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Die Geliebte des Verdammten

von

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Kapitel 1

Jessica Reeves, 27 Jahre alt, arbeitete seit fünf Jahren für die Geheimorganisation Talamasca. Die Talamasca hatten sie aufgesucht, weil sie Geister sehen konnte – eine Fähigkeit, die nur sehr wenige Menschen haben. Am Anfang war Jessica skeptisch gewesen. Eine Organisation, die sich mit dem Übersinnlichen beschäftigt? Doch dann hatten David Talbot, der Gedankenleser, und James Whitlock, ein Telekinetiker, sie überzeugt. Wirklich, ihr fiel es schwer das Übersinnliche zu ignorieren, wenn einer der Männer, die ihr gegenüber saßen, ihre Gedanken lesen konnte, während der andere ihre Kaffeetasse schweben ließ.
 

Also war die rothaarige Schönheit mit den funkelnden grünen Augen der Organisation beigetreten – und hatte es nie bereut. Sie besuchte Spukhäuser, unterhielt sich mit Poltergeistern und beruhigte Menschen, die von den Geistern berührt worden waren. Nichts hätte ihr mehr Spaß machen können, so dass sie letzten Endes sogar ihr Medizinstudium abbrach, um sich vollends den Talamasca zu widmen. Sie erzählte niemandem davon – niemandem außer ihrer Tante Maharet. Freunde hatte sie ohnehin so gut wie keine, sie war eine schüchterne, zurückhaltende Frau.
 

Aber Maharet – Maharet war ganz und gar nicht begeistert gewesen, als sie ihr von den Talamasca berichtet hatte. „Die Talamasca leisten ohne Frage hervorragende Arbeit“, hatte sie ihr in ihrem Brief geschrieben. „Aber für eine junge Frau wie dich gibt es besseres im Leben, als alten Gespenstern nachzueilen. Konzentriere dich auf das Leben, nicht auf den Tod.“
 

Jessica war enttäuscht gewesen, hatte der Sommer den sie als Kind mit Maharet verbracht hatte doch einen so wichtigen Eindruck auf sie gemacht. Der ganze Sommer war ihr seltsam umwirklich vorgekommen. Maharet und Mael waren niemals vor Sonnenuntergang aufgetaucht. Und sie erinnerte sich noch schwach an eine Art Party, die Maharet damals abgehalten hatte. Alle Gäste waren wunderschön gewesen, genauso wie Maharet selbst. Sie hatten sich alle auf eine gewisse Weise ähnlich gesehen, so verschieden sie auch gewesen waren. Und dann, ja dann kam Marius. Marius, der gute Freund ihrer Tante, der sie sanft aus dem Wohnzimmer getragen hatte, in dem die Gäste versammelt waren. Marius, der sie so lange gehalten hatte, bis sie wieder eingeschlafen war. Der wunderschöne Marius, so sanft, mit seinen eisblauen Augen. Noch nie hatte sie sich so heimisch gefühlt wie in der Gesellschaft von Maharet und Marius. Es war ihr damals schwer gefallen, zu ihren Adoptiveltern zurück zu kehren. Sie liebte sie, keine Frage, aber in Maharets Haus hatte ein ganz besonderer Zauber geherrscht.
 

Jessica schüttelte ihren Kopf und ging weiter durch das Ordenshaus der Talamasca in London. David Talbot hatte sie zu sich gerufen, und sie war gespannt – es kam nur selten vor, dass sie mit dem Obersten der Talamasca selbst ins Gespräch kam. Was er wohl von ihr wollte?
 

Als sie sein Büro erreichte, klopfte sie leicht an die Tür. „Komm herein, Jessica“, hörte sie seine angenehme tiefe Stimme. Sie hob ihre Hand an den messingfarbenen Türknauf und betrat den Raum. Das Büro war angenehm eingerichtet. Dunkler Holzboden und dunkle Möbel gaben dem Raum ein antikes Aussehen, mehrere bequeme Ledersessel und eine schöne Couch waren im Zimmer verteilt. Jessica hielt kurz inne als sie sah, dass nicht nur David Talbot anwesend war. James Whitlock und Jeremy Hanson waren ebenfalls vor Ort. Jessica begrüßte die Männer mit einem warmen Lächeln, aber innerlich war sie aufgeregt. Hatte sie einen Fehler begangen, der die Aufmerksamkeit der drei ranghöchsten Ordensmitglieder auf sich gezogen hatte? Sie konnte sich nicht erinnern.
 

Freundlich bedeutete David Talbot ihr, auf dem Ledersessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Die anderen Männer saßen ebenfalls neben ihm und blickten sie gerade heraus an. „Du wunderst dich sicher, warum wir dich hergerufen haben, nicht wahr, Jessica?“, begann David Talbot das Gespräch.
 

