ausgesehen wie ein geschlagener Hund, als Itsuki wieder zu ihm hinauf gerutscht war und sich neben ihn gelegt hatte. Wie hypnotisiert hatte er an Itsuki vorbei zur Decke hinauf gesehen. Er war sämtlichen Versuchen Itsukis, ihn zum Sprechen oder wenigstens einer anderen winzigen Regung zu bewegen, ausgewichen, als fürchtete er sich vor etwas. Dabei hatte Itsuki ihm doch überhaupt keinen Grund gegeben, sich so zu fühlen. Ihn selbst hatte es unglaubliche Mühe gekostet, seinen eigenen Körper wieder so weit zu beruhigen und unter Kontrolle zu bringen, dass er sich alleine auf Makoto hatte konzentrieren können. Und das hatte eben seine Zeit gedauert. Itsukis Brust erbebte stockend unter dem lautlosen Lachen, das ihn erfasste. Makoto wandte sein Gesicht Itsuki zu. Was tat er noch hier? Eigentlich wollte er aufstehen und gehen, statt Itsuki lachen zu sehen. Er spürte wieder das bekannte Kribbeln auf seinen Wangen und löste seine Blicke beschämt von Itsuki. Unwillkürlich griff er nach dem silbrig schimmernden Gegenstand, der neben dem Notenbuch lag, und hielt ihn einen Moment reglos in der Hand. Itsuki sah auf, als Makotos Schatten auf ihn fiel. Er lächelte ihm zu, doch Makoto hielt seine Blicke vehement Richtung Teppich gesenkt. Langsam ging er neben Itsuki in die Hocke. Seine geschlossene Hand reckte sich ihm entgegen und als sich seine Finger streckten hielt er in der Handfläche Itsukis Brille. "Danke." Itsuki nahm seine Brille. Makotos Hand hatte das sonst kühle Metall ungewohnt erwärmt. Er bog die beiden Bügel nach außen, setzte sich die Brille auf die Nase und blinzelte scheinbar überrascht ein paar Mal mit den Lidern. "Jetzt weiß ich, was gefehlt hat", versuchte er zu scherzen, doch Makoto wich weiter seinen Blicken aus und reagierte nicht. Er war wieder aufgestanden und hatte Itsuki den Rücken zugewandt. Vorsichtig, als könne er jemanden in dem riesigen Gemäuer aufwecken, ging er zur Tür und verließ den Raum. Mit einem leisen metallischen Schnappen fiel die Tür hinter Makoto ins Schloss und Itsuki blieb alleine im Musikzimmer zurück. Der Nebel, der sich bis eben noch gegen die Fenster gedrückt hatte, hatte sich etwas aufgelöst, so dass nun trübe Sonnenstrahlen durch das Glas fielen. Die Fensterkreuze, die sie auf den Boden malten, krochen schleppend langsam auf Itsuki zu, dessen Hände wieder unter seinem Hinterkopf ruhten. Was hatte er Makoto nur getan? Itsuki seufzte leise. Seine Blicke wanderten an den Wänden bis zur stuckverzierten Decke hinauf und hielten dort inne. Die Decke. Es war nicht so, dass er sie das erste Mal sah, aber es war das erste Mal, dass er sie so wahrnahm und das ging wohl nur aus dieser Position. Makoto hatte das gewusst. Deshalb war er liegengeblieben. Und deshalb war er Itsuki ausgewichen, als er sich neben ihm niedergelassen hatte, um Makoto nicht das Gefühl zu geben, dass das Geschehene willkürlich passiert war, weil es das natürlich nicht war. Aber Itsuki hatte sich geirrt; Makoto hatte sich nicht so gefühlt. Er hatte es nur anders gesehen. Er hatte den blauen Himmel vor sich gehabt, den ein mittlerweile vergessener Künstler an die Decke des Musikzimmers gemalt hatte, während Itsuki nur den nach Staub riechenden Teppich mit dem verwaschenen Muster, das die Blumen, die einmal prächtig gewesen sein mussten, darauf jetzt verdorrt wirken ließ, wahrgenommen hatte. Makotos Augen dagegen waren dem Himmel zugewandt gewesen, der sich über sie spannte. Seit mindestens einem Jahrhundert, schätzte Itsuki. Und er war blau wie er nur im Frühling oder an einem klaren, sonnigen Herbsttag war. Frisch und satt, mit dicken Wolken, die wie weiße Barken über ein kristallblaues Meer glitten. Eine Illusion nur, die ihnen vorspielte, was in Wirklichkeit in seiner Schönheit kaum zu erfassen war. Nur eine Illusion, eine aufgemalte Freiheit, aber erträglicher als der abgewetzte Teppich. "Ja, jetzt weiß ich, was gefehlt hat", murmelte Itsuki vor sich. Und dieses Mal klang es nicht wie ein Scherz.           