120 Ways of Deduction von _shinya ================================================================================ Kapitel 3: (10) Breathe again - Wieder atmen -------------------------------------------- Heute. Endlich war es so weit. Alles an seinen vorbestimmten Ort gerückt, jeder an seinen rechtmässigen Platz geführt. Tot wer tot sein musste, hinter Gittern wer es verdiente. Oh nein, er war nicht stolz auf manche seiner Taten, aber es musste sein. Entgegen der allgemeinen Meinung hatte er durchaus ein Gewissen. Es arbeitete anders als bei normalen Menschen, bei durchschnittlich oder gar ausgesprochen mangelnd ausgebildeter Intelligenz und Denkweise. Vielleicht war was er als Gewissen betrachtete auch nur ein schlechter Scherz für den normalsterblichen Bewohner Londons, doch welchen Unterschied machte das am Ende? Er wusste, dass er niemals Näher an den Allgemeinbegriff “Gewissen” kommen würde, als er es mit seiner Reuhe – oder viel mehr dem nicht vorhandenen Stolz – tat. Er war sich nicht sicher, ob er sich unter anderen Umständen als den jetzigen Gedanken darüber gemacht hätte, welchen Eindruck seine Einstellung, seine Handlungen und vor allem seine Entscheidungen bei anderen hinterlassen hatten, noch hinterlassen würden. Im Grunde war es gleichgültig. Welcher Sinn wurde durch Spekulation erfüllt? Natürlich, hoffen, träumen, wünschen – all diese nonsens-Komponenten des durchscnittlichen Lebens basierten darauf. Man konnte sehen, was sie alle von ihren Träumen hatten. Ein verklärter Blick auf die Tatsachen durch Sinnlose Hoffnungen, ein verlorener Verstand ducht unsinnige, unralistische Wünsche. Egal wie sehr er darüber nachdachte, er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte mal einen wahren, tiefen Wunsch, eine Hoffnug aus tiefstem Herzen – wie sie doch so schön betitelt wurden – gehegt hatte. Da waren die unzähligen Stunden, in denen er auf neue Fälle wartete, er konnte nicht bestreiten, dass er sich häuig wünschte, die Langeweile könnte endlich ein Ende finden – und wenn nur für wenige Stunden. Auch während der Fälle hatte er oft gehofft, des Rätsels Löasung möge nicht zu durchschaubar, zu einfach zu finden sein. Doch egal wie er es betrachtete, nichts davon war mit dem gleichzusetzen, das jemand wie John als Herzenswunsch bezeichnen würde. Und wozu auch? John selbst verrannte sich aufgrund seiner Hoffnungen unzählige male. Wäre er nicht jedes mal voll Vorfreude und voraussichtlicher Fröhlichkeit und vor allem mit einer ungesunden Portion Hoffnung von einer Beziehung in die Nächste gestolpert, hätte er unter Umständen früher bemerken können, dass keine davon ein gutes Ende nehmen würde. Nicht, dass er sich daran stören wuerde, oh nein, John war schliesslich in besserer geistiger Verfassung, wenn er zur abwechslung nicht einer Frau sinnlos hinterherjagte. Trotzdem kam er nicht umhin immer wieder zu bemerken, was ein scheinbar so simples Ding wie ein Wunsch aus einem Menschen machen konnten. Aus der Psyche und den Gedanken eines normal denkenden Menschens machen konnten. Aus John. Ja, aus John, der vielleicht nicht so sehr in die Kategorie “normal denkender Mensch” fiel, wie er es zu seiner eigenen Sicherheit sollte. Von dieser Position betrachtet konnte er also nur zu dem Schluss kommen, dass es neben Gefühlen im allgemeinen nurnoch diese Dinge – Wünsche und Hoffnungen, ja, in gewisser weise auch Träume – eine wahre Gefahr für einen brillianten Kopf darstellen würden. Dass sie unnötig waren. Unnötig und unerwünscht. Lästig wie hunderte kleine Obstfliegen, versammelt um eine Schale Aepfel, fressend, die Frucht durch zahlreiche, minimale Schäden, langsam aber sicher zum Verrotten zu bringen. Und wozu diente ein verrotteter Apfel noch? Niemand konnte ihn gebrauchen, im besten Fall landete er im Abfall, mit viel Glück mit einem Anflug von ärger beim Gedanken an das verschwendete Gut – doch am Ende unnütz. Umso unvervständlicher war es ihm, dass er seit Tagen – vielmehr seit Wochen, wie ihn sein Verstand beinahe selbstständig verbesserte – in einer Zwischenstufe zu schweben schien, welche jede dieser drei todbringenden Umstände beinhaltete. Zu Beginn versuchte er es noch als schlichte Vorfreude abzutun, doch endeten seine analytischen Fähigkeiten nicht bei sich selbst. Für normal befand er das auch als gut wie es war, doch gab es diese