The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 15: Langer Flug ----------------------- Lyra wachte am nächsten Morgen auf, weil Felilou mit seinen Vorderpfoten gegen Lyras Arm drückte und hungrig miaute. Die Trainerin schlug murrend die Augen auf und vernahm sogleich den Geruch von frisch gebackenen Brötchen. „Gibt es schon Frühstück?“ Sie setzte sich auf, streckte die steifen Glieder und warf einen Blick zu der majestätischen Standuhr mit goldenem Ziffernblatt. Grace‘ Mutter Trixi und ihr Stiefvater Julian von Rosenfels schienen einen sehr extravaganten Geschmack zu haben, auch wenn der Rest des Gästezimmers eher modern eingerichtet war. Da Felilou ungeduldig an der weißen Holztür scharrte, machte Lyra sich schnell auf den Weg in das angrenzende Gästebad, das direkt mit dem Gästezimmer verbunden war. Besonders groß war es nicht, einfach eine Toilette und ein Waschbecken auf der einen Seite und eine Dusche auf der anderen, dazwischen eine Wandheizung, auf der flauschige, cremeweiße Flanellhandtücher hingen. Nach einer gut zehnminütigen Dusche – Lyra hatte sich extra für Felilou beeilt – trat sie zurück in das Zimmer, kontrollierte ihr Aussehen flüchtig im Spiegel und machte sich dann mit nassen Haaren, die auf eines der Handtücher über ihren Schultern fielen, auf den Weg in die Küche. Grace hatte darauf bestanden, dass Leo und Lyra jeweils eines der Gästezimmer bekamen und sie sich als Gastgeberin um den Rest kümmerte. Damit hatte sie auch ganze Arbeit geleistet, denn als Lyra die Küche betrat, war der breite Marmortisch im angrenzenden Esszimmer bereits reichlich gedeckt. „Wer soll denn das alles essen, Grace?“ „Es wird sich schon jemand finden“, erwiderte der Lockenkopf am Herd, wo sie gerade einen Topf mit Milch erwärmt hatte und nun mit Schokoladenpulver und Zucker zu Kakao verrührte. „Außerdem müssen wir an den Proviant denken, ich habe dafür gesorgt, dass wir heute Nachmittag schon einen Flug nach Ondula bekommen. Von dort ist es so zu sagen nur noch ein Katzensprung bis zum Weißen Wald, wo wir dann diesen Nero suchen können. Willst du Tee trinken? Ich wusste nicht, welche Sorte du magst, bedien dich einfach. Zweiter Schrank von rechts, ganz oben.“ Leo, der bereits am Tisch saß und noch einen Schlafanzug mit Elektropokémon trug, was Lyra schmunzeln ließ, schien ebenfalls schlichtweg überfordert mit der ganzen Auswahl zu sein, die Grace aufgetischt hatte. Lyra suchte sich einen Früchtetee mit Blaubeeren, Brombeeren und Vanille raus, dann goss sie sich etwas heißes Wasser aus dem Wasserkocher in eine weiße Porzellantasse und setzte sich neben Leo. „Viel zu viel Auswahl.“ Leo nickte. „Ich dachte, sie hört langsam mal auf, als schon zwei Sorten Müsli, das ganze Obst und die frisch gebackenen Brötchen auf dem Tisch standen, aber dann kamen noch Quark, Joghurt, Frühstückseier, Omelette und beim Bäcker war sie auch noch, um Croissants, Schokobrötchen und Puddingteilchen zu holen“, flüsterte er verschwörerisch, woraufhin Lyra die Augenbrauen hoch zog, aber nichts darauf erwiderte. „Können wir dir noch helfen, Grace?“ „Nein, alles bestens.“ Eine Minute später brachte die Gastgeberin den Kakao, begutachtete ihr Gesamtkunstwerk und setzte sich schließlich zu ihren beiden Freunden an den Tisch. „Normalerweise haben wir eine Haushälterin, die jeden Tag für das Frühstück sorgt, aber da meine Eltern und mein Bruder im Moment außer Haus sind, hat sie eine freie Woche. Allerdings finde ich es ganz amüsant von Zeit zu Zeit selbst für ein kleines Frühstück zu sorgen.