Spolia opima ------------ Die drei einzigen Schüler, die auf Bähbem Manor lebten und unterrichtet wurden, saßen gemeinsam an der Frühstückstafel und wirkten dabei wie völlig Fremde, die sich in der U-Bahn zwangsweise gegenüber saßen, bis ihre Station, an der sie aussteigen würden, endlich gekommen war. Helena hatte nur die Hälfte dessen gegessen, was auf ihrem Teller gelegen hatte. Sie saß mit gesenktem Kopf da und las in dem Buch, das aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag. Ihre beherrschte Mimik ließ nicht darauf schließen, um was für ein Buch es sich handelte. Irgendetwas zum bald beginnenden Unterricht wäre schlüssig, doch Helena brachte es fertig, mit dem gleichen unbewegten Gesicht, mit dem sie Formeln studierte, ein unterhaltsameres Buch zu lesen. Makoto saß mit ernst zusammengezogenen Augenbrauen da; fast ein Spiegelbild der stoischen Helena. Er schob das Essen auf seinem Teller hin und her, als wären es Spielfiguren auf einem Spielbrett aus Porzellan. Er hatte keinen großen Appetit und saß eigentlich nur pro forma hier, bis der Unterricht anfing; weil dazusitzen und beschäftigt zu wirken besser war, als Itsuki anzusehen und nicht an den Tagesanbruch denken zu müssen. Der einzige, der tatsächlich hungrig war, war Itsuki, der mit großem Appetit sein mittlerweile viertes süßes Brötchen aufschnitt, um es mit gesalzener Butter zu bestreichen. Er liebte den Gegensatz dieser beiden Geschmäcker, die erst im Mund miteinander vermischt eine wirklich harmonische Einheit bildeten. Ohne von ihrem Buch aufzusehen, unterbrach Helena die spärliche Geräuschkulisse, die lediglich aus dem Rascheln umgeblätterter Buchseiten und Makotos übers Porzellan kratzender Gabel bestand. "Ihr verbreitet eine unglaublich schlechte Stimmung, ohne dass ihr überhaupt etwas macht." "Wir gehen nur spärlicher mit unserer Energie um, Helena", antwortete Itsuki und biss herzhaft in sein Brötchen. Makotos Lippen wurden zu zwei schmalen Strichen. "Ach, und wozu?" Helenas Spitzfindigkeiten waren manchmal unfreiwillig komisch, fand Itsuki. Sie lebten alle Drei schon lange genug miteinander auf Bähbem Manor, als dass sie sich über solche Dinge wie schlechtgelaunte Mitschüler am Morgen noch ärgerten. "Wer weiß", entgegnete Itsuki fröhlich und ließ den letzten Bissen seines Brötchens in seinem Mund verschwinden. "Der Tag hat ja erst angefangen." Just in diesem Moment hob Makoto den Kopf und begegnete Itsukis, ihm über die Teetasse hinweg zugeworfenen, amüsierten Blicken. Ihm stockte der Atem, als Itsuki den Mund zu einer weiteren Entgegnung öffnete. Die Gabel, die ihm fast aus der Hand glitt, vollführte eine Pirouette und stieß dabei gegen eine Aprikose, die wie eine Billardkugel vom Teller rollte. Schnell beförderte Makoto die Frucht zurück auf ihren Platz. Helenas und Itsukis Geplänkel ging in eine Richtung, die Makoto nicht vor Helena und auch niemand anderem ausgebreitet sehen wollte. Itsuki wäre es zuzutrauen, dass er sich, von Helenas Fragerei angestiftet, dazu verleiten ließ, mehr preiszugeben, als vielleicht gut war. Alleine schon um Helena mit seinen verschlüsselten Antworten zu weiteren neugierigen Fragen zu bewegen, die er dann mit noch undeutbareren Antworten umgehen konnte. Und Helena würde weiter nachhaken. Bis sie irgendwann das letzte Wort hatte. Makoto betete darum, dass es dieses Mal anders ausgehen würde, als die vielen Male zuvor, und er wurde tatsächlich erhört. Helena schien das Interesse an Itsukis kryptischem Gesagten verloren zu haben. Sie zuckte kurz mit den Schultern und wandte sich wieder dem Buch in ihrem Schoß zu. Itsuki grinste triumphierend. Makotos erschrockenes, noch um einen Ton bleicher gewordenes Gesicht ließ es jedoch