Die Magie der Worte von Feuerblut ================================================================================ Akt 5: Der Tag der weißen Iris ------------------------------ Die Liebe, welche die Wangen entflammt wie das Morgenrot und das Herz zum Tanzen bringt, ist kurzlebig und die Verzweiflung klopft an die Tür des erregten Herzens. Eine grausame Wirklichkeit lässt Leidenschaft und Zauber im Nichts verschwinden. Die weiße Iris… In der Blumensprache steht sie für „Unbeirrbar und immer stehe ich zu dir“. Ebenso wie Romeo zu Juliet und Juliet zu Romeo steht… Eine Liebe, welche ihren Ursprung in der Unbeirrbarkeit einer Blume gefunden hat. Ihr Duft… so lieblich wie ein Frühlingsmorgen… wird den Tag erhellen und die Unschuld für immer weiterleben lassen!   „Wo will sie denn nun schon wieder hin?“, fragte ich, doch ich folgte Juliet auf Schritt und Tritt, wollte nicht, dass sie sich verlief, oder schlimmer noch von den Wachen aufgegriffen wurde. Wohin sie mich wohl führen würde? Die Sonne ging schon fast unter! Immer höher führte sie mich, wir waren schon weit über der Stadt. Sie ging immer mehr Treppen nach oben, bis wir auf einer blühenden Wiese standen. „Das ist doch die weiße Iris?“, flüsterte ich leise und beugte mich zu einer weißen Blüte hinunter. Die ganze Wiese war voll davon. Ich meinte mich zu erinnern, dass Juliet gestern eine weiße Iris in der Hand gehalten hatte, als sie am Brunnen saß. Einige dieser Blumen waren auch im Wasser geschwommen, ich hatte durch mein unfreiwilliges Bad sogar nach ihnen gerochen. Juliet schien diese Pflanze wirklich sehr zu lieben. Zu meiner Überraschung bemerkte ich, dass wir nicht allein waren. Schnell versteckte ich mich hinter einer Ruine. Hier schien wohl einst einmal eine Kirche gestanden zu haben und in ihren Überresten war diese herrliche Blumenwiese entstanden. Hier traf Juliet… erneut auf Romeo! Der Wind schien für einen Moment stärker zu werden und den Duft der Iris weiterzutragen. „Da seid Ihr ja!“, ergriff nun der junge Mann das Wort. „Prinz Romeo?!“ „Woher wisst Ihr meinen Namen?“, hakte der Adlige nach. „Also, ähm… ich… das ist so…“, stotterte Juliet, sie schien nicht zu wissen, was sie antworten sollte. „Dann darf ich auch erfahren, wie Ihr heißt, schönes Mädchen? Ich würde Euch gerne mit Eurem Namen ansprechen!“ Er sah sie an. Ein flehender Blick, dem sie sich da unterziehen musste. Konnte sie da überhaupt widersprechen? „Ich heiße Juliet.“ Tja, die wahre Liebe fand wohl doch immer zusammen, was? „Juliet… Das klingt ja wie… Musik in meinen Ohren!“, schwärmte Romeo. „Das finde ich eher nicht“, meinte Juliet ernüchternd. Auf einmal erklang eine Glocke aus weiter Ferne. Ich schreckte auf. War es schon so spät? Ich musste Juliet zurückbringen, auf der Stelle! „Ich muss nach Hause gehen“, sagte sie und ich war erleichtert, dass ich nun nicht als Spielverderber in diese Zweisamkeit hereinplatzen musste. „können wir uns vielleicht“, rutschte es ihrem Gegenüber sichtlich enttäuscht heraus. „Ich habe heute Geburtstag und viele Leute kommen. Sie wollen mit mir feiern, dass ich sechzehn geworden bin!“ „Ihr habt Geburtstag?“ „Ja!