Weltkugel in deiner Hand von HarukaEva ================================================================================ Prolog: „Alles, was ein Mensch sich vorzustellen vermag, werden andere Menschen verwirklichen können.“ (Jules Verne) -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Sehr geehrter Herr, Verehrte Dame, Geneigte Leserschaft, Die Ihnen vorliegenden Aufzeichnungen viele mir jüngst in die Hände und ließen meine Augen mit fesselnder Faszination jeden einzelnen Buchstaben tief in sich einbrennen. Sie vermochten meine Gedanken zu beflügeln, dass ich den darin verborgenen Wunsch nach Erfüllung der eigenen Träume, Sehnsüchte, Begierden aus vollstem Herzen nachempfinden zu vermochte. Mein Herz eröffnet seine ergebene Hochachtung dem folgenden Vorhaben, dem jungen Bestreben eines noch unerfahrenen Geistes, der auf der Suche das Unbekannte zu erkennen, Unentdecktes zu entdecken und die Weiten des Horizontes zu überqueren sich mit der wahrhaften Lüge und der lügenden Wahrheit in einen inneren Konflikt verstricken wird. Jedoch vermag ich nicht mir die vermessene Dreistigkeit anzueignen Ihnen meine bescheidene Sichtweise des Geschehens aufzuerlegen. Viel mehr liegt es in meinem Bestreben Ihren Gedanken hinsichtlich der Geschehnisse eigene Erkundungen zu ermöglichen. Und so verabschiede ich mich mit den Worten Jules Vernes und einem Nachtrag meinerseits. „Der Ruhm des Kolumbus bestand nicht darin, dass er angekommen, sondern dass er abgefahren ist.“ Wohin uns die Segel dieses Schiffes geleiten werden, vermag ich nicht zu wissen. Der Ruhm, die Segel gesetzt zu haben, ist uns jedoch gewiss. Ebenso wie seine Segel ihn durch den Wind seiner Überzeugungen sicher auf den Meeren des Wissen geleiten werden. Kapitel 1: „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“ (Franz Kafka) --------------------------------------------------------------------- Die dichte graue Wolkendecke hing trübe über den frühen Morgenstunden, nur vereinzelte Strahlen der Sonne ließen den noch frischen Tau einer längst vergangenen regnerischen Nacht glänzen. Seichte Nebenschwaden schlichen durch die Straßen und Gassen, derweil der raue Meereswind bis in den alten Stadtkern hinein die Luft eisig durchschnitt. Das geschäftige Treiben, welches die Stadt täglich mit Leben füllte, schlief um diese Zeit selig, tauchte Wege und Plätze in leeres Schweigen. Einzig ein leiser Hall, welcher durch die Gassen wehte, war zu hören. Schnelle Schritte über die kahlen kalten Steine eilten unbeirrt ihrem Ziel entgegen. Der Flugstation, an der die Leviathan, ein prachtvolles Luftschiff, abflog. Es war das erste seiner Klasse, das für den Langstreckenflug erbaut und getestet wurde. Die damalige Taufe unter noch königlicher Hand war ein denkwürdiger Tag der Nation gewesen und erlaubte es den Reisenden erneut einen Schritt näher an den unendlichen Rand der Welt zu gelangen. Entgegen den Straßen und Plätzen herrschte in der Abfahrtshalle reges Treiben. Lange Schlangen bildeten sich vor den Kartenschaltern, ein jeder drängte darauf einen Platz zu erhalten. Ungeduldig stellte sich Jules in die Reihe der Wartenden, zog den schwarzen Gehrock enger um seinen Körper. Aus dem sich unter dem Gehrock verbergenden Jackenrevers blitzte eine silberne Taschenuhr auf. Das kleine Wunder aus Zahnrädern und feinster Mechanik öffnete sich in seiner Hand und gab in stetig monotonem Ticken die Zeit auf die Sekunde genau bekannt. Die Initialen PV auf dem silbernen in filigranen Musterungen verzierten Deckel schimmerten im aschfahlen Licht der mit Ruß bedecken von Baumskelett ähnlichen leblosen Stahlträgern gehaltenen Glaskuppel, die die Abfahrtshalle nur spärlich erhellte. Nach einer schlaflosen Nacht in seinem Archiv unter der antiken Buchhandlung Charles Lutwidge Dodgson, die seit Generationen im Besitz der Familie Verne und seit jeher in einem kleinen altertümlichen Hause mit Schaufenster unter dem Torbogen in der Seitengasse, nahe dem Lessing-Keller, beherbergt war, stand Jules‘ Entschluss fest. Das Billet kaufend, verstaute er dieses in seiner ledernen Reisetasche; das einzige Gepäckstück, welches er mitführte und in dem sich außer einem Notizbuch sowie Feder und Tinte nur noch sein Erspartes und das Index librorum prohibitorum befand. Schmale von Passagieren überflutete Gänge wiesen einem offenen Schlund gleich den Weg zur Leviathan. Im Passagierabteil der zweiten Klasse der Leviathan versammelten sich Kaufleute, Reisende, Familien und schlichte Arbeiter. Jules drängte sich durch die mitreisende Menge auf der Suche nach einem noch freien Platz. Im Speiseabteil, das die zweite mit der ersten Klasse verband, obgleich beide Schichten ihre eigenen, für die anderen, abgeschirmten Bereiche innerhalb des Abteils unterhielten, war es ihm vergönnt eine Sitznische zu ergattern, sodass er eine nachträgliche Frühkost zu sich nehmen konnte. Während des Wartens auf seine Bestellung erspähten seine Augen durch die sich öffnende Tür der ersten Klasse ein ihm wohl bekanntes Gesicht. Madame Elegantia. Ihr Name sprach für ihre Schönheit. Sie glich einer vollkommenen Muse, einem Ebenbild Aphrodites. Sie hatte nur einen Makel, ihre Nase war so spitz wie sie stolz war. Die edlen Herren umschwärmten sie wie ein Schwarm Bienen ihre Königin. Selbst Jules fühlte sich von ihrer Ausstrahlung angezogen, doch verbot ihm seine Unsicherheit und sein Stand sich ihr auch nur einen Schritt zu nähern. Stattdessen widmete er sich einer köstlichen Tasse Tee und schlug die Märe auf. Erneut beherrschten die innenpolitischen Unruhen der Triade die Schlagzeilen der Zeitungen, in die er sein Gesicht so tief vergraben hatte, dass seine Nase die Druckerschwärze einzuatmen vermochte. Nach einem unbedeutsamen Flug, der neben gewöhnlichem keinerlei außergewöhnliches zu bieten hatte,landete die Leviathan pünktlich an der hiesigen Flugstation in Florilegia. Eine Stadt, die ihre Geburt durch den Zusammenschluss vereinzelter Dörfer erlebte und, neben der Hauptstadt, im vergangenen Jahrhundert zu einer der größten Städte der Nation Allegoria aufgestiegen war, was sie nicht zuletzt ihren Bürgern und deren lukrativen Geschäften verdankte. Durch die günstigen Verkehrsanbindungen, welche in gewissen Kreisen geradezu ein