Die Magie der Worte von Feuerblut ================================================================================ Akt 6: Der Tod des Roten Wirbelwinds ------------------------------------ Manchmal kann man anderen Menschen nur helfen, wenn man sich selbst opfert. Doch so ein Opfer muss wohlbedacht werden! Verletzt man damit nicht seine Freunde? Seine Familie? Wie sollen die Hinterbliebenen mit diesem Schmerz in ihrem Herzen weiterleben? Muss ein Opfer wahrlich zum Tode führen? Manch einer sagt, in einem Kampf muss es Opfer geben, um zum Ziel zu gelangen. Doch ist das Ziel wirklich schon so gefährdet, dass solch eine Tragödie notwendig wird? Mit flammender Entschlossenheit gibt er sein Leben für die weiße Blume Iris dahin. Das glühende Blut hat die steinerne Traurigkeit zu einem lodernden Feuer entfacht. Denn der Wind der Hoffnung wird weiter durch die Straßen Neo Veronas wehen, solange die weiße Iris in voller Blüte steht… wird es immer einen neuen Wind der Hoffnung geben!   Ich fühlte mich wie auf Wolke sieben, hatte die beste Laune, die man überhaupt nur haben konnte. Dieser Flug war einfach alles für mich gewesen. Ich würde es jederzeit wiederholen wollen. Francesco und Curio waren sehr zufrieden mit mir, sie sagten, noch ein wenig Übung und ich konnte das Ryuba perfekt reiten. Sie bezeichneten mich außerdem noch als Naturtalent, da ich das Fliegen so schnell gemeistert hatte. Als ich gerade auf dem Weg nach unten war, um William von meinem Ritt zu berichten, kam mir der Dichter schon entgegen gestürmt: „Watanuki! Es gibt schlimme Neuigkeiten!“ „Welche denn?“, fragte ich verwirrt, meine gute Laune bekam bei seinem panischen Ton einen Dämpfer. „Lanzelot, Juliets Arzt, wurde gefangengenommen! Es gab anscheinend Hinweise, dass er mit dem Roten Wirbelwind in Kontakt stand und er wird nun von den Wachen im Gefängnisturm verhört!“, berichtete der Dichter und meine Augen weiteten sich. „Sag es Juliet! Schnell! Sie muss es wissen!“ Ich nickte, kehrte auf dem Absatz herum und stürmte die Treppen empor. Wir mussten etwas tun, sofort! Wenn das stimmen sollte, was ich über Montague schon so alles gehört hatte, dann war es nicht gut, wenn man sein Gefangener wurde dann war es nicht gut, sein Gefangener zu sein, und erst recht nicht, wenn man etwas mit dem Roten Wirbelwind zu tun hatte, dem Störenfried, welcher ihm ein ganz besonderer Dorn im Auge war. Als ich vor Juliets Kammer angekommen war, hämmerte ich gegen ihre Tür. „Mach auf, ich bin’s Watanuki!“, rief ich hektisch. Es verstrich nicht viel Zeit, bis die rothaarige Capulet mir den Eingang öffnete. „Was gibt’s denn so Wichtiges?“, wollte sie wissen. „Dein Arzt wurde festgenommen!“, berichtete ich und ihre Augen weiteten sich entsetzt. Wir beide rannten an der Küche vorbei, wo Cordelia hastig fragte: „Juliet, wo wollt ihr hin?“ Ihre Rufe ignorierten wir, dafür war die Zeit zu kostbar. Der Weg war nicht sonderlich weit, wir stürmten durch die Straßen, ich hatte meine Erscheinung durch einen Mantel mit Kapuze versteckt, da ich mich in Neo Verona noch sehen lassen wollte. Juliet war als Roter Wirbelwind genug getarnt. Wir überrumpelten die Wachen am Eingang und fanden heraus, dass sich der Arzt Lanzelot im vorletzten Stockwerk des Turms befand, und eilten die Treppen hoch. Wir waren noch nicht ganz oben, da konnte ich bereits die Stimme der Wache hören: „Ich frage dich zum letzten Mal: Wo ist der Rote Wirbelwind?“ Juliet trennte sich von mir und sprang durch das Dach in die Zelle. Ich konnte ihre Worte deutlich hören: „Ha! Wie ihr seht, bin ich schon hier! Ist dir etwas gescheh'n?“ „Es geht schon“, antwortete der Gefolterte. „Na endlich zeigst du dich, Roter Wirbelwind! Nehmt ihn fest!“, befahl die Wache von eben. „Jawohl!“, antwortete ein zweiter Wächter und ich stieß die Zellentür auf. Juliet hatte mir ein Schwert gegeben, auch wenn ich nicht wusste, ob ich damit umgehen konnte. Wir mussten den Arzt retten, wir beide allein! Zusammen schlugen wir die drei Wachen nieder, welche sich im Raum befanden. Was mich besonders erleichterte war, dass ich Juliet nicht im Weg stand, im Gegenteil: Ich half ihr sogar, indem ich eine der drei Wachen gegen eine Bank stieß und diese gequält ächzend zu Boden sank. Gemeinsam halfen wir Lanzelot aus der Zelle. Er war verletzt und konnte kaum laufen. Da wir von unten weitere Wachen herannahen hörten, flüchteten wir nach oben auf das Dach. „Er flieht schon wieder! Folgt ihm!“, schrie ein weiterer Wächter, dann tauchten plötzlich neben uns zwei weitere Männer auf, die uns mit Schwertern bedrohten und ihre Kameraden herbeirufen wollten: „Ich hab ihn. Der Wirbelwind ist hier!“ „Ihr müsst allein fliehen. Es sind zu viele! Lasst mich hier liegen!“, sagte Lanzelot schwach. „Kommt gar nicht in Frage! Wir sind gekommen, um dich zu retten!“, antwortete Juliet. „Du bist die Hoffnung dieser Stadt. Dir darf nichts geschehen, Roter Wirbelwind!“ „Das wird es auch nicht!!“, versicherte ihm Juliet entschlossen. Ich holte mit dem Schwert aus. „Geht ihr voraus! Ich komme nach!“, ordnete ich an und die Capulet-Tochter gehorchte mir. Es war nicht sonderlich schwer die Wachen abzuschütteln. Ich trieb sie auf einen engen Steg hinaus und stieß sie hinunter. Die würden uns keinen Ärger mehr machen. Ein paar Probleme weniger. Ich stürmte die Treppen nach oben, ich schmeckte meinen eigenen Schweiß auf den Lippen und legte dennoch einen Zahn zu, als ich die Rufe der Wachen vernahm, welche Juliet und Lanzelot galten: „Jetzt bist du in der Falle!“ „Sprich dein letztes Gebet!“ „Diesmal entkommst du uns nicht!“ „Bleib hinter mir, Lanzelot!!