Jessica nickte. „Ja, ich hatte nicht damit gerechnet. Hat es ein Problem bei meinem Besuch bei dem Spukhaus in Essex gegeben, von dem ich nichts weiß?“
 

Die anwesenden Männer schmunzelten. „Nein, nein, ganz und gar nicht. Dort ist alles prima gelaufen, der Poltergeist hat sich wirklich beruhigt und macht den Hausbesitzern nicht mehr ganz so viel Ärger.“ David Talbot pausierte kurz bevor er weiter sprach. „Wir haben vielmehr einen neuen Auftrag für dich, einen Auftrag, der eine Menge Fingerspitzengefühl und Erfahrung benötigt. Dabei haben wir an dich gedacht.“
 

Jessica horchte sofort interessiert auf. „Ein neuer Auftrag? Hat er wieder mit Geistern und Spukhäusern zu tun?“
 

Talbot schüttelte den Kopf. „Nein, Jessica, diesmal geht es um andere Wesen. Ich bin mir sicher, du hast schon einmal etwas von Blutsaugern, von Vampiren, gehört?“
 

Im Kopf der rothaarigen Frau drehten sich die Rädchen schnell. Vampire? Gab es so etwas überhaupt?
 

David Talbot blickte die erneut ernst an. „Ich weiß, was du jetzt denkst, und nicht nur weil ich Gedankenleser bin. Du glaubst nicht, dass Vampire überhaupt existieren. Du denkst, dass sie nur Fabelwesen sind. Doch ich vergewissere dir, das ist nicht der Fall. Vampire existieren. Die Talamasca haben sie schon seit vielen hundert Jahren beobachtet.“
 

Jessica schluckte, während ihr Weltbild gehörig ins Wanken geriet. „Das ist alles etwas schwer zu glauben, aber, aber – ich vertraue Ihnen. Gehe ich recht in der Annahme, das mein nächster Auftrag etwas mit Vampiren zu tun haben wird?“
 

Der Ordensoberste nickte und strich sich seine weißen Haare aus dem Gesicht. „Genau, besser gesagt mit einem Vampir. Er hat vor vielen hundert Jahren einmal in Venedig gelebt und, wenn man unseren Quellen glauben darf, lebt dort heute wieder. Wir möchten, dass du dir die Sache einmal genauer ansiehst. Er arbeitet als Maler, es sollte also nicht so schwer sein, in Kontakt mit ihm zu geraten. Wichtig ist nur, dass du deine Gedanken vor ihm abschirmst – diese Wesen können Gedanken lesen. Und er darf nicht wissen, dass du zu uns gehörst. Er scheint zwar einer der friedlicheren Vampire zu sein, aber bei diesen Wesen kann man nicht vorsichtig genug sein.“
 

Talbot stand auf und ging um seinen Schreibtisch herum. Er schritt auf einen Teil der Wand zu, der von einer Plastikplane verhängt war. Als er sie zurück zog, stockte Jessica der Atem.
 

An der Wand hingen vier Bilder, die alle den selben Mann zeigten. Einen blonden, großgewachsenen, blassen Mann mit eisblauen Augen. Es war Marius – daran bestand kein Zweifel. Während David Talbot zum sprechen ansetze, krallte sich Jessica am Schreibtisch fest. Ihr Herz hämmerte laut in ihrer Brust.
 

„Jedes dieser Gemälde stammt aus einer anderen Periode und zeigt dennoch den selben Mann. Er ist der Vampir, den du suchen sollst. Sein Name ist... Jessica, geht es dir gut?“
 

„Marius“, flüsterte Jessica, die inzwischen kreidebleich geworden war. „Sein Name ist Marius.“
 

Talbot und die anderen beiden Männer warfen ihr einen kalkulierenden Blick zu. „In der Tat, sein Name ist Marius. Woher wusstest du das?“, fragte David Talbot schließlich.
 

„Ich kenne ihn.“, antwortete sie schlicht. Vor ihren Augen drehte sich alles. Marius, ein Vampir? Dann wäre Maharet, ihre liebe, weise Tante ja auch ein Vampir! Das konnte einfach nicht sein! Doch die Indizien sprachen alle dafür – sie hatte sie niemals essen gesehen, sie tauchten erst nach Sonnenuntergang auf und sie sahen sich alle irgendwie ähnlich – weiße Haut, überirdische Schönheit, Kraft, Schnelligkeit... Jessica schwindelte es.
 

Die drei Männer warfen sich schnelle Blicke zu. „Du kennst ihn? Aber woher?“, fragte James Whitlock sanft. „Bist du ihm schon einmal begegnet?“
 

„Ja“, wisperte Jessica mit dünner Stimme. „Als ich zehn Jahre alt war. Ich habe den Sommer bei meiner Tante Maharet in Amerika verbracht. Marius war auch dort. Und Mael. Sie waren immer alle so sanft zu mir, so als wäre ich eine zerbrechliche Puppe. Sie kamen immer erst nach Sonnenuntergang ins Haus, ich habe sie nie Essen gesehen. Und es geschahen immer so seltsame Dinge. Einmal zerbrach eine Vase weit von mir weg, während Mael mir gegenüber saß. Er hat sich dafür entschuldigt, so als wäre er es gewesen – aber er war viel zu weit von ihr entfernt.“ Sie hielt kurz inne. „Und Marius – als einmal eine Party bei meiner Tante stattfand, nach dem ich bereits im Bett war, da kam einer der Gäste auf mich zu und wollte meinen Hals küssen. Marius hat ihn quer durch den Raum geschleudert und mich dann in seine Arme genommen und ins Bett getragen. Er blieb bei mir bis ich eingeschlafen war. Als ich aufwachte, lag ein Zettel auf meinem Kopfkissen auf dem er sich verabschiedete. Er musste zurück nach Hause. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Und nach dem ich wieder zu Hause war, habe ich auch Maharet und Mael nie wieder gesehen. Mit meiner Tante stehe ich aber nach wie vor in Briefkontakt.“
 

Nach dem sie fertig gesprochen hatte herrschte im Raum ein verdutztes Schweigen. Für drei lange Minuten sagte niemand etwas. Jessica starrte abwesend auf dem Boden und fuhr sich mit einer Hand durch ihre langen roten Haare. Schließlich brach David Talbot das Schweigen.
 