Wahrzeichen Florilegias darstellte, erreichte Jules vor der Flugstation einen der zahlreich überfüllten Jambuse, eine dampfbetriebene Straßenbahn mit zwei Wagonen und Dachsitzen, der auf direktem Wege in einen der zentralen Exzerpte zum Abecedarium fuhr. Dort, so erhoffte sich Jules, würde er Hinweise auf die altertümliche Schrift des Index librorum prohibitorum und ihre Bedeutung finden. Dampfen und Qualmen lag in der Luft, Ruß stieg aus hohen Schornsteinen, die sich dicht an dicht säumten. Das Rattern und Knattern der metallenen Schienen und Räder war laut zu hören, ein schriller Pfeifton erklang. Jules stieg aus dem übrfüllten Jambus, der unter einem erneuten schrillen Pfeifen seine Weiterfahrt aufnahm. Seine Finger krallten sich fester in den ledernen Riemen seiner Tasche als sich sein Blick von der Straße aus Kopfsteinpflastern und den prächtigen Fachwerkhäusern, die sich ihm gegenüber darboten, abwandte. Vor ihm erstreckten sich die unzähligen Stufen, hinauf zu einem imposanten Bauwerk, dessen Bedeutsamkeit sich in jedem Stein wiederspiegelte. Das Abecedarium, ein enzyklopädisches Meisterwerk für jeden Wissbegierigen. Ein pompöses Fundament, welches das unsägliche Wissen namenhafter Dichter und Denker auf seinen marmornen Schultern trug. Ehrfürchtig setzte Jules seinen Weg fort, bestieg die Stufen und erreichte die aus massiver Mooreiche und mit Messing verzierte Flügeltür, die Eintritt ins geheiligte Innere erlaubte. Ein langer Gang, dessen Wände und Decke mit einzigartigen Malereien großer Künstler, die den Forscher- und Entdeckerdrang des menschlichen Geistes auf Ewig verkörperten, veredelt wurden, eröffnete Jules nach Eintritt die gesamte Wissenspracht des Abecedariums. Wie gebannt hafteten seine Augen auf die unzähligen Abschnitte, kleine Wissensinseln, die jede ihr eigenes Fachgebiet beheimatete, die mithilfe der Nymphen, dampfbetriebener viersitziger Boote, auf den einzelnen Kanälen im Inneren des Mauerwerks erreicht werden konnten. Ein Netzwerk aus Wasserstraßen erstreckte sich im Abecedarium, unterhalb der spiegelnden Oberfläche blitzten die metallenen Schienenwege, auf welchen die Nymphen ihren Weg entlang glitten, und verlieh der größten Wissensstädte der Nation ihre Einzigartigkeit. Die Augen schließend, um sich das ihm dargebotene Bild auf Ewigkeiten im Geiste einzubrennen, atmete Jules die Luft, welche die gesammelten Werke unsäglicher Jahrhunderte der Wissensneugier durchzog, tief ein in dem Versuch einen winzigen Teil dieser Errungenschaften in sich selbst aufzunehmen. „Verzeihen Sie, Monsieur, wohin darf ich Sie geleiten?“ Eine liebliche Stimme riss Jules aus seinem tiefsten Bestreben. Sein geöffneter Blick erspähte die zierliche Gestalt einer jungen Frau, deren Körper in einem schlichten schwarzen Kleid gehüllt war, mit Stehkragen, der von einer filigran gebundenen Schleife umringt wurde. Sie saß in einer der Nymphen, wartend, dass Jules ihr seinen Bestimmungsort nannte. „Bitte verzeihen Sie. Ich schwebte in Gedanken ob dieses imposanten Bauwerkes, dessen Auswahl jeden enzyklopädischen Geist ins Schwärmen verführt. Wahrhaftig eine Kathedrale des Wissens.“, sinnierte Jules. „Diese Sichtweise teilen zahlreiche unserer verehrten Besucher, Monsieur.“ Ihr Blick war noch immer einladend in das keine Boot gerichtet. Jules überwand die geringe Distanz des Steges, der sich vor ihm erstreckte und nahm Platz in der Nymphe. „Setzen Sie bitte über zur Leihbibliothek.“, bat Jules und spürte kurz darauf wie sich die Nymphe im seichten Wasser langsam in Bewegung setzte. Vorbei an anderen Fachgebieten steuerte das kleine Boot auf eine der hintersten Inseln zu, ehe es anhielt und die junge Frau sich in aller Form der Höflichkeit von ihrem Passagier verabschiedete und anschließend weiterfuhr. Jules wandte sich den deckenhohen mächtigen Regalen zu, die unzählige Bücher beheimateten. Er sog den Atem tief in seine Brust ein, um erneut die einzigartige Luft, die in seiner Vorstellung mit Bruchstücken des gesammelten Wissens durchflutet war, in sich aufzunehmen. Langsamen Schrittes näherte er sich den schmalen Gängen, die einem Labyrinth gleich den Weg durch die einzelnen Epochen und Werke ebneten. Er suchte nach einer bestimmten Person, in der Hoffnung diese hier vorzufinden, beseelt mit dem Wunsch, dass diese eine Person ihm bei der Suche nach einer Übersetzung der Sprache, welche das Index librorum prohibitorum beheimate, die Entschlüsselung der verborgenen Geheimnisse, behilflich sein könnte. Der Weg führte ihn um ein aus massiver Buche bestehendes Bücherregal herum. „Verehrter Poeta doctus.“, rief Jules freudig aus, als er die hagere Gestalt erblickte, die auf einer Rollleiter stand und ein dickes in Leinen gebundenes Schriftstück in Händen hielt. Die schüttere Erscheinung zeugte nicht nur von seinem Alter sondern auch von der Weisheit, zu der er in dieser Zeit gelangt war. „Poeta doctus Wells.“ Der angesprochene wandte sich auf der Leitersprosse stehend um, die goldenen Augengläser, ein Klemmer, auf der Nase zurechtrückend. „Spielen mir meine Augen einen Streich…oder ist Er es wahrhaftig?“ Der Poeta doctus rückte seinen Klemmer erneut zurecht. Das Buch zurück ins Regal stellend, stieg er die wenigen Sprossen hinab, wandte sich nun gänzlich Jules zu, der näher an ihn heran getreten war. „Seine Augen täuschen Ihn nicht. Es ist eine lange Zeit, verehrter Poeta doctus Wells. Ich trete mit einer ernsten Bitte an Ihn heran.“ „Der Eifer der Jugend schwellt noch immer in Seiner Brust. Mein Geist erinnert sich sehr genau, Sein Vater hatte bisweilen vergebens versucht Ihm das Bewahren der Contenance zu lehren.“ „Bitte verzeiht. Wie ist es Ihm ergangen? Erzielen Seine Studien die gewünschten Ergebnisse?“ Jules verneigte sich andeutungsweise, den Blick ehrfürchtig gen Boden gesenkt. Diese Geste der Höflichkeit ließ die Mundwinkel des Poeta doctus unmerklich sich zu einem Schmunzeln formen. Sein Schüler aus vergangener Zeit hatte sich nicht im Geringsten verändert. Der Übermut und die Neugier pochten noch immer in dieser jugendlichen Brust. Ein hohes Gut, dass nur wenige besaßen. Nach einem Augenblick des Schweigens ergriff Wells das Wort. „Welche Bitte führet Ihn zu mir?