“, befahl der Rote Wirbelwind. Ich schlich mich unbemerkt auf das Dach und erfasste sofort die Situation: Juliet war mit Lanzelot in die Ecke der Brüstung gedrängt worden und sechs Wachen bedrohten sie. In diesem Moment wieherte ein Ryuba. Ich sah zum Himmel empor, meine Brust hob und senkte sich erschöpft, es waren doch einige Stufen gewesen. Da oben war ja… Romeo! „Was ist denn da unten los?“, rief der junge Mann auf seinem fliegenden Pferd. Die Wachen und traten etwas zurück, als das Ryuba landete. „Was geht hier vor?“, fragte der Sohn der Montagues fordernd. „Romeo...“, flüsterte Juliet, als ihr Geliebter vom Pferd stieg. „Der Rote Wirbelwind, den wir schon so lange suchen, ist endlich gestellt. Wir werden ihn gefangen nehmen und dem Duce vorführen.“ Ich starrte ihn an. Würde er Juliet jetzt gefangen nehmen lassen? Und selbst wenn Juliet wusste, was sie für ein Schicksal erwartete… würde sie sich gegen Romeo wehren? Meine Augen weiteten sich vor Angst. Ich konnte die Situation so schwer einschätzen. Was sollte ich tun? „Ich rieche den Duft der Irisblüte...“, hauchte Romeo und ich holte prüfend Luft und konzentrierte mich auf meinen Geruchsinn. Er hatte Recht!! Romeo wandte sich an eine Wache: „Gib mir dein Schwert! Ich übernehme die Pflicht selbst. Ich liefere ihn aus.“ In diesem Moment hob ich mein Schwert erneut und stellte mich neben Juliet. „Dann hast du von nun an zwei Gegner! Ich werde nicht zulassen, dass du Hand an den Roten Wirbelwind legst!“, sagte ich fast schon philosophisch und riss mir den Umhang hinunter, welcher mich nur störte. Romeo nahm der Wache das Schwert ab. Selbst der Wächter schien mit dem ganzen Geschehen nicht einverstanden zu sein: „Aber... Hoher Herr... wir wollten...“ Doch der junge Mann hörte ihn nicht an, sondern stürmte stattdessen auf Juliet und mich zu. „Los geht’s, du Wirbelwind!“, rief er und die Schwerter der beiden krachten unermüdlich aufeinander. Auch ich mischte mich in den Kampf ein, aber Juliet drängte mich zurück. „Achte auf Lancelot!“, sprach sie und knirschte angestrengt mit den Zähnen. „Am Fuße des Turms ist ein Kanal. Wir tun nur so, als ob wir kämpfen und dann springen wir hinunter“, hörte ich Romeo leise sagen, als die Schwerter erneut aufeinandertrafen. „Ich versteh nicht!“, flüsterte Juliet kaum hörbar. „Los jetzt!“, hauchte der Montague-Sohn und zog Juliet mit sich, diese wiederum griff nach meinem Arm und ich hatte Lanzelot bei der Hand genommen. Zu viert stürzten wir die Brüstung hinunter. Ich spürte, wie ich fiel, immer weiter und weiter… bis ich erneute Bekanntschaft mit dem kalten Wasser dieser Welt machte. Irgendwie bekam ich hier wirklich viel zu oft ein unerwünschtes Bad… Die Strömung riss uns eine Weile mit, doch wir konnten uns an das rettende Ufer klammern und wurden nicht weiter weggeschwemmt. Ächzend hoben wir uns an Land. „Schon wieder habe ich mein Leben für dich riskiert! Das war das letzte Mal! Ich bin heilfroh, dass es funktioniert hat“, beschwerte sich der Montague-Sohn und schien es wirklich ernst zu meinen. „Ihr habt diesmal unser aller Leben gerettet“, korrigierte Juliet ihn. „Könntest du dich denn vielleicht diesmal bedanken?“, fragte Romeo. Lanzelot neben mir regte sich ein wenig und setzte sich auf. „Wenn das kein Schicksal ist... Ausgerechnet Montagues Sprössling rettet unseren Roten Wirbelwind“, sagte der Arzt ironisch schmunzelnd und Juliet erschrak sichtlich. Lanzelot erklärte weiter: „Das ist Romeo Candore Bando Montague.“ Bei der Erwähnung seines Namens ließ der Angesprochene ein wenig den Kopf sinken. Juliet schien nach Fassung zu ringen, bevor sie ungläubig fragte: „Ihr seid... ein Montague?“ „Sagt bitte niemanden, dass ich Euch gerettet habe und passt besser auf Euch auf. Ich weiß nicht, ob ich es nochmal tun kann“, sprach Romeo mehr abweisend als freundlich und ging ohne ein weiteres Wort von dannen. Ich fühlte mich wie am Boden festgewachsen. Ich hatte gewusst, dass er der Sohn des Tyrannen Montague war. Und Shakespeare hatte vermutet, dass Juliet es irgendwann erfahren würde, doch sie schien es wahrlich sehr getroffen zu haben. „Oh mein Gott!“, flüsterte sie und brach zusammen. „Was hast du? Ist dir nicht gut?“, fragte Lanzelot und ich eilte zu Juliet und stützte sie an den Schultern. „Juliet!“, redete ich eindringlich auf sie ein. „Romeo... ist der Sohn vom Duce Montague!“, murmelte sie weiter und starrte wie betäubt in den Kanal.   „Du hast dich in ihn verliebt, nicht wahr?“, fragte ich, als wir in ihrem Zimmer saßen, beide umgezogen und mit einer Tasse Tee in den Händen. Juliet hatte sich eine ganz schöne Predigt von Conrad anhören müssen, als wir zurückgekehrt waren. „Ja… Aber du musst mir versprechen nichts zu sagen, ja?“, bat Juliet und ich nickte. „Versprochen“, sagte ich und sie räusperte sich leise. „Ich kann nicht mit ihm zusammen sein, er ist ein Montague! Ich… weiß einfach nicht, was ich denken oder tun soll… ich bin so verwirrt!“ „Es ist schwierig. Aber das muss dein Herz entscheiden, liebe Juliet! Ich… kann dir dabei nicht helfen. Ich lasse dich jetzt mal allein, weil ich glaube… damit musst du selbst klarkommen!“ Ich erhob mich und wünschte ihr noch eine gute Nacht, bevor ich das Zimmer verließ. Nachdem ich William meinen heutigen, eher traurigen Bericht erstattet hatte und er mich wieder mit einigen Worten gehen ließ, die mich zum Nachdenken anregten, stand ich schlussendlich vor meinem Fenster und betrachtete den Vollmond. „Mir scheint, als würde der Mond weinen…“, flüsterte ich leise, danach ging ich zu Bett.   