Herbstmädchen von Ling-Chang (Drachentänzerin) ================================================================================ Prolog: Roter Blitz ------------------- Der Drache prallte mit einem furchterregenden Klatschen gegen eine Wand aus Luft, magisch erschaffen und an der Stelle gewebt, um die Drachen in einen Bodenkampf zu zwingen. Verwirrt und trudelnd sank er in Richtung Boden ab, während er verzweifelt versuchte, sich von diesem Zusammenstoß zu erholen. „S’il arantha, s’il arantha. Oriyan messe, dorag! Messe! Messe! MESSE!“, brüllte eine in hellem Licht leuchtende Gestalt und Jubel brandete auf unter seinesgleichen. Doch der Drache fing sich, bevor er auch nur in die Nähe der magischen Waffen seiner Feinde kam. Sie wollten ihn Tod sehen, sie riefen ihm zu, er möge sterben. Sein Stolz fühlte sich verletzt, schließlich war er ein Drache, der Herrscher dieser Welt, von den Göttern auserkoren für diese würdevolle Aufgabe, die – er vielleicht nicht aber – seine Vorfahren mit Eifer und Perfektion erfüllt hatten. Sein Stolz litt, aber nicht sein Wesen – der Schatz eines jeden Drachen. Er war ein Drache! Sein Schutz galt dieser Welt. Wie konnten diese Lichtinsekten es wagen, den Göttern zu widersprechen?! Ihnen zu trotzen?! Vor Ende dieses Kriegs würde er dieses Gesindel eigenhändig mit seinem mächtigen Klauen und Zähnen zerreißen und das Blut im Erdboden dieser Welt versickern lassen, wo es ruhen möge, um weiteren Feinden ein Mahnmal zu sein. „Messe!“, schrie der Lichtpunkt und der Drache begann belustigt zu schnurren. Stirb, stirb, stirb! Als würde er von einem Wort in tausend Stücke gerissen werden … Albernes Insekt! Nun, da er wusste, wo die Schutzbanne und Angriffszauber waren, konnte er ungehindert auf die Feindesarmee herabsinken, denn die Magie zu umgehen, forderte weniger Aufmerksamkeit von ihm. Mit einem gewaltigen Flügelschlag zog er sich aus dem Sinkflug heraus und schoss in Richtung der magischen Lichtkugel, die den Anführer seines Feindes umgab. Sein Maul öffnete sich und aus seinem Drachenkörper schoss eine heiße, unaufhaltsame Flamme. Der General brachte sich noch rechtzeitig in Sicherheit, doch seiner Leibwache hinter ihm erging es nicht ganz so gut. Sie starben in seinem Feuer wie die Fliegen. Murrend drehte er einen Kreis und steuerte wieder auf den General zu, dieses Mal hatte der Drache aber nicht ganz so viel Glück – das Überraschungsmoment war vergangen und die Feinde hatten sich erholt. Jetzt warfen sie ihm ihre geballte Magie entgegen und das aus allen Winkeln – er fluchte innerlich. Mit hastigen Manövern rettete er sich aus der unsicheren Zone und zog seine Kreise, bevor er innerlich brodelnd zum Angriff blies. Er würde sich nicht wie eine Maus durch die Gegend scheuchen lassen, er war ein Drache! Die Flügel angelegt stürzte er sich senkrecht auf den General, spürte, dass Magie gegen seinen Schuppenpanzer schlug und ihn verletzte, aber seine Aufgabe war zu wichtig und hätte schon längst beendet sein sollen. „MESSE!“, vernahm er den Ruf des Generals und wunderte sich. Sah er nicht selbst bereits die aussichtslose Situation seiner Armee im Angesicht der Drachen? Dann spürte er eine Explosion an seiner rechten Flanke und er wusste, dass er nicht nur leicht und oberflächlich getroffen war, sondern tief. Doch seinen Sturzflug brach er nicht ab, stattdessen hüllte er seine Feinde in sein Drachenfeuer, das die Umgebung und seinen Schuppenpanzer in strahlendes oranges Licht warf und fiel dann selbst auf die brennende Ebene, dort, wo bis eben noch hunderte Feinde gestanden hatten, die er mit seiner Flamme aber in ihren Rüstungen gebraten hatte. Ein Seufzer entrang sich ihm. Sein Mädchen würde so wütend auf ihn sein, wenn sie von der Verletzung erfuhr! Kapitel 1: Grünhaar ------------------- Sie schlüpfte in das blassrote, ärmellose Überkleid, das ihr bis über die Knie reichte und einen Ausschnitt besaß, der kurz unterhalb ihres Halsansatzes verlief. Darunter trug sie bereits ein schwarzes kurzärmliges Hemd und einen knöchellangen schwarzen Rock, der sich bei jedem Windstoß verspielt auffächerte. Diese Mode war im Volk der Dragoniar unter den Frauen sehr beliebt und obwohl sie nicht zu den typisch aussehenden Mädchen gehörte, wollte sie dennoch nicht auffallen und andere Kleidung tragen. Fuxya war das, was andere als eine „Schönheit mit gewissen Nachteilen“ bezeichneten. Wenngleich sie wie jeder porzellanweiße Haut und spitze Ohren besaß, dazu lange, glatte Haare und buschige Wimpern hatte und dünn war, fiel sie nicht in die Norm. Ihr Volk hatte braune oder blonde Haare aber niemals so wie sie pechschwarze, außerdem waren ihre Augen rubinrot, während die der anderen eher blau, grün oder braun waren. Natürlich gab es auch Ausnahmen: Tatsächlich existierten auch Farbmischungen von orange über ockerfarben zu violett, doch so rote Augen, wie sie sie besaß, hatte es hier nur selten gegeben. Sie schlüpfte aus dem Felsenhaus ihrer Eltern, ein Haus, das in den Fels geschlagen wurde, wie es hier am Berg üblich war: Es führte nur eine steinige, gewundene, schwer passierbare Straße den Berg hinauf, die am Ende durch eine Schlucht verlief. An den Wänden dieser Schlucht hatte sich das Volk der Dragoniar ihre Häuser gebaut und konnte so die Passanten im Augen behalten, die auf der Straße durch das Dorf gewandert kamen – das waren übrigens wenige, denn die Dragoniar waren nicht bereit, Fremde bei sich zu erlauben. Schließlich hüteten sie die Herrscher dieser Welt: Die Drachen. Die Straße endete abrupt vor einem in den Fels gehauenen Tempel, der den Zugang zur Welt der Drachen beherbergte, daher war es von unschätzbarer Wichtigkeit, diese Straße bis auf den Tod zu verteidigen – das wiederum kam nur selten vor, weil keiner so dumm war, sich mit den Drachen anzufeinden. Als sie auf die Straße trat, begrüßten einige Dragoniar sie kopfnickend. Sie winkte oder nickte oder grüßte mit Worten und ging auf den Tempel zu, der am Kopfende der Schlucht thronte wie ein König. Der weiße Marmor hellte das ansonsten graue Bergdorf jeden Tag aufs Neue auf. Ein frischer Wind wehte die letzten Sommerlüfte durch das schattige Tal und fuhr Fuxya in die Haare, die sie in einen Zopf gemeinsam mit vielen bunten Bändern geflochten hatte. Diese Bänder wurden nur in die Haare von unverheirateten Mädchen geflochten und jede Farbe hatte eine eigene Bedeutung: Viele Mädchen trugen vor allem weiß für „Unschuld“. Von den zehn Bändern, die sie ihr Eigen nannte, waren jedoch nur zwei weiß. Sie selbst mochte es nicht, wie ein Lämmchen auszusehen, beschützenswert, vollkommen nutzlos für die Gemeinschaft. Stattdessen liebte Fuxya rot für „Leidenschaft“, blau für „Sehnsucht und Unendlichkeit“, grün für „Harmonie und Hoffnung“ und orange für „Vitalität und Stärke“. Neben den zwei weißen Bändern hatte sie für verflossene Schwärmereien zwei rote, drei orangene, eins in blau und zwei in grün. Diese bunten Farben waren für jeden in ihrer Umgebung immer ein kleiner Hinweis auf ihren Charakter, schließlich waren sie Ausdruck einiger Erfahrungen. Nach zwei unglücklich verlaufenden Schwärmereien, dem Verlust ihres Vaters vor zwanzig Jahren, ihrem einzigen bis dahin noch lebenden Familienmitglied und der ewig währenden Hoffnung auf eine bessere Zukunft und ein besseres Leben war sie jetzt mit ihren hundertzwanzig Jahren eine der wenigen unverheirateten Mädchen ihres Volkes. Die Jugend der Kinder endete mit hundert Jahren und viele Mädchen heirateten an ihrem hundertsten Geburtstag ihre Verlobten oder Liebhaber. Doch Fuxyas Vater hatte Zeit seines Lebens bereut, ihre Mutter geheiratet zu haben, die ihm versprochen gewesen war, da sie sich nie bei ihm eingelebt hatte und schließlich früh in Gram gestorben war. Daher hatte er beschlossen, dass sie selbst sich einen guten Mann aussuchen solle. Dumm nur, dass das Mädchen mit den unvorteilhaften Eigenschaften weniger Verehrer empfangen durfte, als zunächst angenommen. Fuxya erreichte die Treppen des weißen Tempels und ging gemessenen Schritts in das kühle, frühmorgendliche Dunkel der großen Gebetshalle. Ein Lichtstrahl durchdrang das Halbdunkel am Kopfende der Halle, wo er auf den steinernen Altar fiel, der vor einem an der Wand angebrachten, riesigen Bild von Drachen stand. Der Altar selbst stand auf einem Podest, den vier Stufen vom Rest der Gebetshalle trennten. In der restlichen Halle standen kleine Tische mit Polstern und Teppichen sowie Decken, damit die Hilfesuchenden sich ausruhen konnten. Sie durchquerte den Raum, schritt über die Kissen hinweg, um sie nicht schmutzig zu machen und blieb hinter dem Altar stehen, um das Bild in seiner ganzen, herrlichen Pracht in sich aufzusaugen. Es war ein Bild aus alter Zeit, als die Drachen sich noch nicht in ihr Heiligtum zurückgezogen hatten, das von niemand anderem als den Auserwählten und den Drachen selbst betreten werden durfte. Auf diesem Ölgemälde flogen die schimmernden Schuppentiere über die Schlucht der Dragoniar, hüllten die Berghänge und Wolken in glitzernde Schatten, spien Feuer, betrieben Körperpflege am Drachensee, der sich am Fuß der Schlucht auf einem Berghang befand und saßen in Gruppen zusammen, um zu schlafen. Die Drachen selbst waren von den unterschiedlichsten Farben: Es gab grüne, gelbe, blaue, aber auch rote, was sie besonders mochte. Während die Grünen eher dazu neigten, faul herumzuliegen, flogen die Gelben aufgeregt und neugierig über die Schlucht, in der sich staunende Dragoniar befanden, die Blauen badeten oder spielten und die Roten vollführten faszinierende Luftmanöver und –kämpfe, bei denen ihnen Feuer aus dem zahnbesetzten Maul schoss. „Jeden Morgen sitzt du hier und bestaunst die Pracht der Heiligen“, begrüßte eine Frauenstimme Fuxya und sie fuhr herum. Da sie ihren Tagträumen hinterhergehangen war, meistens flog sie gemeinsam mit den Drachen in schwindelerregenden Höhen, hatte sie nicht bemerkt, dass die Priesterin und Torhüterin zu ihr getreten war. Topazza war von ungemeiner Schönheit: Sie hatte goldblondes, langes, glattes Haar, das selbst in kleinen Zöpfen geflochten bis zu ihren schmalen Hüften reichte, sah ansonsten genau so aus, wie ein hübsches Dragoniar-Mädchen auszusehen hatte und besaß wunderschöne hellblaue Augen. Um ihren üppigen Busen und zarten Körper bauschten sich ähnliche Kleider, wie Fuxya sie anhatte, nur dass diese in Weiß und Gold waren. „Sie sind meine einzige Familie“, erwiderte Fuxya schließlich und blickte wieder hinauf in ihre Traumwelt. In ihrer Stimme schwang mehr Sehnsucht mit, als sie es zunächst beabsichtigt hatte. Ihre Mutter hatte ihr immer verboten, von Drachen zu träumen. Die Dragoniar waren zwar das Hütervolk, aber nie bekamen sie die Heiligen zu Gesicht und solche Gedanken, wie Fuxya sie hegte, kratzten an der Würde dieser Götter. Ihre Mutter war sehr streng gewesen und hatte ihr diese Tagträume, wenn es nötig war, mit Prügel ausgetrieben – solange ihr Vater nicht in der Nähe war. Der stellte sich immer auf die Seite seiner Tochter und erzählte ihr in seiner liebevollen Art von Abenteuern aus längst vergangener Zeit, als die Drachen noch nicht herrschten und Chaos die Welt ins Dunkel gestürzt hatte. Topazza schnaubte etwas und Fuxya fühlte sich erinnert, dass auch solche Gedanken Ketzerei waren, also berichtigte sie sich pflichtgebunden: „Der Glaube an ihre Heiligkeit hält mich am Leben, daher sind sie im Grunde eine Familie, die mir Geborgenheit schenkt.