Hexennebel von _Myori_ ================================================================================ Mit dem Winter kam der Nebel und mit dem Nebel zog auch die Furcht in Hamlet Fog ein; obwohl genau dieser dichte, weiße Rauch, der jedes Jahr das kleine Dorf am Rande eines hohen Gebirges, umgeben von tiefen Wäldern, stets von neuem einhüllte, der alteingesessenen Gemeinschaft zu seinem Namen verholfen hat. Die Alten flüsterten, dass im Nebel die Seelen der Verstorbenen wandeln, die nicht das Glück hatten, von einem Engel ins Jenseits geschickt worden zu sein, die nicht den Weg kannten und somit auf Ewig verdammt waren, in dem weißen Dunst zu verweilen und zu hoffen, dass sie jemandem begegnen, der sie erlöst- jedoch gab es kein lebendes Wesen auf dieser Erde, und schon gar nicht in Hamlet Fog, das jemals vor der Himmelspforte gestanden hat und von ihr erzählen könnte. Allerdings waren es nicht die Seelen, vor denen die Alten stets mit heiseren Stimmen warnten. Etwas anderes, böses hauste im Nebel. Hexen. Magier. Zauberer. Der Teufel. Jeder nannte die Wesen anders, manche erzählten von jungen, wunderschönen Frauen, manche von alten, buckligen Männern, wieder andere beschrieben sie als abscheulich hässlich und fernab von jeglichem menschlichen, doch sie alle waren sich einig, dass sie böse und listenreich waren. Ja, die List war das, wovor die Alten warnten, was sie immer predigten, dass man den Wesen niemals zuhören durfte. Sie zogen mit den Seelen im Nebel, tanzten um sie herum, lachten über ihr Pech und prahlten mit ihrer eigenen Unsterblichkeit. Und dann, wenn die Seele zu lange zuhörte und sich nach dem Leben mehr denn je sehnte, begannen sie von dem Himmel zu schwärmen, von der prächtigen Himmelspforte, den Säulen aus purem Gold, auf dem sie stand, den wunderschönen Gesängen der Engel, den die arme, kleine Seele nicht richtig zugehört hatte und deren Stimmen sie nie wieder hören würde. Es gab kein Wesen auf dieser Welt, nicht einmal die toten unter ihnen, das bei solchen Erzählungen nicht weich wurde. Und wenn die arme, verlorene Seele zu betteln begann, nahm die List ihren Lauf. Ich könnte dir helfen, fängt die Hexe dann süß und mitleidig an zu säuseln, ich kenne den Weg… Es gibt zwei Dinge, die man niemals tun darf, egal, was die Hexe sagt, erzählten die Alten schon den jüngsten Bewohnern von Hamlet Fog, zwei Dinge: Höre dem Bösen niemals zu und schau ihm auf gar keinen Fall in die Augen! …Doch wer erinnert sich schon an diesen Rat, wenn man seit dutzenden von Jahren im dichten Nebel wandelt und die Erlösung zu sehen glaubt? Wer in die Augen einer Hexe sah, war gefangen, und das für immer. Die Wesen, so trugen es die meisten weiter, seien von menschlicher Gestalt, mit Armen und Beinen, einem Gesicht, das meist von langem, seidigen Haar eingerahmt war, doch da, wo man bei Menschen in braune, grüne, blaue Augen sah, erblicke man bei den Unsterblichen nichts. Zwei schwarze Löcher, so raunten es die ganz mutigen und alten Bewohner in den dunkelsten Winternächten am sicheren Kaminfeuer. Tiefe, schwarze Leere. Die Augen seien die Spiegel der Seelen und das unsterbliche Böse besaß dieses göttliche Geschenk an die Sterblichen nicht; wozu brauchte es also schöne, bunte Augen? Die Hexen verschlangen die Seelen, sobald diese in das Nichts- wenn auch nur kurz- mit grenzenlos geschürter Sehnsucht starrten und dann gab es keine Erlösung mehr. „Und deshalb“, leierte die brüchige Stimme der Alten leise, „deshalb dürft ihr nie in den Nebel gehen. Die Hexen machen keinen Unterschied, ob um die Seele herum noch eine Hülle aus Fleisch und Blut und Knochen ist, oder nicht.“ Sie hielt kurz inne und lehnte sich auf ihrem Stuhl weiter den drei kleinen Kindern entgegen, die gebannt zu ihr hochschauten. „Meine Großmutter hat sogar einmal erzählt, dass sich die Unsterblichen von Menschenfleisch ernähren, wenn man es ihnen so großzügig vor die Füße wirft.“, flüsterte sie erstickt und als hätte sie Zauberkräfte, knackte in diesem Moment das brennende Holz im offenen Kamin so laut, dass alle Drei unter dem Geräusch zusammenzuckten. Mila, die jüngste unter ihnen, ergriff den Ärmel ihres Bruders und versteckte ihr Gesicht in dem Stoff; die großen, blaugrünen Augen wagte sie dennoch nicht von der alten Frau abzuwenden. Normalerweise mochte es Pip überhaupt nicht, wenn seine Schwester so klammerte und an ihm klebte, aber diesmal konnte er es ihr nicht verübeln. Er setzte sich aufrechter hin und spannte die Muskeln an, um das aufkommende Schaudern zu unterdrücken. „Stirbt die Seele dann?