“ Jules hob seinen Blick, richtete seine Haltung, einem Gentleman gleich, ehe er die Frage beantwortete. „Eine dringende Bitte führt mich zu Ihm. Eine Angelegenheit höchstem Interesses, die es verdient in Abgeschiedenheit besprochen zu werden.“ Der Poeta doctus verstand den Wunsch seines ehemaligen Schülers und deutete mit einer Handbewegung ihm zu folgen. Entlang eines aus Büchermauern bestehenden Ganges gelangten sie an eine Abzweigung. Diese überwindend, erreichten sie eine Seitennische, hinter der sich ein schlichter Schreibtisch, mit einer kleinen, aus einem filigran verziertem Messinggehäuse bestehender, Gaslampe, nebst Papier, Tinte und Feder sowie zwei gepolsterte mit Brokatstoff bezogene Stühle befanden. Der Poeta doctus bot Jules einen der Stühle an, derweil er ihnen einen Tee zubereiten würde. Während der Poeta doctus begann den Wasserkessel zu erhitzen, verharrte Jules‘ Blick auf das die gesamte Wandbreite einnehmende Regal, in welchem sich zahlreiche antiquarische Werke stapelten. Er näherte sich diesen bedächtig. Vorsichtig, als seien die Werke unsagbar wertvoll und zerbrechlich, berührte sein Finger die einzelnen in Leinen und Leder gebundenen Buchrücken. „Novalis: Gedichte und Romane; Büchner: Woyzeck; Morgenstern: Aphorismen und Sprüche; Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus; Eichendorf: Novellen und Gedichte; Shakespears Werke: Band eins und zwei; Schiller: Band eins bis zwölf; Goethes Werke; Die Bibel.“, murmelte Jules die Titel der ersten Reihe, die sein Finger streifte. „Beeindruckende Schriften, die der menschliche Geist in seinem Sehnen und Bestreben zustande brachte. Ein jeder von ihnen lehrt und lernt aus seinem Leben.“ Der Poeta doctus trat mit einem Tablett an den Schreibtisch heran. Zwei Tassen sowie die Teekanne, ein Milchkännchen und das Döschen mit Kandis befanden fanden ihren Weg auf den Tisch. „Seine Sammlung ist beeindruckend.“ „Zu meinem tiefsten Bedauern vorwiegend Leihgaben des Abecedariums. Wobei der Verleih solcher Schriften eine Schändung ihrer Verfasser und dessen Ehrung in meinen Augen darbietet. Vielmehr sollte das Bestreben existieren sich selbst die Werke anzueignen, anstatt sie nach einmaligem Lesen wieder freiwillig aus der Hand zu geben.“ Wells nahm auf dem freien Stuhl gegenüber Jules Platz. Heißer Dampf und ein süßliches Aroma stieg aus den Tassen empor. „Verrate Er mir freundlichst, wurde Seine Erwartung nach der Anreise erfüllt?“ „Wahrhaftig. Eine einmalige Stadt, dessen geschäftige Straßen und prunkvolle Häuser den Wohlstand seiner Bürger auf geradezu verschwenderische Weise zur Schau stellen. Aber womöglich ist dies auch nur die Sichtweise meiner mittelständigen Empfindungen.“, offenbarte Jules seine Eindrücke Florilegias seinem ehemaligen Lehrmeister. „Seine Worte spiegeln Seine ehrlichen Gedanken, ohne Zensur.“, bemerkte Wells, nahm einen ersten Schluck seines Tees. „Nun… Welche Bitte bedarf meiner bescheidenen Hilfe?“ Jules hob seine Reisetasche auf den Schoß, öffnete sie und entnahm ihr das in dunklem Leder gebundene Buch, dessen Kopfschnitt eine verblichene goldene Färbung aufwies. Bedächtig legte er es auf den Tisch, darauf achtend, keinerlei kleinste Beschädigung zu verursachen. Der Poeta doctus richtete seinen Klemmer, ehe er den Blick prüfend auf das Buch richtete. „Ist dies der Anlass Seiner Reise? „Gewiss. Ich erwarb es kürzlich, sichtlich ohne die naturgegebene Bedeutung dieses Werkes zu kennen. Der ursprüngliche Einband verbarg sich unter einer Schicht aus Leinen, welche offensichtlich die wahre Natur zu verschleiern beabsichtigte. Ich entdeckte den für einen Laien nicht ersichtlichen Makel, behob ihn in meinem Bestreben, welches mich mein verehrter Vater einst lehrte, und erkannte den primären Titel. Ich gestehe ohne Scham, geehrter Freund, meine Kenntnisse reichten bei weitem nicht als dass sie fähig wären sich der Sprache, die das Werk beheimatet, zu bemächtigen. Aus diesem Grunde erbitte ich um Seine Hilfe und Fähigkeit die Sprache zu entschlüsseln und mir ihr Geheimnis zu offenbaren.“ Bedächtig lauschte der Poeta doctus der Ausführung seines einstigen Schülers, ehe er das Buch vorsichtig in Händen nahm, sich zunächst Einband und die Beschaffenheit der Seiten näher betrachtete. Einer eingehenden Untersuchung unterzog er das literarische Geheimnis, bedachte jede Seite mit einem prüfenden Blick, der die Kenntnisnahme jeglicher Auffälligkeit zu deuten ersuchte. Nachdenklich stahl sich ein unhörbares Seufzen über seine dünnen Lippen, derweil sich Wells mit dem Handrücken über die Stirn wischte und den Klemmer von seinem Nasenrücken nahm. „Seine Bitte stellt meine Kenntnisse vor eine schwierige Aufgabe, dessen Lösung ich nicht zu versprechen vermag. Es erscheint bisweilen die Lettern erlaubten sich einen Scherz in ihrer Darstellung. Einem Puzzel gleich, dessen einzelne Teilstücke sich in einem nach eigenen Grundmustern kodierten Labyrinth verbergen. Ich enttäusche Seine in mich gesetzten Erwartungen aufs Tiefste nur ungern, jedoch überschreitet das Werk auch meinen literarischen Geist. Einzig im Stande ist er den Begriff Utopia zu entziffern, jedoch ohne den Kontext, welcher sich aus den weiteren Begriffen erschließen könnte.“ Bedächtig schloss Wells das Buch nach seiner Ausführung und überreichte es Jules, dessen Bedauern über die nicht erhofften Erkenntnisse sich deutlich in seiner Mimik widerspiegelte. Ein betretendes Schweigen legte sich wie ein dichter Nebel über die abgeschiedene Nische. Wells goss sich eine weitere Tasse Tee ein, derweil Jules bisher nicht einen Schluck zu sich genommen hatte. „Kenne Er jemanden, dessen Kenntnisse fähig sind die Geheimnisse der Lettern zu entschlüsseln?“, brach Jules das Schweigen, nahm das Index librorum prohibitorum in Händen und überflog die ersten Seiten mit einem nachdenklichen Blick. „Meinem Geiste sind keine Literaten bekannt, welche Imstande wären eine derartige Leistung zu meistern. Es bedarf, wenn rein Spekulation an diesem Punkte auch nicht angebracht scheint, viel mehr eine Anzahl vielschichtigen Fachwissens, um dem Rätzel auf die Spur zu gelangen.“, sinnierte der Poeta doctus einen Schluck Tee zu sich nehmend. „Wir sollten die Triade um Unterstützung bitten.