“ „Treibe es nicht zu weit mit deinen Anmaßungen. Anderen Priestern könnten sie missfallen. Ich erlaube es dir nur insoweit, als du dein Leben nützlich verbringst, solange du so denkst. Würdest du nur einmal nicht dieser Behauptung würdig sein, würde ich dies nicht mehr durchgehen lassen“, antwortete Topazza und wandte sich ebenfalls an das Bild, bevor sie weitersprach: „Nun, immerhin bist du die Einzige, die jeden Tag zu ihnen spricht.“ Fuxya erwiderte nichts. Das musste sie auch nicht, denn Topazza schien keine Antwort zu erwarten, sondern eigenen Gedanken hinterherzuhängen. Die Priesterin war an ihrem hundertsten Geburtstag mit dem Sohn des Dorfvorstehers verheiratet worden und hatte ihm acht Kinder geschenkt, wovon zwei männlich und sechs weiblich waren. Inzwischen war sie über fünfhundert Jahre alt, was keine Seltenheit im Volk der Langlebigen darstellte und ihre Kinder alle über dreihundert. Keines von den Mädchen hatte es in der Schlucht gehalten, sie waren zu den Stämmen der Dragoniar gezogen, die entlang der Bergstraße an den Hängen wohnten, um etwaige Eindringlinge bereits dort auszuschalten. Außerdem war es dort sonniger, was viele Mädchen bevorzugten. Ihre Söhne hatten sich ebenfalls aus diesem Dorf gerettet und waren zu dem Stamm gezogen, der die Schlucht von oben absicherte – dort gab es angeblich die hübschesten Mädchen der Dragoniar, was mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit eher der Auslöser für die Flucht der beiden dargestellt hatte. „Es ist lange her, seit die Drachen eine Tänzerin beschworen haben“, stellte Fuxya fest, um wenigstens den Anschein eines höflichen Gesprächs heraufzubeschwören. Topazza musterte sie kurz und kühl, wandte ihren Blick dann aber wieder zum Bild und schwieg eine Weile, bevor sie sich entschloss, doch noch zu antworten: „Zweihundertundsechsundzwanzig Jahre genau. Die letzte Auserwählte war Maara vir Nadarre.“ „Was geschieht mit diesen Frauen eigentlich?“, wollte Fuxya genau wissen. Ihr Vater hatte es ihr nicht erklären können, da Männer aus diesem Vorgang herausgehalten wurden und ihre Mutter hatte nie auch nur ein Wort über die Drachen und ihre Kultur verloren, das auch nur ein gutes Haar an ihnen gelassen hätte. „Deine Mutter hat dir das wohl nicht erzählt?“, erkundigte sich Topazza, die ganz genau wusste, dass Aventurina, so hieß Fuxyas Mutter, die Drachen gehasst hatte wie die Pest. Topazza wusste auch, warum das so war, was wiederum eine Besonderheit darstellte, da das nur wenige von sich behaupten konnten. Aventurinas kleine Schwester Cordierita war zur Tänzerin berufen worden und einige Jahrzehnte später vollkommen apathisch nach Hause gekommen, um wenig später jämmerlich zu verhungern, da sie keine Nahrung mehr zu sich nehmen wollte, nachdem die Ausbildung zu einer Tänzerin sie seelisch überfordert hatte. „Tänzerinnen sind Mädchen aus dem Volk der Dragoniar, die in das Heiligtum der Drachen Zutritt erlangen. Sie sind die Einzigen, die Auserwählte, diejenigen, die sich um das Wohlergehen der Heiligen kümmern dürfen. Sie opfern alles, was sie haben, um den Drachen zu gefallen: Angeblich müssen sie auch für den Fortbestand der Linie sorgen.“ „Moment, haben Drachen keine Frauen?!“, stellte Fuxya eine Zwischenfrage, die nur ein verärgertes Runzeln hervorrief. Dann jedoch schüttelte Topazza den Kopf. „Nein, alle Drachen sind männlich. Die Tänzerinnen sind praktisch die einzige Fortpflanzungsmöglichkeit und es muss sie geben, denn wenn die Drachen aussterben, dann wird die Welt wieder den Schatten verfallen!“ Inbrünstig schnaufend und mit klarem Blick stand sie dort. Ein kleiner Funken Wahnsinn stahl sich in Topazzas Verehrung der Drachen. Sie liebte diese Wesen, ohne sie je gesehen zu haben und für sie gab es keine selbstverständlichere Aufgabe der Frauen, diesen Heiligen Kinder zu schenken – nun, sie selbst hatte ihre Aufgabe mit acht Stück ziemlich gut gemeistert. Sie wäre sicherlich eine fantastische Tänzerin gewesen, wenn es bei der Bezeichnung „Tänzerin“ nur um die Sexmethoden ging, die eine Frau anwenden musste, um die Herren zu verführen, sodass diese sie schwängerten. Kein Wunder, dass Cordierita seelisch so zerbrochen war … „Warum heißen sie dann Tänzerinnen?“, hakte Fuxya nach, um sicherzugehen. Sie wollte ja nicht falschen Ideen aufsitzen. Außerdem musste sie ihr Bild, ihre Vorstellung einer tollen Familie, wieder geraderücken, anderenfalls hätte sie jetzt mit einer sexsüchtigen Männergesellschaft zu tun, was ihr nicht ganz so gefiel. „Du hast bis zu deinem hundertsten Geburtstag gelernt, die Psalmen zu singen, die Heilige Schrift auswendig aufzusagen, zu kämpfen, zu lesen, zu schreiben, zu rechnen und zu tanzen. Tänzerinnen sind Frauen, die im Drachenheiligtum zu Priesterinnen ausgebildet werden, die sich um das Wohlergehen der Drachen kümmern. Sie tanzen und singen auf den Festen oder so ähnlich. Das übersteigt meinen Wissenskreis. Ich bin keine und auch kein Drache, also frag nicht“, rügte Topazza sie und runzelte wieder missbilligend die Stirn. Fuxya schwieg unbeeindruckt. Also waren die Frauen doch nicht nur Prostituierte sondern so etwas wie königliche Narren, Diener und Konkubinen? Plötzlich stutzte sie. Wie sollte das überhaupt möglich sein? „Wie können Drachen und Tänzerinnen denn Kinder zeugen?“, fragte Fuxya hastig und Topazzas Gesicht verdunkelte sich. Mühsam behielt die Frau sich im Zaum und verbiss sich einen gemeinen Kommentar, das wusste Fuxya, dennoch hatte sie die Frage stellen müssen. „Was weiß ich?! Kümmere du dich lieber darum, dass du Kinder in die Welt setzt, die unser Erbe weitertragen: Die Menschen werden immer aufdringlicher. Es gab zu viele Übergriffe in letzter Zeit und wir waren noch nie viele Dragoniar im Hütervolk. Jedes Kind zählt!“ Damit rauschte die Frau davon und schritt durch einen Seitengang des Tempels in ihr Büro. Wie Fuxya dieses Büro gehasst hatte, in dem der Unterricht der jungen Mädchen stattgefunden hatte. Vor allem, wenn es darum gegangen war, wie man Männern Lust bescherte. Anscheinend war die einzige Aufgabe, die junge Dragoniar-Mädchen in die Wiege gelegt bekamen, das Kinderkriegen und davon möglichst viele, wozu dieser Unterricht diente. Fuxya verließ nach diesem mehr als beunruhigenden Gespräch mit einem mulmigen Gefühl im Magen den strahlenden Tempel. Theoretisch waren Tänzerinnen also Opfergaben an die Drachen, damit diese ihre Samen in den Schoß der Frauen pflanzen konnten. Nun, in dieser Hinsicht waren sie nicht anders als die Männer der Dragoniar, die möglichst viele Kinder zeugten und hinterher in der Stube des Dorfvorstehers damit angaben, wie viele neue Kämpfer sie dem Volk geschenkt hatten. „War Vater auch so?“, fragte sich Fuxya, verwarf diesen Gedanken aber sofort. Ihr Vater hatte sich liebevoll um sie gekümmert und war so stolz auf sie gewesen, dass sie innerlich das Gefühl hatte, all sein Vaterstolz, der in normalen Umständen auf zehn oder mehr Kindern basiert hätte, wäre in ihr vereint worden. Ihm war es egal gewesen, wie anders sie gewesen war, obwohl auch er oftmals Zweifel darüber geäußert hatte, ob sie wirklich Dragoniar war. Es kam nicht selten vor, dass Dragoniar Kinder zeugten, die Missgeburten waren: Mädchen, die nicht fruchtbar waren; Jungen, die keine Kinder zeugen konnten; Menschenkinder oder Tot- bzw. Fehlgeburten. Und ja, aus Dragoniar-Ehen konnten Menschenkinder entstehen. Menschen waren also das Produkt aus missglückten Schwangerschaften, nur dass diese Wesen sich vermehrt hatten wie die Fliegen und die ganze Welt bevölkert hatten außer den Heiligen Berg, den sie immer noch mieden. Um die Zweifel zu beseitigen, die sich um ihre Herkunft rankten, hatte ihre Mutter sie zu den Priesterexorzisten gebracht, die jedoch festgestellt hatten, dass sie ein Dragoniar-Mädchen war, fruchtbar wie jede andere auch. Sie sah bloß anders aus. Aber auch das konnte ihre Mutter nicht verstehen und war im Gram über ihre Missgeburt gestorben. Ihr Vater hatte seit dem Tag nicht mehr über seine Frau gesprochen, hatte es vermieden, Zweifel über Fuxya zu äußern und war innerlich aus Angst um ihre Zukunft genauso verwelkt wie ihre hasserfüllte Mutter. Kurz nach ihrem hundertsten Geburtstag, als es klar wurde, dass niemand sie heiraten wollte, starb er dann und hinterließ ihr als letzte Erinnerung einen Blick, der ihr Herz stehenbleiben ließ. Jedes Mal, wenn sie daran dachte. Mitleid, Angst, Enttäuschung. Wobei Letzteres überwogen hatte. Geplagt von dem wiederaufkeimenden Schmerz lief sie durch das Dorf und aus der Schlucht hinaus, durch das Dorf, das am Eingang der Schlucht lag und zum Drachensee hinauf. Es kostete sie über eine Stunde, den Aufstieg zu bewältigen, aber es lohnte sich immer wieder. Er schimmerte schon in der Ferne bläulich, während silberne Wellen gegen sein Ufer schwappten. Eigentlich war es windstill, daher sollte es unmöglich sein, das Wellenschlagen. Schwamm dort jemand? Sie erreichte das Ufer und schaute auf die dunkelblaue Wasserfläche, durch die man nicht hindurchsehen konnte. War das bloß ihre Einbildung gewesen? Sie kniff die Augen zusammen und legte eine Hand schützend über die Augen. Doch auch so konnte sie nichts erkennen. Ein wenig enttäuscht ließ sie die Schultern hängen. „Als ob!