“, fragte er tapfer, aber dennoch so leise, dass er im ersten Moment befürchtete, die Alte habe ihn in ihrer seit Jahren schlimmer werdenden Schwerhörigkeit nicht verstanden. Das vom Alter verwaschene und trüb gewordene Braun ihrer Augen richtete sich eindringlich musternd auf ihn. Langsam drehte sie den Kopf von links nach rechts und wieder zurück und der Ernst in ihrem Blick ließ die Falten ihrer runzeligen Haut in dem Spiel aus Licht und Schatten des Feuers noch tiefer wirken. „Nein, kleiner Pavel“, antwortete sie ihm genauso leise. „Niemand kann zweimal sterben. Das Sterben ist zugleich die Geburt deines zweiten Lebens, deine zweite Chance, die man im Himmel erhält. Wird man von der Hexe gefressen, ist man… einfach nicht mehr da. Als habe man nie existiert.“ Die letzten Worte blies sie, einem Zischen gleich, über ihrer Lippen, verschloss das wässrige Braun mit ledrigen Lidern und holte tief Luft, als habe der Satz die letzte Kraft in ihr aufgezehrt. Nun begannen auch Gregs Hände zu zittern und der stämmige Junge, von dem Pip eigentlich erwartet hätte, dass er die Geschichte seiner Großmutter mit einem Gähnen abtat- immerhin kam Greg viel öfter in den Genuss von Marthas Nebelgeschichten als er und Mila-, umschlang seine Knie um seine nervösen Finger zu beschäftigen. „Kommt man dann nie in den Himmel?“, wisperte Mila durch Pips zerknitterten Baumwollärmel hindurch und wieder schüttelte die Alte Martha mit dem Kopf. „Niemals.“ Greg runzelte die Stirn. „Aber… warum darf man den Hexen nicht in… in die Augen sehen? Wie wird man denn in ihren Bann gezogen?“ „Nun, wenn-“ Gregs Vater kam von draußen herein, brachte für einen kurzen Moment Schnee und Kälte mit in die warme Stube und unterbrach Martha mitten im Satz. Der breitschultrige Mann, von dem Greg ohne jeden Zweifel die Statur geerbt hatte, ließ die mitgebrachten Holzscheite in die Ablage neben dem Kamin fallen und feuerte mit zwei besonders großen Stücken nach. Die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn war immer wieder verblüffend. Schon mit seinen neun Jahren überragte Greg alle anderen in seinem Alter und Pip machte sich immer einen Spaß daraus, sich hinter seinem gewaltigen Rücken vor dem schneidenen Wind zu verstecken, der ihnen morgens auf dem Weg zur kleinen Schule im Nachbardorf stets entgegenwehte; auch, wenn sein Freund davon nie recht begeistert war und den Scherz dahinter nicht ganz zu verstehen schien… Die dunkelbraunen Augen des Mannes sahen erst auf die drei Kinder herab, dann fixierten sie die Alte und ein Schmunzeln zeichnete sich unter seinem dichten, zottigen Bart ab. „Erzählst du schon wieder deine Schauermärchen, Mutter?“, brummte er und trotz des tiefen Tonfalls klang seine Stimme belustigt. Martha verengte die sowieso schon kleinen Augen zu Schlitzen und deutete mit einem dürren Zeigefinger zu ihrem hochgewachsenen Sohn hinauf. „Du weißt ganz genau, dass es keine sind“, entgegnete sie mürrisch. „Ich sage dir immer wieder, halte dich vom Nebel und vom Wald fern!“ „Dieser Winter ist besonders kalt, da reichen unsere Vorräte einfach nicht aus und Feuerholz findet sich nicht auf den Straßen.“, erwiderte er augenverdrehend und strich sich den schmelzenden Schnee aus Bart und Haaren. „Falls du also nicht frieren willst, habe ich keine andere Wahl, als in den Wald zu gehen. Und da ich ja immer wieder gesund und mit meiner Seele im Körper zurückkomme, erlaube mir also bitte, deine Geschichten von Hexen und Unsterblichen als Märchen zu betiteln.“ Pip sah, wie Martha die raue Unterlippe beleidigt nach vorne schob. „Noch“, erwiderte sie spitz und mit erstaunlich fester Stimme. „Irgendwann wirst du nicht mehr lebend zurückkehren und ich habe keine Lust, dich zu Grabe zu tragen- keine Mutter sollte ihren Sohn beerdigen.“ Gregs Vater lachte, dass helle Zähne unter seinem dichten Bart hervor blitzten. „Das wirst du aber irgendwann müssen, denn du hast ja nicht die Absicht, vor mir oder deinem Enkel zu sterben, Mutter.“ „Kaleb!“ Empört ließ Gregs Mutter ihr Küchenmesser sinken und drehte sich mahnend ihrem Gatten zu. „Wie kannst du-?“ Gregs Vater wischte ihren angefangenen Satz mit einer Handbewegung weg und hängte seinen langen Fellmantel auf. „Ach, sie versteht das schon richtig. Es war schon immer ihr Plan gewesen, uns alle zu überleben und weiter tagein, tagaus, von den Hexen zu predigen, auf dass sich niemand mehr im Winter aus dem Haus wagt und wir irgendwann alle jämmerlich erfrieren, weil uns das Feuerholz ausgeht.“, fügte er mit einem Augenzwinkern an seinen Sohn und den beiden anderen Kindern gewandt hinzu. Seine Frau, die schon Luft für einen Konter holen wollte, klappte stattdessen den Mund lautlos zu und widmete sich kopfschüttelnd wieder dem Abendessen. Martha schien die spitzen Kommentare ihres Sohnes überhört zu haben- ob gewollt oder nicht, wusste wohl niemand so genau- und so wandte sie sich wieder ihrem Publikum zu, das gebannt vor ihr auf Kissen ausharrte und an ihren trockenen Lippen hing; zumindest war das bis vor ein paar Minuten noch der Fall gewesen. „Wisst ihr, warum ich so alt bin?