Der nächste Tag verlief relativ unspektakulär: Ich half Cordelia die Wäsche zu waschen und das Essen zuzubereiten. Allerdings ließ Juliet niemanden an sich heran und hatte sich die ganze Zeit über in ihrem Zimmer verkrochen. Das bereitete mir etwas Sorge, wusste ich doch um den Grund. Sogar Cordelia hatte sie heute eiskalt abgewiesen. Niemand konnte mit ihr reden. Als es schon Nacht war und alle zu Bett gegangen waren, klopfte ich leise an ihre Tür und öffnete sie einen Spalt weit, damit sie mich hören konnte. „Juliet? Es ist bereits Nacht, du hast dich den ganzen Tag über nicht blicken lassen… Verlässt du dein Zimmer denn gar nicht mehr? Hör mal… ich habe dir eine Suppe gekocht! Dort, wo ich herkomme, sind sie alle ganz verrückt danach… Probier doch einen Bissen! Das wird dir deine Sorgen ein wenig erträglicher machen, da bin ich ganz sicher! Ich möchte dich nicht weiter stören, eine gute Nacht und gute Besserung!!“, sagte ich leise und stellte den Teller mit Suppe neben die offene Tür. „Hab vielen Dank, Watanuki…“, hörte ich Juliet seufzen, dann schloss ich den Durchgang und ging zu Bett. Meine Gedanken waren bei Romeo, welchen Juliet aufgrund der Ereignisse versetzt hatte. Ob der junge Mann wohl lange auf sie gewartet hatte?   William war an diesem Morgen früh unterwegs. Er wollte noch einige Szenen seines Stückes umschreiben und war auf dem Weg in den Theatersaal. Er stieß die Tür zum Foyer auf und sah eine ihm bekannte Person, welche in einen Umhang gehüllt war und ganz offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, um diese Uhrzeit jemandem zu begegnen. „Sieh einer an! Wenn das nicht unser Odin ist, der schick angezogen ausgeht!“, sagte er und drückte das Buch mit seinen Aufzeichnungen dichter an sich. „Hallo Willy“, antwortete die Angesprochene so gar nicht begeistert ihn zu sehen. „Nanu...? Du ziehst ja heute ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Ich weiß schon: Du hast Liebeskummer, hab ich Recht?“ Ertappt blickte Juliet auf. „Nein, hab ich nicht! Wie kommst du darauf?“ „Ich kann so was erkennen. Aber keine Sorge. Es gibt keinen Nebel, der sich nicht auch irgendwann einmal wieder lichtet. Mit Liebeskummer ist es genauso. Er vergeht wieder“, sprach er weise und sein Gegenüber seufzte. „Ich bitte dich, Willy. Sag niemanden, dass ich ausgegangen bin. Es darf keiner wissen!“, bat sie ihn mit gesenktem Kopf und der Dichter schien kurz zu überlegen, bevor er beiseitetrat: „Geh! Triff dich mit deiner Liebe! Wie es euch gefällt, sag ich immer.“ „Habt vielen Dank!“, entgegnete Juliet und verschwand aus dem Haus. Der Dichter hatte nun nicht mehr die Absicht, in den Theatersaal zu gehen. Im Gegenteil, er machte sich sofort auf den Weg in die geheime Wohnung und kam unangekündigt in Watanukis Zimmer hereinspaziert, welcher noch selig am Schlafen war. Die Betonung lag auf „war“. „Watanuki! Aufstehen, du Schlafmütze! Juliet ist ganz allein auf dem Weg zum Friedhof! Jetzt wach doch endlich auf!“ Nach Shakespeares Besuch war er es nicht mehr…   „Ich glaub es nicht! Jetzt weckt mich dieser verrückte Mann auch noch so früh am Tag und schickt mich auf Erkundungstour!“, gähnte ich und schlurfte müde Richtung Friedhof. Aber es war noch nicht schlimm genug: Ich musste den Weg auch noch laufen. Ohne Kutsche war er wirklich weit. Der Morgen strich mit nebligen und kühlen Fingern über das Land. Ich hatte mich in meiner Eile jedoch sehr warm angezogen, weil William das gesagt hatte. Ich streckte mich ausgiebig beim Laufen und führte wie immer Selbstgespräche: „Irgendwie kaufe ich ihm einfach nicht ab, dass Juliet ihm erzählt haben soll, sie würde zum Friedhof gehen … Sie klang gestern Abend doch sehr deprimiert und abweisend… was sollte sie jetzt am Grab ihrer Eltern zu suchen haben?“, plapperte ich leise vor mich hin. Ein Quietschen erregte meine Aufmerksamkeit. Ich hob meinen Blick und sah, dass Juliet gerade das große Eisentor öffnete. Tatsächlich, sie ging zum Friedhof. Ich schlich mich hinterher, blieb ihr dicht auf den Fersen. Die Bäume waren kahl und überall lagen Überreste von Grabsteinen herum. Diese Ruhestätte war nur für die Familie der Montagues und Capulets gedacht, wobei alle Gräber von Juliets Familie geschändet worden waren. Und ich glaubte bereits zu wissen, wer dahintersteckte… „Oh, hier blüht ja auch Iris...“, bemerkte Juliet, beugte sich zu der vom Nebel nassen Wiese hinunter und pflückte eine. Sie roch daran und seufzte. „Romeo... Candore... Bando... Montague...“, flüsterte sie kaum hörbar, ließ dann ihren Kopf sinken und blickte auf die Iris in ihrer Hand. Danach schloss sie die Augen und sank mehr und mehr in sich zusammen, als würde sie Schmerzen haben. „Warum nur... muss mein geliebter Romeo ausgerechnet ein Montague sein? Wenn diese Blüte keinen Namen hätte, würde sie nicht genauso bezaubernden Duft verströmen?“ Ich musste schlucken. Sie hatte sich wirklich in ihn verliebt, sie schien sehr starke Gefühle für Romeo entwickelt zu haben. Aber… behielt Juliet nicht Recht mit ihren Worten? Ich schloss meine Augen für einen Moment. Ja, sie würden noch genauso riechen, auch, wenn sie keinen Namen hätten. Namen waren doch nur dazu da, damit Menschen etwas auseinanderhalten konnten. Aber die Welt konnte auf sie verzichten, denn sie waren nicht vonnöten. Juliet ging den restlichen Weg zum Grab ihrer Eltern und betrachtete die geschändete, graue Grabplatte. Sie kniete sich demütigend nieder, bevor sie erneut sprach: „Vater... Mutter... Ihr müsst mir verzeih‘n, mein Herz hat mich auf Abwege geführt. Ich liebe jemanden, den ich nicht lieben darf.“ Mitleid durchzuckte meine Gedanken. Sie tat mir so leid. Irgendwo hoffte ich, dass diese Version von Romeo und Julia ein besseres Ende nehmen würde als die Version, die ich kannte und lesen musste… Plötzlich wieherte ein Ryuba und ich erschrak, ebenso wie Juliet, die sich hastig erhob. Das Tier landete und zu meinem Überraschen stieg Romeo ab, welcher sich gerade mit seinem Gefährten unterhielt: „Ach so ist das. Du frisst gern Iris-Blüten. Und ich sehe sie mir gern an. Da haben wir was gemeinsam. Ach, was soll ich nur mit dir machen?