“, sprach Jules seinen aufkeimenden Gedanken offen aus. Der Poeta doctus zog die Stirn in nachdenkliche Falten, die Tasse auf der Untertasse absetzend ehe er das Ergebnis seiner Überlegungen zu diesem Vorschlag verkündete. „Um ehrlich Antwort zu geben, erachte ich Seinen Gedanken als nicht sehr wirkungsvoll.“ „Darf ich um den Grund für Seinen Einwand bitten und erfahren? Die Triade versprach jeglichem Bürger offene Zuwendung in ihrem Bestreben, obgleich dieser weder dem gesellschaftlichen oder geistlichen Fortschritt diene.“ „Er ist gewiss vertraut mit den innenpolitischen Unruhen.“ „Ich las davon in der Märe.“ „Seine Worte erreichen in diesen Zeiten kein noch so offenes und wohlgestimmtes Gehör. Mir erscheint eine Umwälzung innerhalb der Triade Anlass für die Uneinigkeit der tragenden Entschlüsse für die Nation. Und bei weitem liegt der Auslöser nicht einzig an der in die Vergangenheit gerichteten Sichtweise der hohen Invokation. Es verbirgt sich ein größeres dahinter…“, der Poeta doctus beugte sich nach vorn, näher zu Jules heran und senkte die Lautstärke seiner Stimme, die zunehmend einem Flüstern glich als er weitersprach. „…ein größeres Streben, welches in jedem unserem Geiste haust. Die Gier, ein unstillbarer Hunger. Die Bewerkstelligung der Taten, die das eigene Gelingen zu überschreiten vermögen.“ „Er meint…“, Jules‘ wispernde Stimme versagte. Das tiefe Füllen seiner Lungen war zu hören, die die Tragweiter seine eigenen Worte zu begreifen ersuchten. Den Blick nach allen Seiten schweifend, dass ihr Gespräch auch keine ungebetenen Hörer erreichte. „Er meint einen Putsch?“ „Auszuschließen ist dies nicht.“ Der Poeta doctus begab sich zurück, in die polsternde Lehne des Stuhles. Seine Stimme nahm ihre gewohnt geduldige, ruhige Tonlage an. „Jedoch welche Bedeutung tragen meine Worte in sich. Ein alter seniler Narr, der sein Leben einem Haufen verstaubter Bücher widmet.“ „Verzeihet meine Offenheit, verehrte Freund, aber ich muss Seiner Äußerung widersprechen. Er ist unbestritten eine Koryphäe Seines Fachgebietes. Seine Lehren waren es, Er war es, der mir den Weg meines geistigen Strebens ebnete. Ein Weg, den mich mein verehrte Herr Vater, seine Seele sei meiner gnädig, nur bedingt beschreiten ließ. Aus diesem Grunde bin ich Ihm, meinem geehrten Lehrmeister, zu aufrichtigem und tiefsten Dank verpflichtet.“ Jules brachte die Bedeutung seiner Worte durch eine angedeutete Verbeugung erneut zum Ausdruck. „Sein Empfinden ehrt das meinige zu tiefst. Jedoch…der verehrte Goethe selbst schrieb in seinem Werke: Da steh ich nun, ich armer Tor, Und bin so klug als wie zuvor! Heiße Magister, heiße Doktor gar Und ziehe schon an die zehen Jahr Herauf, herab und quer und krumm Meine Schüler an der Nase herum – Und sehe, dass wir nichts wissen können! Auch mein Geist erkannte die Unwissenheit, welche tief in ihm schlummerte.“ Kapitel 2: „Alle Träume können wahr werden, wenn wir den Mut haben, ihnen zu folgen.“ (Walt Disney) --------------------------------------------------------------------------------------------------- Abertausend Farben in einem kreisenden Wirbel aus sich brechenden Spiegeln und Glassplittern. Der bannende Sog eines schemenhaften Traums. Eine verzerrte Realität. Tanzendes Rot und Blau. Sich drehendes Gelb, Grün. Verschmelzendes Violett und Orange. Ein Meer aus Farbspektren verschlang sich, tanzte umeinander und verlor sich in der eigenen Ekstase des Seins, welches sich in einem kleinen Rohr einem Wunder gleich ergoss. Gebannt starrte Jules in das Kaleidoskop, das er in Händen hielt, hinaus aus dem schmalen Fenster gerichtet, gen Sonne und Windspiel. Gleich einem Tagtraum entfloh sein junger Geist in die Realität der tanzenden Farben, die ihren unwirklichen Bann wie einen seichten Schleier über ihn legten. „Jules… Jules-Gabriel Verne!“ Die donnernde Stimme setzte der fesselnden Phantasie ein jähes Ende. Bedächtig fand das Kaleidoskop seinen Platz auf dem Fenstersimms. Der blutjunge Blick, dessen verklärte Augen noch immer die sich wandelnden Farbnuancen beheimateten, wandte sich dem Vater zu. „Verträume nicht sinnlos den Tag, mein Sohn. Geh‘ hinab und hol‘ mir das Buch. Sein Besitzer wünscht es abzuholen.“ Ein stummes, bestätigendes Nicken in Richtung des sich wieder entfernenden Vaters. Jules erhob sich aus dem Lehnstuhl seiner Mutter, ein Erbstück, das bereits Generationen einen Moment der Ruhe beschert hatte, und öffnete die schmale eichene Holztür im Hinterzimmer, welche hinab ins Archiv, der Werkstatt seines Vaters, führte. Jeder Schritt ließ die schmalen Treppenstufen unter ihrem voranschreitenden Zerfall ächzten, den unausweichlichen Zahn der Zeit erneut am morschen Mauerwerk nagen. Sich haltsuchend am kalten Stein der Wand abstützend, überwand Jules die dämmrige Tiefe, die einzig eine flackernde Kerze in seiner Hand erhellte, gelangte ins Archiv, welches das Herzstück der antiken Buchhandlung Charles Lutwidge Dodgson darbot. Das geforderte Werk lag, in Leinen gehüllt, auf der Werkbank. Jules wusste um die Arbeit, die sein Vater die vergangenen Tage investiert hatte. Still war es ihm erlaubt worden dem Handwerk, seinem zukünftigen Handwerk, beizuwohnen. Das Bezugsmaterial, welches auf der Innenseite des Einbandes vom Vorsatzpapier überklebt wurde, hatte sich teilweise vom Buchdeckel gelöst. Durch den Vater wurde dem Werk sein einstiger Glanz erneut verliehen. Bedächtig nahm Jules das in Leinen gehüllte Buch von der Werkbank, eilte die schmalen Stufen hinauf in das Hinterzimmer. Die Tür zum Archiv schließend, vernahm er neben des Vaters Stimme ihm ein ebenfalls wohl bekannter männlicher Ton. Ein neugieriger Blick um die Ecke, hinein in das zweite Herzstück der Buchhandlung bestätigte seine Vermutung. Der kleine aber mit Büchern überfüllte Raum bot neben der Verkaufstheke lediglich einen Gang, welcher von der gläsernen Eingangstür, auf der in goldenen Lettern der Name des Geschäftes prangte, sich abzweigte hin zu einer Regalwand und zum Durchgang ins Hinterzimmer. Hinter der Theke stand der Vater in seiner kräftigen Erscheinung, die für Außenstehende einen überrasenden Kontrast zu seinem filigranen Handwerk bildete. Ihm gegenüber befand sich der Besitzer der Stimme, welche Jules so vertraut vorkam. Der ältere Mann war ein gern gesehener Stammkunde, da er den Büchern eine ebenso hohe, wenn nicht sogar höhere, Bedeutung beimaß wie es Jules‘ Vater tat. Vorsichtig und doch neugierig zugleich, streckte der kleine Junge den Kopf weiter um die Ecke, um so dem Schauspiel, welches er erhoffe zu erhaschen, besser beiwohnen zu können. Obgleich er nicht einmal gewahr war, was er zu sehen erhoffte. „Dein Verhalten zeugt von mangelnder Erziehung, mein Sohn. Bereit‘ deinem Vater keine Schande und versteck‘ dich nicht heimlich lauschend.