zwei Stunden, direkt nachdem er sich eingestehen musste, dass er sich einer solchen Schwäche hingab, in denen er glücklich darüber gewesen wäre, einen Teil der mit weniger Geist gesegneten Bevölkerung in sich haben zu können. Absoluter Schwachsinn, wie er zum Glück nur wenig später wieder zur Vernunft kam. Wenn er denn nichts dagegen unternehmen konnte – und er war nicht der Wahnvorstellung unterlegen, dass er das konnte – musste er eben lernen damit zu arbeiten, versuchen eine Stärke aus der scheinbaren Schwäche zu machen. Erstaunlicher Weise hatte das ausgezeichnet funktioniert. Es gab nur eine einzige Sache, die ihn mehr erstaunte, als sein Erfolg – er hatte sich selbst Ueberrascht. Damit konnte er allerdings gut umgehen, bedeutete es doch ein rasches Vorankommen, das nahende Ende seiner utopischen Vorstellungen und Gedanken, welche seine Wünsche prägten. Der letzte von Moriartys Männern war beinahe unversehrt – zumindest waren seine Verletzungen nicht lebensbedrohlich – in den Händen der Polizei gelandet und er wusste es würde nicht mehr lange dauern, bis er zurück konnte. Diese Erkenntnis liess ihn verstehen, dass eine Steigerung von Hoffen und Wünschen niemals unmöglich zu sein schien. Zugleich war er sich allerdings darüber bewusst, dass er diese Seite an ihm mehr verstecken, tiefer vergraben musste als zuvor. Er würde sich an einen Bruder wenden müssen, eng mit diesem zusammenarbeiten, darauf verlassen, dass er seine Hilfsbereitschaft nicht im letzten Moment überdenken würde. Wahrscheinlich war ein Szenario in dem Mycroft sich von ihm abwendete und weitere Hilfestellung verweigerte nicht, doch wollte er unnötige Verzögerungen vermeiden. Zumindest war das der Grund, mit dem er sich selbst am einfachsten Abfinden konnte. Fast zwei volle Monate vergingen nach der Festnahme des letzten Mannes, bevor alles arrangiert war. Vorbereitungen wurden getroffen, wichtige Persönlichkeiten an wichtigen Stellen vermutlich bestochen oder erpresst – zumindest Mycrofts Miene liess des öfteren darauf schliessen – und jene Informiert, denen die plötzliche Wiederauferstehung Sherlock Holmes' nicht bis zum letzten Moment ein Geheimnis bleiben konnte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wenn er seine Vernunft, seinen Verstand auch nur für den Bruchteil einer Sekunde abstellen könnte – John wäre der erste gewesen, der es erfahren hätte. John wäre nicht für zwei weitere Monate durchs Leben gegangen, unwissend, dass er bald nicht mehr einsam, nur mit der Gesellschaft der mittleiweile weitaus weniger fröhlichen Mrs.Hudson in der leer scheinenden Wohnung in der Baker Street vor sich hinvegetieren wuerde muessen. Doch er wusste, es war riskant. Obwohl die Gefahr gebannt war, war das Risiko zu hoch, bevor alles andere geregelt war, sein Ruf wiederhergestellt, sein Weiterleben erklärt. John würde nicht verstehen, nicht sofort. Er wuerde sich nicht mit der Tatsache abstempeln lassen, dass sein Mitbewohner am Leben war, er würde zu viele Fragen stellen und am Ende womöglich zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es war besser so. Und doch... Seit beinahe einer halben Stunde – 28 Minuten, um genau zu sein – verharrte er nun schon vor der Tür. Die schlichte, dunkle Lackierung nicht anders als zu den Zeiten in denen er noch mit Sicherheit wusste, dass sie zu seinem Heim führte. Die goldenen Ziffern, die Hausnummer. 221b. Er konnte sich sein Zögern nicht erklären, egal wie sehr er es versuchte. Tausende von Gründen hatte er bereits durchgearbeitet, alle davon schienen perfekt zuzutreffen und doch nicht ein Einziger. In routinierter Manier bemerkte er die spuren am Schlüsselloch, die Kerben im Holz auf gleicher Höhe. Zwei mal wurde die Tür gewaltsam aufgebrochen, seit er das letzte Mal duch sie getreten war. Natürlich wusste er um die Einrüche, doch beruhigte ihn seine eigene Deduktion auf alltbekannte Weise. Ein leichter Geruch drang selbst duch die geschlossene Tür, Vanille und Zimt, vielleicht ein Hauch von Apfel. Mrs. Hudson hatte gebacken, einen Kuchen, ihn vor ungefähr einer Stunde zum kühlen auf den Tisch gestellt. Nicht schwer zu erörtern, doch jagte ihm der bekannte Geruch den Hauch eines Lächelns über sein Gesicht. Klopfen. Nur Klopfen, mehr brauchte es nicht. John würde ihn nicht hören, obwohl er zu Hause war. Das sollte er auch nicht, John