“ „Da ist Romeo“, hauchte Juliet, ihre Augen verengten sich und sie schaute leidend zu Boden. Für einen Moment geschah gar nichts. Sie schien zu überlegen. Dann trat sie aus ihrem Versteck hervor, das Pferd des jungen Montague-Sohns bemerkte ihre Anwesenheit sofort. „Oh, Verzeihung. Wir wollten dich nicht stören“, entschuldigte sich Romeo, der dem Blick seines Haustieres gefolgt war. Er erkannte sie nicht, da die Capulet Tochter, wie meist auch, als Junge verkleidet war. „Das – ähm – tut Ihr auch nicht“, antwortete sie förmlich und zögernd. „Wir sind gleich wieder weg“, versicherte ihr Romeo. Doch sein Pferd schien ganz offenbar andere Pläne zu haben: Es lief direkt auf Juliet zu. „Na hör mal. Bleib steh‘n, Cielo!“, rief Romeo, doch sein Reittier gehorchte ihm nicht. „Was?“, fragte Odin leise, scheinbar verwirrt, aber nicht verängstigt. Cielo schnupperte an ihr. „Was will er?“, wollte sie wissen, nachdem sich das Tier vor ihr niedergekniet und auffordernd die Flügel eingezogen hatte. Romeo kicherte. „Er möchte, dass du auf ihm reitest.“ Die Angesprochene schaute sichtlich verdutzt drein. „Ich lade dich ein. Hast du Zeit eine Runde mit mir zu fliegen?“, erkundigte sich Romeo. Cielo schnaubte und spielte mit den Ohren, um die Worte seines Herrn noch zu unterstreichen. Juliet erschrak sichtlich. Ich fluchte innerlich. Wenn sie jetzt mit ihm ging, dann konnte ich ihr nicht mehr folgen. Andererseits… es war so schön, den beiden zuzusehen, wie sie sich immer wieder trafen und heute sogar einen kleinen Ausflug unternehmen wollten. Zumindest wenn es nach dem Ryuba ging. „Fliegen? Durch die Luft und so? Also, ich weiß nicht…“, meinte Juliet unsicher. „War nur ein Vorschlag. Du musst ja nicht mitkommen“, entgegnete Romeo. Juliet zögerte kurz. „Doch, ja!“, rang sie sich durch und musste ein wenig schmunzeln. „Ich versuch‘s gerne einmal“, fügte sie immer noch lächelnd hinzu. „Gut, das freut mich. Kennst du dich mit Ryubas aus?“, wollte er wissen. „Ein wenig“, gab Juliet zu. „Fein. Dann steig einfach auf.“ Cielo stupste Juliet auffordernd in den Rücken, welche sich schlussendlich geschlagen gab: „Ich hab schon verstanden. Ich komm ja mit!“ Juliet kletterte mit Romeos Hilfe auf Cielo. Ich überlegte, ob ich mich nun einmischen musste, oder ob es egal war, was nun passierte. Konnte ich es überhaupt verhindern? War ich dazu in der Lage? Ich hatte bisher doch eher die passive Rolle übernommen, anstatt mich willentlich in das Geschehen einzumischen. Romeo setzte sich hinter sie und nahm die Zügel auf. Die beiden waren doch sehr dicht beieinander und berührten sich, ihr Rücken lehnte an seiner Brust. „Verzeihung“, sagte Romeo. „Was ist denn?“, fragte Juliet leicht errötet. „Der Duft der Lilien hat mich verwirrt. Ach, ich verstehe. Du riechst auch nach Iris! Das mag Cielo. Stimmt's, du liebst den Duft der Iris genauso sehr wie ich? Hüh!“ Cielo gehorchte augenblicklich und erhob sich majestätisch in die Lüfte. Ich konnte noch sehen, wie der gewaltige Flügelschlag des Tieres einige Irisblüten über die Wiese segeln ließ, dann wurden die Reiter immer kleiner, bis sie ganz verschwanden. Ich seufzte lange. Diese Begegnung war irgendwie… so zufällig verlaufen. Hatten sie sich wirklich nur zufällig getroffen? Oder war es Schicksal gewesen? Irgendetwas sagte mir, dass auch dies unvermeidlich gewesen war… Auf meinem Rückweg fing es dann auch noch an zu regnen. Na toll. Und schon wieder wurde ich nass!! Was war das nur für eine feuchte Welt, in der ich da gelandet war?? Als ich zurückkehrte, bereitete ich mit Cordelia zusammen das Frühstück zu und sah zum Fenster hinaus, wo es immer noch in Strömen regnete. „Watanuki… du musst für mich nachher bitte noch Gemüse holen, ich habe keine Zeit, ich muss Brot backen! Eigentlich will ich dich ja ungern in diesen Regen schicken… aber vielleicht hat es bis dahin ja aufgehört?“ Ich hörte ihre Worte nur flüchtig, andere Gedanken schwirrten in meinem Kopf umher: Was Juliet und Romeo wohl gerade machten in diesem Regen? Ob sie wohl immer noch flogen?   Shakespeare war gerade damit beschäftigt Emilia bei den Proben zuzuschauen. Bald schon war die Premiere und es lief alles gut, zumindest mehr oder weniger. Seine Ohren waren mehr der Tür als der Schauspielerin gewidmet, da er besagten Gegenstand endlich ins Schloss fallen hören wollte. Es war schon früher Nachmittag. Endlich hörte der Blonde das lang ersehnte Geräusch und schlich sich zum Flur… „Ach, was soll ich nur tun? Nun weiß Romeo über mich Bescheid“, flüsterte Juliet leise, doch den feinen Ohren von William entgingen ihre Worte nicht. „Ahhhhh, da bist du ja, Odin!“, sagte er und die junge Frau erschrak sichtlich, wirkte aber dann doch erleichtert, als sie ihn erkannte: „Ach, du bist‘s, Willy.“ „Ja und wie! Und ein guter Beobachter bin ich noch dazu, mein Junge! Wo ist denn zum Beispiel dein Umhang geblieben?“, fragte der Dichter und hatte seinen Kopf zwischen dem roten Vorhang gesteckt, hinter welchem Emilia immer noch vor sich hin philosophierte, mit der Mühe es dem Autoren recht zu machen. Juliet druckste herum und William trat nun ganz in den Flur hinaus. „Und... wie lief denn deine Verabredung sonst so?“, bohrte er weiter. „Was für eine Verabredung?“, stellte die junge Frau die Gegenfrage, doch sie kam etwas schnell… „Beschwindle mich nicht. Ich höre dein pochendes Herz bis hierher. Es erzählt mir von Liebesfreuden und viel angenehmer Aufregung.“ Juliet erschrak, was William zum Kichern brachte: „Ich mach nur Spaß. Keine Angst!“ Juliet seufzte angespannt, offenbar nicht sicher, was sie nun sagen sollte. Wichtigtuerisch hob Shakespeare den rechten Zeigefinger: „Aber ich sag dir: Das Uhrwerk der Liebe ist von niemanden zu stoppen, wenn es einmal angefangen hat zu laufen. Ich wünsch dir jede Menge Liebesglut!“ Juliet holte angespannt Luft. „Liebesglut? Für mich?