“ Ertappt in seinem Tun löste sich Jules aus dem Schatten der Ecke. „Verzeiht mir, werter Vater.“, kamen die Worte kleinlaut über seine Lippen als er näher zu seinem Vater und dem älteren Mann trat, welcher auf das Buch in Jules‘ Armen wartete. „Seine Tat zeugt von der kindlichen Neugier, die in jedem unserem Herzen einst einem jungen Vogel gleich aufgeregt mit den Flügeln flatterte, die ersten Flugversuche unternehmend. Schmälert seine Versuche sich in die Lüfte zu erheben und dem erwachsenen Geiste nach zu kommen nicht.“ Der ältere Herr, dessen Kleidung von einem offenkundig wohlhabenden Stand zeugte, überwand in wenigen Schritten die Distanz zwischen ihnen. Seine ruhige Stimme spiegelte einen weisen Geist wieder, der das kindliche Gemüt nachzuempfinden vermochte. „Die unverfälschte Neugier, die deinem Gemüt inne wohnt, mein junger Freund, bereits in Selbstverständlichem ein Wunder zu erkennen, veranlasst uns die Weiten unseres eigenen Horizontes zu überschreiten, das Unbekannte zu erkennen, Unentdecktes zu entdecken. Und richtete sich diese forschende Neugier auf Ernsthaftigkeiten, so entsteht ein Wissensdrang, welcher unzähligen Möglichkeiten die Geburt und gleichermaßen Wege in eine neue Zukunft eröffnet.“ Jules lauschte den Worten bedächtig als seien sie einer heiligen Predigt entsprungen, obgleich er nicht einmal einen Bruchteil ihrer Bedeutung zu ermessen im Stande gewesen war. Allein der Klang, die Vorstellung ihrer Bedeutung, Wirkung vermochten es in dem kleinen Jungen eine neue, phantastische Welt zu erschaffen, welche mit dem Traum aus Farben, dem er sich zuvor in aller Sehnsucht hingegeben hatte, zu verschmelzen begann. „Extrablatt!“ Der kleine, abenteuerlich verdreckte Zeitungsjunge, welcher am Straßenrand stand und die Schirmmütze immer wieder über die Augen rutschte, schwenkte die Märe wild durch die Luft. „Extrablatt! Aesthetika – die größte Weltausstellung! Die Aesthetika öffnet heute ihre Tore! Extra … Danke, Sir!« Er nahm das silberne Geldstück entgegen, überreichte die Märe in seiner Hand und kramte mit der anderen in seiner Umhängetasche, das entsprechende Wechselgeld suchend. „Behalte den Rest, mein Junge.“, erwiderte die ältere Stimme. „Habt Dank, Sir.“ Der Junge verbeugte sich tief, wobei die Schirmmütze erneut seinen Augen den Blick verwehrte, ehe er den beiden Männern den Rücken zukehrte und, die Mütze gerichtet, mit einer neuen Märe durch die Luft schwenkend eiligst die Straße überquerte. „Extrablatt…“ „Verzeiht meine Ungeduld, aber sollten wir uns nicht eiligst an die Entschlüsselung des Werkes begeben? Obgleich Er bereits die Schwierigkeit dieses Unterfangens betonte.“ „Er verspürt die jugendliche Eile, die bisweilen zu Übermut und Leichtsinn neigt. Die Geheimnisse des Werkes verflüchtigen sich nicht gleich einem Traum beim unliebsamen Erwachen. Seine Anreise vergönnt es Ihm einen einzigartigen Blick auf die nahe Zukunft zu erhaschen. Er werde sich diese Gelegenheit sicherlich nicht entgehen lassen…“, erwiderte Wells. Seine Stimmlage strahlte eine Ruhe aus, die Jules seine unbeholfene Jugend unterschwellig vor Augen führte. Der Poeta doctus richtete seinen Klemmer, ehe sein Blick auf die Schlagzeile fiel, welche die Aesthetika in höchsten Tönen preiste, obgleich dies die erste Ausstellung einer derartigen Größenordnung darstellte. Die wenigen Zeilen überfliegend, wandte sich sein Augenmerk zurück auf den Weg, welchen sie im Begriff waren zu verlassen, um an einer Häuserecke eine neue Richtung einzuschlagen. „Er erwähnte bei der Untersuchung des Werkes den Begriff Utopia. Mir ist dieser Begriff in keinster Weise bekannt. Wisse Er mehr darüber?“, erkundigte sich Jules, die Hoffnung nicht aufgebend dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. „Sein Ehrgeiz ist bewundernswert. Nun gut… Eine meiner zahlreichen Studien erforderte die Auseinandersetzung mit einigen Schriften, in welchen der Begriff öfters eine Verwendung fand. Jedoch erschienen sie mir allesamt rein belustigender nicht informativer Natur zu sein.“, berichtete Wells. „Erzähle Er mir freundlichst dennoch davon.“, bat Jules, die aufkeimende Neugier in seinen Augen nicht verbergend. Ein unhörbares Seufzen stahl sich über die dünnen Lippen des Poeta doctus‘. „Ein gewisser Thomas Morus schilderte in seinem Werke die gesellschaftliche Organisation einer Nation, dessen Bevölkerung sich als Utopier zu bezeichnen pflegte. Betrachte Er jedoch den Ursprung des Begriffes, so stelle Er gewiss fest, dass jene schriftstellerische Darstellung einem Märchen gleichzusetzen ist, welches einzig die Missstände der Realität aufzuzeigen vermag. Utopia, ein Mondstaat, ein Sonnenreich. Das Bewohnen eines Wolkenschlosses. Utopia, der Nicht-Ort.“, beendete Wells seine Ausführung, den Blick unentwegt auf die Straße gerichtet, den Gehstock im Takt der Schritte schwingend. Das mit einem modernen Wasserstoffmotor angetriebene Hochrad erfreute sich in den geschäftigen Straßen, die geradezu überseht mit Automobilen schienen, stetig wachsender Beliebtheit, jedoch bisweilen nur in der höheren Gesellschaftschicht, da die Anschaffung dieser neumodische Errungenschaft ein stattliches Sümmchen abverlangte. Wells selbst sah dieser Neuerung mit Argwohn entgegen. In seinen Augen gebar sie keinen tatsächlichen Fortschritt, lediglich eine neue Spielerei der Erheiterung eines bisweilen stumpfen Geistes der die Oberschicht befiel. Jules schwieg, wiederholte im Geiste die Worte, die von einem Ort sprachen, welcher nicht existent sei, bedeutsam in dem Bestreben ihre Bedeutung nicht bloß zu begreifen, eher sie als erstes Teilstück auf dem Wege der rätselumwogenden Entschlüsselung zu erkennen. Welches Geheimnis verbarg sich hinter Utopia? Welche Geschichte stand in dem Buch, das sich ihm so