“, bestätigte sie ihm. „Dann muss ich Euch ja… Eine Sekunde…“ Romeo suchte verzweifelt nach etwas, das er mit sich führte, schien bei seiner Suche jedoch erfolglos zu bleiben. Dann beugte er sich hinunter und pflückte kurzerhand eine Blume, welche er Juliet in die Hand drückte: „Herzlichen Glückwunsch!“ Juliet schien sich wahnsinnig darüber zu freuen: „Ach, vielen Dank, wie schön!“ „Dann bin ich froh, können wir uns vielleicht wiedertreffen?“, fragte er zögerlich. „Wann denn?“, kam die Gegenfrage. „Morgen… ich meine, wenn Ihr Zeit habt?“ „Hier? Morgen, um die gleiche Zeit?“ Romeo nickte zustimmend. „Dann bis morgen, schöne Juliet!“ „Ja, bis morgen, Romeo. Mach’s gut!“ Sie drehte sich um und lief auf mich zu. Ich gab ihr noch einen Vorsprung bis zum Treppenabsatz, bis ich mich ihr anschloss. Sie schien sichtlich überrascht zu sein, mich zu sehen. „Watanuki! Was machst du denn hier?“, fragte sie und lief dunkelrot an, als sie merkte, dass ihre langen Haare umherflogen. „Keine Sorge, ich bin auf deiner Seite, Juliet“, sagte ich und sie blieb wie festgefroren stehen. „Woher weißt du…?“, setzte sie verwirrt an, doch ich lächelte beruhigend. „Ich habe für deine Familie das Schloss der Montagues ausspioniert“, spann ich Williams Lüge weiter. „Keine Angst. Ich werde dein Geheimnis für mich behalten.“ „Du weißt also vollständig über mich Bescheid, was?“, vermutete sie richtig und wir gingen weiter Richtung Williams Theater. „So könnte man es sagen, ja“, antwortete ich ausweichend. „Dann sag mir doch bitte, warum ich mich all die Jahre als Junge verkleiden musste! Wieso konnte ich nicht Juliet bleiben?“ Warum wollte eigentlich jeder von mir, dass ich ihm etwas sagte, was er zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht wissen durfte? „Das… wird dir erklärt. Nach dem Abendessen. So lauten zumindest meine Informationen.“ Es stimmte, bevor William mich ihr hinterher geschickt hatte, hatte er erwähnt, dass Conrad heute Abend eine Versammlung auf dem Friedhof angekündigt hatte, auf welchem die Familie der Capulets begraben lag. Ich ging davon aus, dass Juliet dort erfahren würde, dass sie ihr Erbe anzutreten hatte und sie von da an wissen würde, dass sie die letzte Überlebende der Capulets war. „Ach Mensch, niemand darf mir etwas sagen!“, beschwerte sich die wunderschöne junge Frau und ich kicherte. „Gedulde dich noch ein wenig, Juliet. Heute Abend wirst du alles erfahren!“ Beim gemeinsamen Abendessen wurde dieses Thema mit keinem Wort angeschnitten. Erst, als die Teller weggestellt wurden, sagte Conrad: „Prinzessin Juliet. Es gibt einen Ort, an den du nun zu gehen hast.“ Im Gegensatz zu mir schien sie überrascht über die Anrede „Prinzessin“… Wir gingen vor das Haus und stiegen in eine Kutsche, welche sofort losfuhr. „Wo fahren wir denn nur hin?“, fragte Juliet, sie schien mehr Angst als Neugierde an den Tag zu legen. „Wir sind gleich da!“, antwortete ihr Francesco beruhigend. Tatsächlich bremsten die Ryubas, welche die Kutsche zogen, und wir hielten an.   „Aber das ist ja… ein Friedhof!“, hauchte Juliet entsetzt, als wir vor dem Tor standen. „Ja. Gehen wir hinein!“, sagte Conrad und wir folgten ihm. Ich betete inständig, dass sich auf diesem Friedhof keine bösen Geister befanden. Wobei… konnten sie das denn überhaupt? Schließlich war das hier doch Williams Wunschwelt, oder nicht? „Aber wieso…?