“, schnaubte sie über ihre eigene Dummheit. Im Drachensee badete seit Urzeiten keiner mehr. Die Tiere waren aus dem Gewässer verschwunden, als hier noch regelmäßig Drachen vorbeigekommen waren und die Dragoniar fürchteten den See, dessen Boden man nicht sehen konnte. Schließlich hatten sie beim Tauchen oft genug das Glitzern gesehen, dass aus der dunklen Tiefe aufstieg, waren oft genug verführt worden, weiter hinab zu tauchen und nie wieder gesehen worden. Dennoch mochte Fuxya den See, weil niemand hierherkam, um sie zu stören. Hier war sie allein mit sich und ihren Gedanken und ungestört. Außerdem beruhigte die Natur sie. Plötzlich sah sie erneute Wellenbewegungen. Da war doch etwas! Waren die Tiere zurückgekehrt? Nachdem vor hunderten Jahren die letzten Drachen sich ins Heiligtum zurückgezogen hatten, trauten sich jetzt endlich die Tiere zurück? Sie umrundete den ovalen See mit unsicheren Schritten, denn innerlich schlug ihr Herz vor Angst. Was, wenn das Tier ihr nichts Gutes wollte? Schließlich blieb sie an der Stelle stehen, die dem Ursprung der Wellen am nächsten war und schaute gebannt dorthin. Wieder brach dort etwas flüchtig durch die Wasseroberfläche, nur dass sie dieses Mal sehen konnte, was genau es war. Es war eine Hand so weiß wie die der Dragoniar. Jemand war in den See gesprungen und ertrank! Sie musste Hilfe holen! Bevor sie auch nur drei Schritte getan hatte, blieb sie abrupt stehen. Wer wäre so dumm und würde in den See springen, um jemanden zu retten, der die Regeln der Natur gebrochen hatte? Keiner! Kein einziger Dragoniar würde dem Dummkopf hinterherspringen, geschweige denn hinterhertrauern, der es gewagt hatte, in den Heiligen Drachensee zu springen. Mühsam drehte sie sich um und schaute auf die Stelle, von der aus Luftblasen an die Oberfläche traten und dort zerplatzten. Er ertrank! Sie durfte doch nicht zusehen, wie dieser Dragoniar ertrank! Aber was sollte sie tun? Der See war gefährlich! „Dummes Weib“, schalt sie sich, griff nach ihren Stiefeln und zog sie aus. Ihre nackten Füße trafen auf die weißen Kieselsteine, die das Ufer des Sees säumten und die wahrscheinlich auch auf dessen Boden liegen würden, so weit reichten sie hinein. Zusätzlich dazu entledigte sie sich ihres Überkleides. Dann erst lief sie, den Schmerz in ihren Füßen ignorierend, in das Wasser, das sich eiskalt um sie herum ausbreitete und ihr schmerzlich bewusst machte, dass sie nicht halb so gut schwimmen konnte wie die anderen Mädchen. Die dunkle Masse schwappte ihr ins Gesicht, während sie hilflos paddelnd auf die Stelle zu schwamm, an der sie die Hand gesehen hatte. Dort angekommen, versuchte sie mit ihren Füßen zu ertasten, ob dort etwas war, doch sie fühlte nichts. Also blieb ihr nichts Anderes übrig, als zu tauchen, was ein unbehagliches Gefühl in ihr auslöste. Mit Mühe unterdrückte sie den Drang, zurück ans Ufer zu schwimmen und wegzurennen und holte tief Luft. Dann tauchte sie ab. Während sie sich an die Kälte des Wassers um sich gewöhnte, drehte sie sich um, um mit dem Kopf nach unten in die Tiefe zu gleiten. Erst dann öffnete sie die Augen. Es war erstaunlicherweise relativ hell hier, da sich das Licht des Tages im Wasser brach und es zu einem Türkiston erhellte. Sie schaute sich um, während sie tiefer hinabschwamm. Nichts in ihrer Umgebung ließ auf einen Dragoniar schließen, der hier kürzlich versunken war. Wo war er? War sie womöglich an der falschen Stelle untergetaucht? Sie war schon so weit unten, dass ihre Ohren vom Wasserdruck schmerzten. Bald war auch ihre Luft knapp! Sie konnte nicht mehr lange hierbleiben! Würde der Drachensee sie je wieder gehen lassen, wenn sie sich geirrt hatte? Sie sah sich um und kniff ihre Augen zusammen, um besser sehen zu können. Das Wasser brannte etwas und ließ ihre Sicht verschwimmen, doch sie gab nicht auf. Gerade, als sie umkehren wollte und sich selbst schalt, weil sie sich wohl geirrt hatte, sah sie etwas weiter unten einen Mann. Der war noch ziemlich frisch – also keine dieser Leichen, die hier angeblich auf dem Boden verteilt liegen sollten. Fuxya entschloss sich, mit einem Stoß ihres Fußes zu überprüfen, ob der Mann lebendig war oder eine der neueren Wasserleichen. Sie drehte sich um und trat zu. Aus der Lunge des Mannes entwichen einige Luftblasen und seine Augen öffneten sich. Als er sie sah, trat ein flehentlicher Ausdruck in sie und er bedeutete ihr, dass er keine Luft bekam, dass er erschöpft war und nicht mehr schwimmen konnte. Sie seufzte, wobei ihr selbst Luft entwischte und sie ärgerte sich. Dann, mit einem Aufwallen von Mitgefühl, tauchte sie weiter hinab und versuchte, ihn hochzunehmen. Ihr ging bald die Luft aus und sie musste noch den ganzen Weg zurück an die Oberfläche schwimmen. Mit einer Last. Ob sie das schaffen würde? Schließlich bedeutete sie ihm, er solle sich an ihr festhalten und ihr mit seiner letzten Kraft etwas helfen, dafür würde sie ihm Luft geben. Er nickte schwach und sie legte ihre Lippen auf seine. Mit nur der Hälfte der übrigen Luft und einem deutlich schwereren Mann, der auch noch in voller Reisekleidung in den See gesprungen war, auf dem Rücken kraulte sie mühsam auf die Oberfläche zu, die ihr mit jedem Meter weiter weg erschien. Ihre Lungen taten weh, ihre Ohren knackten und ihre Erschöpfung wollten sie beinahe erfolgreich daran hindern, je wieder aufzusteigen, als sie mit einer letzten Kraftanstrengung an die Luft schoss. Keuchend und nach Luft ächzend hielt sie den Mann an der Oberfläche, der ebenso glücklich war wie sie, noch einmal den Wind in seinem Haar zu spüren. Sie schwamm auf dem Rücken in Richtung Ufer und zog ihn, der ebenfalls auf dem Rücken lag, mit sich, sodass er weiterhin ruhig Luft holen konnte. Irgendwann verspürte sie zu ihrer Erleichterung, dass der Kies sich in ihre Schulterblätter rammte und ließ den Mann los. Aus dem Wasser konnte sie sich, so erschöpft wie sie war, nur noch krabbelnd schleppen. Während Wellen immer noch ihre Beine umspülten, blieb sie auf dem Kiesufer bäuchlings liegen und schloss die Augen. Neben sich wusste sie den Mann, der genauso dalag wie sie. Einige Zeit später öffnete sie die Augen wieder und schaute den Mann an. Er hatte grüne Haare, sah aber ansonsten aus wie jeder andere Dragoniar auch. Warum zum Henker der Menschen hatte er grüne Haare?! Sie setzte sich ruckartig auf. Diese Bewegung schien ihm aufgefallen zu sein, denn er öffnete erschöpft seine gelben Augen und sah sie an. Sie sollte weglaufen! Wie ungezogen von ihr, sich an einem Ufer mit einem Mann zu sonnen! Mit wackeligen Beinen stand sie auf und ging zu ihren Schuhen, die auf dem Kies an einer Stelle standen, die ein paar Meter nach rechts erforderten. Sie zog die Stiefel an und nahm das Überkleid, bevor sie vom Kies auf das grüne Gras schritt. Ihre Kleidung trocknete bereits in den heißen Strahlen der Sonne, sodass sie nicht lange warten musste, um sich schließlich auch das Überkleid anzuziehen. Der komische Kerl mit den grünen Haaren und gelben Augen, der dennoch sehr fantastisch aussah, besser als jeder andere Dragoniar aus ihrer Bekanntschaft, stöhnte und sie sah auf. Er hatte sich noch nicht bedankt dafür, dass sie ihm in einer Geste der Selbstlosigkeit sein Leben gerettet hatte und eigentlich hatte sie nicht übel Lust, ihm Manieren einzuschreien. Doch als sie näher kam, bemerkte sie das Blut, das aus seiner rechten Seite auf den weißen Kies lief. Das Rot tünchte das Weiß in einer Geste der Grausamkeit um und bedeutete ihr, dass er nicht nur oberflächlich verletzt war. Was war ihm in diesem See passiert? Schnell sprang sie zu ihm und zog ihm die Oberbekleidung aus, die aus einer der feinsten Seidenstoffe war, die die Dragoniar zu bieten hatten. Das wiederum erstaunte sie nicht – nur die Reichen kamen auf die dummen Gedanken, im See nach verlorenen Schätzen zu suchen. Sie suchte seine Seite ab und sah den tiefen Riss, den sie zunächst für eine Wunde aus dem See hielt, bis sie bemerkte, dass es eher nach einem Schwertstich aussah. Der Mann musste erkannt haben, was sie gesehen hatte und hob zögernd den Arm. Mit einem seltsamen, aber sehr feinen Akzent in der Stimme flüsterte er: „Kann das Fräulein heilen?“ Wie jedes Dragoniar-Mädchen lernte sie außer dem Kämpfen, Singen, Tanzen und sonstigen Dingen auch das magische Heilen. Ihre Fähigkeiten in diesem Bereich waren immer besser gewesen als die der anderen Mädchen, was sie in gewisser Weise immer noch sehr stolz machte, denn es war fast das Einzige, was ihr tadellos gelingen wollte. Sie nickte als Erwiderung und legte vorsichtig die Hände auf die Stelle. Wie zu erwarten war, war die Wunde tief und sie war ziemlich erschöpft von der Rettungsaktion, weshalb sie nur die Blutung stillen und anschließend den Schwertstich nur etwas schließen konnte. Sie nahm einige Bänder aus ihrem Haar und wickelte sie notdürftig als Bandage darum. Wenn sie etwas geschlafen hatte, würde sie ihn besser heilen können oder aber sie brachte ihn ins Dorf. „Könnt Ihr gehen?“, erkundigte sie sich, wusste jedoch nicht, ob er antworten würde, da er bereits wieder die Augen geschlossen hatte. Er schüttelte lediglich den Kopf und sagte dann: „Nehmt die goldene Kette und legt sie oben, über dem Tempel, auf den Opferstein … Damit würdet Ihr mir bereits das Leben retten.“ „Ich kann Euch so nicht hierlassen!“, protestierte sie und beugte sich immer noch über ihn. Er grinste verwegen, was jedoch schnell zu einer Grimasse wurde, bevor er schließlich wieder sprach: „Doch, ich bin gefährlicher, als ich aussehe. Lasst mich nur und tut, was ich Euch sage. Nun geht schon! Oder soll ich hier sterben?“ Plötzlich von ihm so angefahren, rappelte sie sich auf und eilte über das Kiesufer weiter den Berg hinauf. Innerlich brodelte sie vor Ärger. Wie konnte er es wagen, sie so herumzukommandieren, wenn sie ihm gerade sein Leben gerettet hatte?! Männer! Mit mehreren besorgten Blicken zurück zum Ufer, wo der Mann immer noch lag und ihr hinterherschaute, strafte sie ihre Wut jedoch lügen. Ob er noch lebte, wenn sie zurückkam? Dann erforderte der Aufstieg jedoch ihre gesamte Konzentration und sie kletterte erschöpft über Steine und kleinere Bergbäche, bis sie von oben auf den weißen Tempel schauen konnte. Das Dach war genauso weiß und aus Marmor wie der Rest des Gebäudes, doch in der Mitte dieser Fläche lag ein Stein. Er war rund und in der Mitte ausgehöhlt. Das musste der Opferstein sein, von dem dieser Mann geredet hatte. Sie sollte die Goldkette dort hineinlegen und dann zurückkommen. Also tat sie wie geheißen, legte das Ding hinein und drehte sich um, immer noch das Gefühl des teuren Schmucks auf ihrer Hand. Es war eine Gliederkette gewesen, an der ein ovales Medaillon gehangen hatte. „Wieso hat jemand wie er so etwas?“, wunderte sie sich und machte sich an den Abstieg. Dragoniar mochten feine Stoffe und gerade die reicheren unter ihnen ließen sich schöne Stücke schneidern, um sie zur Schau zu stellen. Doch Schmuck trug kaum einer und wenn, dann waren es meistens nur Holzringe oder Holzreifen. Metall sah an ihnen furchtbar protzig aus. Mühsam legte sie den Weg zum See zurück, der hin und zurück im ausgeruhten Zustand nur circa zehn Minuten kostete. Sie brauchte gefühlte Zwanzig. Am See angekommen, schaute sie nach ihrem Verletzten, der sich vom Kies ins Gras geschleppt hatte, um dort zu schlafen. Wäre der Drachensee nicht eine für Tiere unbeliebte Gegend, hätte der Blutgeruch des Mannes ein paar Fleischfresser angezogen, doch so war er verschont geblieben und von ihr fiel die erste Sorgenwelle ab. „Wie geht es Euch?