vehement zu verschließen versuchte? Wie konnte er Zugang erhalten; Zugang zu einer Sprache, die ihm völlig fern und fremd war, zu einem Inhalt, dessen Ausmaße er nicht einmal ansatzweise in der Lage zu ermessen war? Existierte überhaupt ein Hoffnungsfunke, der ihm bereit war den Weg zu weisen? Jules kamen Worte von früher in den Sinn. Worte von denen ihm der Poeta doctus erzählt hatte. Isaak Newton war es, der sagte: Was wir wissen ist ein Tropfen. Was wir nicht wissen ist ein Ozean. Wells hatte ihm die Bedeutung erklärt. Alle Geheimnisse liegen in vollkommener Offenheit vor uns. Sie zu erkennen ist die Schwierigkeit unseres Geistes. War sein Geist in der Lage dieses Hindernis zu überwinden? In den einladenden Glasfassaden einzelner Geschäfte spiegelten sich die zahlreichen, filigran verzierten Gaslaternen, welche die Passage, ein zweistöckiges meisterliches Bauwerk aus Glas und Stahl, dessen Herzstück eine mächtige Wendeltreppe bildete, auf einzigartige Weise selbst zu später Stunde im hellen Lichtschein erstrahlen ließen. Ihr gemeinsamer Weg führte sich vorbei an edlen Herrenausstattern und kostbaren Juwelieren. Die neueste Damenmode prangte in den üppigen Schaufenstern, darauf wartend, von reichen Verehrern ihrer Liebsten dargeboten zu werden, deren Körper, einem Kunstwerk gleich, bis aufs Äußerste zu schmücken und in der vornehmen Gesellschaft zu präsentieren. Ein bitterer Klos bildete sich in Jules Hals bei der Vorstellung welch Vermögen eine derartige Kostbarkeit aus Stoff in sich beheimatete. Florilegias Hang zur Profilierung würden Missgönner mit der anrüchigen Prostitution einer Dirne vergleichen, die sich in ihr vorgegebenes Schicksal nicht zu fügen bereit war. Im fahlen Lichtschein, das sich über sie legte, versuchte sie unermüdlich aus dem dunklen Morast ins prunkvolle Bett zu kriechen, alles um sich herum vergessend. Jules jedoch war von dem Prunk, der seiner bescheidenen Welt so fern und fremd war, zu überwältigt, gar verblendet, als dass er die dunklen Gassen hinter dem glitzernden Theater zu erkennen vermochte. Das gestrige Gespräch, welches Jules und Wells im Abecedarium geführt hatten, war zu einem ernüchternden Ausgang gelangt. Auch wenn Jules es zu verbergen versucht hatte, so konnte er seine Enttäuschung über die nicht erfüllte Hoffnung, welche er in seinen einstigen Lehrmeister gesetzt hatte, nicht gänzlich verbergen. Der Poeta doctus nahm einen weiteren Schluck seines Tees ehe er unvermittelt ein neues Gesprächsthema eröffnete. „Laufen Seine Geschäfte gut?“ Jules, im ersten Moment verwirrt von dieser Frage, fasste sich schnell wieder, die vergessene Contenance wieder erlangt. „Ich kann mich nicht beklagen, obwohl meine Kundschaft nicht mehr so zahlreich erscheint, wie zu Zeiten als die handwerkliche Kunst den Namen meines verehrten Vaters zur offensichtlichen Qualität trug.“, antwortete Jules, nun ebenfalls einen Schluck Tee trinkend. „Sein Vater genoss einen ausgezeichneten Ruf. Sicherlich wird Sein handwerkliches Talent mit der Zeit ebenso hoch gelobt unter der Kennerschaft.“ Wells setzte die Tasse ab. „Wisse Er schon um Seine Schlafstätte?“ „Ich gestehe…“, begann Jules zögerlich, den Blick unauffällig gen Tasse gesenkt. „… Derlei Überlegungen schloss mein Bestreben Ihn aufzusuchen nicht mit ein. Mein Weg hatte einzig ein Ziel vor Augen.“ „So lasse Er mir das Vergnügen und die Ehre, Ihn in meinem Heim willkommen zu heißen.“ „Er ist zu großzügig.“ Jules neigte den Kopf dankbar für dieses Angebot. „Mit größten Freuden nehme ich Seine Einladung dankend an.“ „Dann lasse Er uns aufbrechen. Mrs. Hudson wartet gewiss mit einer vorzüglichen Tasse Tee.“ Wells erhob ich, das Geschirr an seinen angestammten Platz befördernd. Er griff nach seiner Melone und dem Gehstock. „Wenn mir die Frage gestattet ist. Um welche Dame handelt es sich bei Mrs. Hudson?“ Jules‘ Stimme versuchte den neugierigen Klang zu verbergen. Er verstaute das Index librorum prohibitorum in seiner ledernen Tasche, ehe er sich ebenfalls erhob. „Mrs. Hudson, eine herzensgute Seele, wenn ich dies in aller erforderlichen Höflichkeit offen gestehen darf. Sie kümmert sich um den Haushalt gegen Entgelt und einem komfortabel Zimmer. Ihr verstorbener Gatte, ein enger und überaus hoch geschätzter Freund meinerseits, befasste sich mit den gleichen Studien wie meine bescheidene Person. Nach seinem unerwarteten Ableben gebar es meine freundschaftliche Pflicht sich mir ihrer anzunehmen.“ Der ausladende Platz, welcher sich hinter der Passage einem mit feinsten Stickereien verzierten Teppich gleich erstreckte, von den Straßen und Automobilen ehrfürchtig umrundet wurde, gebot einen einmaligen Blick auf die gläserne Heimat der Aesthetika. Einst war er Mittepunkt des Städtchens, Verkündungsort damaliger Proklamationen und Verurteilungen. Doch die Zeiten ändern sich und mit ihnen auch die Bedeutungen. Jules‘ Blick schweifte über die einzelnen das Zentrum des Platzes bedeckenden Mosaike, welche gesamt betrachtet den Zyklus der Sternebilder der Vergangenheit darstellte. Chronos selbst thronte im Mittelpunkt seines Sternenrades, den Strom der Zeit, welcher sich über ihm ergoss, überwachend. Die Überquerung des Platzes glich der Überschreitung der Historie Florilegias, der reinen Zeit selbst. Den Blick auf ein neues Bruchstück der Zukunft gerichtet. Das Libretto bezahlend passierte Jules die Einlasskontrolle der Kustode und betrat die gigantische lichtdurchflutete mit Fahnen Florilegias und anderen Städten veredelte Glashalle, dessen prunkvolles Mittelstück eine die gläserne Kuppel streichelnde und vom strahlenden Lichtschein umfangene Vita darstellte, das seltene und riesige Blattwerk, welches von einem massiven Holzfundament getragen wurde. Ein weiteres Augenmerk bildete das sich neben der Vita befindende dampfbetriebene Kinderkarussell, genannt Nimmerland, dessen metallene Reittiere anmuteten, sie seien einer jenen fiktiven Traumwelten entsprungen, die den Geist eines jeden in ihren magisch fesselnden Bann zu ziehen vermochten. Jules‘ Blick schweifte unschlüssig durch die Eingangshalle, nicht wissend welche Errungenschaft der Zukunft, Verwirklichung menschlichen Wissensträumen er zuerst in seinem vollen Bewusstsein aufsaugen sollte, da der Anblick allein einem nie dagewesenen Rausch glich, dessen betörende Wirkung seinen Geist in die phantastischen Wunder seiner Kindheit zu entführen schien. Sein Wesen erfuhr eine emotionale Nacktheit, wie es sie nie zuvor gekannt hatte. Eine Nacktheit, die seinem Geiste, seiner Seele offenbarte welche grenzenlosen Möglichkeiten sich ihm boten, auf ihn warteten, und welch eingeengter Horizont sein bisheriges Leben doch erfüllte. Bedächtig tat er den ersten Schritt als beträte er die weihevollen Mauern einer geheiligen Hoheit, die einem König gleich über ihnen thronte, jegliche Regung mit Argus Augen beobachtend; darauf bedacht jedes noch so unbedeutend erscheinendes Detail in seinem vollen Ausmaße zu erkennen, mit dem Geiste zu verstehen. „Seine Vorbehalte scheint Er einem lästigen Kleidungsstücke gleich am Eingang abgestreift zu haben.