„Das ist... Jessica, das ist einfach unglaublich. Du kennst Vampire persönlich? Deine Tante ist ein Vampir? Wie oft schreibt ihr euch? Wie war Marius zu dir?“
 

Die junge Frau nahm sich Zeit zum antworten, während immer noch tausende Gedanken durch ihren Kopf schwirrten. „Ich schreibe meiner Tante mindestens einmal die Woche. Sie schickt mir auch immer schöne Geschenke zu Weihnachten und meinem Geburtstag. Marius tut das manchmal auch. Dieses Armband hier“ - sie deutete auf einen breiten, silbernen, reich verzierten Armreif, der sehr antik aussah - „hat Marius mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt. Seinen dazugehörigen Brief habe ich leider bei einem Umzug verloren.“ Ihre Stimme klang traurig und hohl. „Wenigstens weiß ich jetzt, warum sie mich damals verlassen haben. Sie haben nach dem Vorfall auf der Party wahrscheinlich gedacht, es sei zu gefährlich für mich.“
 

David Talbot legte ihr väterlich die Hand auf die Schulter. „Ich weiß, Jessica, dass das erstmal viel zu verdauen ist. Wir werden jemand anderen finden, der Marius aufsucht...“
 

„NEIN!“, rief Jessica plötzlich aufgeregt. Dann beruhigte sie sich sichtlich. „Nein. Ich habe so viele Fragen – ich muss Marius einfach finden. Ich muss es mit meinen eigenen Augen sehen, aus seinem eigenen Mund hören. Ich weiß, er wird mir nichts tun. Ich bin ideal für diese Aufgabe, wenn man es objektiv betrachtet.“
 

Talbot nickte. „Wenn du dir sicher bist...“
 

„Ich bin mir sicher.“, sagte Jessica mit fester Stimme. „Ich bin mir so sicher, wie ich es noch nie in meinem Leben war.“

Kapitel 2

Eine Woche war vergangen, nach dem Jessicas Welt auf den Kopf gestellt wurde. Als sie nach dem Gespräch mit Talbot nach Hause gekommen war, war sie schon etwas klarer im Kopf gewesen. Kaum hatte sie ihr Arbeitszimmer betreten, als sie sich auch schon an ihren Schreibtisch gesetzt hatte und begann, einen Brief an ihre Tante zu verfassen. Gerade jetzt lag ein weiterer Brief vor ihr auf dem Schreibtisch – die Antwort von Maharet. Bevor sie sich allerdings wagte, das Schriftstück zu öffnen, ließ sie sich noch einmal den Inhalt ihres eigenen Briefes durch den Kopf gehen.
 

„Liebe Tante Maharet,
 

ich weiß, dass es dir nicht gefällt, dass ich für die Talamasca arbeite. Deshalb habe ich meine Arbeit auch nie in meinen Briefen an dich erwähnt. Doch jetzt muss ich diese Regel brechen. Denn durch meine Arbeit bin ich auf etwas gestoßen, worüber ich mit dir sprechen muss.
 

Als ich in das Büro des Ordensältesten gerufen wurde, war mir noch nicht klar, wie sehr sich meine Welt durch das Treffen verändern würde. David Talbot gab mir den Auftrag, einen Vampir ausfindig zu machen. Vor diesem Tag hatte ich immer gedacht, Vampire seien nur Fabelwesen. Aber dann zeigte David mir eine Reihe von Gemälden aus verschiedenen Epochen, die immer den selben Mann zeigten. Einen hochgewachsenen Mann mit bleicher Haut, hellblonden Haaren und eisblauen Augen. Sein Name ist Marius, wie du dir vielleicht schon denken kannst.
 

Der selbe Marius, den ich vor knapp 17 Jahren in jenem Sommer bei dir in Amerika kennengelernt habe. Der selbe Marius, der mir das Leben rettete, als ein anderer Vampir versuchte, mir in den Hals zu beißen. Der selbe Marius, der dann den ganzen Abend bei mir blieb, so lange bis ich eingeschlafen war. Der selbe Marius, der mir das wunderschöne Armband zu meinem 18. Geburtstag geschenkt hat. Der selbe Marius, der ein guter Freund von dir und Mael ist.
 

Sobald ich verstanden hatte, was vor sich ging, fielen mir natürlich noch einige andere Dinge auf. So zum Beispiel die Tatsache, das weder du noch Mael oder Marius jemals bei Tageslicht im Haus zu finden waren. Ihr habt auch nie Nahrung zu euch genommen. Und ihr saht euch alle auf seltsame Weise ähnlich – überirdisch schön, mit weißer Haut, funkelnden Augen und glänzendem Haar.
 

Wenn ich es Recht betrachte, kommt mir der Aufenthalt in jenem Sommer inzwischen wie ein Traum vor. Schon damals war mir irgendwie bewusst, dass ihr keine gewöhnlichen Menschen seid. Und jetzt, ja jetzt weiß ich warum.
 