zu einem sanfteren Lächeln werden. Er hatte Helena ein wenig aufziehen und nicht Makoto noch weiter einschüchtern wollen. Itsuki seufzte leise, nahm die Stoffserviette von seinem Schoß und legte sie neben seinen Teller. Der Stuhl glitt geräuschlos über den Teppich, als Itsuki ihn beim Aufstehen zurückschob. Makoto folgte seinem Beispiel und auch Helena klappte endlich ihre Lektüre zu. Die leisen Schritte von nebenan ließen Itsuki aufmerksam den Kopf heben. Wie an jedem Morgen der vergangenen Wochen ging dieses Ritual vonstatten. Itsuki hätte mittlerweile die Uhr danach stellen können. Schmunzelnd hörte er den Geräuschen aus Makotos Zimmer zu. Gleich würde sich die Tür öffnen und dabei über den Teppich schaben. Makoto würde – natürlich nicht, ohne vorher noch die Tür sorgfältig hinter sich abzuschließen – den Flur hinunter gehen, die Haupttreppe hinauf in den vierten Stock nehmen und nach zwei weiteren langen Fluren schließlich im Musikzimmer ankommen. Itsuki selbst würde dann, nachdem Makotos Schritte verklungen waren, noch einige Minuten – meistens zwanzig - abwarten, ehe er ihm folgte, damit er Zeit genug hatte, das Musikzimmer zu erreichen und noch etwas für sich sein konnte. Dann würde er genau den gleichen Weg nehmen. Makotos Tür öffnete sich langsam. Sie schabte über den Teppich und dann war es für einen Moment still. Aufmerksam wartete Itsuki auf das Geräusch des Schlüssels im Schloss, wenn Makoto sein Zimmer absperrte. Wieder war das Schabegeräusch zu hören, mit dem die Holztür, die sich mit den Jahren verzogen hatte, zurück ins Schloss glitt. Doch statt Makotos Schritten auf dem Flur, hörte Itsuki sie wieder von nebenan aus dessen Zimmer. Ernüchtert musste er feststellen, dass Makoto sich scheinbar dazu entschlossen hatte, heute mit dem Ritual zu brechen. Makoto stand noch einen Augenblick vor seiner wieder geschlossenen Tür. Seine Hand ruhte unentschlossen auf dem kalten Messingknauf und glitt schließlich langsam daran hinab. Das erste Mal seit Wochen hatte er sich nicht dazu überwinden können, wie jeden Morgen vor Tagesanbruch hinauf in den dritten Stock zu gehen, wo der Flügel stand. Nun, um ganz ehrlich zu sein, war es nicht das erste Mal, dass er nicht hatte gehen wollen, allerdings war es heute Itsuki, den er nicht sehen wollte, statt des leidigen Flügels. Und damit hätte Itsuki wieder gewonnen. Makoto lachte leise auf. Wahrscheinlich würde er genau das von Makoto erwarten; dass er sich verkroch. Er hatte im Musikzimmer gelacht und gestern hatte er sich während des Frühstücks ebenfalls köstlich darüber amüsiert, was im Musikzimmer geschehen war, auch wenn er und Itsuki die einzigen waren, die diese versteckten Botschaften in ihrem eigentlichen Zusammenhang kannten. Zielstrebig griff Makoto erneut nach dem Messingknauf. Er drehte ihn und zog die Tür auf. Vorsichtig lauschte er in die Dunkelheit des Flures. Aus Itsukis Zimmer kamen keinerlei Geräusche und der fehlende Lichtschein auf dem Teppich vor dessen Zimmer sagte Makoto, dass er vermutlich noch gar nicht wach war. Itsuki schrak auf, als er Makotos Türschloss zuschnappen und seine Schritte an seinem Zimmer vorüber gehen hörte. Er musste er sich zwingen, nicht sofort aus seinem Zimmer zu stürmen. Atemlos versuchte er, Makotos Weg die Treppe hinauf zu verfolgen. Wie weit war er jetzt schon? Die Treppe musste er schon hinter sich haben. Nervös biss sich Itsuki auf die Unterlippe, während er nachdachte. Nein, heute konnte er keine zwanzig Minuten warten! Itsuki riss seine Zimmertür auf und ging nach draußen. Makoto war nirgendwo mehr auf dem langen Flur zu sehen, also war er tatsächlich gegangen und hatte es sich nicht plötzlich wieder anders überlegt. Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprintete Itsuki die Treppe in den vierten Stock hinauf. Das Holz des Handlaufs unter seinen Händen war glatt und kühl. Am oberen Absatz angekommen, vergaß Itsuki seine Hand rechtzeitig vom Geländer zu nehmen und stieß prompt gegen den Pfosten, auf dessen Spitze eine Putte mit einem Traubenklotz in der erhobenen dicken Faust pausbäckig zu ihm hinunter lächelte. Der Schmerz zog sich durch seinen gesamten Unterarm, doch Itsuki schüttelte ihn so schnell ab, wie eine lästige Mücke, die sich ihm auf den Arm gesetzt hatte, um ihm das Blut auszusaugen. Wie still es in dem Haus doch war. Bis jetzt war es Itsuki nie wirklich aufgefallen. Aber heute morgen kam es ihm anders vor als sonst, obwohl es das wahrscheinlich nicht war. Das einzige, das ihn tatsächlich an der herrschenden Stille störte, war wohl die Tatsache, dass er Makoto nicht hörte, obwohl er keinen allzu großen Vorsprung zu ihm haben konnte. Den Gedanken beiseite schiebend, legte Itsuki den letzten Flur zum Musikzimmer hinter sich und stand schließlich vor der großen zweiflügeligen Tür. Er sammelte seinen Atem, legte die Hand auf den Türgriff und zog sie schwungvoll auf. Makoto sah auf, als er die Schritte hörte. Einen Moment hatte er gedacht, Itsuki wäre ihm gefolgt, doch er war alleine in dem Zimmer, in das er sich zurückgezogen hatte. Sich noch einmal kontrollierend umblickend nahm er ein Buch aus dem hohen Regal und schlug es auf. "Du verdammter Idiot", fluchte Itsuki und wusste nicht, wen er eigentlich damit meinte. Sich selbst, Makoto, oder den Flügel, der mit zugeklapptem Deckel dastand und nicht den Eindruck erweckte, dass so schnell jemand auf ihm spielen würde? Die Bank davor war leer. Itsuki stand alleine im Musikzimmer und spürte, wie sich etwas in seinem Bauch verkrampfte. Er hob die Blicke zu dem aufgemalten Himmel, der durch das fehlende Licht von draußen noch nicht ganz so prächtig aussah wie sonst, und seufzte enttäuscht. Tagelang narrte Makoto Itsuki. Jeden Morgen verließ er sein Zimmer und ging davon. Itsuki hatte bereits mehr als einmal darüber nachgedacht, Makoto einfach abzufangen, aber er war sich sicher, dass dieser ihm in dem Fall erst recht nicht sagen würde, was er die ganze Zeit über tat. Als er immer ungeduldiger wurde, hatte Itsuki ihn während der gemeinsamen Mahlzeiten und während des Unterrichts darauf angesprochen, doch Makoto schwieg beharrlich. Und genauso wenig hatte er ihm sagen wollen, wo es ihn hin verschlug, wenn er wie jemand durch die Flure von Bähbem Manor schlich, der etwas zu verbergen hatte. Aber was hatte Makoto schon zu verbergen? Er ging ihm einfach aus dem Weg, sonst nichts. Zumindest war es das, was Itsuki vermutete. "So sieht man sich wieder." Itsuki schlenderte gemächlich auf Makoto zu, der vor einem der Regale stand, das bis unter die hohe, schmucklose Decke reichte. So locker, wie er zu wirken versuchte, war er nicht. Itsuki musste sich sehr beherrschen, langsam auf Makoto zuzugehen, der vor dem Regal stand und die Titel auf den Buchrücken studierte, und ihn nicht gleich mit sämtlichen Fragen zu bestürmen, die ihm seit Tagen schon auf der Zunge brannten. Die Bibliothek. Darauf war er nur gekommen, weil es das letzte Zimmer auf Bähbem Manor war, das sie betreten durften, ohne hinterher unangenehme Fragen beantworten zu müssen. Das war auch so eine Folge ihres schiefgegangenen Abenteuers in den Ruinen von Bähbem Manor. "Ich glaube, die Damen und Herren auf den Ölschinken im Treppenhaus hatten noch nie so viel Betrieb hier erlebt, wie die letzte Zeit", witzelte Itsuki hilflos und wartete darauf, dass Makoto darauf reagierte. Was er nur bedingt tat. "Warum hast du nicht Helena gefragt? Die wusste, wo ich bin." Itsuki verzog das Gesicht. Helena. Daran hatte er tatsächlich nicht gedacht. Die Hände in den Hosentaschen vergraben und mit hochgezogenen Schultern, als fröstele es ihn, durchquerte Itsuki den Raum. Die Bibliothek verbreitete genau die umgekehrte Stimmung, wie