“ „Ja, vor allem liegt die Betonung auf dem kleinen Frühstück“, witzelte Leo, nahm sich etwas Kaffee und ließ sich von Grace auch eine Tasse Kakao geben. Lyra nahm ebenfalls dankend den Kakao an und überlegte dann, was sie essen sollte. Es schien, als hätte Grace für halb Alabastia den Tisch gedeckt, aber sie wollte der anderen auch kein schlechtes Gefühl bereiten und deshalb nahm sie sich erst einmal ein Croissant, das sie mit Schokoladencreme bestrich. Dazu schnitt sie sich verschiedene Obstsorten in eine Schale mit Quark und am Ende verdrückte sie auch noch ein Käsebrötchen. Ein Blick zu Leo und Grace verriet ihr, dass die beiden nun ebenfalls ziemlich gesättigt waren – und trotzdem hatten sie nicht einmal die Hälfte von allem gegessen. „Ich schlage vor, jeder von uns macht sich ein großes Lunchpaket mit den Brötchen. Den Joghurt, den Quark und das angeschnittene Obst essen wir später. Wir könnten dafür das Mittagessen ausfallen lassen und in Ondula im Pokémoncenter vom warmen Buffet essen.“ „Na schön, dann machen wir das so.“ Grace bestand darauf, dass sie sich alleine um das Geschirr kümmerte, während Lyra und Leo schon mit ihren Lunchpaketen anfangen sollten. Danach gesellte sie sich zu den beiden anderen und am Ende war alles gut verpackt in den Rucksäcken der Trainer. „Wann genau geht denn unser Flug?“, erkundigte Leo sich, als alle zusammen mit ihren Pokémon im Garten auf einer gusseisernen Bank saßen. „Und wie viel kostet er?“, hakte Lyra sofort nach, doch Grace winkte ab. „Mein Vater kennt den Flughafenbetreiber, die beiden sind gute Freunde. Wir müssen für die Tickets nichts bezahlen, das Flugzeug fliegt so oder so heute um vierzehn Uhr. Ich habe einfach einen Freund der Familie um einen Gefallen gebeten. Wir werden übrigens die einzigen an Bord sein, vom Piloten einmal abgesehen, da ansonsten nur Modeschmuck im Frachtraum nach Ondula geflogen wird. Also lasst uns die Zeit bis nachher genießen. Soll ich euch noch ein wenig Alabastia zeigen?“ Nach ihrem Rundgang durch Alabastia standen die drei Trainer mit ihren zum Bersten gefüllten Rucksäcken auf dem Rollfeld des Flughafens und warteten, bis auch die letzte Kiste Schmuck im Frachtraum verstaut war. „Ihr könnt euch jetzt setzen. Macht es euch bequem, ich habe sogar ein paar Snacks dabei, falls ihr wollt.“ „Danke, wir haben selbst mehr als genug dabei.“ Grace schenkte dem Piloten ein strahlendes Lächeln, hielt ein wenig Smalltalk über das Wetter und die voraussichtliche Flugdauer, dann nahm sie neben Lyra am Fenster Platz. „Der Pilot meint, dass wir wohl gute viereinhalb Stunden unterwegs sein werden. Wir können es uns also wirklich bequem machen.