“, wiederholte sie und William verschwand wieder im Theatersaal. Allerdings hatte er nicht lange seine Ruhe, da Watanuki zurückkehrte.   „William! William! Es ist was Schreckliches passiert!“ Ich stoppte vor ihm und hielt mir die Rippen, ich war wirklich sehr schnell gerannt. Keuchend versuchte ich, wieder Luft zu bekommen. „Was ist denn passiert, Watanuki?“, fragte der Dichter und hatte seine Schreibfeder beiseitegelegt. „Die Bürger! Sie werden gefangen genommen, weil sie nach dem Roten Wirbelwind suchen. Jeder, der verdächtigt wird, wird von den Wachen verschleppt. Ich habe es gerade vom Gemüsehändler erfahren! Sie haben sogar eine Belohnung auf den Wirbelwind ausgesetzt!“  „Das ist wahrlich schrecklich…“, flüsterte William. „Juliet darf das nicht erfahren! Watanuki… du darfst es ihr nicht sagen! Versprich es mir!“ „In Ordnung!“, sagte ich. „Geh jetzt nach oben und verhalte dich ganz normal. Lenke Juliet am besten ab… sie darf in nächster Zeit nicht runter in die Stadt! Es wäre zu gefährlich!“ Der hatte leicht reden… Die Tochter der Capulets machte doch eh, was sie wollte! Ich ging nachdenklich nach oben. Wie konnte ich sie nur für einige Tage im Haus behalten? „Watanuki!“ Na toll, wenn man schon vom Teufel sprach… „Ja? Was gibt es denn?“, wollte ich wissen. Ihre Augen leuchteten so ungewohnt, das kannte ich gar nicht an ihr. War etwa zwischen ihr und Romeo etwas geschehen? „Komm mal bitte mit!“, bat sie und wir gingen auf ihr Zimmer. „Ich möchte, dass du mir das Nähen beibringst! Das kannst du doch, oder? Du bist schließlich ein Meister in der Hausarbeit!“ „Ja, in der Hausarbeit, aber Handarbeit ist jetzt eher nicht so mein Fachgebiet…“ „Ach bitte, Watanuki, bitte!“ „Also schön…“, gab ich nach. „Was möchtest du denn nähen?“ „Ein Hemd!“, sagte sie entschlossen und sah mich dabei so wunderbar naiv an. „Ein Hemd?!?!?!“ Ich fiel beinahe aus allen Wolken. „Das ist viel zu kompliziert für den Anfang. Wie wär’s, du übst dich erst einmal im Sticken? Zum Beispiel von einem Taschentuch? Wäre das etwas für den Anfang?“ „Okay, in Ordnung…“, meinte Juliet einlenkend und ich holte mit einem Seufzen das Kästchen mit den Nadeln und dem Garn aus dem Nebenzimmer. William hatte gesagt, dass ich sie ablenken sollte. Ich wusste zwar nicht genau, was zwischen ihr und Romeo vorgefallen war, aber es musste etwas sein, was sie sehr glücklich gemacht und irgendwie zum Sticken veranlasst hatte. Also… brachte ich es ihr bei und hielt sie damit erfolgreich zwei Tage bei der Stange, oder besser gesagt, im Haus. Ich prüfte ihre Fortschritte regelmäßig und korrigierte sie wenn nötig. Juliet legte einen Eifer an den Tag, der mich staunen ließ. So kannte ich sie gar nicht… Am dritten Tag klopfte ich an ihrer Tür. „Ich bin‘s, Watanuki. Darf ich reinkommen?“ „Natürlich!“, hörte ich ihre Stimme von drinnen und öffnete ihre Zimmertür. „Ich hab‘s fertig!“, präsentierte sie mir stolz das vollendete Taschentuch. Ich nahm es in meine Hände. Sie hatte ein „R“ für „Romeo“ und eine weiße Iris darauf gestickt. Ich sah, dass sie sich wirklich Mühe gegeben hatte und dafür, dass sie sich früher nie für Mädchensachen interessiert hatte, wie mir Cordelia letztens berichtete, sah es doch relativ gut aus. Man konnte mit viel Fantasie erkennen, was sie da gestickt hatte. „Schaut doch hübsch aus!“, lobte ich und sie strahlte mich an. Allerdings schien sie mich allmählich zu durchschauen, denn ihr Blick wurde fragend…  Ich fühlte mich unwohl, in Neo Verona wurden immer mehr Männer gefangen genommen, die zurückgelassenen Frauen weinten, die Kinder schrien und das Elend nahm einfach kein Ende… „Was ist denn los, Watanuki?“ „Conrad ist ausgegangen, er trifft sich mit Doktor Lanzelot.“ Warum ich ihr das erzählte, wusste ich gerade selbst nicht so genau. Ich hatte irgendwie im Gefühl, dass in Neo Verona im Moment etwas noch Schlimmeres vor sich ging… „Ach ja?“, fragte Juliet, wir verließen zusammen ihr Zimmer und kamen Conrad entgegen, welcher gerade von seinem Treffen zurückkehrte. „Conrad, was ist los? Ist in Neo Verona irgendetwas passiert?“, forderte Juliet zu wissen, ich hörte genau den Zweifel in ihrer Stimme. Angesprochener schien es äußerst zu missfallen diese Frage gestellt zu bekommen: „Nichts, worüber Ihr Euch Sorgen machen müsstet“, antwortete er daher ausweichend und Juliet drehte auf dem Absatz um und verschwand in ihrem Zimmer, ich folgte ihr. „Was hast du vor?!“, fragte ich sie, als ich sah, wie sie sich ihre Perücke überzog. „Ich gehe runter in die Stadt und schaue nach, was da vor sich geht!“, sprach sie entschlossen und schnallte sich ein Schwert um die Hüfte. „Watanuki… begleitest du mich?“, bat sie mich mit einem flehenden Blick. „In Ordnung, ich komme mit. Wir schauen aber nur kurz nach, was in der Stadt los ist, dann gehen wir wieder!“ „Natürlich! Versprochen!“, sagte Juliet und ich holte mein Schwert und einen langen Umhang aus meinem Zimmer. „Juliet, bleib hier! Du darfst nicht in die Stadt runtergehen! Das ist viel zu gefährlich für dich!“, rief Cordelia als wir an ihre vorbei rannten, doch wir hielten nicht an. „Wir sind gleich wieder zurück!“, informierte sie Juliet über die Schulter hinweg. „Also da hört ja jetzt alles auf! Dann komm ich eben mit!“, entschied sie, doch wir warteten nicht auf sie. Wir mussten nicht lange nach der Quelle der Unruhe in Neo Verona suchen: Die Schreie der Menschen und ein helles Licht lenkten unsere Schritte in Richtung des Marktplatzes. „Was ist da los?“, fragte Juliet, ich keuchte ebenso angestrengt wie sie und meine Augen verengten sich, ich konnte allerdings nichts erkennen. „Ich weiß es nicht!“, erwiderte ich. „Tu’s nicht, Juliet, du darfst da nicht hin!