“, fragte sie, als sie sich neben ihn gekniet hatte. Sie würde ihn ins Dorf zu einem Heiler bringen müssen. Aber der Weg würde sie überanstrengen, schließlich brauchte sie im ausgeruhten Zustand schon eine gute Stunde. Mit ihm zusammen und so erschöpft, wie sie war, würden sie nie rechtzeitig ankommen. Außerdem hatte sie der Aufstieg zum Tempel ihr letztes Fünkchen Kraft gekostet. Wieso hatte sie das überhaupt getan? Wie sollte eine dumme Goldkette in einem Opferstein dieses Tempels sein Leben retten? Das schien ihr äußerst unwahrscheinlich, doch er klammerte sich an diese Hoffnung wie ein Ertrinkender. Haha. Ertrinkender. Sie seufzte. „Schlaft jetzt, Fräulein“, war seine Antwort, die nun geflüstert an ihr Ohr drang. Er konnte Magie wirken, war ihre nächste Entdeckung. Denn er setzte sie ein, wenn auch so geschickt, dass sie es erst bemerkte, als sie bereits neben ihm lag, zusammengekauert, um zu schlafen und ihr ihre Augen zufielen. Sie wollte protestieren, doch übermannte sie seine magisch erschaffene Müdigkeit und ließ sie in einen tiefen Schlaf fallen. Ihr letzter Gedanke galt ihm. Warum zum Henker der Menschen hatte er sich dann nicht selbst geheilt? Männer! Kapitel 2: Schatz ----------------- „Fuxya vir Sallanis“, ertönte eine Stimme über ihrem Kopf und sie fuhr in die Höhe. Sie lag in ihrem Bett im Nachthemd, um genau zu sein, und schaute in die blitzenden Augen der Priesterin Topazza. Sie sah genauso aus wie sonst auch, nur dass sie dieses Mal die Fäuste in die Seite stemmte und sich die Strähnen blonden Haars aus dem Gesicht pustete. „Ich habe gesagt, aufstehen!“, wiederholte sie sich und Fuxya schlüpfte eiligst aus dem Bett. Der Leinenstoff ihres Nachthemds rutschte von selbst zurecht. Betreten stand sie nun vor der Schutzpatronin des Tempels der Drachen und wusste nicht so recht, warum die Frau eigentlich wütend war. „Gestern nicht zur Arbeit erschienen, heute verschlafen, … Morgen vielleicht krank? Ich habe dir gesagt, dass ich deine Anmaßungen nur erlaube, solange du fehlerlos bist, was du seit deiner Geburt nicht bist, aber dein Verhalten, dein Verhalten!“, motzte die Frau und Fuxya zuckte zusammen ob der harten Kritik. Sie bemerkte aber auch, dass Topazza nicht genau wusste, worüber sie sich eigentlich auslassen sollte, weil sie zu viele wunde Punkte zur Verfügung hatte. „Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“, funkelte die Frau und Fuxya druckste leicht herum. Dann murmelte sie, immer noch etwas verschlafen und mit klopfendem Herzen: „Ich habe am Drachensee einem Ertrinkenden das Leben gerettet.“ „Ach so?! Das ist mir neu“, schnaubte Topazza und richtete sich auf. In ihren Augen sprühte das Misstrauen Funken und Fuxya fügte hastig hinzu: „Es stimmt! Ein Dragoniar mit grünen Haaren und gelben Augen!“ Topazza starrte Fuxya an, als sei diese vollkommen durchgedreht und schüttelte dann den Kopf. Seufzend ging die Priesterin aus dem Schlafzimmer und setzte sich an den Tisch, der die Mitte der Küche sowie des Zimmers einnahm, das am meisten benutzt wurde. Jetzt schien sie auf einmal sehr müde zu sein. Langsam folgte Fuxya ihr, füllte etwas Wasser in zwei Gläser, stellte eins vor ihrem Gast ab und setzte sich der Priesterin gegenüber hin. „Hör mal, Fuxya. Dein Vater, Chalcedon hat mir aufgetragen, nach seinem Tod für dich zu sorgen. Das weißt du, genauso wie ich. Aber ich fürchte, deine …“, Topazza suchte nach den richtigen Worten und als sie sie gefunden hatte, sprach sie weiter, „Wahnvorstellungen nehmen in letzter Zeit Überhand an. Dragoniar mit grünen Haaren? Als ob es so etwas geben würde! Erst neulich sagtest du zu einer der jüngeren Bräute, dass ihr Mann sich mit fiebrig-heißen, funkelnden Augen an die Freiwilligen schmeißen würde! Dieser Mann ist der wohl ehrbarste Mann, den die Dragoniar kennen! Und du unterstellst ihm, er würde die kinderliebenden Freiwilligen seiner Braut vorziehen?! Das sind die Frauen, die unsere Linie fortführen, ohne zu heiraten! Das ist nicht ehrbar! Oder die Geschichten, dass du schon einmal auf der Spitze des Heiligen Berges warst! Oder erst die Behauptung, die Drachen seien deine Familie! Ich bitte dich, lüge doch wenigstens besser!“ Fuxya fühlte sich gekränkt, aber sie hielt sich zurück. Wieder stiegen in ihr die Erinnerungen an ihre Mutter hoch und an das, was sie ihr immer gesagt hatte. Und auch ihr Vater mit seinem vernichtenden, müden, enttäuschten Blick, kurz bevor er starb. Sie hatten gedacht, sie würde lügen, um sich die Aufmerksamkeit der Männer zu sichern und jetzt unterstellte auch Topazza ihr das! Wie zerschmetternd diese Erkenntnis war! „Er war wirklich da!“, protestierte sie leise, hörte aus ihrer Stimme aber selbst die Unsicherheit, auf die sich Topazza stürzte. Wenn das alles Wirklichkeit gewesen war, wieso war sie dann am Morgen in ihrem Bett aufgewacht, obwohl sie am Drachensee mit Magie zum Schlafen bewegt worden war? Und wenn der Mann eine Einbildung war, ab wann war denn der Traum losgegangen? „Nein, Kind, war er nicht. Das wissen wir beide. Nachdem du gestern im Tempel warst, bist du, so müde wie du warst, wahrscheinlich einfach wieder ins Bett gegangen und hast geträumt.“ Sie wollte sich dagegen wehren, fand aber nicht die Kraft dazu. Topazza hatte Recht. Das war sicherlich alles nur geträumt – es gab tatsächlich keine Dragoniar mit grünen Haaren. Das wusste sie selbst sehr gut. „Hör zu. Ich fühle mich nicht mehr in der Lage, dir diese Wahnvorstellungen auszutreiben, also habe ich mir das Recht herausgenommen, dich einem Exorzisten zu überantworten. Er wird schon wissen, was mit dir nicht stimmt.“ Fuxya zuckte zusammen. Nicht zu den Exorzisten, die sie mit langen Nadeln stachen, bis sie schrie, nur um angebliche Dämonen zu vertreiben! Die sie auspeitschten und anschrien und auslachten, bis sie innerlich fast zerbrach. Das war Folter! Ein hilfloser Blick entrang sich ihr, doch Topazza schüttelte den Kopf. „Ich habe dir zwanzig Jahre gegeben und doch hast du dich nicht verändert. Du bist sogar noch schlimmer als früher!“ „Das stimmt nicht“, begehrte sie auf, doch Topazzas Kopfschütteln brachte sie zum Schweigen. „Lüg nicht, Kind. Männer mögen keine Lügnerinnen!“ „Ich lüge nicht! Warum seht Ihr das denn nicht?“, schluchzte Fuxya. Nicht die Exorzisten, bloß nicht die! Sie würden sie töten. Dieses Mal würden sie sie töten, nur um einen Dämonen zu finden, der nicht da war! Das waren doch nur harmlose Kinderträume! „Hör auf!“, schrie Topazza und Fuxya zuckte zusammen und schwieg weinend. Die Priesterin rieb sich die Augen und sagte: „Du wirst nicht hier und nirgendwo sonst einen Mann finden, selbst nach dem Exorzismus, daher werde ich dafür sorgen, dass du zu den Freiwilligen kommst. Dein Vater hat sich für dich gewünscht, dass du Kinder bekommst.“ „Ich bin doch keine Prostituierte!“, schrie Fuxya empört auf. „Du bist aber auch kein Dragoniar-Mädchen! Merk das doch endlich! Und die einzige Aufgabe, die dir noch bleibt, ist die der Freiwilligen. Die Männer werden dich gut behandeln, sie müssen sich ja nicht an dich binden und du wirst Kinder haben, um die du dich kümmern wirst! So hast du wenigstens einen Platz in dieser Gesellschaft, wenn du auch sonst zu nichts taugst“, erwiderte Topazza barsch und funkelte Fuxya an, die das Gefühl hatte, als sei sie zu nichts anderem in der Lage. Ihr Herz sackte ab über diese Ungerechtigkeit. „Ich werde sie ertränken. Alle Kinder, die so mit mir gezeugt werden“, sagte Fuxya in einem Anflug von Wut und Hass. Topazza schrak zurück, bevor sie entsetzt die Hand vor den Mund legte. In ihren Augen spiegelte sich die Abscheu wider, die sie tief in ihrem Herzen schon immer empfunden hatte. Seit Fuxya auf die Welt gekommen war. „Kindsmörderin!“, rief sie anklagend aus und sprang hastig vom Stuhl auf, bevor sie weitersprach: „An diesem Tisch zu sitzen ekelt mich. Es war dein Vater, der für den letzten Anstand seiner Seele und für das Geld, das du benötigen würdest, um ihn zu beerdigen, deine Hand der Herrin der Freiwilligen übergab, weil er wusste, dass du es zu nichts bringen würdest. Füge dich deinem Schicksal oder töte dich, aber sprich nie wieder deine widerlichen Wahnvorstellungen aus! Morgen händige ich dich den Exorzisten aus!“ Fuxya zuckte zurück, als die Priesterin aus dem Haus stürmte und ihr Lavendelduft die Raumluft verpestete wie der Fladen einer Berghangziege. Sie würgte und hielt sich den Hals. Verrat! Verrat! Verrat! Von ihrem eigenen Vater verkauft an das Bordell der Dragoniar, damit er selbst ein schönes ehrenvolles Grab bekam! Verraten! Sie würgte, während heiße Tränen ihr die Wangen hinabliefen und auf den Boden tropften. Ihr lieber Vater! Für sein Grab und seinen Seelenfrieden hatte er sie im Sinne der Dragoniar-Gesellschaft verkauft! Weil er die Schmach nicht ertragen konnte, dass sie ein kinderloses Weib sein würde! Verraten für ein schönes Grab auf einem guten Platz! Ein Schluchzen brach sich Bahn und Fuxya versank in ihrem eigenen Unglück, bis ihr die Tränen ausgingen. Nicht nur ihre Mutter, auch ihr Vater war an ihr verzweifelt. Dabei hatte sie sich während der Ausbildung so sehr angestrengt! Sie hatte willig gelernt, wie man Männer verführen und beglücken konnte, hatte Psalmen über Psalmen gelernt, sich die Füße wund getanzt und die Stimme heiser gesungen, hatte sich blutig und muskulös gekämpft, nur um jetzt dafür verurteilt zu werden? Weil sie ihren Platz in dieser Gesellschaft nicht gefunden hatte? Bittere Tränen liefen ihr erneut die Wangen hinab, denn sie wusste, dass sie das Dorf würde verlassen müssen, dass sich bereits ein Interessent für das Felsenhaus ihrer Eltern gemeldet hatte, dass die Exorzisten ihre Werkzeuge wetzten, um sie zu töten. Denn nichts anderes hatte sie in den Augen der Priesterin gesehen – nur ihren Tod. Was hatte die Frau noch gesagt? Füge dich dem Schicksal oder töte dich? O ja. Ein herausstehender Pfahl muss eingeschlagen werden. Für die Gesellschaft sollte sie öffentlich exorziert werden, damit sich die Leute beruhigten, sollte zur Freiwilligen gemacht werden, um das Überleben des Hütervolks zu sichern und schließlich einen halb-ehrbaren Tod sterben. Mit einem ausgeleierten Unterkörper, dessen Funktion und Fruchtbarkeit bis aufs Äußerste ausgenutzt worden war. Oder töte dich. Sie wollte nicht sterben, das war ihr klar. Aber ihr Herz sagte ihr deutlich, dass sie sich ersterem Vorschlag nicht fügen konnte. Vielleicht würde sie weglaufen können, aber die Nachrichtenvögel reisten schneller als jeder Dragoniar und man würde sie schnell wieder einfangen – und dann gab es erst recht kein Entkommen. Oder töte dich. Vielleicht war es das, was sich jeder hier gewünscht hatte. Seit ihrer Geburt war sie das unerwünschte erwünschte Kind. Einerseits kamen nicht viele Kinder auf die Welt, aber andererseits wollte man auch keine Kinder mit Anomalien oder die geistig abnormal waren. Ihr Vater hatte sie geliebt, weil er es musste, obwohl sich die Schamesröte in seinen Wangen gesammelt hatte, sobald sie etwas falsch gemacht hatte. Und ihre Mutter war an ihrer ekelerregenden Andersartigkeit zerbrochen, verfault und erstickt vor Scham. Sie hatte eine Tante gehabt, mütterlicherseits, doch die Frau hatte sie nur einmal angesehen und ihren Sohn nie wieder mitgebracht. Auch