“, fragte sie die Kinder. „Weil ich stets vorsichtig war und dem Nebel fern geblieben bin. Die Hexen werden mich niemals holen“, antwortete sie betont und warf Kaleb einen vielsagenden Seitenblick zu, auf den sich der Mann allerdings nicht weiter einließ. „Und den Engeln werde ich auch ganz genau zuhören, wenn sie sich an mich erinnern und mir den Weg ins Ohr Flüstern wollen.“ „Dann sollten sie vielleicht lieber laut schreien, damit du sie auch ja verstehst.“, gluckste Kaleb spitzzüngig. Wieder landete etwas lautstark auf dem Holzbrett, auf dem Dhana die ganze Zeit über Fleisch und Gemüse für den Eintopf schnitt; diesmal war es die zu bearbeitende Kartoffel gewesen- das kurze, scharfe Messer, das sie fürs Schälen verwendet hatte, deutete vielsagend auf Kaleb. „Es reicht jetzt!“, sagte sie warnend und warf ihrem Gatten einen Blick zu, der selbst den gestandenen Mann, der mit seinem Bart im rechten Licht unheimlich und bedrohlich wirken konnte, zu einem gescholtenen Jungen zusammenschrumpfen ließ, und ihn, missverstanden wie er sich fühlte, beleidigt zum Rückzug in Richtung Schlafzimmer drängte. Pip wusste schon länger, dass Greg seinen winzigen Sinn für Humor seiner Mutter zu verdanken hatte. Dhana war eine liebe, herzliche Frau, die immer ein offenes Ohr für jedermann hatte; nur manchmal war auch ihre Toleranz ausgemerzt und das war in Sachen Familienmitglieder nun mal halt sehr schnell der Fall. Martha saß unschuldig auf ihrem Stuhl und warf ihrer Schwiegertochter ein kurzes, zufriedenes Nicken zu, was Dhana mit einem angedeuteten Lächeln erwiderte. Die beiden Frauen waren ein eingespieltes Team… Als sie sich sicher war, dass Kaleb seine Lektion für den Moment verstanden hatte, wandte sie sich, die Hand mit dem Messer darin gegen die Hüfte gestemmt, ihrem Sohn und seinen beiden Freunden zu. „Ich denke, für heute reicht es mit Geschichten.“, befand sie, strich eine schwarze Locke aus ihrem Gesicht und lächelte die Drei warm an. „Pavel, Mila, ihr solltet auch langsam nach Hause gehen. Es wird bald dunkel draußen und, Hexen hin oder her, mir wird anders bei dem Gedanken daran, dass ihr in diesem Licht noch draußen umherwandert.“ Pip nickte und zog sich und seine kleine Schwester auf die Füße. „Danke für die Geschichte, Großmutter“, sagte er höflich an Martha gewandt und senkte anständig den Kopf, wie es sein Vater ihm beigebracht hat- zolle den Alten und Weisen stets deinen Respekt. Auch Mila senkte ihren hellbraunen Schopf, allerdings erinnerte es eher an ein flüchtiges Nicken denn an eine Ehrerbietung. Martha machte da jedoch keinen Unterschied. Lächelnd erwiderte sie die Geste und Pip richtete seinen Dank an Dhana und Kaleb, der inzwischen wieder im Wohnraum aufgetaucht war und, als sei nichts gewesen, zu seiner Frau ging und ihr einen Kuss auf die Wange drückte, um im selben Moment an ihr vorbei nach seinem Tabak zu greifen, der in einer kleinen Dose auf der Ablage stand. Zuletzt sprach er noch ein kurzes Wort mit Greg, währenddessen er Mila in ihren dicken, schweren Mantel half und sich selbst anzog. „Soll ich euch nach Hause bringen?“, fragte Kaleb nach einem flüchtigen Blick nach draußen. Die Sonne war schneller gen Erde gewandert, als gedacht. Pip sah auf die gestopfte Pfeife in der mächtigen Pranke des Mannes, die darin unglaublich klein und zierlich wirkte. Er wusste, dass Gregs Vater den ganzen Nachmittag draußen in der Kälte gewesen war, Holz gesammelt und gehackt hatte und dass ihm der raue Winter dieses Jahr ziemlich an Nerven und Substanz ging- wie jedem in Hamlet Fog und Umgebung, da war der bärenhafte Vater seines besten Freundes keine Ausnahme. Schnell schüttelte er den Kopf und lächelte. „Danke, aber das ist nicht nötig.“ Er wusste, was sich gehörte und immerhin war er ja auch schon Acht! Da musste man nicht mehr unbedingt von einem Erwachsenen nach Hause gebracht werden. Dhana schien nicht überzeugt zu sein. „Habt ihr wenigstens eine Laterne dabei?“ Diesmal nickte Mila und hob stolz die verzierte Metalllaterne mit beiden Händen hoch. „Die hat uns Papa mitgegeben.“ „Na schön“, gab sich Gregs besorgte Mutter langsam geschlagen und half Mila beim Anzünden des Lampenöls. „Pass mir ja auf deine Schwester auf.“, mahnte sie Pip. „Mache ich, versprochen.“ „Und haltet euch von dem Nebel fern!“ „Das werden wir, danke, Großmutter.“ Mit aller Kraft zog der Junge die schwere Holztür zu und setzte die Kapuze seines Mantels auf. Feine Eiskristalle, aufgewirbelt von vereinzelt wehenden Böen, die über das von Schnee bedeckte, raue Land tanzten, bliesen ihm ins Gesicht und ließen ihn blinzeln. „Komm, beeilen wir uns.