das heitere Musikzimmer. Die Tapeten hier waren einfarbig gehalten, ohne besondere Muster, und dunkles Holz dominierte die Einrichtung. Der dicke Teppich, mit dem der Raum ausgelegt war, schluckte sämtliche Trittgeräusche. Wenn man nicht alleine davon schon eingeschüchtert war und möglichst leise durch den Raum ging, dann tat man es, weil man erwartete, dass einem beim leisesten Geräusch, das über das Blättern in einem Buch hinausging, ein Bibliothekar aus irgendeiner dunklen Ecke ein wütendes 'Sssssssscht' zuzischte. Natürlich gab es hier keinen Bibliothekar. Dunkle Ecken allerdings schon. Makoto hatte nur die Stehlampen und Tischleuchten eingeschaltet, die ein sanfteres Licht verbreiteten als der große Kristalllüster an der Decke. Fast reglos stand er vor der Wand aus Regalen. Er hatte den Kopf leicht nach vorne geneigt und zog gerade ein Buch zur Hälfte hervor. Itsuki trat so nahe an Makoto heran, wie er es für angebracht hielt und lehnte sich seitlich gegen das Bücherregal. Eine Weile beobachtete er ihn stumm. Makotos, Itsuki zugewandte Gesichtshälfte lag im Halbschatten. Seine gesenkten Wimpern warfen Schatten auf seine Wangen, die wie die langen Beine eines Insekts aussahen. "Das hat vielleicht gedauert, dich zu finden." Itsuki lächelte, doch Makoto fand es wohl nicht sonderlich erwidernswert. "Jetzt sag bloß, du hast vergessen, wo mein Zimmer ist", konterte Makoto. Er schob das gerade erst herausgezogene Buch zurück an seinen alten Platz und wandte sich dem nächsten zu. "Der Punkt geht an dich." Itsukis Mundwinkel sanken. Er konnte Makoto ja kaum sagen, dass er ihn lieber im Musikzimmer wieder getroffen hätte. Dort, wo sich Makoto wohlzufühlen schien, bevor Itsuki sich eingebildet hatte, ihm die offensichtlichen Dissonanzen auf eine andere Art zu harmonisieren, als vielleicht üblich. "Du tust so, als ob ich dir was Schlimmes angetan hätte..." Makoto schwieg beharrlich. Die Finger seiner linken Hand glitten die erhabenen Goldlettern eines Buches entlang. Der Zauberer von Oz stand da in verschnörkelter Schrift. "Habe ich das etwa?" Itsuki versuchte, die Antwort in Makotos erstarrter Mimik abzulesen und wünschte sich nichts so sehr, als dass sie 'Nein' lauten würde. "Nein", erwiderte Makoto tonlos. Überrascht erhellte sich Itsukis Gesicht für einen Moment. Er sah zu, wie Makotos Finger ziellos über die unterschiedlichen Buchrücken strichen und dann wieder eines aus der Reihe zogen. Langsam wirkte es wie ein Ablenkungsmanöver, fand Itsuki. Er legte seine Hand auf das Buch, für das sich Makoto wahllos entschieden hatte, denn er war wieder im Begriff, es in die Reihe zurückzubefördern, und nahm es ihm aus der Hand. Makotos Finger wanderten wieder zum Zauberer von Oz, als berührte es ihn nicht, dass Itsuki ihm das Buch weggenommen hatte. "Ja, ich weiß, wo dein Zimmer ist." Kaum merklich drehte Makoto sein Gesicht Itsuki zu und begegnete dessen leichtem Schmunzeln. Er hielt das Buch, das er Makoto aus der Hand genommen hatte, und verließ seine an das Regal angelehnte Position. Itsuki ging und Makoto sah ihm stumm nach. Als sich die Tür der Bibliothek schloss, fielen Makotos Blicke auf die Lücke in der Buchreihe, zu der sich gleich darauf eine zweite hinzugesellte. Itsuki konnte sich ein erleichtertes Seufzen nicht völlig verkneifen. Er sah auf das Buch in seiner Hand hinab. Klassische Sagen und Mythen prangte dort in dicken Lettern. Noch nie zuvor hatte er Odysseus so gut verstehen können wie jetzt. "Heim nach Ithaka", rief Itsuki den finster dreinschauenden, gerahmten Gesichtern an den Wänden fröhlich zu. "Makoto?" Leises Klopfen folgte. Und dann wieder: "Makoto?" Der Angesprochene saß wie zu einer Skulptur erstarrt an seinem Schreibtisch. Die Deckel des aufgeschlagenen Buches in seinen Händen wollten sich schließen, hielten aber noch einen Moment inne. Erneut klopfte es