“, wiederholte Cordelia hinter uns, doch wir ignorierten ihre Wiederworte noch immer und kamen vor dem Marktplatz auf einer Überführung zum Stehen, wo wir einen perfekten Blick auf den Platz hatten. Ein riesiger Käfig war darauf aufgestellt, in welchem einige Männer gefangen waren. Unter dem Gefängnis befanden sich Holzscheite und um ihn herum standen einige Wachen mit Holzfackeln. Sogar eine Gruppe mit Bogenschützen hatte über dem Platz ihre Stellung eingenommen, ihre brennenden Pfeile erhellten die Nacht. Allerlei Menschen hatten sich um den Schauplatz versammelt, wurden jedoch von zahlreichen Wachen daran gehindert sich den Gefangenen zu nähern. Sie hatten doch nicht etwa vor… die Menschen in dem Käfig zu verbrennen?! Entsetzen packte mich und ich umklammerte die Brüstung fester. Ich hätte nicht gedacht, dass es soweit kommen würde. „Du lieber Gott… warum habt ihr mir das alles nicht erzählt?“, flüsterte Juliet beinahe schon anklagend und ich senkte den Kopf. „Du hast es doch auch gewusst, Watanuki, und hast es mir verschwiegen!“ Ja, ich hatte es gewusst. Aber nicht, dass es so enden würde!! „Ich durfte es dir nicht sagen! Die Leute wurden alle festgenommen, weil sie in den Augen des Duce der Rote Wirbelwind sind“, erwiderte ich und sah beschämt zur Seite. „Oh nein!“, rief Juliet und wollte nach unten laufen, wurde jedoch von Curio und Francesco aufgehalten, welche gerade die Treppen nach oben gestiegen waren und zu uns stießen. Der Blonde trat näher: „Ihr dürft nicht übereilt handeln. Zügelt Euren Unmut, Juliet. Denn wenn wir jetzt eingreifen, so scheitern wir. Wir sind noch in der Minderzahl!“ „Aber das wäre falsch! Ich muss es versuchen. Ihr müsst mir helfen!!“ Panisch wollte die Tochter des Fürsten Capulet an Curio vorbei spurten, doch dieser gab ihr eine heftige Ohrfeige, die sie zu Boden schlug. Ich schnappte entsetzt nach Luft, mit solcher Gewalt seitens Curio hatte ich nicht gerechnet. „Die Vorgänge in Neo Verona haben Euch nicht gekümmert, solange Ihr im Liebesglück geschwelgt habt. Und dann wollt Ihr auf einmal handeln – ohne Sinn und Verstand. Glaubt Ihr, wir haben Euch 14 Jahre lang beschützt um festzustellen, dass wir eine Egoistin großgezogen haben?“ Juliet erschrak sichtlich über seine Worte. Francesco beugte sich zu ihr hinunter und hielt ihr die rechte Hand hin, welche sie annahm und sich von ihm hochziehen ließ. „Wir haben uns alle für die Zukunft dieses Landes eingesetzt und wir erwarten noch Großes von Euch, Prinzessin. Curio, Cordelia, Watanuki und alle unsere Familien haben lange ihr Leben riskiert. Wir wollten in Euch eine gerechte Fürstin für Neo Verona heranziehen“, erklärte der Blonde. Ein hilfloser Schrei ließ uns herumwirbeln: „Holt mich hier raus!“, schrie einer der gefangenen Männer. Die Menschenmenge versuchte sich gegen die Wachen aufzulehnen, sie schrien, stöhnten und jammerten entsetzt durcheinander. Doch die Wachen hatten die Fackeln bereits erhoben. „Lieber Gott, hilf mir“, betete ein anderer Gefangener. „Ich will meinen Papa wieder haben!“, weinte ein kleines Kind. „Wie schrecklich…“, flüsterte ich geschockt. Was sollte ich tun? Konnte ich denn etwas tun? Alleine würde ich mit einem Schwert nichts ausrichten können… Juliet rannte los, dieses Mal einen anderen Weg als die Treppe wählend. Francesco rief ihr hinterher: „Juliet, Ihr dürft das nicht tun!“ Doch die Flucht der Prinzessin fand erst in den Armen eines schwarzhaarigen, hochgewachsenen Mannes mit Brille sein Ende. Er hatte seine langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Es war Lanzelot. „Doktor! Ihr hier?“, fragte Juliet verwirrt. „Ja, ich bin hier und Ihr, Prinzessin Juliet, seid diejenige, an die ich geglaubt habe. Wenn Ihr Euer Leben aufs Spiel setzt, dann nicht an diesem Ort. Gebt Neo Verona eine bessere Zukunft!“, bat er, lächelte sie noch ein letztes Mal an, bevor er ihre Schultern losließ und auf dem Absatz kehrtmachte. Juliet wollte ihn packen, bekam ihn aber nicht zu fassen und stürzte. „Halt! Wartet!“, schrie sie noch, bevor sie ein zweites Mal hart auf dem Boden aufkam. Ich half ihr auf, als sie verzweifelt dem Arzt hinterherschaute. Was hatte Lanzelot denn nun vor? Wir erhoben uns und gingen an die Brüstung zurück, um das schreckliche Grauen weiter mit zu verfolgen. Lanzelot sprang als Roter Wirbelwind verkleidet von der Mauer auf den Käfig. Die Menschenmenge schien erleichtert: „Er ist es wirklich!“ Lanzelot richtete sich dramatisch auf. „Du bist in die Falle gegangen. Mein Plan hat funktioniert. Endlich zeigst du dich. Ich wurde des Wartens langsam müde!“, sprach der Anführer der Wächter, den man an seinem langen Umhang und einem Armbrustbolzen mit breiter Spitze, welchen er in seinen Händen wiegte, sehr gut erkennen konnte. „Hilf uns hier raus, Roter Wirbelwind!“, rief einer der gefangenen Männer verzweifelt. „Unser Retter! Er ist es tatsächlich!“ „Bitte, rette unseren Vater!“ „Bitte, befreie unseren Sohn!“ „Er ist unser Held!“ Die Menschenmenge schrie durcheinander, sie schienen ihre Hoffnung wiedergefunden zu haben, als der Rote Wirbelwind so plötzlich vor ihnen aufgetaucht war. Juliet sah zu Lanzelot herüber und flüsterte ungläubig: „Es ist der Doktor. Er steht für mich ein.“ Lanzelot hob die linke Hand. „Lasst sofort die unschuldigen Menschen frei“, forderte er. „Das ist die Höhe! Du Verbrecher wagst es noch Forderungen zu stellen?“, spottete der Anführer der Wachen. „Ihr verhaftet Unschuldige und das dürft ihr nicht! Ich bin der echte Rote Wirbelwind! Seht her!“, sprach Lanzelot entschlossen. Ich umklammerte die Brüstung noch härter. Was geschah hier nur? Was würde noch passieren? Was würden sie mit Lanzelot machen? Ich hatte kein gutes Gefühl… Die Menschenmenge schien nun fast die Beherrschung zu verlieren. „So haltet ein! Ihr müsst die Bürger beschützen und nicht bedrohen. Senkt das Schwert! Das ist nicht Recht!