“, sagte er an Mila gewandt, die zustimmend nickte. Er ließ sich von ihr die schwere Laterne reichen und nahm sie an die Hand. Das kleine Mädchen drängte sich an ihren großen Bruder und versuchte mit eiligen Schritten in dem tiefen Pulverschnee mitzuhalten. Der Weg war nicht besonders weit. Gregs Familie wohnte am Rande von Hamlet Fog an einem schmalen Fluss, der das Dorf von dem dichten Wald trennte, vor denen die Alten warnten. Doch im Winter, wenn der Nebel über dem Land hing, war dieser kaum zu erkennen. Einzelne Bäume und weit ragende Äste von Buchen und Kiefern drangen durch den dichten Nebel, der den Wald wie eine zweite Haut umgab. Selbst über dem fließenden Wasser des Flusses hingen dichte Schwaden weißen Dunstes, als würde die teils zugefrorene Flüssigkeit heiß kochen. Kein Geräusch war zu vernehmen; selbst das Rauschen des Wassers war an diesem Abend zu einem kaum hörbaren Flüstern verebbt. Die beiden Kinder müssten dem Verlauf des Flusses einige Zeit lang folgen, ehe sie den Nebel endlich hinter sich lassen und tiefer in den Kern des Dorfes vordringen könnten. Immer wieder huschte Milas Blick über das Wasser hinüber zu der Nebelwand, aus der die Bäume ihre Äste streckten wie Gefangene durch die eisernen Gitterstäbe eines Gefängnisses, die Vorbeigehenden um Hilfe anflehend. Pip spürte, wie ihre kleine Hand sich in seiner verkrampfte und ihr Gesicht verschwand wieder zunehmend in dem Fell seines Mantels. „Was ist?“, fragte er leise und sah stirnrunzelnd zu ihr hinab. „Seit wann bist du so ein Angsthase?“ Die Sechsjährige sah zögernd auf und presste die kalten Lippen aufeinander. Furcht verdunkelte das Blaugrün ihrer großen Kinderaugen. Ohne ein Wort gesagt zu haben, wandte sie den Blick erneut ab und starrte in den Nebel. Pip folgte ihrem Augenmerk, schien endlich die Sorge seiner Schwester verstanden zu haben und blieb seufzend stehen. „Mila, das waren nur Geschichten, die die Alte Martha uns erzählt hat, um uns Angst zu machen.“, versuchte er ihr zu erklären, doch Mila schüttelte nur heftig den Kopf und zog Pip weiter den Weg entlang. „Und was ist, wenn es die Hexen doch gibt? Komm, bitte, ich will nach Hause!“ Doch so sehr die Kleine auch an seinem Ärmel zerrte, Pip bewegte sich keinen Meter weit. „Es gibt keine Hexen, Dummerchen.“, wiederholte er betont und schüttelte den Griff des Mädchens verärgert ab. „Kaleb geht jeden Tag in den Wald und er hat noch nie eine gesehen. Und Papa geht genau so oft dorthin und auch er-“ Er unterbrach sich, als Mila ihm in diesen Moment die Laterne aus der Hand riss und damit losstiefelte. „Papa ist groß und stark, natürlich tun sie ihm nichts! Niemand kann Papa etwas tun!“ Sie blieb stehen, als sie merkte, dass auch diese drastischere Maßnahme von ihr keine Reaktion bei ihrem Bruder ausgelöste und drehte sich zu ihm um. Ihre Unterlippe bebte und sie zog die Nase auf diese eine Art und Weise hoch, die Pip nur zu gut kannte; das ganze Gesicht seiner Schwester kündigte einen baldigen Sturzbach von dicken Tränen an. Der Junge gab schließlich nach und trat auf Mila zu, ehe noch ein Unglück passierte. Würde das Mädchen einmal anfangen zu heulen, bekam nichts und niemand sie für die nächsten quälend langen Minuten wieder beruhigt und darauf hatte Pip nun wirklich keine Lust. „Mila, niemand wird uns etwas tun.“, antwortete er ihr und zog ihr liebevoll wieder die Kapuze tief ins Gesicht, die durch den zupfenden Wind verrutscht war. Er lächelte sie aufmunternd an. „Solange ich bei dir bin, passiert dir überhaupt nichts, okay? Es gibt keine Hexen, glaube mir.“ Pip wollte sie gerade wieder an die Hand nehmen und seinen Weg mit ihr fortsetzen, als auf einmal ein lautes Knacken die Stille durchbrach und seinen Kopf in Richtung Wald herumfahren ließ. Mila zuckte heftig zusammen und schlug sich die Hände vor den Mund, um einen Angstschrei zu ersticken. Pip spürte sein Herz in der Brust rasen. Angestrengt versuchte er Einzelheiten in dem Nebel zu erkennen, doch die fortschreitende Dämmerung verschluckte jegliche Konturen. Nun klammerte sich Mila ganz an seinen Körper. „Das war eine Hexe, ganz bestimmt…“, wimmerte sie und die ersten Tränen liefen ihr über die geröteten Wangen. Pip riss sich vom Anblick des Waldes los und sah verärgert auf das Mädchen herab. „Quatsch, das war wahrscheinlich nur ein kleines Kaninchen oder eine Katze.“, sagte er leicht genervt, sein eigenes trommelndes Herz ignorierend, und brachte Mila unsanft auf Abstand. „Hör endlich auf mit diesem Hexen- Blödsinn!“ Ein zweites Knacken folgte, ein Rascheln von Blättern und Ästen, als schlich jemand durchs nahe Unterholz. Wieder zwangen ihn seine Instinkte zum Wald hinüber zu starren. Ein Kaninchen, rief er sich in Erinnerung, bloß ein Kaninchen. …Aber auf die Entfernung? Trotz der vorherrschenden Stille, gegen die jeder Friedhof unerträglich laut erschien, musste das Geräusch schon sehr laut gewesen sein, damit es Mila und er überhaupt mitbekommen konnten. Pip schluckte gegen seine aufkeimende Unruhe an. Dann war es eben ein sehr großes Kaninchen… Leise Schluchzer holten ihn in die Wirklichkeit wieder zurück. Mila hatte sich erneut an ihn geklammert und weinte bittere Tränen, dass sich alles in Pip zusammenzog. So sehr ihn das Geheule seiner Schwester auch nervte, wenn er ehrlich war, konnte er es nie ertragen, sie so ängstlich zu sehen. Es brach ihm immer das Herz. Aufmunternd rieb er ihr über den schmalen Rücken. „Beruhig dich, da ist nichts Gefährliches.