Liebe Tante Maharet, du bist ein Vampir, nicht wahr? Und Mael und Marius sind ebenfalls Vampire, wenn ich richtig liege, oder?
 

Warum hast du mir es nie erzählt? Ich weiß, dass du nicht böse bist, ich weiß, dass ich bei dir immer sicher war – vielleicht sicherer als je zuvor in meinem Leben. Hattest du Angst, ich würde dir nicht glauben? Hattest du Angst, ich würde mich vor dir fürchten?
 

Ich kann dir vergewissern, dies ist nicht der Fall. Täglich sehne ich mich nach deiner Anwesenheit und nach der Gesellschaft von Mael und Marius. Ihr fehlt mir.
 

Wenigstens habe ich jetzt eine Antwort darauf, warum ihr mich vor all den Jahren (die euch wahrscheinlich wie gestern erscheinen) verlassen habt. Hattet ihr Angst um mich? Dachtet ihr, einer eurer Vampirfreunde würde mir weh tun?
 

Bitte, liebe Maharet, ich sehne mich nach einer Antwort, nach einer ehrlichen Antwort. Aber egal was auch kommt – sei dir meiner Liebe immer gewiss.
 

Liebe Grüße,
 

Jesse“
 

Sie hatte versucht, in ihrem Brief all ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Und das war ihr auch gelungen. Sie hoffte nur, dass Maharets Antwort nicht darin bestand, sie aus ihrem Leben auszuschließen – so fern man überhaupt sagen konnte, das Vampire lebten.
 

Maharet hatte diesmal wesentlich länger gebraucht, um ihr zu antworten, als sonst. Natürlich hätte das auch einen rationalen Grund haben können – aber Jessica glaubte, dass Maharet vielleicht nicht so Recht wusste, was sie ihr antworten wollte. Würde sie ehrlich sein? 'Nun, nur ein Weg, um das heraus zu finden', dachte Jesse bevor sie den Umschlag vorsichtig mit einem silbernen Brieföffner aufschlitzte. Sie entnahm ihm ein dickes Stück Papier, auf dem sie sofort die Handschrift ihrer Tante erkennen konnte. Kurz kniff sie die Augen zurück, holte zwei Mal tief Luft und lehnte sich dann in ihrem dunklen Ledersessel zurück. Dann öffnete sie ihre Augen wieder und wandte sich dem Brief zu.
 

„Meine geliebte Jessica,
 

es stimmt, ich bin nicht begeistert von deiner Arbeit für die Talamasca. Es gibt wichtigere Dinge für eine junge Frau, als sich mit dem Übersinnlichen zu beschäftigen. Ich wünschte, du hättest weiter daran gearbeitet, Ärztin zu werden. Aber es ist dein Leben und es sind deine Entscheidungen, die zählen. Wisse, dass ich dich immer unterstützen und immer lieben werde, Jesse.
 

Ich gebe zu – ein Grund, warum ich nicht wollte, dass du für die Talamasca arbeitest, ist die Tatsache, dass du dich auf diese Art und Weise mit Wesen wie den Vampiren auseinander setzen musst. Und generell sind Vampire gefährliche, oft bösartige Wesen, denen das Leben eines Sterblichen nichts wert ist. Für viele Vampire, das muss ich leider so sagen, sind Menschen nicht mehr als Nahrung. Deshalb ist es für Sterbliche immer klug, sich so weit wie möglich von ihnen fern zu halten. Die Idee der Talamasca, die Vampire studieren wollen, ist gefährlich und unnötig. Um es einmal simpel auszudrücken – für die meisten Menschen werden Vampire nie eine Rolle spielen. Sie werden niemals einem begegnen, da Vampire trotz allem relativ selten sind. Deshalb sollten Vampire keine besondere Aufmerksamkeit genießen. Die meisten von ihnen sind ein Anachronismus aus längst vergangenen Zeiten.
 

Marius, ja Marius. Der gute, sanfte Marius. Du hast natürlich Recht mit deiner Auffassung, das Marius tatsächlich ein Vampir ist – genau so wie ich und Mael. Ich hoffe, dass ich dich mit dieser ehrlichen Antwort nicht verängstigt habe. Sei gewiss dass du nie in irgendeiner Art von Gefahr warst, wenn du in unserer Nähe warst. Wir lieben dich aus ganzem Herzen.
 

Wenn es nicht Marius wäre, den du als Teil deines Auftrags ausfindig machen solltest, würde ich dir verbieten, den Auftrag anzunehmen. Ich weiß, als erwachsene Frau bist du selber in der Lage, deine Entscheidungen zu treffen, aber wenn es um Vampire geht musst du vorsichtig sein – so bald du einem begegnest, der deine Gedanken liest und weiß, dass du weißt was er ist, befindest du dich in großer Gefahr. Wenn ein Vampir sich entscheiden würde, dich anzugreifen, könntest du nichts dagegen tun – er wird immer schneller, stärker und gnadenloser sein als du.
 