“, stellte Lanzelot klar und erntete zustimmende Rufe der Bürger: „Der Wirbelwind hat recht!!“, bestätigte ein Mann aus der Menschenmenge brüllend. „Wir sind seit Jahren nur geknechtet worden!!“ Auch die Gefangenen in dem gewaltigen Käfig fingen nun an zu randalieren: „Wir sind unschuldig! Holt uns hier raus!“ „Wir wollen noch nicht sterben!“ „Ihr dürft nicht zurückweichen. Die Linie wird gehalten!“, befahl der Anführer den Wachen und die Soldaten zogen ihre Speere und Schilde nach oben. Plötzlich geschah alles ganz schnell. Ich sah noch aus dem Augenwinkel, wie ein brennender Pfeil durch die Luft schoss, bevor er Lanzelot in die Schulter traf. Dieser taumelte und stürzte nach hinten. Die Menschen schrien durcheinander, ich schnappte entsetzt nach Luft. Juliet machte Anstalten ihm zu Hilfe zu eilen, wurde jedoch von Curio aufgehalten. „Das dürft Ihr nicht!“, sagte er, er hielt Juliet immer noch am Arm fest. „Aber er stirbt!“, rief die Rothaarige verzweifelt. Lanzelot zog sich den brennenden Pfeil aus der Schulter. „Oh je, oh je. Ein Pfeil hat ihn erwischt. Das tut mir leid. Die Schützen waren so ungeduldig. Aber da ich kein Unmensch bin, lasse ich die zu Unrecht Verhafteten nun frei. Ist das die Gerechtigkeit, die du wünscht, Wirbelwind?“, fragte der Hauptmann und es geschah wirklich, wie er befohlen hatte: Die Gefangenen wurden freigelassen. Frauen riefen wild durcheinander und Familienmitglieder fielen sich wieder in die Arme. Dankende Rufe an Lanzelot erfüllten die Nacht. Der Anführer der Wachen schien davon nicht begeistert: „Bei mir bedankt sich niemand... obwohl ich der eigentliche Wohltäter bin. Nun zu dir, du gemeiner Verbrecher: Sobald wir dich getötet haben, werde ich dein wahres Gesicht zur Schau stellen, damit die Leute wissen, wer du bist.“ „So weit wird es nicht kommen!“, sagte Lanzelot und sah auf den brennenden Pfeil in seiner Hand hinab. Er würde doch nicht etwa…?? Ehe ich einen Schrei ausstoßen konnte, hob der Arzt den Pfeil in die Luft empor, das Feuer spiegelte sich in seinen Augen wider. „Der Rote Wirbelwind nimmt nun Abschied von euch! Doch ein neuer Wind wird aufkommen. Ein Wind der Freiheit und der Hoffnung. Weil die Hoffnung nicht sterben darf!! Wenn ihr den Wind weiter wehen lasst, habt ihr die Möglichkeit die Welt zu verändern. Gebt nicht auf, Leute! Kämpft für das Recht! Denn hier weht... der Wind der Freiheit!“ Lanzelot ließ den Pfeil lächelnd sinken und warf ihn dann in das ölgetränkte Holz unter dem Käfig. Das Material ging schlagartig in Flammen auf und mit ihm das leere Gefängnis. Ich bekam nichts mehr mit, weder was der Hauptmann sagte, noch was die Menschen da unten taten. Lanzelot… er hatte sich geopfert. Für die Freiheit und für Juliet Fiammata Asto Capulet. Das Feuer brannte immer höher, verschlang gierig sein Opfer, spiegelte sich in meinen Brillengläsern wider. Ich war zu geschockt um etwas zu sagen oder zu tun. Juliet versuchte sich währenddessen aus dem Griff von Curio und Francesco zu befreien, welcher seinem Freund zu Hilfe geeilt war. „Lasst mich los! Ich will zu ihm!“, schrie sie von Sinnen. „Das geht nicht!“, erwiderte Francesco und hielt sie weiterhin unerbittlich fest. „Du kannst nichts für ihn tun!!“, rief Curio. „Ich muss ihn retten! Ich muss ihn retten! Er darf nicht sterben!“ Die Rothaarige randalierte weiter, hatte aber gegen zwei Männer keine Chance. Juliets Worte taten mir im Herzen weh. Sie hatte so recht… aber wir konnten von Anfang an nichts tun! „Es ist zu spät!“, sagte Francesco eindringlich. „Ihr werdet sonst auch getötet!“, fügte Curio noch hinzu. Juliet schluchzte und wehrte sich gegen den harten Griff, bis sie schlussendlich zu Boden sank. Rauch quoll nach oben, mit einem lauten Krachen brach der Holzkäfig zusammen. Die Menschen auf dem Platz waren totenstill geworden, jeder starrte entsetzt auf das Feuergrab des Roten Wirbelwinds. Francesco und Curio hatten Juliet losgelassen, als sich diese wieder einigermaßen gefangen hatte. Ihre Tränen waren aber noch nicht versiegt. „Ich bin schuld. Lanzelot musste meinetwegen sterben“, flüsterte sie, als das Feuer sogar so hoch stieg, dass es selbst den Himmel erleuchtete. Ich senkte betrübt den Kopf. Eigentlich hatte ich den Arzt wirklich gemocht… „Ach, Odin...“, sagte Cordelia mitleidvoll. Die Menschenmenge fing wieder an zu schreien. Sie trauerten um den Roten Wirbelwind, der sich für ihr Wohlergehen geopfert hatte. Doch sie ahnten nicht, dass er sich auch für Juliet und ganz besonders für Juliet geopfert hatte. Er hatte ihr damit eine Chance gegeben, Neo Verona wieder zurückzuerobern und die Bürger aus ihrem Elend zu holen. Die Rothaarige rannte weg, Cordelia folgte ihr. „Odin, halt! Warte auf mich!!“, rief sie aufgebracht, als sie ihre beste Freundin einzuholen versuchte. Ich eilte ihr nicht hinterher. Sie sollte nun wohl besser mit ihrer langjährigen Freundin allein reden. „Arme Juliet…“, murmelte ich, dann gingen wir alle betrübt nach Hause.   „Du riechst irgendwie nach Rauch, Watanuki!“ „Wen wundert das…“, brummte der Angesprochene. Shakespeare erhob sich aus seinem Sessel. „Was ist passiert?“, fragte er, er sah seinem Assistenten an, dass etwas Schlimmes geschehen war. Watanuki senkte betrübt den Kopf. „Der Arzt Lanzelot… er ist… er hat sich…“ „Na was denn? Setz dich erstmal!“ Es war das erste Mal, dass Shakespeare ihn zum Sitzen aufforderte. Wie betäubt ließ sich der Schwarzhaarige in einen Sessel sinken. Er starrte kurz in das Feuer im Kamin, dann wandte er seinen Blick davon ab. „Er hat sich als Roten Wirbelwind ausgegeben und sich für Juliet geopfert. Er ist elendig verbrannt“, erzählte er leise. William ging zum Fenster und zog den Vorhang zurück. „Das also haben diese Flammen zu bedeuten… Sie erhellen beinahe die ganze Stadt. Allerdings ist es sehr bedauerlich, aber in einer Geschichte muss es Opfer geben, das ist nun mal so…“ „Das sagst du so einfach!