“ Der Poeta doctus, dem die offene Verwunderung nicht entgangen war, trat neben Jules, das Libretto aufschlagend, um sich einen Überblick der einzelnen Neuerungen zu verschaffen. „Seine Vorhersage beschrieb nicht annähern die Flut an Eindrücken, die meinen Geist einer alles verschlingenden Welle gleich in diesem Augenblicke zu ertränken drohen.“ „Ein Trunk, welcher Seinen noch jungen Geist die Süße der Zukunft erahnen zu lassen bereit ist.“ Wells steckte das Libretto in die Innentasche seines Jacketts, ehe er sich in Bewegung setzte, bereit die Ergebnisse menschlichen Wissensdranges zu begutachten. Die Aesthetika präsentierte der Öffentlichkeit zahlreiche Errungenschaften, die hermaneutische Wissensgeister gebaren. Das Harmonium, ein neues Aerophon, dessen luftdurchfluteter Klang die Töne auf seichten Schwingen trug. Die Melodie wurde eingefangen von den Wachswalzen der Phongraphen, welche diese einem Echo gleich auf Befehl wiederzugeben in der Lage waren. Die Laterna magica, welche durch die Neuerung der integrierten reinen Essenz des Äthers und die Verschmelzung mit einem Cinématographen ihre magische Fähigkeit erweiterte und dem gewählten Zuschauer ein Spektrum an farbenreichen gar beweglichen Bildern darbot. Welch seltsame Alchemie war imstande, dass die abgelichteten Nachbildungen glanzvoller erschienen als das Original selbst? „Es gleicht einem Rausch. Trunken von der Erkenntnis zu welchen Kunstwerken das menschliche Streben fähig ist, sehnt sich mein Geist umso mehr die Geheimnisse, die ihn in unsichtbare Ketten legen, zu entschlüsseln, zu sprengen und ein ebensolches Kunstwerk der Welt zu präsentieren.“, schwärmte Jules als spräche er von einer jungen unerreichbar erscheinenden Geliebten, der er sein Herz schenkte. Er und der Poeta doctus betrachteten die Vorführung eines Hermaneutikers, welcher seine neue Erfindung, eine Apparatur mit welcher der Mensch in der Lage ist über weite Distanzen mit einem anderen zu kommunizieren, ohne lästige Nutzung elektromagnetischer Morsetelegraphie. „Seine kindliche Neugier, erscheint mir, habe die vergangenen Jahre überdauert. Seine Begeisterung des Selbstverständlichen wuchs zu einem natürlichen Wissensdrang heran; so wird Sein Geiste sicherlich fähig sein in naher Zukunft die verborgenen Geheimnisse, die ihn herausfordern, zu entschlüsseln.“ Jule wandte sich von dem Hermaneutiker und der Apparatur ab, seinem ehemaligen Lehrer zu. „Beziehe Er Seine Annahme meinerseits auch auf das Buch und seine mysteriöse Schrift?“ „Ein Urteil darüber abzugeben vermag ich nicht im Stande zu sein.“, wich Wells einer konkreten Antwort aus. Ehe Jules dem etwas erwidern konnte, schickte sich der Poeta doctus bereits an die nächste wissenschaftliche Neuerung zu betrachten, als sein Blick unvermittelt auf einem ihm wohl bekannten Gesichte haften blieb, welches sich aus der Menge hervor tat. Ein älterer Mann dessen wohlhabender Lebensstil sich vor allem in seiner Körperfülle wiederspiegelte. Ein maßgeschneiderter Anzug, der hohe Zylinder sowie ein aus edlem Holz geschnitzter Gehstock untermauerten den ersten Eindruck der gut situierten Erscheinung. In seinem Beisein befand sich ein jüngerer Herr in ebensolch edler Kleidung sich präsentierend. „Wenn das nicht mein alter Freund Wells ist. Welche gute Fügung führt Sie hier her?“ Der ältere Herr trat an den Poeta doctus und Jules heran, strahlte sie freudig mit seinem faltigen, fleischigen Gesicht an. „Verehrter Herr Biedermeier. Es erfreut mich Ihn seit langem wieder begrüßen zu können.“, erwiderte Wells die herzliche Begrüßung, untermauerte diese mit einer geschickten Handbewegung an seinem Zylinder, welchen er kurz von seinem Kopfe nahm. „Noch immer sprechen Sie mit solch geschwollenen Worten zu mir.“Ein lautes Lachen entwich der wulstigen Kehle, ehe sich Biedermeiers Blick auf Jules richtete. „Und wer ist dieser Mann? Ein neuer Schüler?“ „Darf ich vorstellen, Jules Verne, ein junger aufstrebender Mann in der handwerklichen Kunst der Buchbindung und dem Vertrieb erlesener Werke. Herr Biedermeier besitzt eines der angesehensten Handelshäuser Florilegias. Es war mir vergönnt seine Bekanntschaft in einem der edlen Salons zu schließen. Monsieur Vernes Erscheinen veranlasste mich ihm die Möglichkeit des Besuches der Aesthetika nicht zu verwehren.“ Während Wells sprach verweilten seine ruhigen Augen zwischen den drei Männern. „Es freut mich Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Biedermeier reichte Jules die Hand, welches dieser freudig entgegen nahm, sich mit einer Verbeugung bedankte und die wohlwollenden Worte erwiderte. „Ah, fast vergaß ich. Das ist Tonio. Tonio Kröger.“ Biedermeiers Geste deutete auf den jungen Mann, der bis dahin stillschweigend, einem Außenstehenden gleich, die Situation beobachtete hatte. „Sein Vater, ein tüchtiger Kaufmann und guter Kunde von mir, bat mich ihn in das Geschäft einzuführen.“ „Es ist mir eine große Ehre Sie beide kennen zu lerne.“ Seine Stimme glich einem aufgeregten Krächzen als sich Tonio Kröger tief verbeugte, sodass sein wirres Haar ihm die weitere Sicht versperrte. Biedermeier wandte seinen Blick von seinem Begleiter ab, hin zum Poeta doctus. „Haben Sie schon etwas über Miss Godwins neueste Erfindung gehört?“, erkundigte sich Biedermeier mit einer nicht zu übersehenden Neugierde in der Stimme. „Spreche Er von Miss Mary Wollstonecraft Godwin, einer jungen Dame, in deren Augen sich der Erfindergeist ihres Vaters, dem Hermaneutiker Frankenstein, widerspiegelt?