sie war niemals wieder zu Besuch gekommen. Selbst heute, wo sich alle an sie gewöhnt hatten, konnten sich die Leute keinen richtigen Gruß abringen. Sie erhielt morgens nur ein teilnahmsloses Nicken, das auch einem am Weg liegenden Kater gelten könnte. Dabei war sie doch Klassenbeste gewesen! Hatte fleißig Hausarbeit von ihrer Mutter gelernt und gekocht, geputzt, genäht, gewaschen und wer weiß, was noch?! Sie war jeden Morgen in den Tempel gegangen, um zu beten, war immer höflich und zuvorkommend gewesen! Oder töte dich. Die Worte hallten in ihren Ohren wie eine Schmeißfliege. Unter anderen Umständen hätte sie diese wahrscheinlich getötet, doch jetzt verstand sie den Sinn davon nicht. Sie verstand den Sinn davon nicht, weiterzumachen wie bisher, weiter zu hoffen und weiterzuleben. Die Tränen waren versiegt. Gebeugt wie eine alte Frau stand Fuxya auf. Sie wollte nicht sterben. Aber Sex haben, bis zum Umfallen, um Kinder zu bekommen, wie eine Henne Eier legte? Was sollte sie nur tun? Noch bevor sie es selbst realisierte, führten ihre Füße sie zum Drachensee. Die Dragoniar im Dorf schauten sie neugierig an. Sie mussten vom lauten Streit gehört haben, außerdem trug sie nur ihr Nachthemd. Was diese Leute wohl dachten? Was sie in ihr sahen? Als sie die wundervolle Stille des Bergsees umfing, fühlte sie das Gewicht von ihrem Herzen fallen. Das Gras unter ihren nackten Füßen bohrte sich in ihre Sohlen. Die Luft tobte in ihre Lunge, der Wind zupfte an ihren Haaren, der Duft des süßen Wassers stieg ihr in die Nase. Einem inneren Drang folgend ging sie um den See herum zur Nordseite. Dort war das Ufer nach nur wenigen Metern steil abfallend. Sie könnte nach glitzernden Drachenschuppen tauchen. Wenn sie eine davon in die Finger bekam, würde sie sie gegen ihr Leben eintauschen – in mehreren Bedeutungen. Noch einen solchen Tauchgang wie am Vortag würde sie wahrscheinlich nicht überleben, doch eine solche Schuppe war genug wert, dass sie sich freikaufen konnte. Seltsam, dass ihr diese Entscheidung so leicht fiel. Langsam, Schritt für Schritt, tauchte sie ihre Füße ins Wasser. Es umspülte ihre Knöchel mit der gleichen, jetzt aber beruhigenden Kälte wie gestern, als würde es sie locken. Sie ging tiefer in den See hinein, spürte, wie der Saum des Nachthemdes feucht wurde, dann Wasser sog und schwer an ihr zog, merkte, wie ihr Blut abkühlte und sie begann, ruhig zu atmen. Ihr Herzrasen verging und wieder schlug es ruhig im normalen Takt. Du-dunk. Du-dunk. Du-dunk. Einmal in ihrem Leben wünschte sie sich, dass jemand zu ihr sagte, dass er sie brauchte. So wie gestern dieser Verletzte sie gebraucht hatte. Das gab ihr, selbst wenn sie darüber murrte, ein Gefühl der Erfüllung. Als sei das ihre Aufgabe. Ein Seufzer entrang sich ihren Lippen, als sie bis zum Rand des Ufers ging und das blaue Wasser des Drachensees vor sich sah. Eine Aufgabe, die immer unerfüllt blieb, wie sie jetzt merkte. Sie hob den Fuß und ließ sich fallen. Mit einem Klatschen traf ihr Körper auf die Wasseroberfläche, das Wasser schwappte über ihr zusammen, nachdem es hochgespritzt war und hüllte sie in Stille und Kälte. Eine Weile ließ sie sich treiben, schwamm träge zur Mitte des Sees und holte dort tief Luft. Dann tauchte sie unter. Wieder war das Wasser türkisfarben durch das Licht des Tages. Während sie mit kraftvollen Zügen dem Wasserboden entgegenschwamm, ließ sie ihre Sorgen von sich abfallen. Kein Dragoniar konnte ihr ihre Würde nehmen. Sie würde dort sterben, wo so viele von ihnen gestorben waren, dass sie in guter Gesellschaft sein würde. Eine große Luftblase zwängte sich aus ihrem Mund und stieg an die Wasseroberfläche. Fasziniert schaute Fuxya ihr nach und entließ noch eine ihren Lippen. Diese war kleiner, zunächst nicht rund sondern eiförmig. Aber auch sie bildete bald eine Kugel und eilte der Luft entgegen, wo sie zunächst auf dem Wasser trieb und dann platzte. Wie ihr Traum einer heilen Welt. Sie schwamm tiefer und bemerkte bald tatsächlich ein Glitzern, das von unten her die Dunkelheit erhellte. Das mussten diese Schätze sein, von denen die Reichen geträumt hatten! Drachenschuppen, Drachengold! Schneller werdend paddelte sie eifrig auf den Boden zu, dabei bemerkte sie beinahe nicht, wie viel Luft ihr bereits entwichen war. Doch das störte sie nicht. Da war das Knacken ihrer Ohren, das Gewicht ihrer nassen Kleider, das Brennen ihrer offenen Augen doch zehnmal schlimmer. Sie spürte den Druck auf ihren Lungen, ignorierte ihn jedoch. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie den Boden des Sees und sie wusste, dass sie den Dragoniar am Vortag erreicht hatte, bevor er zu Boden gesunken war. So schnell wie sie wieder an die Wasseroberfläche gekommen war. Hier unten war das Wasser wieder blau aber immer noch heller, als erwartet. Sie stellte ihre Füße auf den Untergrund und stellte zu ihrer Zufriedenheit fest, dass er tatsächlich voller weißer Kieselsteine war. Diese hier waren rund gespült. Dann blickte sie sich um. Algen, so lang wie sie, wuchsen zwischen den Steinen in die Höhe, Korallen hingen an Felsen, doch kein lebendiges Tier war zu sehen. Zu ihren Füßen lagen Gräten, etwas weiter weg – sie erschauerte –, auch ein gut definierbares Skelett. Mensch oder Dragoniar? Schwer zu erkennen. Sie wollte es sich auch nicht näher anschauen. Aber die Todesursache war eindeutig Ertrinken, weil das Bein des Unglücklichen von einer Alge umschlungen worden war, die ihn am Seeboden gehalten hatte. Sie schluckte, weshalb noch einmal Luft aus ihren Lungen entwischte. Sie hatte zu wenig um die weit entfernte Wasseroberfläche rechtzeitig zu erreichen. Aber es war trotzdem schwer, sich am Boden zu halten, da ihr Körper leichter als das Wasser war und immer wieder nach oben trieb. Fuxya schaute sich weiter um. Wo war das Glitzern hergekommen? Ihre Augen suchten die Umgebung ab und schwimmend verwühlte sie ihre Hände im Kies. Dann erblickte sie das erste Funkeln und schwamm dorthin. Als sie triumphierend die Hand darum schloss, quoll der Sand unter den Kieseln hervor und verdreckte den See. Dann sortierte sie die weißen Steine aus und untersuchte ihren Fund. Es war … Vor Erstaunen öffnete sie den Mund und der Rest ihrer angehaltenen Luft trat die hastige Flucht nach oben an. Sie schauderte, während sie dem letzten Schritt auf dem Weg ihres Todes hinterher sah. Doch ihre Augen fanden nichts als vorübergehende Schönheit in den Luftblasen, daher wandte sich ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Fund zu. Während der Druck auf ihren Lungen unerträglich stark wurde, ihr Überlebenswille nach Luft schrie und ihre Augen zu tränen begann, presste sie diese wunderschöne rote Schuppe an ihr Herz. Sie war so rubinrot wie ihre Augen, so groß wie ihre Handfläche, so dünn wie ein Fingernagel und daher fast durchsichtig und glitzerte. Ein Meisterwerk der Natur! In ihrem Kopf bildete sich das Bild eines majestätischen Drachen – einer riesigen, fliegenden Echse mit Flügeln wie eine Fledermaus und Reißzähnen wie ein Bergtiger. Überall an ihm glänzten diese Schuppen um die Wette. Wie sie sich wünschte, einen Drachen zu sehen! Ihre Gedanken verschwammen zu undeutlichen Gebilden, während sie im Schneidersitz auf den Kieselboden sank, weil keine Luft sie mehr nach oben drängte. Es war das wohl furchtbarste Gefühl, zu ertrinken. Ihr Überlebensinstinkt siegte und sie wollte nach Luft schnappen, bekam aber nur Wasser in die Lunge und hustete auch ihre restlichen Luftreserven aus. Ihr Kopf pochte, ihr Herz drohte zu platzen, aber ihre Seele fand Frieden in diesem Traumbild. Ein Jammer, dass nicht mal in ihrem Tod diese Wahnvorstellungen vergehen wollten. Andererseits war es das Einzige, was seit jeher ihren Charakter geformt hatte und sie würde mit ihnen von dieser Welt scheiden. Langsam, ganz langsam wurde ihr Körper schwach, ihr Herz langsam, ihr Kopf ruhig und mit einer letzten Anstrengung ließ sie ein Lächeln auf ihren Lippen erscheinen, bevor auch ihre Muskeln erstarren konnten. Dann wurde es pechschwarz. Das Erste, was sie spürte, war der Kuss. Das Zweite die Luft, die in ihre Lungen gepumpt wurde und das Dritte ein Würgen, das in ihr hochstieg. Wenig später spuckte sie mehrere Becher Wasser über die weißen Kiesel des trockenen Drachenseeufers, keuchte und hustete, während Tränen ihr in die Augen schossen und ein Schluchzen über ihre Lippen kam. Die Sonne blendete höllisch außerhalb des schützenden Gewässers und die Naturlaute um sie herum donnerten in ihren Ohren, die sich knackend vom Wasserdruck erholten. Fuxyas Lungen sogen die Luft um sich her ein, während sie nach Luft schnappte und sich besser hinlegte, weil ein Kiesel ihr schmerzhaft in die Hüften stach. In der frischen Brise, die über das Seegelände wehte, fror sie jämmerlich. Sie hatte nur dieses dünne Nachthemd an, das an ihrem Körper klebte. „Ich dachte schon, ich hätte Euch verloren, junges Fräulein“, ertönte eine bekannte Stimme. Es war dieser grünhaarige Dragoniar vom Vortag. Sie wusste, dass er kein Traum gewesen war! Innerlich jubilierte sie über diese Erkenntnis, bis sie kopfschüttelnd merkte, dass er sie von ihrem Selbstmord abgehalten hatte, was sie wiederum ärgerte. Ein Stich in ihrer Hand lenkte sie davon ab, ihn wütend und mit funkelnden Augen anzusehen. Sie hielt immer noch diese fantastische Schuppe in ihrer Hand, die noch so viel schöner über Wasser war! Rubinrot. Noch ein paar Mal würgte sie Seewasser hervor, hustete trocken und sackte dann erschöpft auf dem Kies zusammen. Der Mann drehte sie wieder auf den Rücken, weil er dachte, sie würde ihm unter den Augen wegsterben. Sein besorgtes Gesicht legte sich in Furchen und zum ersten Mal erhielt Fuxya ein ungefähres Gefühl seines Alters. Er musste viel, viel älter sein als sie – seine Augen besaßen eine Tiefe und Weisheit und die Falten seines Antlitzes sprachen Bände. Gestern war ihr das noch nicht so aufgefallen, aber er war nicht mehr ganz so jung. Sein grasgrünes Haar war von silbernen Strähnen durchzogen. Außerdem war er ziemlich klein. „Wie geht es Euch?“, erkundigte er sich. Zu ihrer Beschämung konnte sie nur krächzend antworten: „Es geht.“ „Wie kommt Ihr auf die dumme Idee, in einem so tiefen See nach Drachenschuppen zu tauchen?“ Erstaunt über seinen Ausbruch zögerte sie mit ihrer Antwort, fühlte sich aber irgendwann bereit, doch etwas zu erwidern. Es kam schnippischer an, als gewollt: „Wie kommt ihr darauf, verletzt in einen See zu springen?“ „Ich bin hineingefallen“, meinte er und fuhr dann fort, ohne sich an ihrem ungläubigen Gesichtsausdruck zu stören, da sich in dieser Umgebung kein hoher Ort befand, von dem man gut in den See fallen konnte, „Das kann man von euch aber nicht sagen!