“, donnerte Watanuki los, er hatte seine Faust auf die Sessellehne geschlagen. „Er hätte nicht sterben müssen! Nur, wegen dem Duce, nur wegen ihm!“ „Verspürst du Hass, Watanuki?“, fragte der Dichter. „Was… geschieht mit Menschen, die hier sterben, William?“, wurde der Schriftsteller mit einer Gegenfrage konfrontiert. „Sie verschwinden“, antwortete er ihm ernst. „Was passiert mit uns… wenn wir hier sterben sollten, William?“, fragte der junge Mann weiter. Shakespeare musterte ihn mit einem besorgten Blick, kam dann aber näher und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du hast doch nicht etwa vor, dich in den Freitod zu stürzen, oder? Das wäre nicht gerade nach meinem Plan! Wer erzählt mir denn dann, was Juliet gerade so treibt? Außerdem… sind wir doch hier, um dich für Geschichten etwas sensibler zu machen! Obwohl du den Tod eines Menschen hautnah miterlebt hast und auch sichtlich betroffen aussiehst, weinst du keine einzige Träne um ihn.“ Watanuki starrte schweigend zu Boden. „Dennoch drückt dein Blick deine Gefühle aus. Das sehe ich heute das erste Mal an dir. Es scheint mir, als ob du dich langsam in diese Geschichte eingewöhnen würdest. Du lernst, mit anderen mitzufühlen.“ „Die arme Juliet…“, flüsterte Watanuki, sein Blick war starr und schien leblos. „Ja, die arme Juliet… Sie hat eine große Bürde zu tragen. Aber sie wird diese Last irgendwann meistern können, ebenso wie du lernen wirst, irgendwann einmal um andere zu weinen. Merke dir meine Worte gut, Watanuki!!“, sagte Shakespeare eindringlich, sein Gegenüber blieb ihm jedoch eine Antwort schuldig. „Leg dich schlafen. Morgen geht es dir bestimmt besser!“, riet ihm der Dichter. „Juliet kann heute Nacht sicherlich nicht schlafen“, befürchtete Watanuki leise. „Vielleicht nicht, nein… Aber sie kann die Sterne beobachten, welche ihr die unendlichen Weiten des Himmels weisen. Und sie wird sich schwören, in Zukunft alles besser zu machen, damit so etwas nicht noch einmal geschehen muss. Weißt du, wenn jemand ein Opfer bringt, dann fühlt er auch mit jemand anderem mit. Er leidet mit ihm und versucht demjenigen zu helfen, ganz egal, was aus ihm selbst wird. Vielleicht, Watanuki… wirst du dich auch einmal für jemanden opfern, wer weiß… Irgendwann einmal, wenn die Zeit gekommen ist?“ Blaue Augen starrten den Dichter an, bevor der Schwarzhaarige mehr als nachdenklich den Raum verließ. „Ach, Watanuki… vielleicht werde auch ich irgendwann wieder Tränen finden, damit ich um etwas weinen kann. Vielleicht…“, seufzte Shakespeare und plötzlich erschien im Feuer eine durchsichtige Gestalt. „Und, William? Wie macht sich mein Angestellter in deiner Wunschwelt?“, wollte Yuko wissen. „Er macht Fortschritte, Hexe. Unser heutiges Treffen hat es bewiesen: Er leidet mit anderen. Doch ich mache mir Sorgen um ihn… ich befürchte, dass er etwas Unkluges tun könnte…“ „Das wäre typisch für ihn. Er stellt oft unüberlegte Sachen an…“ „Yuko?“ „Ja?“ „Es geschieht uns doch nichts, falls Watanuki und ich hier sterben sollten, nicht wahr? Es… bringt uns nicht wirklich um, oder?“, fragte der Dichter zögerlich. Die Hexe musste lächeln. „Nein. Ihr erwacht nur aus eurem langen Schlaf und seid wieder in London. Mehr wird nicht passieren. Obwohl ihr den Schmerz des Todes spüren werdet. Und falls du hier zuerst sterben solltest, William… wird sich diese Welt auflösen und deine gesamten Notizen werden vernichtet“, erklärte die Hexe. „Ich verstehe“, antwortete der Autor. „Nur, wenn ihr beide willentlich und unbeschadet diese Wunschwelt verlasst, wirst du all deine Notizen mitnehmen können. Also, denk an deine Gegenleistung, die ich noch bekomme. Denk an die Gegenleistung, die ich noch von dir bekomme. Das Gelingen dieser Aufgabe hängt ganz allein von dir ab!“ „Ich werde mir Mühe geben mich nicht in Gefahr zu begeben. Schließlich bin ich hauptsächlich derjenige, der die Fäden in der Hand hält, nicht wahr?“ „Ja. Nur durch dich hat diese Wunschwelt Gestalt angenommen. Nur deswegen existiert sie. Jedes Lachen, jedes Weinen eines Menschen… alles hat seinen Ursprung in einem einzigen Wort gefunden! Alle Charaktere, die du geformt hast sind so geworden, wie du sie dir vorgestellt hast. Doch vergiss nicht: Auch Watanuki ist für diese Welt von großer Bedeutung. Alles wird sich bei eurem Tod auflösen, ausgelöscht werden. Diese Welt würde verschwinden und nie wieder existieren.“ „Aber mit dieser Welt hier ist mein größter Traum wahr geworden! Und das Beste ist immer noch, dass ich selbst mitspielen darf!“ „Denk an die Gegenleistung, Willy…“, sprach Yuko, dann war sie nach einem weiteren Aufglühen eines Holzscheites verschwunden. Shakespeare trat gedankenverloren ans Fenster und hatte nachdenklich das Kinn auf seine Hand gestützt. „Und so starb der Rote Wirbelwind… im roten Schleier des Verderbens… aber ein Feuer, welches so hell lodert, birgt auch die Hoffnung in sich. Ein Feuer, das in jedem Herz eines jeden Bürgers von Neo Verona weiter lodern wird. Ein Feuer, welches die Hoffnung niemals sterben lassen wird. Denn der Wind wird das Feuer am Leben erhalten und weiter anfachen. Und feuerrote Haare… werden die Angst aus den Herzen der Menschen vertreiben, sie staunen und vor Freude weinen lassen. Weil ein Mädchen alle retten wird. Wir werden ihr alles zu verdanken haben. Doch zuerst muss auch sie erfahren, wie es ist, mit dieser Bürde umzugehen und wie man am besten handelt. Denn wie Watanuki muss auch sie lernen mit andern mitzufühlen, um ihre Mitmenschen besser verstehen zu können. Es ist eine wichtige Lektion, die ich euch beiden nicht vorenthalten möchte… Doch ihr werdet es sicherlich schaffen. Und zwar ihr beide gemeinsam!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)