an der Tür gefolgt von Itsukis gedämpfter Stimme. "Es ist zu spät, ich weiß, dass du da bist. Das Licht brennt und ich kann es unter der Tür sehen." Makoto klappte sein Buch zu, legte es beiseite und ging zur Tür, ohne diese jedoch zu öffnen. "Und wie kommst du darauf, dass ich dir trotzdem öffnen werde?" Makoto wartete kurz und lauschte. Er hörte es von draußen leise Scheppern, als ob ein Metallgefäß zu Boden gefallen wäre. Itsuki fluchte etwas Unverständliches vor sich hin. "Ich komme immerhin auf Knien angekrochen." Itsukis Stimme verlor sich in der endlosen Schwärze des langen Flurs, ohne dass ihm seine Bitte erfüllt worden wäre. Er konnte hören, wie Makoto auf seiner Seite der Tür leise lachte. Und es klang nicht so, als ob er ihn überzeugt hätte. Itsuki hatte die Stirn gegen das dunkle Holz gelehnt und dachte nach. Die Kühle ging angenehm auf seine erhitzte Stirn über. "Gib deinem Lapis-Herz einen Ruck und lass mich in deinen Tempel." "So, so, in meinen Tempel willst du. Auf Knien..." Itsuki musste selbst über seine Worte lachen. Wenn Makoto nur endlich die Tür öffnen würde, dann könnte er sehen, dass er tatsächlich davor kniete. Itsuki verlagerte sein Gewicht etwas von einem Bein auf das andere. So langsam wich sämtliches Gefühl aus seinem Körper unterhalb der Knie. "Ich bringe dir auch die Rüstung des größten und edelsten Feldmannes aller Zeiten", versuchte er es noch einmal. "Schön, eigentlich ist es nur der Kopf..." "Etwa der von Bähbem?" Makotos Hand fuhr zum Türgriff. "Nein, der eines edlen Feldmannes, sagte ich doch." Das sich entriegelnde Schloss klang wie ein Pistolenschuss in der abwartenden Stille des Flures. Ein Streifen Licht fiel auf Itsukis Gesicht und wurde immer breiter je weiter sich Makotos Tür öffnete. Makoto musste den Blick senken. Itsuki hatte nicht gelogen und kniete wirklich vor seinem Zimmer. In dem dunklen Flur sah er aus wie ein Gespenst. Das Licht aus seinem Zimmer spiegelte sich silbrig in dem metallenen Gegenstand, den Itsuki in den Händen hielt und nun etwas anhob, damit Makoto ihn sehen konnte. "Itsuki, du bist einer der größten Spinner aller Zeiten", entfuhr es Makoto verblüfft, als er erkannte, was Itsuki da in den Händen hielt. "Wenn das rauskommt, blüht uns das gleiche Schicksal, wie deinem geköpften Ritter..." "Und damit es nicht rauskommt, müsstest du den Helm nur nehmen, damit ich aufstehen kann, und mich reinlassen." Itsuki hob den silbern glänzenden Helm Makoto entgegen, der sich endlich erbarmte und ihn nahm. Ächzend stand Itsuki auf. Seine Knie schmerzten höllisch. Makoto drehte den Helm in der Hand und betrachtete ihn sich von allen Seiten. Er war schwer und Makoto fragte sich, was erst der Rest der Rüstung an Gewicht haben musste. Eigentlich war so etwas nicht unbedingt dazu geeignet, um damit ordentlich kämpfen zu können. Das Visier quietschte schrill als er es einen Spalt weit öffnete. "Und damit bist du die Treppe auf Knien hinaufgekrochen?" "Natürlich!" Itsuki schloss die Tür hinter sich. "Ich hatte ja zuerst die ganze Rüstung mitbringen wollen, aber die hat zu laut gescheppert." "Ich habe mich wohl geirrt", Makoto, der erst zu verblüfft für eine Reaktion gewesen war, lachte nun. "Du bist der größte Spinner aller Zeiten." "Danke", erwiderte Itsuki geschmeichelt. Makoto platzierte den Helm auf seinem Schreibtisch. Als er sich wieder zu Itsuki umwandte, sah er wie der sich müde auf sein Bett fallen ließ. Unbeholfen schob Makoto den Helm etwas hin und her. "Was meinst du, wie lange es dauert, bis man den Frevel bemerkt?" Itsuki, der wie selbstverständlich mitten auf Makotos Bett lag und seine Arme und Beine weit von sich gestreckt hatte, lächelte verschmitzt. "Sollen sie doch! Ich fürchte mich nicht vor dem Gefolge des Ritters." "Und aus welchem Märchenbuch hattest du die Idee dazu?" "Ein bisschen was aus der