“, setzte das junge Mädchen fragend an. „Hier befinden sich die Gräber der Familie Capulet und der Familie Montague“, fing Conrad an zu erklären. „Waren die Capulets auch Adlige?“, wollte die Rothaarige wissen. „Die Sippe der Capulets hat früher jahrzehntelang Neo Verona gerecht regiert, bis vor 14 Jahren das damalige Familienoberhaupt der Capulets vom derzeitigen Regenten Montague  getötet wurde.“ Wir kamen vor einem geschändeten Grabstein an. Hier lagen also die Capulets. „Und Ihr, Prinzessin Juliet, seid die Tochter des ermordeten Fürsten Capulet! Montague meuchelte nicht nur Euren Vater, er tötete auch Eure Mutter, Euren großen, sowie Euren kleinen Bruder und alle anderen Mitglieder der Familie. Prinzessin Juliet… Ihr seid die einzige Überlebende der Capulets! Eine schwere Bürde lastet auf Euch!“, endete Conrad und wir drehten uns um. Viele Menschen hatten sich hinter uns versammelt, ich schätzte ihre Anzahl auf über fünfzehn. „Wer sind diese Menschen?“, fragte die Rothaarige beinahe verängstigt, doch alle fingen an, vor ihr niederzuknien. „Wir grüßen Eure Hoheit Juliet Fiammata Asto Capulet!“, riefen alle im Chor, in diesem Moment setzte heftiger Regen ein. Und auch an meinem zweiten Abend in dieser Welt wurde ich durchnässt. Na ganz toll! Dennoch kniete ich ebenso ruhig da wie die anderen auch. Es war seltsam, sich vor jemandem zu verbeugen. Ungewohnt. Ganz so als ob… ich demjenigen mein Leben in die Hände legen würde, ihm voll und ganz vertraute, denn ich zeigte Juliet meinen Nacken, die wohl verwundbarste Stelle des Körpers. Danach… Stille, bevor Conrad erneut das Wort ergriff und wir uns alle wieder erhoben. „Zuerst… ermordeten sie Euren Vater, das Familienoberhaupt der Capulets. Wir, die wir das Blutvergießen vor 14 Jahren knapp überlebten, schworen uns, Euch, Prinzessin Juliet, vor den Montagues zu retten. So seid Ihr nun die Letzte, in deren Adern noch das Blut der Capulets fließt. Wir schmiedeten den Plan, uns an Eurem sechzehnten Geburtstag hier zu versammeln, denn Ihr habt ein Recht einzufordern! Ihr allein könnt aufgrund Eurer hohen Geburt Montague herausfordern.“ Conrad zog ein Schwert hervor, welches behutsam in weißes Tuch eingebunden war. „Das hier ist für Euch. Dieses Schwert haben die Capulets von Generation zu Generation weitervererbt. Nehmt es als Andenken an Euren Vater!“ Juliets Augen weiteten sich. „Das ist… von meinem Vater?“, hauchte sie und nahm das Schwert entgegen, ganz vorsichtig zog sie es ein Stück aus der Scheide und betrachtete das Familienwappen darauf, ihr Wappen. Eine weiße Iris. „Hiermit schwören wir gemeinsam, den Duce Montague zu schlagen um die Stadt Neo Verona für uns zurückzuerobern!“, rief Conrad laut. „Tod den Montagues!“, schrien die Überlebenden der Diener. Ich spürte, wie viel Hoffnung sie in die Capulet-Prinzessin zu setzen schienen. Ich blickte zu ihr und sah, wie sie plötzlich schwankte. „Juliet!“, entfuhr es mir und schnellte vor, um sie aufzufangen. Sie glitt in meine Arme. Ich hätte nie gedacht, dass sie so leicht war. „Prinzessin Juliet!“ „Schlagt die Augen auf!“, riefen die Menschen um mich herum verzweifelt.   „Und dann ist sie umgekippt?