Bei Marius liegt die Sache anders. Er ist sehr alt, trinkt kaum noch Blut und liebt dich aus ganzem Herzen. Wenn dir der Auftrag so wichtig ist, kannst du ihn gerne aufsuchen – ich bin sicher, er wird dir viele Fragen beantworten können. Und, das ist das wichtigste, er ist so alt und mächtig, dass er andere Vampire davon abhalten kann, dir etwas anzutun. Wenn du möchtest kann ich den Kontakt zwischen euch herstellen – am Ende des Briefes werde ich dir seine E-Mail-Adresse hinterlassen, unter der du ihn erreichen kannst. So musst du ihn in Venedig nicht erst langwierig suchen, sondern kannst direkt einen Treffpunkt ausmachen. Ich bin mir sicher, er wird dich mit offenen Armen willkommen heißen.
 

Ich kann verstehen, dass dir der Sommer, den du bei mir verbracht hast, unwirklich vorkommt – Menschen merken auf Dauer oft instinktiv, dass etwas mit uns nicht stimmt, dass wir keine normalen menschlichen Wesen sind. Wäre der Vorfall mit Santino (der Vampir, der dich angegriffen hat) nicht gewesen – ich hätte dich gerne jeden Sommer wieder zu mir geholt. Ich habe deine Gesellschaft immer genossen und in meinem Herzen besitzt du immer noch einen speziellen Platz – das wird sich auch nie ändern.
 

Dass ich ein Vampir bin, habe ich dir aus mehreren Gründen nicht erzählt. Ich wollte dich nicht ängstigen, du warst damals noch sehr jung. Auch heute fällt es dir, das entnehme ich deinem Brief, merklich schwer an die Existenz von Vampiren zu glauben. Weiterhin war es sicherer für dich, nichts von der Existenz der Vampire zu wissen. Wie gesagt – Blutsauger sind Gedankenleser, und wenn sie merken, dass du von ihnen weißt, kann es schnell sehr unschön für dich ausgehen. Dass ich nicht ganz ehrlich mit dir war, tut mir aufrichtig Leid, aber es war unvermeidlich. Ich hoffe, du kannst mich verstehen und findest es in dir, mir zu verzeihen. Auch ich sehne mich täglich nach dir.
 

Wenn es nach mir geht, werden wir uns bald einmal wiedersehen, falls du dass nach deinen neuen Erkenntnissen noch möchtest. Im Moment kann ich die USA nicht verlassen, aber wenn du bei Marius bist, wird es sicher bald einmal eine Gelegenheit für ein Familientreffen geben – ich würde mich so freuen, dich endlich einmal wieder persönlich zu sehen – Fotos reichen einfach nicht.
 

In der Tat war der Vorfall mit Santino der Grund, warum wir damals entschieden haben, es sei besser, du hättest keinen persönlichen Kontakt mit uns. Falls dies deine Gefühle verletzt hat kann ich mich nur noch einmal entschuldigen.
 

Um eins muss ich dich aber bitten: Lass die Existenz des Übernatürlichen nicht dein Leben bestimmen. Für eine junge Frau wie dich gibt es auch im normalen Rahmen viel zu entdecken. Ich liebe dich, meine Nichte, und freue mich auf ein baldiges Wiedersehen.
 

Grüße Marius von mir!
 

In tiefer Liebe,
 

deine Tante Maharet
 

marius.romanus@hotmail.com
 

Als Jesse den Brief ihrer Tante zu Ende gelesen hatte, schlug ihr das Herz bis zum Hals – nicht vor Angst, sondern vor Aufregung. Sie wusste nun sicher, dass die ihre Tante Maharet, genau so wie Mael und Marius, ein Vampir war. Maharet war ehrlich mit ihr gewesen und hatte ihr die Gründe genau erklärt, warum sie damals entschieden hatte, den persönlichen Kontakt abzubrechen. Es war einfach zu gefährlich gewesen. Sie hatten sie nicht verlassen, weil sie sie nicht liebten – eher im Gegenteil.
 

Trotzdem hatte der Brief mehr Fragen aufgeworfen, als er beantwortet hatte. Sie wusste immer noch so gut wie gar nichts über Vampire. Mehr denn je wollte sie nun Marius aufsuchen. Er, so wusste sie, würde ihr alle Fragen beantworten. Der Auftrag war ihr nicht mehr wichtig, weil die Talamasca davon profitierten, sondern weil sie selbst so Antworten erhalten könnte. Sie wusste, sie würde Marius kontaktieren und ihn um ein Treffen bitten.
 

'Warum eigentlich nicht jetzt gleich?', fragte sie sich in Gedanken. Sie schaltete ihren Computer an, gab ihr Passwort ein und loggte sich in ihren E-Mail-Account ein. Was sie ihm wohl schreiben sollte? Nachdem sie ein Paar Minuten überlegt hatte, begann sie ihre E-Mail.
 

„Hallo Marius,
 

hier ist Jessica Reeves, Maharets Nichte. Vielleicht erinnerst du dich noch an mich – als wir uns kennengelernt haben war ich zehn Jahre alt. Du hast mich damals vor Santino beschützt, als er mich beißen wollte. Dafür danke ich dir noch einmal. Auch wenn ich damals nicht begriffen habe, was du da für mich getan hast, weiß ich es jetzt.
 

Tante Maharet hat mir deine E-Mail-Adresse gegeben, damit ich dich kontaktieren kann. Ich hoffe, dir geht es gut. Ich schreibe dir allerdings nicht nur, um mich nach deinem Wohlbefinden zu erkundigen.
 

Seit einigen Jahren arbeite ich für die Talamasca, die dir sicher ein Begriff sind. Mein neuester Auftrag ist es, einen Vampir in Venedig ausfindig zu machen – einen großen, blonden, blauäugigen Vampir, der Marius heißt. Ist das nicht ein Zufall?
 