Jupiter-Mythologie und ein bisschen was von was-weiß-ich-noch-alles." "Eine sehr freie Interpretation der Jupiter-Mythologie." "Ich musste eben etwas improvisieren. Aber Tempel ist Tempel und Opfer ist Opfer, meinst du nicht?" Itsuki hatte die Augen geschlossen und Makoto erwartete fast, dass er gleich einschlafen würde. "Was für ein symbolträchtiger Akt." Makoto, der die ganze Zeit über gegen die Schreibtischplatte gelehnt dagestanden hatte, verließ seinen Platz. "Gern geschehen." Etwas störte Itsuki an dem Bettzeug. Eine Stelle war nicht so erholsam weich wie die anderen. Er stützte sich auf seinem Ellenbogen ab, suchte mit der anderen Hand nach dem störenden Objekt und hielt gleich darauf ein Buch in seiner Hand. Er drehte es in seiner Hand, bis der auf dem Kopf stehende Titel richtig herum war und er ihn lesen konnte. Der Zauberer von Oz. "Du hast einen eindeutig besseren Lesegeschmack als ich", witzelte Itsuki. "Vermutlich." Makoto hob leicht die Schultern und lächelte gespielt selbstgefällig. "Er führt jedenfalls nicht zu solch seltsamen Auswüchsen wie deiner." Itsuki lachte so laut, dass Makoto sich nicht gewundert hätte, wenn es bald wieder an der Tür klopfen würde. Er legte den Zeigefinger an seine Lippen und 'Ssscht'e in möglichst ernster Bibliothekarsmanier, ehe er selbst lachen musste. Immer noch lachend ließ sich Makoto neben Itsuki auf das Bett fallen. "Weißt du noch, Helena war früher von diesem Buch regelrecht besessen." Itsuki blätterte durch das Buch und sah sich die Scherenschnittbilder darin an. Die Erinnerung an ihre Kindheit, die schon so fern schien, ließ Itsuki wehmütig lächeln. "Einmal hat sie zu dir gesagt, du wärst wie die Vogelscheuche." "Als ob ich das jemals vergessen könnte", brummelte Makoto. Es war nicht gerade die schönste Erinnerung, die er an das Buch hatte. "Und gleich darauf sagte sie, dass das nicht stimme, du seist eher der Zinnmann, worüber du dich noch mehr geärgert hattest. Du hast Tagelang kein Wort mehr mit ihr gesprochen." Makoto verdrehte die Augen. "Das war kein allzu großer Verlust." "Ja, das stimmt wohl." Itsuki legte das Buch beiseite. Er drehte sich zu Makoto herum und legte seine Hand auf dessen Brust. Seine schlanken Finger fuhren Makotos Rippenbogen entlang. Das aufgeregte Pochen darunter beruhigte sich langsam. "Sie hat keine Ahnung." Makotos Hand schob sich unter Itsukis Kinn und hob es etwas an. Der auffordernden Berührung folgend, rutschte Itsuki höher, bis sein Gesicht auf gleicher Höhe mit Makotos war. Makoto wich Itsukis Blicken nicht mehr aus. Auch nicht, als einige Augenblicke später ihre unbekleideten Körper wenigstens etwas von dem Verlangen zu stillen versuchten, das über die Jahre, die sie in einer so lieblosen Umgebung wie Bähbem Manor hatten verbringen müssen, doch nie hatte unterdrückt werden können. Zum fünften Mal fiel das Stück Holz zu Boden. Itsuki fluchte und versuchte erneut, mit klammen Fingern den Holzscheit hochkant auf dem Hackklotz zu positionieren. Er blieb stehen. Itsuki bewegte sich so langsam und vorsichtig, wie er konnte als fürchte er, dass beim kleinsten Lufthauch, das Holz wieder umfallen könnte. Er nahm das Beil in beide Hände, hob es über den Kopf und ließ es mit der Klinge voran auf den Holzscheit niedersausen. In zwei Teilen fiel der gespaltene Scheit neben dem Hackklotz in das mit Raureif überzogene Gras und Itsuki bejubelte seinen Erfolg. Verständnislos schüttelte Makoto seinen Kopf. Der Haufen gespaltener Scheite neben ihm wuchs weiter regelmäßig an, während Itsuki gerade den ersten zur benötigten Größe zerschlagen hatte. Früher als gedacht hatte das Gefolge des edlen Ritters gleich am nächsten Morgen den Frevel an dessen geschändeten Leib entdeckt und sich sofort auf die Suche nach dem fehlenden Kopf gemacht. Nach einer gründlichen Zimmerdurchsuchung, die den ganzen Tag über gedauert