“ „Ich wollte eine Schuppe“, bestätigte sie lediglich und setzte sich auf. Ein Schwindel erfasste sie, aber sie ließ sich nicht davon abbringen, denn sie fühlte sich wie auf einem Präsentierteller. Schließlich klebte ihr dünnes Nachthemd an ihr und verbarg nicht ihr unziemliches Auftreten. Sie zog die Knie an und verbarg dadurch ihre Brüste und Scham vor ihm. Er schnaubte. „Ich habe eh schon alles gesehen.“ Unsensibel! Sah er nicht, dass sie sich wenigstens etwas ihrer Würde bewahren wollte?! Dass er so tun sollte, als hätte er nichts gesehen?! Missmutig und verärgert brummte sie in sich hinein. „Was wollt Ihr mit dieser Schuppe?“, fragte er, um das Thema zu wechseln. Sie fuhr herum und sah ihn misstrauisch an. „Die bekommt Ihr nicht!“ „Ich will sie gar nicht haben, ich habe selbst genug“, winkte er ab und schreckte dann hoch, als hätte er sich verplappert. Er räusperte sich, schüttelte den Kopf, woraufhin Wassertropfen in alle Richtungen spritzten und fegte mit seiner rechten Hand Seegras von seiner linken Schulter. Dann zog er akribisch genau sein Seidengewand zu Recht, dass ebenfalls an seinem Körper klebte – aber bei weitem nicht so schamlos wie ihr Leinennachthemd. „Ich will sie eintauschen“, meinte sie und lenkte seine peinlich berührte Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Wogegen denn?“ Neugierde blitzte in seinen Augen. „Gegen mein Leben“, sagte sie bitter und wandte den Kopf ab. Er schwieg, aber sie spürte seine forsche Musterung, ließ sie jedoch über sich ergehen, obwohl sie das nicht mochte. „Euer Leben? Halten Dragoniar seit Neuestem Sklaven?“, scherzte er dann und sie schnaubte. Er schien von nichts eine Ahnung zu haben! Wie zum Teufel konnte er selbst ein Dragoniar sein, ohne etwas von der Kultur zu wissen? Oder heuchelte er Ahnungslosigkeit? „Nicht offiziell.“ Murrend gab er sein Missfallen kund und sie zögerte. War er tatsächlich einer der Dragoniar, die Abneigung gegenüber der alten Freiwilligentradition hegte? „Was müsst Ihr tun?“, fragte er leise. Er kniete neben ihr im weißen Kies und untersuchte interessiert seine im Schoß miteinander verschränkten Hände. Ein kalter Schauer lief ihren Rücken hinab. „Kinder gebären“, antwortete sie genauso leise und schloss die Augen, um die Realität weniger brutal wirken zu lassen. Ihr Kopf sank auf die Knie und sie schaute durch die Schuppe, die sie ins Sonnenlicht hielt. Rote Strahlen blendeten sie. Es war wunderschön. „Bitte?!“, entrüstete er sich und starrte sie so entgeistert an, dass seine Reaktion gar nicht gespielt sein konnte. Sie lachte trocken, als sie ihn so sah und die Bitterkeit wallte in ihr auf, während sie ihm erklärte: „Ihr als reicher Dragoniar seid doch die Zielgruppe! Wisst Ihr denn nichts davon? Es gibt für die Dragoniar ein Bordell etwas abseits von der Bergstraße bei der Mitte des Berges. Dort werden Frauen hingebracht, die sie „Freiwillige“ nennen. Aber ich fürchte, nicht eine von ihnen ist freiwillig dort. Sie alle haben nur nicht rechtzeitig einen Ehemann gefunden. Für uns im Hütervolk ist es wichtig, viele Nachkommen zu haben, damit auch sie die Drachen beschützen können. Wir sind bloß nicht besonders fruchtbar! Also …“ Je mehr aus ihr heraussprudelte, desto mehr machte sich ihr Ärger Luft, aber wenigstens konnte sie diese Ungerechtigkeiten mit jemandem teilen. Und dieser Dragoniar war alles andere als begeistert von dem, was er hörte. Das Entsetzen verunstaltete sein Gesicht, während sich bei jedem neuen Wort, das sie sprach, zunehmend Ärger und Wut in seine Augen schlichen. Sie brachten die gelben Sonnen zum Funkeln und Strahlen, eine Tatsache, die sie fast die Sprache gekostet hätte. „Prostitution?!“, fuhr es aus ihm heraus und sie zuckte mit der Schulter. „Wie sonst sollte das unfruchtbare Volk Kinder im Überfluss zeugen, wenn nicht durch diese Sexhäuser, wo Frauen den ganzen Tag die Beine spreizen, damit ein „ehrbarer“ Mann nach dem anderen darüber rutscht?“ Wie zynisch sie doch klang! Herrlich, was so ein knapp entronnener Tod mit einem anstellte! „Prostitution!“, donnerte er wütend und sprang auf, um ruckartig auf- und abzugehen. Das musste ihn wirklich entschleiert haben, denn so wie er reagierte, hatte er noch nie etwas davon gehört. „Ihr auch?! Seid auch Ihr dort?!“, haspelte er mit einer sich überschlagenden Stimme. Er bebte vor Entrüstung. „Noch nicht.“ „Noch nicht?!“, kreischte er und sein stoßweise kommender Atem ließ ihn aussehen wie ein bedrohliches Tier. Er verschränkte die Arme und wanderte wieder hektisch auf und ab. Wieso regte ihn das so auf? Es half dem Volk beim Überleben und gerade Reiche erfreuten sich an diesen Lusthäusern! „Hätte ich das gewusst, …“, fauchte er mehr zu sich selbst als zu ihr, während ihre Augen ihm folgten. „Ihr wärt wie jeder andere auch hingegangen, um Euch Eure Lieblingsdame auszusuchen“, ergänzte sie, weil sie nicht wollte, dass er sich andersartig aufspielte. Männer waren so. „Niemals! Wie könnte ich! Ich müsste mich übergeben beim bloßen Gedanken an Sex mit einer solchen Frau!“ „Für eine solche Frau ist es das Ehrbarste ihrer Existenz, wenn ein reicher, einflussreicher Dragoniar mit ihr ein Kind zeugt, das später in seine Familie eingeführt wird. Dann weiß sie wenigstens, dass es ihrem Kind gutgehen wird“, erklärte sie ruhig. Seltsam, dass sie dieses Gewerbe so verteidigen konnte. Er blickte sie genauso verwirrt an, nachdem er stehen geblieben war. „Denkt Ihr auch so? Fühlt Ihr Euch auch … gut, wenn Euch so etwas zustößt?“, fragte er mit zitternder, fast schwacher Stimme. Sie lachte bitter. „Nein, aber das wird bald mein Leben sein. Mein Vater hat mich vor zwanzig Jahren an die Herrin der Freiwilligen verkauft, damit ich ihm ein gutes Grab bauen konnte, sobald er gestorben war. Ich wusste bis heute Früh nichts davon. Dann hat mir die Priesterin erzählt, was es mit der Geldsumme, die ich damals zugeschickt bekam, auf sich hatte.“ Entgeistert starrte er sie an und fragte noch einmal nach: „Euer Vater?“ „Ja, mein Vater. Meine Mutter hat sein Denken ausgelöst mit ihren Hasstiraden gegen mich – Ihr seht es mir doch an. Ich bin nicht wie die anderen Dragoniar. Ich habe schwarze Haare, rote Augen und Wahnvorstellungen, wegen denen man mich morgen zum zweiten Mal in meinem Leben zu den Exorzisten bringen lässt. Sie wollen den Dämon aus mir herausjagen, der mich anders macht. Dabei ist ihr Wirken nur Folter.“ Er ließ die Arme sinken und sah völlig verloren aus, als hätte er den Glauben an einen Gott verloren oder in diesem Fall an der Gesellschaft, in der er aufgewachsen war. Mit offenem Mund und leeren Augen schaute er sie an. Seine Augen wanderten über ihre Gesichtszüge über ihren Körper zu ihren Zehen hinab und er schüttelte den Kopf. In seinen Augen lag weder Ekel, noch Abscheu. „Bei uns würden Eltern für solch einen Verrat entmachtet werden. Und Exorzisten! Die können doch keine Tagträume austreiben!“, murmelte er mit leiser Stimme und begann wieder, auf- und abzulaufen. Bei ihnen? Wo kam er denn her, dass er aussah wie ein Dragoniar, aber keiner war? „Ich versuche mich freizukaufen. Mit dieser Schuppe. Ich hoffe, es geht. Anderenfalls hättet Ihr mich gerettet, um mich in ein Leben aus Folter zu schicken“, flüsterte sie, doch ihre Worte trafen ihn wie eine Schneelawine. Er erzitterte und sah sie an, doch sie zuckte nicht zurück. Es war die Wahrheit. Schmerzhaft, aber wahr. „Das würde ich niemals zulassen!“, erwiderte er und sie schnaubte, was ihn die Augenbrauen zusammenziehen ließ. „Es würde geschehen. Oder würdet Ihr mich heiraten?“ „Das kann ich nicht“, gab er gequält zu und ihr letztes Hoffnungsseil riss laut. Ihr blieb nichts anderes als ein wahnsinniges Kichern, das sich nicht mehr zurückhalten lassen wollte. Er schaute sie verwirrt an, während es sie schüttelte. „Was? Was ist so lustig?“, hakte er nach, plötzlich besorgt. „Versucht mir nichts vorzumachen! Ihr seid wie jeder reiche Dragoniar auch, ein einfacher, durchschaubarer Heuchler.“ Das traf ihn ziemlich hart und er zuckte zusammen, bevor er den Mund öffnete, um etwas zu erwidern. Doch sie unterbrach ihn hastig und meinte: „Wahrscheinlich werden sie mich nicht gegen die Schuppe freigeben. Vielleicht sollte ich lernen, damit umzugehen. Vielleicht werde ich tolle Männer kennenlernen und tolle Kinder haben …“ Doch keines dieser Argumente füllte sie mit Vorfreude oder löschte die Zweifel. Zweifellos würde ihr Leben eine Hölle sein. „Ihr habt mir gestern das Leben gerettet, ich Euch heute. Aber Ihr habt es zweimal getan. Ich nur einmal. Ich stehe in Eurer Schuld, daher werde ich Euch retten.“ „Wie? Lügt nicht!“, schrie sie und sprang auf. „Gebt mir keine Hoffnung, wo keine Hoffnung mehr ist“, rief sie aus und Tränen brachen aus ihr hervor, während sie versuchte, die Schluchzer niederzuringen. Es klappte nicht, also stürmte sie ans andere Ende des Sees, wo der Trampelpfad zum See zum Dorf hinabführte. Sie blickte sich um und überschaute den Drachensee in all seiner Pracht. Es würde ihr letzter Blick auf diesen sein und auf den Mann der ihr nachsah. In diesem Moment fühlte sie, dass sie sterben wollte. Hier und jetzt. Nicht so wie letztes Mal, nur um eine Schuppe zu holen, die sie gegen ihr eigenes Leben eintauschen konnte. Nein. Richtig sterben. Wie im Bann rannte Fuxya immer schneller auf den See zu und stürzte sich hinein. Noch bevor sie untergehen konnte, war er wieder bei ihr. „Kind, Kind! Ruhig!“, sagte er, während seine Hände ihren Widerstand brachen und sie umklammerten wie Eisenfesseln. Sie schluckte. „Geht nach Hause. Morgen werdet Ihr nicht zu den Exorzisten gebracht oder in irgendein Bordell. Das verspreche ich Euch. Glaubt nur dieses eine Mal an mein Wort, wenn Ihr mögt, aber glaubt es. Denn ich bin mächtig. Mächtiger als Ihr denkt. Und mein Dank an Euch wird unvorstellbar sein – Euch reich machen.“ Sie sank auf die Knie, über die das Seewasser schwappte und weinte zittrig. Konnte sie ihm denn vertrauen? War sie dazu noch in der Lage nach den Enthüllungen dieses Morgens? Doch diese Fragen waren in keiner Weise wichtig. Sie musste ihm glauben. Sie musste ihm einfach glauben, dass er einen Drachenschatz beschwor, um sie freizukaufen und reich zu machen. „Bitte“, flehte sie ihn an, während er sie hochhob und ans Ufer brachte. „Versprecht mir, dass Ihr nicht versucht, Euch umzubringen, bis Eure Priesterin morgen auf Eurer Türschwelle steht. Dann könnt Ihr Euch immer noch ein Küchenmesser in den Bauch rammen, wenn Euch die Lösung nicht gefällt.