Ich habe deine Gemälde im Ordenshaus der Talamasca gesehen – sie sind wunderschön. So detaillierte Bilder können einfach nur von einem übersinnlichen Wesen gemalt worden sein. Von einem Vampir.
 

Maharet hat mir alles erzählt. Ich weiß jetzt, dass ihr Vampire seid, dass ihr mich damals beschützt habt, als ihr aus meinem Leben verschwunden seid. Ich danke euch dennoch für einen unvergesslichen Sommer – noch nie habe ich mich so beschützt, so geliebt gefühlt.
 

Nun zu meinem Anliegen: Da mein Auftrag lautet, dich in Venedig aufzuspüren, wollte ich dich fragen, ob es nicht möglich ist, ein gemeinsames Treffen zu verabreden. Dann würde ich mir die Arbeit sparen, dich zu suchen. Auch wenn ich mir sicher bin, dass du nicht gefunden werden kannst wenn du nicht gefunden werden willst.
 

Aber auch wenn ich den Auftrag nicht hätte, würde ich dich sehr gerne wiedersehen – ich habe dich nie vergessen und dir immer einen Platz in meinem Herzen eingeräumt. Es würde mich freuen, von dir zu hören!
 

In Liebe,
 

Jesse
 

P.S.: Bevor ich es vergesse – danke für das Armband, dass du mir zu meinem 18. Geburtstag geschenkt hast. Noch heute trage ich es täglich.“
 

Ohne groß zu überlegen schickte sie die E-Mail ab – sie schien ihr perfekt zu sein. Nun konnte sie nur noch hoffen, dass Marius sie zu sich einladen würde – aber Maharet hatte in der Hinsicht ja sehr optimistisch geklungen. Jesse warf einen Blick auf ihre schlichte, silberne Armbanduhr und sah, dass es erst fünf Uhr nachmittags war. Draußen war es noch hell. Es würde also noch einige Stunden dauern, bevor Marius ihr antworten würde – falls er seinen E-Mail-Account überhaupt täglich öffnete.
 

Zwei Stunden später saß sie mit einem Glas Rotwein auf ihrer gemütlichen Couch, als ihr Telefon klingelte. Sie setzte das Glas auf dem Couchtisch ab und griff nach dem Telefon. Am anderen Ende der Leitung war David Talbot.
 

„Hallo Jessica, hier spricht Talbot. Wie geht es dir?“
 

„Mir geht es gut“, antwortete Jesse, während sie das Glas Rotwein an ihre Lippen führte und einen kleinen Schluck trank. „Ich habe heute einen Brief von meiner Tante Maharet bekommen.“
 

David hielt kurz inne. „Und? Hat sie deine Vermutungen bestätigt?“
 

Jessica nickte, obwohl ihr Gesprächspartner das nicht sehen konnte. „Ja, das hat sie. Sie ist ein Vampir, genau wie Mael und Marius. Sie hat mir sogar eine Kontaktadresse für Marius gegeben und ich habe ihm schon eine E-Mail geschrieben und ihn um ein Treffen gebeten. Sie war nicht gerade begeistert, dass ich mich mit Vampiren beschäftige, weil diese zu gefährlich seien. Aber gegen einen Besuch bei Marius hat sie nichts einzuwenden.“
 

Der Ordensoberste schwieg einen Moment bevor er antwortete. „Das sind interessante Neuigkeiten. Ich kann kaum glaube, dass du quasi mit Vampiren aufgewachsen bist. Das klingt einfach zu unglaublich. Aber es wird deinen Auftrag natürlich umso leichter machen.“
 

„Ja, das wird es“, erwiderte Jesse. „Aber mir geht es nicht mehr nur um den Auftrag. Ich suche auch antworten auf persönliche Fragen – und Marius kann sie mir geben. Auch meine Tante will mich bald wiedersehen.“
 

„Das kann ich verstehen. Wann fliegst du nach Venedig?“, fragte Talbot.
 

Jessica überlegte kurz. „Das weiß ich noch nicht so genau. Das hängt davon ab, was Marius antwortet.“
 

Wenige Minuten später beendeten die beiden ihr Telefongespräch. Jessica füllte ihr Weinglas wieder auf und ließ sich mit einem Buch auf ihrer schwarzen Couch nieder. Doch so richtig konzentrieren konnte sie sich nicht auf die Lektüre. Zu viele Gedanken, zu viele Fragen schwirrten ihr im Kopf herum.
 

Und nur ein Vampir könnte ihr die Antworten auf ihre Fragen geben.

Kapitel 3

Als Jessica am nächsten Morgen aufstand, war es bereits spät. Für gewöhnlich stand die junge Frau früh auf, zwischen sechs und sieben Uhr, aber heute hatte sie fast bis zur Mittagszeit geschlafen. Denn sie war in der vorigen Nacht bis drei Uhr aufgeblieben, um auf eine Antwort von Marius zu warten. Erst als ihre Augen so müde waren, dass die Buchstaben ihres Buches vor ihren Augen verschwammen, war sie ins Bett gegangen.
 