hatte, hatte man den Helm schließlich in Makotos Zimmer gefunden, wo er wie eine Trophäe auf dessen Schreibtisch thronte. Makoto hätte Itsuki dafür den Hals umdrehen können, musste aber erstaunt feststellen, dass der die Schuld dafür auf sich nehmen wollte. Weil aber das Beweisstück eben bei Makoto gefunden worden war, hatte Lehrer Isshiki kurzerhand alle beide zu einer – wie ihm schien - angemessenen Strafe verdonnert. "Was für eine reaktionäre Methode, uns zu bestrafen." Weiße Atemwölkchen begleiteten Itsukis verärgerte Worte. Es war Herbst und der Morgen noch empfindlich kalt. "Als ob uns das Holzhacken irgendetwas brächte." "Das soll es wahrscheinlich auch nicht." Gekonnt schlug Makoto den nächsten Holzscheit in zwei Hälften. "Wir sollen wohl nur unsere gesparte Energie besser zu verwenden lernen." "Wäre Sommer, wüsste ich auch was besseres mit meiner Energie zu tun..." Lustlos schlug Itsuki das Beil in den Hackklotz, wo es im Holz stecken blieb. Behende schwang er sich auf das Mäuerchen, das den Teil, an dem das Holz gehackt wurde, von dem abgrenzte, wo es aufgestapelt wurde. Eine Weile sah er Makoto amüsiert zu, der nicht wirkte, als ob ihn die Strafe stören würde. "Ich weiß gar nicht, was die Aufregung soll", beschwerte sich Itsuki. Er warf einen finsteren Blick zu Bähbem Manor hin. Hinter einigen Fenstern brannte bereits Licht. "Zu jedem Gruselschloss gehört mindestens eine geköpfte Person." "Das ist wahrscheinlich jedem hier außer Helena klar, aber du hättest es nicht unbedingt zu Lehrer Isshiki sagen müssen." Makotos Schlag hallte durch das weitläufige Gelände und wurde, von den riesigen, uralten Bäumen, die es umgaben, aufgehalten und zurückgeworfen. Itsuki verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. Mit welcher Hingabe Makoto doch das Holz hackte. "Bist du der Meinung, wir hätten diese Strafe verdient?" Makoto biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Die eiserne Klinge sauste herab und zerteilte das nächste Stück Holz. "Du denkst das wirklich, oder?" Itsuki war tatsächlich verblüfft. "Kein Wunder, die Strafe kommt ja auch von jemandem, der dir besser gleicht, als jeder Zwilling es je könnte", spottete er verbittert. Die Klinge, die durch die Luft zischte, als Makoto sie erneut auf den hochkant aufgestellten Scheit schlug, verfehlte das erste Mal ihr Ziel. Sie rutschte am Hackklotz ab und bohrte sich daneben in die Erde. Wütend zog Makoto sie heraus. Feuchte Grasbüschel und dunkle Erdbrocken hingen an der Klinge und rieselten zu Boden. Er hob das Beil über den Kopf und warf es so weit von sich, wie er konnte. Nach einigen Metern landete es dumpf raschelnd im taunassen Gras. "Guter Wurf!" Itsuki lachte und klatschte Beifall. Er verstummte erst, als sich Makoto zu ihm herumdrehte. Er sah nicht wütend aus, eher resigniert. Langsam näherte er sich Itsuki, der noch immer auf der Mauer saß, und blieb dicht vor ihm stehen. Itsuki beobachtete jede Regung in Makotos Gesicht und versuchte sie zu interpretieren. "Findest du wirklich, dass das, was passiert ist, bestrafenswert ist? Alles?" Nachdenklich und ohne etwas bestimmtes zu fixieren sah Makoto an Itsuki vorbei. "Noch ein Jahr und dann sind wir hier weg", murmelte er. Kein aufgemalter Himmel mehr. Keine verriegelten Türen mehr und keine Menschen, die sich ihnen gegenüber ebenso verschlossen benahmen. Makoto trat so nah an Itsuki heran, dass er die Mauer an seinen Beinen spüren konnte. Er schlang seine Arme um Itsukis Taille, drückte sich fest an ihn und lehnte seinen Stirn erschöpft gegen dessen Schulter. Itsukis Finger strichen sachte über Makotos Kopf. War es denn wirklich bestrafenswert, was sie getan hatten? Alles? Makoto presste seinen Mund gegen Itsukis Hals, dessen kühle Haut sich langsam darunter erwärmte. "Nein, noch nicht." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)