“ Lyra nickte, holte ein Buch aus ihrem Rucksack und konzentrierte sich auf den Roman, nachdem das Flugzeug abgehoben hatte und die Landschaft schnell immer kleiner unter ihnen wurde. Leo hatte Ohrstöpsel an seinen ComDex angeschlossen und hörte Musik, während Grace eine rosa Schlafmaske über die Augen gezogen hatte und schon bald in einen tiefen Schönheitsschlaf fiel. Schon bald hatte Lyra die Lust an ihrem Buch verloren, legte das Lesezeichen ein – Cassie hatte es ihr einst geschenkt – und verstaute den Roman wieder in ihrem Rucksack. Jetzt waren sie also tatsächlich auf dem Weg nach Einall, in wenigen Stunden würde sie den Boden einer weit entfernten Region betreten. Sie wusste nicht, was sie dort erwarten würde, aber sie hoffte, dass Nero ihnen helfen konnte. Aero und Aira hatten sie den ganzen weiten Weg zu ihm geschickt, damit er ihnen bei ihrem Problem helfen konnte. Laut dem Weisen und dem alten Kimono-Girl kannte Nero sich mit den Orten aus, die über den Teleportationsmechanismus miteinander in Verbindung standen. Er würde ihnen sicherlich sagen können, wohin es Cassie sehr wahrscheinlich verschlagen hatte. Er musste es ihnen einfach sagen können, sonst hatten sie keinen weiteren Anhaltspunkt und waren den weiten Weg umsonst gekommen… Mit Rückenwind waren sie knappe vier Stunden unterwegs gewesen, als sie zum Landeanflug ansetzten und wenige Minuten später auf dem kleinen Flugplatz von Ondula zum Stehen kamen. „So ihr Hübschen, ihr könnt jetzt aussteigen und euch auf den Weg machen, ich habe hier noch genug zu tun.“ Die drei dankten dem Piloten, kramten ihre Sachen zusammen und stiegen aus, wobei ihnen sofort warm wurde. In Ondula herrschte strahlender Sonnenschein und es war einige Grad wärmer als in Alabastia, richtig frühlingshaft und kein launiges Aprilwetter wie in Kanto und Johto. „Zum Pokémoncenter, richtig?“, fragte Leo. „Richtig“, bestätigte Grace, schaute sich um und fragte einen Angestellten vom Flugplatz nach dem Weg. „Ondula ist besonders im Sommer ein beliebter Ferienort. Ich war früher ein paar Mal mit meinen Eltern hier, wenn wir nicht nach Finera zu meinen Großeltern und zu meinem Onkel gefahren sind. Allerdings kann ich nicht behaupten, dass mir die Stadt besonders gefällt. Ich mag es nicht, wenn so viele Touristen unterwegs sind; das ist furchtbar.“ Leo und Lyra warfen sich lediglich einen stummen Blick zu und folgten Grace bis zum Pokémoncenter, wo sie für die Nacht zwei Zimmer bekamen und sich gleich darauf auf das Abendbuffet stürzten. Grace erzählte ihnen beim Essen etwas von einem Ernteschrein in der Nähe, aber da sie auf direktem Weg zum Weißen Wald wollten, blieb für eine Besichtigung keine Zeit mehr. „Außerdem können wir Zeit sparen, wenn wir mit dem Bus zum Weißen Wald fahren. Ich spendiere auch die Tickets.“ „Okay“, meinte Lyra, als Leo und Grace sie mit fragenden Blicken angeschaut hatten. Vermutlich hätte sie es Grace sowieso nicht ausreden können. „Schön, dann werde ich mich morgen früh sofort nach den Buslinien erkundigen und dann brechen wir zum Weißen Wald auf – und wehe dieser Nero ist dann nicht dort. Jetzt fängt dieses Abenteuer doch erst an interessant zu werden. Möchte noch jemand Wasabi?“ Sie reichte ihre Schale mit Wasabi zu Leo; alle drei hatten sich neben einer warmen Suppe noch Sushi vom Buffet geholt. Derweil bemerkte Leo Lyras besorgten, nachdenklichen Ausdruck in den Augen und drückte ihr aufmunternd die Hand. „Wir werden Nero finden und anschließend Cassandra. Aira und Aero haben uns den weiten Weg schon nicht umsonst machen lassen.“ „Ja, du hast Recht“, seufzte Lyra und aß endlich ihr Abendessen auf. „Morgen wissen wir mehr.“ „Und bis dahin bringen wir uns auf andere Gedanken und genießen ein wenig die Stadt. Also, was wollen wir heute Abend noch unternehmen? Ich wäre für Kino. Oder wir gehen gleich noch für zwei Stündchen in das Thermalbad?