“, fragte Shakespeare und Watanuki nickte. „Das war sicherlich sehr anstrengend für sie und ein Schock. Sie hatte keine Ahnung, dass sie die letzte Überlebende der Capulets ist. Das muss sehr schwer für sie sein. Und wenn sie erst erfahren wird, dass Romeo der Sohn des Mörders ist, der ihre ganze Familie ausgelöscht hat…“, sagte Watanuki und schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu verscheuchen. „Mal langsam mit den jungen Ryubas. Sie wird es wohl irgendwann erfahren, da bin ich mir relativ sicher. Aber vielleicht liebt sie ihn ja so sehr, dass es ihr nichts ausmachen wird?“ „Nichts ausmacht?“, wiederholte der junge Japaner entsetzt, „So was ist doch schrecklich! Wie könnte sie es einfach übergehen? Es wird ihr das Herz brechen!“ „Das würde ich nicht sagen. Du kannst es ihr ja sagen, Watanuki, dann wissen wir es“, schlug William vor. „Ganz sicher nicht!“, brüllte der junge Mann, doch der Dichter winkte beruhigend ab. „Nicht so laut. Die Wände im Mittelalter sind noch nicht sonderlich schalldicht.“ „Sagt der, der selbst noch fast im Mittelalter lebt!“, erwiderte Watanuki und William lachte. „Deswegen weiß ich es doch. Ich spreche aus Erfahrung!“   „Erfahrung, Erfahrung… dass ich nicht lache!“, fluchte ich auf dem Weg in mein Zimmer. Ich musste unbedingt aus diesen nassen Sachen raus. Dringend! Ich zog mich um und trocknete mich ab. Als ich zum Fenster hinaussah, regnete es immer noch. „Und der Himmel weint, weil er sich an das Drama vor 14 Jahren erinnerte, was? Das würde Willy jetzt zumindest sagen…“, flüsterte ich und trat aus meinem Zimmer hinaus, wo ich auf Cordelia traf. „Wie geht es Juliet?“, fragte ich. „Sie hat gebadet und ist jetzt auf ihr Zimmer gegangen. Sie kann sich wieder an diesen schrecklichen Tag erinnern.“ „Ich werde zu ihr gehen und ihr einen Tee bringen“, schlug ich vor und Cordelia sah mich müde an. „Das würdest du tun? Vielen Dank! Dann kann ich nach diesem langen Tag nun auch schlafen gehen!“ „Na klar, gute Nacht!“, wünschte ich ihr und setzte in der Küche einen heißen Tee auf, den ich auf ein Tablett verfrachtete. Ich klopfte kurz an, bevor ich eintrat. „Juliet? Ich bin’s, Watanuki! Ich bringe dir nur einen Tee vorbei!“ „Mmh“, hörte ich von oben und ging die paar Stufen zu Juliets Schlafgemach hoch. Sie lag schon im Bett und ihre klaren rötlichen Augen sahen mich an. „Hier… damit du dich wieder aufwärmst und besser fühlst!“, sagte ich und schenkte ihr ein. „Wusstest du es, Watanuki? Wusstest du, wer ich bin?“ „Ja… ich wusste es!“, seufzte ich und reichte ihr die Tasse, welche sie dankend annahm. „Schlaf erst mal eine Nacht darüber, morgen sieht die Welt bestimmt wieder ganz anders aus!“ „Weißt du eigentlich, Watanuki, dass deine Worte sich irgendwie so anhören, als ob du Recht behalten wirst?“, fragte Juliet und ich sah sie überrascht an. „Wirklich?“, hakte ich nach und sie nickte. „Ja, du klingst so zuversichtlich. Du kannst die Menschen um dich herum wirklich gut trösten!“ „Das freut mich! Ich wünsche dir eine gute Nacht, Juliet. Wenn du Probleme haben solltest, du weißt, dass mein Schlafzimmer direkt neben deinem liegt. Du kannst jederzeit kommen, wenn du reden möchtest“, bot ich ihr an und erhob mich. Ich spürte, wie meine Hand festgehalten wurde. „Danke, Watanuki. Vielen Dank!