“ Und kurzerhand griff er nach Vaters Laterne und rutschte den seichten Hang zum Fluss hinab. Mila stand wie angewurzelt da und starrte ihrem Bruder hinterher. „Was hast du vor?!“, rief sie mit zitternder Stimme. Pip blieb stehen und drehte sich zu ihr um. „Dir beweisen, dass da nichts ist.“ Milas Augen weiteten sich angsterfüllt. „Du bist verrückt. Komm zurück, Pip, bitte!“ Ein paar breite Steine lagen im Flussbett, die nicht vollkommen mit Eis überzogen waren. „Pip!“, drang Milas flehende, weinende Stimme zu ihm herunter, doch er ignorierte es. Vorsichtig trat er mit einem Fuß auf den ersten Stein und verlagerte zur Probe sein Gewicht. Als er sich sicher war, dass der Stein den nötigenden Halt gab, stieg er vollends auf ihn. So bewegte er sich von Stein zu Stein, Mila in seinem Rücken am Ufer stehen wissend und ihre wehleidigen, verängstigten Rufe bewusst überhörend. Er würde ihr die dumme Angst vor Hexen schon austreiben, da war er sich sicher. Vielleicht fand er den Störenfried ja auch und konnte ihr das kleine Tier, das diese Geräusche verursacht hat, zeigen und dann hatte dieses Theater hoffentlich ein Ende. Schwankend und mit zur besseren Balance ausgestreckten Armen kam er auf der anderen Seite des Flusses an. Die Steine waren doch glatter als er zu Anfang angenommen hatte, doch zum Glück hatte er trockenen Fußes das Ufer erreicht. Eiskalte, tropfnasse Kleidung hätte ihm jetzt noch gefehlt. Seine Mutter würde ihn zum Teufel jagen, wenn die hundert Prozent sichere Grippe das nicht schon vorher tat… Er atmete einmal tief durch, ehe er begann, das schneeverhangene Ufer auf dieser Seite wieder hinaufzuklettern. Als er endlich oben ankam und die schwere Eisenlaterne vor sein Gesicht hielt, ahnte er erst, wie nah er dem Wald nun gekommen war. Die schwarzen Bäume ragten hoch in den Himmel hinauf und verschluckten die letzten lichtspendenden Strahlen der Abendsonne vollends, dass um Pip herum nahezu vollkommende Dunkelheit herrschte und er kaum weiter schauen konnte, als der Schein seiner Laterne es zuließ. Er schluckte gegen das beklemmende Gefühl in seinem Hals an. Nur ein großes Kaninchen… Wieder hörte er die Stimme seiner Schwester und zögerlich drehte er sich zu ihr um. Sie schien hunderte von Metern entfernt zu stehen, in einer anderen, viel helleren Welt und nicht an dem anderen Ufer eines schmalen Flusses. Er sah, wie sie näher an die vereiste Böschung herantrat, als wolle sie hinter ihm her eilen. Da verdrängte eine neue Angst in ihm die vorherrschende, allerdings konnte er gegen diese vorgehen. „Nein, bleib dort drüben!“, rief er ihr entgegen und seine Stimme klang hart und schneidend. Tatsächlich stoppte Mila in ihrer Bewegung und stolperte einige Schritte von dem Abhang zurück. Pips Herz schlug mit aller Macht in seiner kleinen Brust. Er zitterte am ganzen Körper und das galt nicht der eisigen Kälte dieser Jahreszeit. Er spürte, wie die Kraft aus ihm wich, der Mut, den er mühsam mit seinem Ärger über Milas Leichtgläubigkeit zusammengekratzt hatte, rann durch seine Finger wie der feine Sand der fernen Strände, die er vor Jahren einmal mit seinem Vater gesehen hatte. Ja, vielleicht war es nur ein Kaninchen gewesen, das durch das Unterholz gehuscht war, vielleicht war es aber auch etwas anderes… eine Hexe, wimmerte nun etwas selbst in ihm, als er sich noch einmal zu dem Wald umdrehte und die im Wind wiegenden Äste wie dürre Arme aussahen, die nach ihm greifen wollten. Eine Hexe… nein! Nein, das waren alles Märchen und nichts weiter! „Nur Märchen…“, flüsterte er sich selbst ermutigend zu, wandte sich von den unheimlichen Armen der kahlen Bäume weg und trat zurück an die Uferböschung. Er hatte für heute genug von Heldentaten geschwärmt, jetzt wollte er nur noch nach Hause. „Warte, ich komme wieder zu dir!“, sagte er zu Mila, doch statt einer Antwort schrie die Kleine auf einmal panisch auf und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an - nein, er wusste, dass sie nicht ihn anstarrte und einem Instinkt folgend wirbelte er auf dem Absatz herum und hielt die Laterne gegen die Schatten der Bäume. Er hörte das Knacken von Unterholz zu spät, das Rascheln, das Bersten von dünnen Ästen, das Lachen. Ein hohes, kehliges Lachen begleitete die Gestalt, die der Nebel freigelassen hatte. Fetzen eines aschgrauen Gewandes wehten im Wind und umspielten ihre Figur. Der Nebel verschlang sie bis zu den Waden und sie riss ihn mit sich in ihrer langsamen Bewegung, immer weiter in Pips Richtung. Sie hatte die knorrigen Arme ausgebreitet, als wolle sie ihn umarmen, wie eine Mutter ihr Kind, doch ihr Gesicht versprach andere Handlungen. Aus ihrem breit verzerrten Mund ertönte weiterhin das grausame Lachen und ihre schwarzen Augenhöhlen waren auf ihn gerichtet, als existiere nur er in ihrer von Nebel beherrschten Welt. Sie kam näher, sah nur ihn. Er wollte vor ihr zurückweichen, wegrennen, doch seine Beine schienen von dem Nebel gefesselt worden zu sein, der nun auch ihn umfing. Pips Atem wurde immer schneller, weißer Dunst, dass ihm sein Verstand vorgaukelte, dass er den Nebel schon selbst ausatmete und in sich trug. „Komm zu mir.