“ „Kino“, sagten Lyra und Leo wie aus einem Mund, lachten dann darüber und witzelten ein wenig mit Grace. Nach dem Abendessen legten sie eine kleine Pause ein und erkundigten sich über das laufende Kinoprogramm, allerdings gab es keinen Film, auf den die drei sich einigen konnten. Grace wollte unbedingt eine Liebeskomödie sehen und war nicht kompromissbereit, Leo hingegen zog es zu einem Actionfilm und Lyra wollte einfach nur ihre Ruhe haben. Also beschlossen sie doch nicht ins Kino zu gehen. Stattdessen entschuldigte sich Leo wegen Kopfschmerzen und ging früh ins Bett. Grace bummelte noch ein wenig durch die Stadt und Lyra machte es sich auf ihrem Zimmer mit Felilou und Nebulak gemütlich. Das lila Katzenpokémon legte sich schnurrend an das Fußende von Lyras Bett und döste, während Nebulak umherflog und sich einen Spaß daraus machte immer wieder auf das gekippte Fenster zuzufliegen, bis ein Windstoß kam und das Geistpokémon erfasste, sodass es zurück ins Zimmer gewirbelt wurde. „Nebulak, pass bitte auf.“ Noch eine Weile sah sie Nebulaks Treiben zu, dann schloss sie kopfschüttelnd das Fenster und zog ihr unruhiges Pokémon in den Pokéball zurück. Nun, da sie Ruhe hatte, widmete sie sich wieder dem Buch, das sie im Flugzeug nicht hatte lesen können. Es war eines von den Büchern, die Cassandra in ihrem Zimmer mit den Worten „Das ist doch viel zu dick zum Lesen“ kommentiert hatte. Als sie daran dachte, kamen ihr auf einmal Tränen in die Augen und sie wischte sie mit dem Handrücken fort. Wie lange genau war sie schon mit Grace und Leo unterwegs? Zweieinhalb Wochen? Drei? Und die ganze Zeit war Cassie irgendwo dort draußen und ihr konnte sonst was passieren. Hoffentlich hatte sie jemanden gefunden, der sich um sie kümmerte, drei Wochen überstand doch keiner von ihnen ohne alles in der Wildnis. Felilou schlich sich schnurrend an seine Trainerin heran, rieb das Köpfchen an Lyras Körper und nahm auf dem Schoß des rosahaarigen Mädchens Platz. „Wir finden Cassie, Felilou. Wir werden sie finden. Aus dem einfachen Grund, dass wir gar keine anderen Möglichkeit mehr haben. Sie ist meine beste Freundin und dass sie jetzt verschwunden ist, ist auch meine Schuld. Felilou, wir finden sie.“ Dafür erntete sie ein Schnurren; die Katze wollte gestreichelt werden. Etwas später kam auch Grace von ihrem Stadtbummel zurück und bezog ihr Bett an der Wand gegenüber. Sie plauderte ein wenig darüber, wie sich Ondula ihrer Ansicht nach in den letzten Jahren verändert hatte, dann ging sie zu dem Busplan über, den sie unterwegs gefunden hatte. „Um sieben Uhr morgens fährt ein Bus, allerdings ist mir das persönlich ein wenig zu früh. Deshalb schlage ich vor, dass wir gemütlich frühstücken und dann gegen zehn Uhr den Bus nehmen. Der fährt bis in die Nähe vom Weißen Wald, wir haben dann noch vielleicht eine Viertelstunde Fußweg und dann müssen wir Nero suchen. Aber es wohnen noch andere Leute dort im Wald, vielleicht können die uns weiterhelfen.“ „Alles klar, zehn Uhr.“ Lyra schnappte sich wieder den Roman, blätterte ein wenig darin herum, kam aber wieder nicht richtig zum Lesen. Ihre Gedanken drifteten immer wieder zu der weißhaarigen Cassie ab. Morgen würden sie Nero finden. Morgen wussten sie mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)