“   „Der Lebensbaum Escalus wird verdorren… es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Tragödie ihren Lauf nimmt. Der Baum kann nicht von Habsucht gehalten werden… Er wird es nicht schaffen… niemals… Er wird… sterben!“ Der dicke Ast, auf dem ich lag, war warm und weich, ich seufzte zufrieden. Ruhe um mich herum. Der Baum war wunderschön. Er leuchtete hell, sein Stamm war dick und stabil. Seine Äste hingen voller grüner Blätter und daran wiederum hingen große Lampionblumen, die mich doch sehr an den Umzug der hundert Geister erinnerten. Waren das die Früchte des Baumes? Einige der Lampionblumen trennten sich von dem lebenserhaltenden Baum, verfärbten sich schwarz und landeten im Wasser, in welchem die gigantische Pflanze stand. Ich drehte meinen Kopf ein wenig, beobachtete die Wellen, welche der Fremdkörper im Wasser ausgelöst hatte. Kreisförmig wurden sie immer größer und größer, bis sie schließlich verschwanden. Und die Lampionblume… ging unter… Plötzlich wurde meine Unterlage eiskalt und als ich hinabsah, bemerkte ich, dass der Ast unter mir ebenfalls schwarz geworden war. Dieses Phänomen zog sich den kompletten Baum entlang, bis dieser schließlich sämtliche Früchte und Blätter abwarf und vollends verdorrte. Der Boden unter mir erbebte. „Das Ende von Escalus bedeutet das Ende der Welt…“ Schreie. Schreie von Menschen ließen mich aufhorchen. Angstschreie, Todesschreie. „Was geschieht hier nur?“, fragte ich mich laut, dann verschwand der Ast unter mir und ich stürzte schreiend in die Tiefe.   Ich wachte schweißgebadet auf, es war noch dunkel um mich herum. Schon wieder dieser Traum… Immer wieder träumte ich von diesem eigenartigen Baum. Aber was hatte das nur zu bedeuten? Ich fasste mir an die Stirn, welche schweißnass war. Gab es diesen Baum wirklich? War er denn wichtig? Unruhig wälzte ich mich den Rest der Nacht herum. Es ließ mich einfach nicht los, dieses seltsame Gefühl…   „Guten Morgen!“, begrüßte mich Cordelia, als ich mehr schlafend als wach in die Küche geschlurft kam, um ihr beim Frühstück machen zu helfen. „Morgen“, krächzte ich und klammerte mich verzweifelt an einen Topf, der gerade darauf wartete, gespült zu werden und irgendwie schien er laut und deutlich: „WATANUKI!“ zu brüllen. Vielleicht träumte ich aber auch noch… „Du siehst aber gar nicht gut aus! Hast du schlecht geschlafen?“, wollte Cordelia wissen und ich grinste gequält. „So, kann man es irgendwie ausdrücken. Ich habe schlecht geträumt.“ „Oh. Na dann, gehen wir den Tag heute etwas langsamer an!“ Versuchen würde ich es zumindest. Aber mein Gefühl sagte mir, dass dem nicht so sein würde… Und ich behielt Recht: Als wir beim Frühstück saßen, richtete Conrad das Wort an mich: „Watanuki, da du die Aufgabe hast, Juliet zu beschützen, brauchen wir eine wichtige Information von dir!“ Ich erstarrte, mein Löffel blieb mitten in der Luft stehen, gerade auf dem Weg zu meinem Mund. Jetzt würde das passieren, wovor ich mich gefürchtet hatte! William hatte laut herumposaunt, dass ich allerlei Infos über das Schloss der Montagues hatte - und nun forderten sie Beweise!! „Kannst du ein Ryuba reiten?“, fragte Conrad, jetzt musste ich aufpassen, meinen Löffel nicht ganz fallen zu lassen. „R… Reiten? I… Ich?