Jesse gähnte kurz auf und streckte sich dann, bevor sie in ihr kleines Bad ging, um sich die Zähne zu putzen und zu duschen. Nach dem sie mit ihrer Routine fertig war, lief sie in die Küche, um sich ein Frühstück zu zubereiten. Sie entschied sich für eine Schale Cornflakes mit frischen Früchten. Während sie aß und einen starken Kaffee trank, las sie die Sonntagszeitung. Aber sie überflog die Artikel nur, denn sie war in Gedanken immer noch nicht ganz bei der Sache. Schließlich erfuhr man nicht jeden Tag, dass die eigene Tante eigentlich ein Vampir war.
 

Nachdem sie ihr Frühstück beendet hatte, stellte sie die Schüssel in die Spülmaschine, wusch sich die Hände und ging in ihr Arbeitszimmer, um den Computer anzuwerfen. Während der PC hochfuhr, zog sie sich frische Kleidung an. Sie wählte eine schwarze, enge Jeans und ein grünes Top, das gut mit ihren Haaren kontrastierte. Nachdem sie sich angezogen hatte verließ sie das Schlafzimmer, ging in ihr Arbeitszimmer und loggte sich in ihren E-Mail-Account ein. Der Atem stockte ihr, als sie sah, dass Marius ihr geantwortet hatte. Zögernd klickte sie auf die neue Nachricht und öffnete damit die E-Mail.
 

„Meine liebe Jesse,
 

es freut mich sehr, von dir zu hören – auch wenn ich nicht damit gerechnet habe. Ich muss zugeben, dass deine Nachricht mich überrascht hat. Und das, so muss ich sagen, kommt mehr als selten vor.
 

Natürlich erinnere ich mich an dich, wie könnte ich diesen wunderbaren Sommer vergessen. Es kommt selten vor, das Vampire so viel Zeit mit Sterblichen verbringen, und es war für uns alle eine ganz besondere Erfahrung. Aber das lag nicht nur daran, dass du sterblich bist, sondern vor allem daran, wie klug und liebenswert du bist. Selbst im Alter von zehn Jahren war jedem klar, dass du einmal eine ganz besondere Frau werden würdest.
 

Santinos Attacke auf dich hat uns alle nervös gemacht und uns gezeigt, wie verletzbar du bist. Deshalb haben wir uns damals entschlossen, den persönlichen Kontakt abzubrechen. Auch wenn ich nicht widerstehen konnte und dir das Armband geschenkt habe – es freut mich übrigens sehr, dass es dir gefällt.
 

Mir geht es gut, und ich hoffe das gleiche gilt auch für dich. Im Moment lebe ich alleine, aber ich habe ein großes Atelier, in dem ich die meiste meiner Zeit verbringe. Die Kunst, die Malerei ist nach all den Jahrhunderten immer noch meine große Leidenschaft. Im Laufe der Jahre habe ich auch einige Bilder von dir gemalt – ich werde sie dir zeigen, wenn du hier in Venedig bist.
 

Es ist schön, dass Maharet endlich ehrlich zu dir sein konnte. Ich weiß, wie schwer es ihr gefallen ist, dir unser Geheimnis vorzuenthalten, aber es ging damals einfach nicht anders. Ich bin mir sicher, du kannst es verstehen. Es war zu deinem besten.
 

Die Talamasca, ja, die sind mir tatsächlich ein Begriff. Im Laufe der Jahrhunderte bin ich das ein oder andere Mal einem Mitglied dieser Organisation begegnet. Ich muss zugeben, dass ich laut auflachen musste, als ich gelesen habe, was dein Auftrag ist. Ich weiß zwar nicht, warum die Talamasca gerade an mir so interessiert sind – es gibt viel interessantere Unsterbliche – aber so ist es nun einmal. Ich wusste übrigens gar nicht, dass einige meiner älteren Gemälde im Ordenshaus der Talamasca zu finden sind. Ich hoffe nur, dass sie nicht in irgendeinem staubigen Keller Schimmel ansetzen. Schön, dass sie dir gefallen haben.
 

Zu deinem Anliegen: Es wäre mir eine Freude, dich in meinem Haus begrüßen zu dürfen. Wir können uns also gerne in Venedig treffen. Wenn du magst kannst du während deiner Zeit in der Stadt auch bei mir wohnen – so spart sich die Talamasca die Hotelkosten.
 

Wie wäre es, wenn wir uns in fünf Tagen, am Freitag abend um 22 Uhr am Markusplatz treffen würden? Das gibt dir genug Zeit für die Reisevorbereitungen und mir genug Zeit, die Küche so herzurichten, dass auch ein Mensch bei mir wohnen kann. Ich verspreche dir, in meiner Gegenwart wird dir nichts passieren – du wirst absolut sicher sein.
 

Lass mich bitte wissen, ob dir der Termin passt. Wenn nicht, können wir gerne einen anderen ausmachen.
 

In Liebe,
 

Marius“
 

Jessica brauchte weniger als fünf Minuten, um eine Antwort zu formulieren. Sie schrieb ihm rasch, dass der Termin ihr gut passe und wünschte ihm eine gute Woche. Dann rief sie David Talbot an, um ihm die Neuigkeiten mitzuteilen.
 

Talbot war begeistert und sagte ihr knapp, was die Talamasca am meisten interessieren würde. Wie viele Vampire gab es? Wie alt war Marius? Wie hatte sein Leben als Sterblicher ausgesehen? Wie viele Vampire hatte er erschaffen? War es Vampiren möglich, Freundschaften mit Sterblichen einzugehen? Wie oft musste ein Vampir trinken, um bei Kräften zu bleiben? Wie gelang es den Vampiren, als Sterbliche zu posieren?
 