“, rief sie mit hoher Stimme, die genauso unheimlich und unmenschlich klang, wie ihr Lachen. Der Wind wehte auf einmal tosender und ließ die Bäume stark schwanken und sich biegen, als folgten sie einem stummen Befehl. Sie hatte ihn fast erreicht und noch immer konnte der Junge sich nicht bewegen. Gebannt starrte Pip in das schwarze Nichts in ihrem Gesicht. Wird man von der Hexe gefressen, ist man… einfach nicht mehr da. Als habe man nie existiert… Die Worte der Alten Martha dröhnten einem Urteilsspruch gleich durch seinen Verstand. „Komm zu mir.“ Auf einmal erklang Milas Stimme von irgendwoher, weit entfernt von der anderen Seite des hellen Ufers und dieser verweinte Laut riss ihn endlich aus seiner Starre. Er sah, wie die Gestalt vorschnellte, die Arme ausgebreitet, doch er duckte sich unter ihr weg, dass er die Fetzen ihres Gewandes über seinem Haarschopf streifen spürte, ehe er auf dem Absatz umdrehte und auf die Böschung zu rannte. Er schlitterte das vereiste Gras hinunter und versuchte in seinem Lauf zumindest ein paar der Steine zu treffen- mit mäßigem Erfolg. Er verfehlte den letzten Stein, trat ins Leere und spürte im nächsten Moment, wie sich sein Mantel mit Wasser vollsaugte und die eisige Kälte augenblicklich auf der Haut brannte. Er ignorierte es, zog sich mit aller Kraft wieder aus dem Fluss und kletterte mit taub gewordenen Fingern die Böschung hinauf. Pip sah sich nicht noch einmal um. Eilig packte er Milas kleine Hand und rannte weiter, seine weinende Schwester hinter sich herziehend. „Komm zu mir!“, schrie die Hexe hinter ihm und die Panik umklammerte sein Herz nun endgültig. Seine Lunge brannte von der Winterluft, die er in hektischen Zügen einatmete, doch auch das konnte ihn in seinem Lauf nicht stoppen. Mila wimmerte etwas von Vaters Laterne und tatsächlich fiel ihm erst jetzt auf, dass er sie nicht mehr bei sich trug. Dennoch rannte er weiter, salzige Tränen auf den eingefrorenen Wangen spürend und das hohe Lachen der Unsterblichen hinter sich immer noch vernehmend. Die Hexe sah den beiden Kindern hinterher, ein höhnisches Lachen auf den aufgemalten Lippen. Der Wind zupfte an ihr, drohte die geflickten Lumpen von ihrem kantigen Körper zu reißen. Ein Ast schlug gegen ihr Gesicht, dass sich eines der aufgeklebten Kohlestücke aus ihrem Gesicht löste. Ihre „Augenhöhle“ fiel in den hellen Schnee und der Bann war endgültig gebrochen. Marek brach das hohe, schiefe Kichern ab und fiel in seiner gewohnten Tonlage in schallendes Gelächter, in das Will gleichermaßen mit einstieg und sich vor Lachen den schmerzenden Bauch hielt. „Hast den Feigling gesehen?“, japste Marek atemlos und ließ die Strippen der Hexen-Puppe los, sodass diese zu Boden fiel. „Der hat sich fast vor Angst in die Hose gemacht.“ Will fehlte vor lauter Lachen die Luft zum Antworten und so beließ er es bei einem zustimmenden Nicken. Marek sah zu der Stelle hinüber, an der vor kurzem noch ihr Schulkamerad gestanden hat und verängstigt vor ihrer Strohpuppe davon gelaufen war. Das Grinsen des Neunjährigen wurde noch ein Stück breiter. „Schau mal, der hat sogar seine tolle Laterne liegen gelassen.“ „Glaubst du, dass er nochmal zurück kommt und sie holen wird?“, fragte Will seinen besten Freund, woraufhin dieser einen neuen Lachanfall unterdrücken musste. „Kein Stück, der hat viel zu viel Schiss wieder auf die böse Hexe zu treffen.“, erwiderte Marek, machte ein verängstigtes Gesicht und schlug sich die Hände gegen die Wangen, dass auch Will wieder losprusten musste. „Was für ein Baby.“, lachte er und wischte sich einige Tränen aus den Augenwinkeln. „Oh ja, das war lustig“, pflichtete ihm eine Stimme bei. „Das müssen wir unbedingt noch einmal wiederholen.