“, stotterte ich verdattert. „In unserem Land sind Ryubas an der Tagesordnung. Sie sind ein wichtiges Fortbewegungsmittel und wir werden sie des Öfteren nötig haben. Also? Kannst du reiten?“   Und so kam es, dass ich mich im Freien wiederfand. Genauer gesagt, auf dem großen Flachdach des Theaters. „Pass gut auf, Watanuki.“ Francesco stand vor mir. Lange, blonde Haare kennzeichneten ihn, ich schaute abwechselnd misstrauisch zu ihm und dann wieder zu dem braunen Ryuba, welches brav neben ihm stand. William hatte mir erklärt, dass man diese fliegenden Pferde so nannte und sie in dieser Welt als Zugtiere oder aber auch als Flugtiere benutzt wurden und meist nur Adligen oder reichen Leuten vorbehalten waren. „Wenn wir diese Tiere hier reiten können, gehören uns damit die Lüfte! Und die Frauen auch… Es sind tolle Wesen!“ Na ganz toll… Vier Beine und auch noch Flügel… Die Viecher waren ja noch gefährlicher als Mokona!! Und ich sprach aus Erfahrung… Mokona konnte einige unheimliche Dinge tun: Beispielweise die Überreste von Geistern verputzen. Aber davon abgesehen, konnte dieser kleine, schwarze Kloß nicht nur Geister, sondern auch Unmengen an Essen und Sake verspeisen. Ich gab es zu: Meine Gedanken schweiften in diesem Augenblick ein wenig vom Thema ab. Wahrscheinlich, damit ich die Realität verdrängen konnte. Genau! Das nannte man „Schutzmechanismus des Körpers“! Das war reiner Selbsterhaltungstrieb!! „Du setzt dich drauf und nimmst die Zügel auf… Rupf ihr aber bloß keine Federn aus, das mag sie gar nicht!“ „Na klasse. Das schreib ich mir gleich auf meine Bloß-Nicht-Tun-Liste!“, schwor ich und er sah mich etwas verwirrt an. „Du machst dir eine Liste?“, hakte er verwirrt nach und ich winkte ab. „Gedanklich ja“, antwortete ich unsicher. Die Federn an den gigantischen Flügeln waren lang und vor allem zahlreich. Ich streichelte vorsichtig darüber. Sie waren samtig weich. Die Stute wieherte und blickte mit ihren dunkelbraunen Augen zu mir zurück. „Also, setz dich mal drauf“, befahl Francesco und ich trat näher an das Ryuba heran. „Sie beißt dich schon nicht, wir haben dir das Zahmste herausgesucht!“, merkte Curio an, welcher von hinten an uns herangetreten war. Mühsam kletterte ich auf das Tier hinauf. Noch niemals war ich auf einem Pferd geritten, geschweige denn auf einem Ryuba. „Genau so, jetzt nimmst du die Zügel und ziehst es in die Richtung, in die du willst, dabei musst du es etwas mit deinen Schenkeln antreiben“, erklärte Francesco und ich gehorchte, indem ich vorsichtig am rechten Zügel zog und meine Fersen etwas an den Bauch des Tieres drückte. Das Ryuba flatterte auf einmal mit den Flügeln. „Nein! Stopp! Ich vergaß zu erwähnen, dass du es abwechselnd tun musst. Wenn du mit beiden Fersen gleichzeitig treibst, befiehlst du ihm zu fliegen!“, rief Francesco und hielt die Ryubastute am Halfter fest. „Na ganz toll! Danke für die Vorabinformation!“, rief ich ironisch und Francesco grinste. „Reite einfach mal über das Dach, dann sehen wir weiter!“, befahl nun Curio und ich tat wie mir geheißen. Dieser Unterricht kam mir fast wie eine ganz schlimme Prüfung vor. Ich lenkte die Ryubastute über die komplette Fläche des Dachs und wieder zurück, immer mal linksherum und rechtsherum, mal schneller, mal langsamer. „Sehr gut! Jetzt probiere mal zu fliegen! Da ist es fast dasselbe! Du musst es fühlen!