Als das Gespräch vorbei war und Jessica aufgelegt hatte, rauchte ihr der Kopf. Sie wusste noch nicht, ob sie Marius überhaupt all diese Fragen stellen sollte – vielleicht würde er dann denken, sie wolle ihn nur für die Talamasca aushorchen? Dabei könnte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein. Denn in Wirklichkeit wollte sie ihn einfach nur wiedersehen. Wollte erneut in seine unglaublich blauen Augen blicken und sich von ihm beschützen lassen.
 

Der Rest der Woche verging für Jesse wie im Flug. Sie schrieb einen Brief an Tante Maharet, in der sie ihr vom Treffen mit Marius berichtete, und ließ sich von den Talamasca über Vampire aufklären. Sie wurde in Vorsichtsmaßnahmen eingeweiht, die man beim Umgang mit diesen übernatürlichen Wesen beachten musste – nicht, dass sie sie brauchen würde, denn bei Marius war sie vollkommen sicher. Dennoch schienen diese Vorsichtsmaßnahmen zum Protokoll zu gehören und so musste Jessica endlose Warnungen über sich ergehen lassen, während sie lieber ein gutes Buch gelesen hätte. David Talbot war dieser Tage beinahe ekstatisch über die Chance, die sich aus einem direkten Kontakt zwischen Marius und Jesse für die Talamasca ergeben würde. „So nah waren wir einem Vampir noch nie“, hatte er ihr anvertraut. „In den Jahrhunderten unseres Bestehens konnten wir sie immer nur aus der Ferne beobachten. Das wird sich jetzt ändern. Wir sind alle gespannt auf die Resultate.“
 

Jesses Flugzeug landete um 21 Uhr in Venedig. Damit blieb ihr noch eine Stunde, um vom Flughafen bis hin zum Markusplatz zu kommen. Sie wartete ungeduldig an der Gepäckausgabe auf ihre zwei großen Koffer – sie hatte vorsichtshalter einmal für zwei Wochen gepackt. Nachdem sie ihr Gepäck endlich entgegen nehmen konnte, machte sie sich auf den Weg zum Ausgang. Dort angekommen stieg sie in ein Taxi und ließ sich zum Markusplatz chauffieren. Als sie ankam, blickte sie auf ihre Uhr. Es war 21.45, sie hatte also noch eine knappe Viertelstunde Zeit, bevor Marius kam. Sie bezahlte den Fahrer, gab ihm ein großzügiges Trinkgeld, und stieg dann hinaus in die dunkle Nacht.
 

Venedig, beschloss sie sofort, war auch in der Dunkelheit eine der schönsten Städte der Welt. Sie stellte ihre Koffer neben einem Brunnen ab und ließ sich auf der Steinmauer des Brunnes nieder, während sie auf den blonden Vampir wartete. Doch lange musste sie nicht warten. Noch bevor drei Minuten vergangen waren, setzte sich ein Mann neben sie, der in roten Samt gehüllt war. Als Jesse sich zu ihm umdrehte, stockte ihr der Atem. Neben ihr saß Marius, ätherisch schön wie in ihren Erinnerungen, und lächelte sie an. Sein blondes, langes Haar wehte sanft in der Frühlingsbrise.
 

„Hallo, Jessica.“, begrüßte er sie mit samtiger Stimme. „Du siehst wunderschön aus. Ich freue mich, dass du gekommen bist.“ Er griff nach ihrer Hand, hob sie an seine Lippen und küsste sanft ihre Fingerknöchel.
 

Jesses Herz pochte so stark, dass sie beinahe das Gefühl hatte, ihre Brust würde explodieren. „Marius“, flüsterte sie, von seiner Schönheit völlig umfangen. „Mein Marius.“ Ihre Hand lag noch immer in der seinen. Sie hob ihre andere Hand und strich ihm sanft durch die Haare.
 

Marius lächelte sie erneut an und bedeutete ihr dann, aufzustehen. „Komm, meine Jessica. Lass uns zu mir nach Hause gehen. Ich verspreche dir, es ist nicht weit.“ Er stand auf, immer noch ihre Hand haltend, und zog sie sanft auf ihre Beine. Dann ließ er ihre Hand los und griff sich die beiden Koffer. Er hob sie hoch, als würden sie nichts wiegen. Er schenkte ihr ein weiteres Lächeln und setzte sich dann in Bewegung.
 

Jessica folgte ihm obwohl ihr schwindelte. Ihre Erinnerungen hatten sie nicht auf den Moment vorbereitet, ihn wieder zu sehen. Sie wusste schon vorher, dass er schön war, aber es war etwas anderes, dieser Schönheit als zehnjähriges Mädchen zu begegnen, als ihr als erwachsene Frau gewahr zu werden. Ihre Beine fühlte sich wie Gummi an, als er sie durch die dunklen Gassen der Stadt führte. Kurz darauf blieb Marius vor einem großen Herrenhaus stehen und schloss die Tür auf. Er betrat den Eingangsbereich und Jesse folgte ihm.
 

Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, wurde Jessica eines mit einem Mal bewusst: Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie, ganz bewusst, allein mit einem Vampir.



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