“ Will wollte Marek gerade lautstark zustimmen, doch bei dem Klang der erneut unnatürlich hoch gewordenen Tonlage seines besten Freundes geriet er ins Stocken. „Marek, die beiden sind schon längst zu Hause, du musst nicht mehr so dämli-“ Der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken. Zwischen den Jungen hockte eine Frau. Sie war jung und, soweit Will das in seinem Schock beurteilen konnte, wahrscheinlich auch recht hübsch anzusehen, wenn in ihren zerzausten, langen Haaren nur nicht so viele Nadelblätter und Zweige hängen würden. Verspätet setzten seine Instinkte ein, die ihn einige Schritte zurückstolpern ließen. Am Rande bekam er mit, dass Marek es ihm gleich tat und ebenfalls erschrocken den Abstand zwischen sich und der Unbekannten zu erweitern versuchte. Die Frau schien sich an der Reaktion der beiden Jungen nicht weiter zu stören; unbeirrt hockte sie in dem tiefen, vom Nebel bedeckten Schnee und sah hinaus auf die Strohpuppe, die ein paar Metern entfernt an der Böschung des Flusses lag. Ihr Gesicht lag verborgen unter einer zottigen Mähne aschblonden Haares, sodass Will keine genaueren Einzelheiten erkennen konnte; lediglich ein breites Grinsen, das zwei weiße, gerade Zahnreihen entblößte, blitzte hervor. Will spürte, wie ihm sein Herz bis zum Hals schlug und hilfesuchend starrte er zu Marek hinüber, der jedoch genauso verängstigt zurücksah. Die Frau rührte sich nicht, als sei sie die Puppe, die sie so gebannt zu beäugen schien. Sekunden passierte nichts, dann sah Will, wie sein Gegenüber die Schultern gewappnet nach oben zog und einen Schritt auf die Blonde zutrat. „Wer… sind Sie?“, fragte Marek und Will beneidete ihn schon um die Spur an Selbstsicherheit in seiner Stimme; er hätte nicht einmal ein einziges Wort herausgebracht… Die Frau antwortete ihm nicht. Sie verzog die Lippen noch weiter und ein leises, hohes Kichern ließ ihre schmalen Schultern leicht beben. Sie gab ein groteskes Bild ab; ihre dünne, drahtige Statur erinnerte Will an ein zu groß geratenes Kind, das sich des Nachts in seinem weißen Nachthemd aus dem Haus geschlichen hat um durch die Wälder zu streifen, verbotene Orte aufzusuchen und sich nun in aller Stille und Einsamkeit über seine umherwandernden Eltern zu amüsieren, die es vergeblich suchten. Das lange Kleid, das die Unbekannte trug, erinnerte tatsächlich an ein Nachthemd mit Rüschenverzierungen an den gerafften, kurzen Ärmeln und einer Schnürung unterhalb der Brust. Trotz der Nebelschwaden, in denen die Drei standen, konnte Will erkennen, dass die Frau barfuß im Schnee stand und außer dem Kleid kein weiteres Kleidungsstück bei sich hatte- im Winter. Eine Irre, schoss es Will durch den Kopf und die Angst ließ seinen Körper erzittern. Als die Frau noch immer nichts sagte, konnte Will seinem Freund im Gesicht ablesen, wie sich Nervosität und Verwirrung in ihm ein Gefecht lieferten. „Kommen Sie aus Hamlet Fog?“, versuchte es Marek ein weiteres Mal, doch diesmal klang er wesentlich ungeduldiger. Ihr Kichern wurde zunehmend lauter und irrer. „Wie lautet Ihr Name?“ Marek hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als die Fremde schallend zu lachen begann. Sie warf den Kopf ruckartig in den Nacken, dass ihre helle Mähne nach hinten flog und ihr ganzes Gesicht freigab. In der vorangeschrittenen Dämmerung wirken ihre großen Augen tiefschwarz. „Mein Name?“, hörte Will sie nachfragen. „Oh, ich habe viele Namen…“ Sie drehte den Kopf zur Seite, zu Wills Beunruhigung in seine Richtung, als hätte er die Frage gestellt, und ihre dunklen Augen musterten ihn eindringlich. Nein, korrigierte Will sich in diesem Moment selbst in Gedanken, nein, nicht ihre Augen sahen ihn an… Das Gefühl von schleichender Panik presste ihm alle Luft aus der Lunge und hilflos stolperte er weiter rückwärts über Äste und Gestrüpp. Aus Mareks Gesicht fiel jegliche Farbe, sodass es an den umgebenden Schnee erinnerte. Sie war inzwischen aufgestanden und kam auf ihn zu, das fratzenartige Grinsen auf den farblosen Lippen. „Welchen wirst du mir wohl geben?“ Die Panik hatte sich seiner Füße bemächtigt und sie mit dem unebenen Untergrund verwachsen lassen. Zwischen seinen Schultern spürte er den breiten Stamm einer der unzähligen Rotbuchen, die den Waldrand säumten und im Sommer mit ihren dichten Baumkronen wunderbare Schattenplätze boten; doch nun fühlte er sich von der rauen, eisigen Rinde eingeengt und in die Falle getrieben. Die Hexe erreichte ihn mit einem Kichern auf den verzogenen Lippen. Filigrane, kalte Hände schlossen sich um seine Wangen. Will fühlte die Berührung, doch was er in dem Moment wahrnahm, waren nur noch die tiefen, nachtschwarzen Höhlen in ihrem Gesicht, die eigentlich mit einem Paar wunderschönen Augen ausgefüllt sein müssten. „Bleib und spiele mit mir, kleiner William…“, flüsterte ihr Mund. Die Frage, woher sie seinen Namen kannte, brannte ihm auf den Lippen, jedoch hatte die wilde Angst in ihm selbst seine Zunge gelähmt. Stolpernd versuchte sein Herz einem Rhythmus zu folgen. In der Dunkelheit ihres von zerzausten Haaren eingerahmten Antlitzes schien etwas hell aufzulodern. „Bleib bei mir und ich werde dir deine Wünsche erfüllen.“ Das Flackern wurde mit jedem Wort deutlicher. Inzwischen lächelte die Hexe nur noch, süß und lieblich, dass sich kein Wesen diesem Ausdruck hätte entziehen können. „Fragst du dich nicht manchmal, was hinter diesen hohen Bergen liegt? Was hinter dem Meer liegt? Hinter dem Horizont und was dahinter?