“ Sie nickte und sank erschöpft auf die Kieselsteine des Ufers, während er fast väterlich liebevoll über ihr Haar strich und in einer fremden Sprache zu singen begann. Die Worte passten perfekt zu seinem seltsamen Dialekt und klangen wie das Plätschern eines Baches und das Wehen des Windes. Wieder musste sie feststellen, dass er sie mit seiner magischen Stimme in den Schlaf wiegte. Bevor sie noch viel mehr tun konnte, schlief sie ein, vollkommen entkräftet von den emotionalen Wendungen und Höhepunkten dieses anbrechenden Tages. Kapitel 3: Tänzerin ------------------- Hätte dieser Dragoniar, oder was auch immer der Mann mit den grünen Haaren war, nicht Magie gewirkt und sie ins Traumland geschickt, nur damit sie wieder am nächsten Tag in ihrem eigenen Bett aufwachen konnte, hätte sie den Rest des Vortages wahrscheinlich damit verbracht, mit klopfendem Herzen auf ihre Befreiung zu warten. Sie hätte mit Sicherheit kein Auge zugetan. Doch da der gute Mann das getan hatte, war sie erfrischt heute Morgen aufgestanden und hatte sich umgezogen. Obwohl in ihrem Inneren Zweifel über Zweifel herfiel, konnte sie nichts anderes tun, außer zu hoffen, dass dieser seltsame Dragoniar ihr das Leben rettete. Er musste sie einfach aus den Klauen dieser Freiwilligen-Tradition retten! Er musste sie auch vor den Exorzisten retten! Er musste es einfach! Er hatte es ihr versprochen! „Oder hat er das am Ende nur gesagt, um mich zu beruhigen und mir Hoffnung zu machen, sodass ich mit positiver Miene in den neuen Tag schreite?“, hauchte sie misstrauisch in ihren Fruchtsaft. Seit ihr Vater vor zwanzig Jahren gestorben war, hatte sie keinen mehr getrunken. Es mangelte ihr schließlich an Geld und ihre einzige Einnahmequelle war der Unterricht, den sie den jungen Mädchen der Dragoniar im Tanzen gab. Der fand aber in letzter Zeit ohne sie statt, da man ein hübsches neues Mädchen angestellt hatte, dass mit einer Geschicktheit, die nur zu bewundern war, auch Fuxyas Arbeitsstelle an sich gerissen hatte. „Und wie zum Henker der Menschen hat er es schon wieder geschafft, mich in mein Haus zu bringen?“, murmelte sie weiter, um sich abzulenken. Wenn sie das nicht tat, würden ihre Gedanken unweigerlich zu den Androhungen der Priesterin zurückwandern. Das machte ihr Angst, also war sie bereits den ganzen Morgen damit beschäftigt, sich anderweitig die Zeit zu vertreiben. Gerade war sie dabei, sich zu wundern, warum der angekündigte Besuch von Topazza so spät ausfiel, als es an der Tür klopfte. „Herein!“, rief sie, denn hier in der Schlucht schloss niemand seine Türen ab. Das war nicht nötig. Sie alle waren Kämpfer und könnten Eindringlinge ohne weiteres dem Erdboden gleich machen. Außerdem würde man Eindringlinge überhaupt nicht durchlassen beim Eintritt auf den Heiligen Berg. „Guten Morgen“, grüßte Fuxya die Priesterin und einige junge Mädchen. Sie alle waren in weiß gekleidet und nur Topazza in Gold. Es kam nur sehr selten vor, meistens bei heiligen Ritualen, dass sie dieses goldene Gewand anlegte. Fuxya fiel es schwer, den genauen Grund dahinter zu sehen, da sie ihre Überantwortung an Exorzisten für nicht feierlich genug hielt. „Wie ich sehe, seid Ihr bereit“, antwortete Topazza und rümpfte die Nase. Ihr Blick geisterte durch den spärlich eingerichteten Raum, der früher viel voller und heimeliger gewesen war, der nach dem Tod ihres Vaters aber ausgeräumt worden war, um an Geld zu kommen. Warum sprach die Priesterin so förmlich? Das hatte sie noch nie getan! War das also Grünhaars Plan? Fuxya fand, dass sie auf diese Feststellung nichts antworten musste und schwieg. „Heute Morgen ereilte mich …“, begann die goldene Frau und schüttelte ungläubig den Kopf, bevor sie weitersprach, „ein Edikt von den Heiligen. Sie berufen Euch als Tänzerin, Fuxya vir Sallanis.“ Fuxya zuckte zurück. War das Grünhaars Plan? Aber wie sollte ein Dragoniar darauf Einfluss nehmen? Ein Edikt der Heiligen war ein Erlass der Drachen! Das war unmöglich sein Werk! Sie runzelte irritiert die Stirn. Also wurden ihr die Exorzismen und Freiwilligen-Dienste erspart, damit sie als Konkubine zu den Drachen geschickt werden konnte? Sie wusste nicht wirklich, was schlimmer war. „Als Tänzerin?“, wiederholte sie daher und konnte sich des dümmlichen Gesichtsausdrucks nicht erwehren, der in ihr hochkam. Obwohl sie ihr ganzes Leben lang davon geträumt hatte, tatsächlich in die Familie der Drachen aufgenommen zu werden, schien ihr jetzt, da es so weit war, nichts befremdlicher. „Ja, Kind. Und sie wollen Euch noch heute. Also werden wir Euch jetzt von Eurer … fleischlichen Hülle so gut es geht befreien, um Euch dann den Hütern zu übergeben“, antworte Topazza genervt. In ihr brodelte die Wut, das sah Fuxya in ihren Augen. Die Priesterin hatte Tänzerin werden wollen, war aber durch ihre Ehe und Kinder an die Welt auf dieser Seite des Tempels gebunden. „Aus meiner fleischlichen Hülle befreien?“, hakte Fuxya nach. Das klang fast so, als wollten die Frauen sie töten, damit sie übertreten konnte. Die Mädchen in Weiß schnaubten und sahen sie von oben herab an, als sei sie diese Ehre nicht wert. Und genauso fühlte sich Fuxya auch. War das Grünhaars Plan oder nicht? Hatte er Verbindungen zu den Drachen oder war das hier reiner Zufall? Müde fuhr sie durch ihr Haar und meinte ergeben: „Tut, was ihr tun müsst.“ Die Frauen schnaubten wieder herablassend und nahmen sie dann am Arm, als wäre sie eine Gefangene, die man gerade abführte. Aber sie fühlte sich seltsam schwach, nachdem man sie mit dieser Enthüllung völlig überrumpelt hatte. So merkte sie nur am Rande ihrer geringen Aufmerksamkeit, dass man sie in den Tempel schleppte. Nicht nach rechts in das Büro der Priesterin, sondern nach links in einen riesigen Raum. In der Mitte stand ein Badezuber und Bahnen von durchsichtiger weißer Seide lagen gefaltet auf einem Stuhl in der Nähe. Weiße Bänder hingen über dessen Holzlehne. Sonst war die weiße Halle eher schlicht: An ihren Wänden waren pastellfarbene Mosaiken befestigt worden, doch keine von diesen schien ein Symbol für etwas Bestimmtes darzustellen. Die Fliesen waren weiß und glatt, sodass Fuxya mehrmals ins Rutschen kam. Man fing sie, wenn auch widerwillig, auf, aber sonst … Vielleicht war der Geruch noch nennenswert: Er war zart, verführerisch und machte sie noch schwächer als vorher. „Nehmt es als Eure Hochzeitsnacht“, sagte Topazza und sah sie kühl an. Als Tänzerin würde sie in den feinsten Kleidern und Bändern mit feinstem Goldschmuck und schöner Frisur sowie betörendem Duft auf den Altar gelegt werden. Das war die Hochzeit, die man zu erwarten hatte als Auserwählte. Bevor man sich versah, hieß es, lag man bereits in den Armen eines Drachen, der einen begatten sollte – sie hatte diese Gerüchte aufgeschnappt, da war sie dreißig oder vierzig Jahre alt gewesen, ein junges naives Mädchen, das nicht zuordnen konnte, was mit Letzterem gemeint war. Doch jetzt wusste sie es. Sie würde hergerichtet werden, als sei dies ihre Hochzeit mit einem Dragoniar, würde jedoch ein Mittel zu sich nehmen, das ihr den Verstand vernebelte, damit sie sich den Weg in das Reich der Drachen nicht einprägen konnte und würde in diesem Zustand dann genommen werden. Von einem wildfremden Mann, der ein Drache war, vor dem sie sich fürchtete. Unwillkürlich schlich sich ein kalter Schauer ihren Rücken hinab. Doch man ließ sie nicht zögern. Die Frauen entledigten sich ihrer eigenen Kleidung – waren sie hübsch! –, dann entkleideten sie Fuxya, die sich neben ihnen bemerkenswert hässlich vorkam und führten sie in den Badezuber. Er roch nach Seife und Duftölen und Schaum hatte sich auf der Wasseroberfläche gesammelt. Die jungen Frauen begannen mit harten, kratzenden Bürsten Fuxya abzuschrubben, die sich mehrmals beschweren wollte, sich aber nur düstere Blicke einfuhr. Man ging zu Badesand über, der mit Duft angereichert auf der Haut aufgetragen wurde und mit dem man sie massierte, damit ihre Haut sanft wurde. Dann wurde wieder geschrubbt, dieses Mal aber mit weicheren Bürsten. Dieser Vorgang wiederholte sich bestimmt fünf oder sechs Mal, bevor sie endlich aus dem Wasser steigen durfte. „Hättet Ihr doch schon immer die Weisheit bewiesen, dass Schönheitsbäder für junge Frauen ihr Leben bedeuten, dann hätten wir es jetzt nicht so schwer, Euch herzurichten“, stöhnte eine der Frauen leise und Fuxya schaute verlegen zu Boden. Sie hatte kein Geld und keine Zeit für solche ausgiebigen Bäder gehabt, die ihre Haut erstrahlen lassen sollten. Stattdessen hatte sie nur bewundernd auf die jungen Frauen geschaut, die es sich leisten konnten, solche Verschwendung mitzumachen. „Nägel und Augenbrauen!“, befahl Topazza und die Frauen führten Fuxya zu einer Liege, die hinter dem Zuber versteckt ebenfalls in der Mitte des Raumes stand. Dort sollte sie sich drauflegen und ruhig halten, während man ihr Haare auszupfte, was ziemlich schmerzte und ihr Tränen in die Augen trieb und man ihre Nägel feilte. Obwohl sie sich danach bereits wie eine reiche Frau vorkam, schnalzten die Mädchen immer noch mit der Zunge, als würde so eine Behandlung bei weitem noch nicht ausreichen. „Die Haare!“, rief eine aus und deutete auf Fuxyas Körper unterhalb ihres Halses. Als sie ihre Scham bedecken wollte, hielten wütende Seufzer sie zurück. Was darauf folgte, war eines ihrer wohl furchtbarsten Erlebnisse: Man entfernte vom Hals abwärts alle Haare mit Magie und Umschlägen, die ein erneutes Wachstum verhindern würden. Es brannte und tat unglaublich weh. Fuxya beschwerte sich, doch man schnitt ihr mit gehässigen Erwiderungen das Wort ab. Diese Qual machte den Frauen wohl Spaß, denn sie schienen besonders lange und gründlich zu arbeiten. Fuxya stand in dem leergeräumten Gebetssaal und starrte das Bild der Drachen hinter dem Altar an. Das war jetzt ihre neue Familie und ihre alte war nicht gekommen, um sich von ihr zu verabschieden, nicht einmal die in Weiß gekleideten Frauen waren geblieben. Nur Topazza, die jetzt einen mürrischen Blick über das deutlich jüngere Mädchen gleiten ließ. Ihre Schönheit, in das Gold ihres Tempelgewandes gehüllt, blendete Fuxya, die sich vorkam, als sei sie ein besonders saftiges Stück Schweinefleisch auf einem Servierteller. „Nun gut. Nicht schlecht. Man kann also noch vieles retten, wenn man sich Mühe gibt“, kommentierte Topazza Fuxyas vollständige Verwandlung. Dieses Mal konnte die junge Frau jedoch keine Widerrede geben, da sie eine ähnliche Feststellung gemacht hatte, als sie vor dem großen Spiegel im Saal der Reinigung gestanden hatte. Ihr Körper war durch die Behandlungen zart und glänzend geworden, Pigmentflecken waren mit Hilfe von Cremes wegmassiert worden und, wie für eine jungfräuliche Braut angemessen, waren ihre Haare entfernt worden. Sie hatte zum ersten Mal wirklich das Gefühl, nicht hässlich zu sein und den anderen Frauen vom Körper her in nichts nachzustehen: Ihre Brüste, durch ein Mieder immer sehr klein gehalten, waren zwar weniger üppig als Topazzas aber auch nicht winzig. Sie war ebenso dünn und leicht muskulös wie alle anderen auch und mit ihren gefeilten und golden lackierten Finger- und Fußnägeln fühlte sie sich unermesslich reich – als hätte sie endlich etwas zu bieten. „Ich hielt die Haare und Augen für unrettbar, aber ich muss zugeben, sie stehen Euch ganz außerordentlich gut“, verwies Topazza jetzt auf Fuxyas Kopf. Diese lächelte stolz: Ihr schwarzes Haar war turmartig aufgeschichtet worden