sollte nicht der Erste sein. Am selben Morgen hatte er Mrs. Hudson einen Brief geschrieben, nach langem, viel zu langem Zögern schliesslich eigenhaendig dafuer gesorgt, dass sie ihn heute noch erhalten wuerde. In diesem Brief waren seine Umstände geschildert, der Grund für sein Verschwinden, zwischen den Zeilen wohl auch die Bitte um vergebung. Es war überraschend, wie schwer ihm die wenigen Zeilen fielen. Am Ende des Briefes, die Bitte ihn einzulassen, John nichts zu erzählen. Er war sich sicher, sie würde verstehen, vielleich – bestimmt – besser als er es selbst konnte. Die Zeit verstrich weiterhin, er konnte sich nicht dazu bringen denletzten Schritt zu tun. Es war unwahrscheinlich lächerlich, innerlich schalt er sich selbs einen verdammten Idioten. Seit wann fiel er so einfach aus der Rolle? Der Aerger über sich selbst wuchs mit jeder verstichenen Sekunde. Schritte. Die Haustür wurde geoeffnet – einigermassen energisch. Ein Schwall Kuchenduft umwehte ihn binnen Sekunden, sein Blick fiel auf die kleinere Vermieterin vor ihm. Ihr Blick war nicht zu deuten, als die ihn Stumm in die kleine Küche lotste, ihn auf einen der beiden Stühle am Tisch drueckte und ihm – weiterhin schweigend – eine Tasse Tee reichte, bevor sie ihm gegenüber Platz nahm. Er sah in ihre Augen, bewusst seine alte Angewohnheit vermeidend, mit einem Blick alles über sie erfahren zu wollen. Der Ausdruck schien sich zu verändern, es war das erste Mal, dass er eine solche Wandlung bewusst wahrnahm. Es dauerte nur wenige Augenblicke, ehe die Frau wieder auf den Beinen war und ihm mit einem geschluchzten “Oh, Sherlock!”, um den Hals fiel. Die Tasse in seinen Händen fiel zu Boden, ging unter lautem Klirren zu bruch, doch Mrs. Hudson schien sich nicht daran zu stören. Nur zögerlich liess er sich auf ihre Herzlichkeit ein, berichtete schliesslich von seinem Plan, seinen drchgeführten Taten, der Nortwendigkeit der Täuschung. Sie verstand. Ein seltsames Gefühl der Erleichterung durchschoss ihn, es war als hätte sich etwas in ihm gelöst, als hätte er erst jetzt die Spannung in seinem Inneren bemerkt. Jetzt, da sie vermindert wurde. “Wirst du jetzt zu ihm gehen? Er ist oben, wie immer. Er verlässt die Wohnung nurnoch wenn es sein muss. John... er ist so einsam seit du fort bist.” Sie kann nicht wissen, wie tief ihn ihre Worte treffen. Kaum merklich nickte er und erhob sich in derselben Bewegung. War es nicht was er wollte? Seit Tagen, Wochen, vielleicht Monaten. Es gab keinen Grund zu zögern, im Gegenteil, jede Sekunde die er verstreichen liess wären nur noch mehr Verrat an John. Sein Verstand schrie ihm all dies zu, doch zum ersten Mal viel es ihm schwer sich darauf einzulassen. Wie er es die Treppe nach oben schaffte, wann er die Tür zur Wohnung öffnete – er wusste es im Nachhinein nicht mehr. Doch er konnte sich an Johns Gesicht erinnern, den Ausdruck absoluten Entsetzens darauf, seine Stimme, das gehauchte, kaum zu vernehmende “Sherlock?” und vor allem den perfekt sitzenden Kinnhaken, der auf sein stillschweigendes Nicken folgte. Mit Tränen in den Augen – selbstverständlich Tränen des Schmerzes, denn weshalb sonst sollten seine Augen tränen? - blickte er auf sein Gegenüber. John sah schlecht aus, mitgenommen, ausgelaugt. Der Anblick seines – ehemaligen – Mitbewohners bewegte ihn mehr als er es erwartet hätte. Sekunden verstrichen, vielleicht Minuten oder auch mehrere Unendlichkeiten, doch mit einem Mal schien John sich vollkommen zu entspannen – augenscheinlich zum ersten Mal in sehr, sehr langer Zeit. Mit einem einzige, grossen Schritt überbrückte der Arzt die Distanz zwischen ihnen, presste sein Gegenüber mit ungeahnter Kraft in eine erbarmungslose und doch unglaublich aussagekräftige Umarmung. Zum vielleicht ersten Mal zögerte Sherlock nicht, sie zu erwidern. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass John ihm verzeihen würde, dass er versuchen würde zu verstehen, zurück an den Punkt zu gelangen, an dem alles beendet worden war – wenn auch nur zum Schein. Im selben Moment, in dem Sherlock zu dieser Erkenntnis gelangte, begann er endlich auch zu verstehen, was es bedeutete frei Atmen zu können, was es bedeutete eine unsichtbare Last von sich genommen zu fühlen. Endlich – endlich – konnte er wieder atmen, konnte er wieder leben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)