“ Ihre Augen kamen näher, bis Will ihren Atem spürte, der kühl gegen seine bebenden Lippen blies. Etwas loderte in dem Schwarz vor ihm auf, als starrte er in eine gleißend helle Fackel und auf einmal sah er Bilder in dem Hexenfeuer aufblitzen; Bilder von Männern in fremdartigen Gewändern in einer Umgebung, die nur aus gelb und rot und orange zusammengesetzt war, keine Bäume, kein Grün, nur Erde und Sand. Und er sah Frauen in bunter Seide gekleidet mit dünnen Schleiern vor dem Gesicht, die über bemalten Marmor und feinen Teppichen tanzten, mit Glöckchen und Schellen an Händen und nackten Füßen. Er konnte keine Musik hören, aber dennoch fühlte er den Rhythmus der Instrumente auf seiner Haut und jeder Schellenschlag der tanzenden Frauen ließ ihn am ganzen Körper ein Kribbeln spüren. Dann erlosch das Licht und mit ihm die wundersamen Bilder und zurück blieben nur noch helle Flecken in dem Schwarz, die Will an die Sterne am Nachthimmel erinnerten. Gebannt und flach atmend versank er in seiner Faszination. „Ich könnte dich dort hinführen, kleiner William“, vernahm er die verführerische Stimme der Hexe. „Ich kenne alle Orte dieser Welt und ich kann dir jeden Weg zeigen…“ Die letzten Funken erstarben und beinahe hätte Will die Hand nach ihnen ausgestreckt und angefangen zu flehen und zu betteln, sie mögen noch ein wenig bleiben. Die Angst, die Panik, alles war vergessen. „… solang du bei mir bleibst.“, vollendete die Hexe. Will zögerte keine Sekunde. Er wollte tief Luft holen, um ihr zu antworten, doch da schrie von irgendwoher ein Junge seinen Namen und einen Augenblick später packte ihn jemand am Arm. Der Druck des Stammes in seinem Rücken war von dem einen Moment zum anderen verschwunden und auf steifen, ungelenken Beinen stolperte er hinter Marek her. „Lauf!“, schrie ihm sein bester Freund zu und ließ Wills Arm nicht los. Das Gesicht des Neunjährigen war immer noch kreidebleich. Nur langsam fiel der Zauber von Will ab und erst als Marek ihn durch das kalte Wasser des Flusses zerrte, wusste er, wovor der Junge ihn bewahrt hatte. Die Hexe sah den beiden Kindern hinterher, ein munteres Kichern auf den Lippen. Und je länger sie ihnen nachsah, umso lauter und ungehaltener wurde ihr Kichern, bis es zu einem freudigen Lachen herangewachsen war. Narren, dachte die Hexe schmunzelnd, diese Menschen waren lustige Narren, die sie immer wieder aufs Neue köstlich amüsierten. Besonders die Jüngeren unter ihnen. Mit leichtfüßigen Schritten trat sie an die in überstürzter Flucht zurückgelassenen Gegenstände heran. Ihr Abbild aus Stroh lag neben der eisernen Laterne im Schnee. Der Docht der Laterne glomm nur noch schwach in der Dunkelheit. Die Puppe besaß lediglich ein Auge in Form eines Kohlestückes, das andere lag abseits unter Schnee und Nebel begraben. Die Hexe kämpfte gegen das höhnische Grinsen an, das sich in ihrem Gesicht drohte breit zu machen. Sie wusste, dass die Alten sie stets als augenlos beschrieben, was ja auch der Wahrheit entsprach und dennoch schien die Vorstellung für diese Wesen zu absurd, zu grotesk zu sein, dass man ihren Abbildern dennoch Augen verpasste- lachhaft! Wozu brauchte man noch Augen, wenn man schon alles auf dieser Welt gesehen hat? Insgeheim hoffte sie, dass diese Kinder noch einmal zurückkehrten, um ihr Eigentum holen. Sie hatte seit langem nicht mehr so viel Spaß gehabt. Nebel kroch ihr um die Beine, schmiegte sich an ihre Waden wie eine Katze und wanderte immer höher, bis sie bis zum Nabel in dem weißen Dunst stand. Sie begann wieder zu kichern. „Ihr habt mich reden hören, habe ich recht?“, fragte sie den Nebel. Die Hexe drehte sich auf dem Absatz um und ging mit zielstrebigen, langsamen Schritten wieder auf den Wald zu. „Ihr habt mich von der Welt schwärmen hören und nun wollt ihr mehr erfahren.“ Sie breitete die Arme im Gehen aus und sofort umschloss der Nebel ihre Glieder, leckte an ihrer Haut wie kaltes Feuer und löste allmählich ihre Konturen auf. Ihr Kichern wurde lauter und die weißen Schwaden wurden mit einem Mal dichter, als würden sie von ihrer Stimme angelockt werden. „Ihr armen Seelen wollt meine Geschichten hören“, sagte sie lieblich. „Oh, ich kann euch so vieles erzählen… Kommt und hört mir zu. Ich kenne jeden Weg.“ Inzwischen war sie nur noch ein Schemen in weißem Dunst, eine Ahnung, ein Schatten. Nur das Echo ihrer hellen Stimme war noch zu vernehmen, ehe sie in dem dunklen Wald vollends verschwand und sich mit ihr auch der Nebel wieder von dem Ufer zurückzog, ohne eine Spur, als habe es ihn nie gegeben. Dann brach auch das Kinderlachen der Hexe ab und die Stille des Winters zog erneut an diesem Abend in Hamlet Fog ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)