“ „Genau. Ich hörte, dass…“ Unauffällig schweifte Jules‘ Blick und mit ihm verbunden sein Geiste ab von dem Gespräch, über die Besucher, welche ihrer Kleidung nach zu urteilen auch außerhalb der Nation ihre Heimat fanden. Sie glichen einer Schar Pfauen, einzig darauf bedacht ihr ausladendes Federkleid zu präsentieren in dem Bestreben es glänzender, edler, kostbarer erscheinen zu lassen, um so ihr eigenes Selbst zu loben und sich im Neid anderer einem wohltuenden Bad im Rosenwasser gleich zu laben. Seine ins leere Suchen gerichteten Augen erblickten auf einer marmornen Anhöhe, einem Podeste, eine liebliche Gestalt, dessen Anblick er sich nicht zu verwehren in der Lage war. Madame Elegantia. Ihre zuvor nur erspähte Schönheit offenbarte sich Jules nun in vollem Ausmaße. Das ausladende Kleid mit dem aufblitzenden Unterrock und dem sich anschmiegenden Korsett umschloss sie einer Blüte gleich, die sich langsam der Sonne öffnend ihr kostbares Innerstes offenbarte. Zu ihrer Rechten stach ein Mann aus der sie umschwärmenden Scharr hervor, der nicht weniger den Mittepunkt eines eigenen Kosmos‘ bildete, wie es Madame Elegantia tat. Adoneus, ein reicher Adelsspross, der laut eigener Aussage einem Zweig des Geschlechtes Giacomo Casanova entsprungen sei und dessen Leben einem glänzenden Ball glich, der sich durch alle Tage und Jahreszeiten hinweg zog in dem Bestreben eine endlose Illusion des lustvollen Müßigganges aufrecht zu erhalten. Adoneus, ein Genusssucher, ein libertin de mœurs, der auch so manches nicht weibliche Herz in Verzückung geraten ließ. Neben dieser Erscheinung, welche die jungen Herzen edler Damen geradezu anbetungswürdig betrachteten, kam sich Jules einem Tagelöhner gleich unbedeutend, gar schäbig vor. Beschämt und zugleich geblendet wandte er den Blick ab, zurück in die Realität, die geschäftige Gesprächsrunde, die unbeirrt neben ihm fortgeführt wurde. „… Ich gestehe, es mag eine kostspielige Investition gewesen sein. Aber ich kann Ihnen versichern, es war eine lohnenswerte Investition. Sobald der atmosphärische Motor von Otto und Langen seinen Weg in die Massenproduktion gefunden hat, wird eine neue Ära der Flugschiffe anbrechen.“, präsentierte Herr Biedermeier stolz seine neueste Errungenschaft seinem Freunde Wells. „In Seinem Vorhaben erhoffe ich nur das Beste für Ihn.“ „Danke, danke, guter Freund.“, lächelte Biedermeier breit, sich in dem vermeidlichen Kompliment labend. „Aber nun sagt mir, was haltet Ihr von einer Tasse Tee? Ich sah ein prächtiges Café am anderen Ende der Glashalle.“ „Er erweise uns eine Ehre Ihn begleiten zu dürfen.“ Jules stimmte den Worten Wells mit einem Nicke zu und setzte sich ebenso in Bewegung, der kleinen Gesellschaft folgend. In seinem Blick spiegelten sich noch immer das trübe Schwärmen und die bittere Realität, während er ins Leere gerichtet die Besucher, Wissenschaftler, Erfinder, Gelehrten in ihrer Präsenz übersah. Ein zurückgesetztes Gebäude, welches mit der stählernen Wand der Glaskuppe zu verschmelzen schien erwies sich als ihr angestrebter Zielort. Die schwere Tür aus Walnussholz öffnete sich und erwies den eintretenden einen ersten Einblick in den Salon, welcher von Herrn Biedermeier in den höchsten Tönen geschätzt wurde. Jules sah noch wie Wells über die Schwelle trat als ihn selbst etwas zu Boden riss. Unsanft, nicht zu sagen brutal wurde Jules aus seinen Gedanken gerissen und fand sich einige Schritte rückwärts taumelnd, sein Gleichgewicht finden, wieder. Sein erster Blick galt der Person mit welcher er diese mehr als unliebsame Begegnung teilte. Ein langer Inverness-Mantel ermöglichte wenig Einblick in die Statur seines unbekannten Gegenübers. Einzig die Neigung des ins Gesicht gezogenen und dieses verdeckende Deerstalker-Hutes verriet was die Aufmerksamkeit des anderen mehr auf sich zog als ihr Zusammenstoß. Jules folgte dem vermeidlichen Blickt und entdeckte sein lederne Tasche auf dem Boden, welche, halb geöffnet, den Buchdeckel des Index librorum prohibitorum preis gab. Einem Impuls folgend kniete sich Jules nieder, das Buch zurück in die Tasche steckend, ehe seine Füße ihn mit wenigen Schritten und gesenktem Kopf ebenfalls die Schwelle überqueren ließen. Der Salon Göttinger Hain überzeugte durch eine einladende Glasfront sowie dem dunkeln rustikalen und doch edlen Charme. Eine geschwungene Messingtreppe führte sie einige Stufen hinab in die wohl duftende Atmosphäre einer belesenen Gesellschaft, welche sich und ihrem von den flüchtigen Einblicken in die Zukunft überfluteten Geiste einen erholsamen Trunk genehmigten. Den inneren Blick auf das unerwartete Geschehen vor der Tür gerichtet, folgte Jules dem Poeta doctus zu einer ausstaffierten Sitzecke, welche ihnen die Möglichkeit und den Genuss eines vorzüglichen Tees bieten sollte. Es dürfte relativ einfach zu erkennen und zu durchschauen sein, dass Jules dem folgenden Gespräch, selbst wenn dieses lediglich von reiner und höflicher Oberflächlichkeit getrieben wurde nicht im geringsten beiwohnte geschweige denn den lieblichen Geschmack des Tees mit all seinen Sinnen genoss, sondern sein Verstand geradezu rücksichtslos nicht auf Jules‘ Stand achtend darauf pochte den kurz zuvor vernommenen Worten eine Bedeutung beizumessen. Ihren offensichtlichen Zusammenhang zum Index librorum prohibitorum zu entschlüsseln und zu erkennen, zu verstehen. Zwischen dem Stimmengewirr der Aesthetika glaubte er die Worte Utopia – Kryptogramm – Elision über sich vernommen zu haben, als er das Buch vor weiteren seine ungeschickte Situation beobachtenden neugierigen Blick in der Ledertasche verborgen hatte. Was war Elision? Wo befand sich Elision? Was hatte es mit Kryptogramm auf sich? Und worin bestand die Verbindung mit Utopia? War sein bruchstückhaftes Wissen um Utopia überhaupt korrekt? Oder verbarg sich mehr, viel mehr dahinter? Wie sagte Robert Musil: Utopien bedeuten ungefähr so viel wie Möglichkeiten; darin, dass eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als dass die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit; löst man sie aus ihrer Bindung und gewährt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)