“, rief Curio und ich blickte genervt über meine Schulter. Warum wollten alle von mir, dass ich fühlte? War ich etwa ein so gefühlsloser Brocken? Dann wäre ich ja wie Domeki… Geknickt ließ ich den Kopf hängen. Nein! Ich wollte nicht so sein wie der! Entschlossen gab ich mit beiden Beinen Schenkeldruck und das Ryuba schlug erneut mit den Flügeln. Mit einem Gefühl, als würde mir der Magen in meine Darmgegend rutschen spürte ich, wie wir den sicheren Boden verließen und uns in die Lüfte erhoben. „Gut, Watanuki! Und jetzt ganz ruhig sitzenbleiben!“ Das war leichter gesagt als getan. Wenn ich nach links lenkte, neigte sich das Ryuba in die von mir gewünschte Richtung, woran ich mich ebenfalls erst noch gewöhnen musste. Wir stiegen immer höher. Bei jedem Flügelschlag sanken wir ein kleines Stück tiefer, bevor wir hochkamen, aber es fühlte sich toll an. Die Morgenluft rauschte an meinen Ohren vorbei, hier oben war ich allein… und ich war frei! Ich hatte das Gefühl, sämtliche Probleme hinter mir gelassen zu haben, mitsamt der Anziehungskraft. Das Fliegen ließ mich meine Albträume von letzter Nacht vergessen, ebenso wie meine triste, elternlose Vergangenheit… Ich konnte keine Geister mehr sehen, ich war nicht mehr allein, das Ryuba war bei mir, ich hatte keinerlei Verpflichtungen mehr, hier in der Luft war ich mein eigener Herr, ich bestimmte, wohin ich wollte, wie hoch ich flog, wie schnell ich durch die Luft glitt. Das Ryuba und ich waren eins. Ich spürte die kräftigen Flügelschläge, die Beine, welche sich noch ein wenig mitbewegten, um die Geschwindigkeit zu halten und den Luftstrom zu kontrollieren, der lange Schwanz, welcher das Gleichgewicht regulierte und unseren Flug ausbalancierte, der Kopf, welcher die Umgebung nach Hindernissen absuchte, die wehende Mähne, welche mir die rostbraunen Haare der Stute ins Gesicht trieb und es sanft streichelten. Warum hatte ich das nicht schon früher ausprobiert? Es war viel entspannender als der Flug auf dem riesigen Vogel zusammen mit Mokona, wo wir Zashiki Warashi und ihren Rabenkobolden hinterhergejagt waren. Dieses Flugtier wurde schließlich nebenbei angemerkt auch nicht von Mokona gelenkt, sondern ganz allein von mir. Als das Ryuba noch an Geschwindigkeit zulegte und ich in einen Sturzflug glitt, schrie ich begeistert: „Juhuuuuuuu!“ Mein Herz schien mir bald aus der Brust zu springen, so wild schlug es, Adrenalin wurde vermutlich gerade in Massen ausgeschüttet, doch ich fühlte mich fantastisch! Ich flog über die Stadt, bis vor mir das riesige Schloss auftauchte, welches mich wieder in die Realität zurückbrachte und meine Sorglosigkeit wieder verdrängte: Hier wohnte der Duce Montague… der Mörder von Juliets Familie… und momentaner Tyrann von Neo Verona. Mit einem unruhigen Laut seitens meines Ryubas kehrte ich um. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich das riesige Haus mit dem Theater wiedergefunden hatte und erneut gelandet war. Meine Müdigkeit war wie weggeblasen. Heute hatte ich wohl den schönsten Traum erlebt, den ein Mensch nur träumen konnte: Und zwar den der völligen Freiheit!! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)