und mit Gold- und Perlenketten durchzogen worden. In der Mitte ihrer Stirn baumelte ein tropfenförmiger Rubin, der sich wunderbar ihren Augen anpasste. Die waren mit schwarzer Schminke umrandet, während die Lider mit Goldstaub eingerieben waren, der das gesamte Gesicht aufhellte. Von den Lidern wölbten sich Wellen und Spiralen von Gold über ihre Schläfen hinauf auf die Stirn, um dort den Rubintropfen einzuhüllen. Ihre Wangen waren mit rotem Puder zum Glühen gebracht und ihr Mund mit goldenem Lack aufgefüllt. „Ihr seht nicht schlecht aus“, murmelte Topazza, aus deren Worten man sprühende Eifersucht hörte, die sie nur mühsam unter Kontrolle hielt. Es war eine völlig neue Erfahrung für Fuxya, dass jemand sich von ihrem Aussehen eingeschüchtert fühlte – gerade, wenn dieser jemand die hübscheste Frau der Dragoniar und zusätzlich dazu die perfekte Priesterin war! Oh, wie gut sich das anfühlte! „Ich danke Euch“, erwiderte sie bloß und spürte den kleinen Luftzug, der die Bahnen durchsichtiger Seide zum Flattern brachte. Man hatte eine Kürzere für die Vorderseite und eine deutlich Längere für die Hinterseite ihres Körpers genommen, diese auf ihren Schultern mit goldenen Schnallen und unter ihrer Brust mit einem vergoldeten Seil zusammengebunden. Dann hatte man noch eine viel längere Bahn Seidenstoffs von hinten in die Schnallen geschoben, damit sie eine Art Umhang über dem durchsichtigen Stoff trug. Erst danach hatte man ein in ein Rechteck mit Spitze geformtes Stück Seide genommen, das mit atemberaubenden Goldstickereien benäht worden war und es unter ihrer Brust am Seil befestigt, dessen Schleife sich übrigens auf dem Rücken befand. Die Spitze des Stoffs reichte bis zu ihren Knöcheln hinab, an denen unterschiedliche, aber sehr feine Goldkettchen hingen, in denen wiederum winzige Rubine eingelassen waren. Ähnlichen Schmuck trug sie auch an den Handgelenken und im Haar. „Ich verstehe es als meine Pflicht, Euch zu wünschen, Ihr möget stärker sein als andere Tänzerinnen und mehr Drachensöhne schenken als je eine andere Frau zuvor“, leierte Topazza widerwillig die formellen Worte der Verabschiedung herunter. Sie gab sich immerhin Mühe, das Protokoll insoweit zu erfüllen, als es das Minimum zuließ. Bei einer normalen Hochzeit, bei der eine Frau den Drachen übergeben wurde, kamen alle Dorfmitglieder und sangen stundenlang Lieder von Fruchtbarkeit und Opferbereitschaft, man aß viel und gut, lachte und schenkte der Braut Goldschmuck, den sie auf der anderen Seite als Mitgift ihrem Herren überreichen sollte. Das gab es für Fuxya nicht, deren Eltern nicht mehr lebten und in Schande von dieser Welt gegangen waren – sie hatten nur eine Tochter auf die Welt gebracht, die auch noch Anomalien aufwies und bis zum Tod ihres letzten Elternteils nicht einmal eine Aussicht auf eine gute Ehe besaß – und die im Dorf keine Freundschaften genoß. Die Priesterin nahm ein letztes Schmuckstück aus einer goldenen Schatulle: Auch dieses war in aller letzter Sekunde beim Goldschmied beantragt worden und schließlich gerade erst fertig geworden. An filigranen Goldringen, so klein wie die Hälfte des Fingernagels ihres kleinen Fingers, hing ein riesiges Goldplättchen auf dem ein flacher Rubin Halt fand. Topazza hängte Fuxya die Kette um den Hals. Dabei rutschte das Herzstück in ihren tiefen Ausschnitt, aus dem sogar ihre Brüste fast herausfielen. Fuxya schaute an sich herab: An den Oberarmen und –schenkeln hatte man Reifen mit Edelsteinen aller Farben befestigt, die mit ihren angehängten Ringen und Glöckchen lustig klimperten. Ebenso verhielt es sich mit ihren Knöchelbändchen und den Ketten im Haar. Sie war ein einziger Haufen Gold. Von so viel Luxus hatte sie nie geträumt. Topazza schritt um sie herum, als würde sie eine kleine Bestandsaufnahme machen, schnaubte dann, blieb vor ihr stehen und sagte: „Zieht diesen Schleier über. Es ist das letzte Stück Stoff, dass Ihr bekommt und das wertvollste von allen. Darüber und über Eure Turmfrisur zieht Ihr diesen Goldreif an, damit das ganze hält. Ich werde Euch mit dem Rücken zum Bild auf den Altar setzen, Ihr werdet aus dieser goldenen Schale diese Kräutermedizin trinken und um Euer Leben beten. Möget Ihr einem ehrwürdigen Drachen zum Kindergebären dienen.“ Fuxya schluckte und kehrte in die unbarmherzige Realität zurück: Für nichts anderes holte man sie. Sie musste Kinder bekommen, bis sie starb, damit die Drachen nicht ausstarben. Topazza würde sie auch nicht eine Minute ihres Lebens mit guten Träumen verbringen lassen. Dafür war die Priesterin viel zu neidisch. Topazza reichte ihr eine Seidendecke, die genauso durchsichtig und weiß wie die anderen, jedoch mit vielen verschnörkelten Goldstickereien versehen und deutlich schwerer war. Sie half Fuxya, sich die Decke wie bei dem Kinderspiel „Geist“ über den Kopf zu ziehen, ohne dass die Frisur davon kaputt ging. Dann holte sie eine goldene Krone hervor: Es war ein Stirnreif mit Rubinen. Die Turmfrisur mit dem Schleier wurde mit einer geübten Geschicklichkeit durch den Reif gezwängt, bis dieser fest und sicher auf der Stirn der Braut lag. Der goldbestickte Schleier lastete schwer auf Fuxya und drückte sie dem Boden entgegen, während sein saum ihre nackten Füße streifte. „Möge der Brautsegen Eure Zukunft erhellen“, vollendete Topazza die Zeremonie, ohne die Worte so inbrünstig auszusprechen, wie es normalerweise der Fall hätte sein sollen. Fuxya hatte einen Kloß im Hals, der ihr eine Erwiderung unmöglich machte. Mit schweren Schritten und Beinen wie aus Stein wurde sie die Stufen zum Altar hochgeführt – mit all dem Gold und dem schweren Seidenstoff fühlte sie sich bewegungsunfähig – und musste dann mit dem Rücken zum Bild auf die Mitte des Altars klettern, wo sie sich auf die Knie setzte. Diese Position mit dem zusätzlichen Gewicht auf ihrer Schulter war das Unangenehmste, was ihr je zugestoßen war, doch sie hielt sich tapfer. „Schließt die Augen und betet, Braut, betet!“, hörte sie Topazza sagen und verkrampfte sich. Sie legte die Handflächen aneinander und hob die Hände vor die Brust, senkte den Kopf und flüsterte das erste Gebet. Sie würde alle siebenhundert Gebete aufsagen müssen, bevor sie Tempeldienerin der Drachen kam. Topazzas Schritte kamen wieder näher und Fuxya beendete das erste Gebet. Sie behielt die Position bei, bis die Priesterin das Wort ergriff und sagte: „Trinkt dies, Braut. Möge es Euch die Hochzeitsnacht erleichtern und Eure Frömmigkeit fördern!“ Zwei Hände hoben eine goldene Schale mit einer klaren Flüssigkeit unter ihrem bodenlangen Schleier an ihren Mund. Mühsam schluckte Fuxya das Gebräu, das so scharf war, dass es ihr beinahe die Kehle versengte und ihren Magen zum Rumoren brachte. Würgend schaffte sie es, die Flüssigkeit an ihrem Kloß im Hals vorbei zu zwängen und begann sofort wieder, die Gebete zu flüstern. Mit geschlossenen Augen, der frommen Position und geraden Haltung konnte Fuxya bald feststellen, dass die gemurmelten Worte ihr Frieden gaben und ihr klopfendes Herz beruhigten, dass nun nicht mehr raste, obwohl es von vielen Geräuschen aufgeschreckt wurde wie ein Kaninchen. Irgendwann musste Topazza gegangen sein, doch auch das hatte Fuxya nicht bemerkt – ihre Gebete, deren Inhalt sie manchmal nur stammelnd zusammenbekam, weil das Gebräu ihr die Gedanken vernebelte, hatten sie zu sehr in ihren Bann geschlagen. „Mögen die Heiligen unsere Bräute vor Unheil und Unwissenheit bewahren, auf dass ihre Körper rein und unschuldig ihren Herren dienen können und …“, murmelte sie das zehnte Gebet und schauderte, ob der grausamen Realität. Fühlten sich alle Frauen so, die einen Mann heirateten, den sie nicht kannten? Irgendwann fand ihre Seele wieder Frieden, während das Gebräu ihr den Atem und die Gedanken raubte und ihren Körper heiß und wieder kalt werden ließ. Ihr Herz purzelte von einer Anhöhe ins nächste Tal und sprang dann eifrig wieder einen Berg hinauf – sie fühlte sich furchtbar: Ihr Unterleib prickelte und brannte. Die Forderung nach Erlösung war selbst für eine Jungfrau überaus deutlich. Fuxya haspelte hektisch die Gedichte weiter, ihre Hände schwitzten und sie musste sich immer wieder mit der Zunge die Lippen befeuchten, damit sie nicht austrockneten. Ihre Kehle verengte sich und die anfängliche Leichtigkeit, mit der sie die Gebete herausgebracht hatte, war verschwunden. So vergingen die Stunden mehr als nur langsam, fast schon schleichend, während dieses Gebräu immer heftiger anschlug und ihr mehrmals ein Stöhnen entlockte, bevor sie mit zitterndem Leib unruhig hin- und herrutschte. Ihr Unterleib zog sich schmerzhaft zusammen, was ihr ein Zucken entlockte, dann wurde er lodernd heiß und ihre Mitte feucht. „O bitte, ihr Heiligen, erlöst diese unwürdige Seele von ihren Qualen …“, stöhnte Fuxya das sechshundertachtundsiebzigste Gebet und würgte die letzten Worte kaum hörbar heraus. Es waren Stunden vergangen und dennoch wurde es immer schlimmer! Ließ die Wirkung dieses Tranks jemals nach? Fuxya hoffte es inständig. Ein Lufthauch zerrte an ihren Kleidern, die Haare in ihrem Nacken richteten sich höher auf. Der Wind liebkoste ihre aufgerichteten Brustspitzen, die schmerzten und gleichzeitig nach dieser Berührung schrien. Er strich über ihre Arme und Beine, über den nackten Bauch und Rücken, bis er sich nach endlos langen Sekunden in der weiten Halle verlor. Fuxya seufzte und stöhnte gleichzeitig und wäre fast in sich zusammengesackt, hätte nicht ein weiteres, raueres Lüftchen ihr weitere Anstrengungen entlockt. Sie hörte, wie ein leichter Wind um die Tempelvorderseite strich und immer, wenn sie glaubte, gerade nichts befürchten zu müssen, hauchte ein weiterer Stoß Liebkosungen über ihre Gänsehaut. Mit Müh und Not, sie selbst merkte nicht, wie sich ihre Stimme in ein äußerst erotisches Säuseln verwandelte, stammelte sie die letzten Gebete hervor und fühlte sich gleichzeitig in unglaubliche Höhen und Täler katapultiert. Dieser verfluchte Trank! Nie hatte eine Braut die Schale ausgetrunken, aber Topazza hatte ihr eindeutig alles aus der Karaffe eingeflößt! Fuxya befeuchtete ihre goldenen Lippen und stieß das letzte Wort der siebenhundert Gebete aus. Sie fühlte die Erleichterung, als sie aufhören konnte, zu reden. Es war ihr schwer gefallen und das Gebräu hatte ihre Anstrengungen in süße Höllenqualen verwandelt. Mit schmerzenden Beinen und erhitztem Körper, der immer noch nach Erlösung schrie, saß sie da und verharrte in der Gebetsposition. Man hatte ihr nicht gesagt, was sie nun tun sollte, stellte sie fest. Sie hatte gedacht, dass wenn das letzte Wort über ihre Lippen kam, ein Drache sie entführte und in sein Bett nahm. Doch nichts geschah. Sie saß dort und hörte dem Säuseln des Windes zu, der ihr immer noch Schauer über den Körper sandte, die sie aber jetzt bei weitem besser ertragen konnte. Ihr Herz raste und sie schluckte. „Fuxya vir Sallanis“, ertönte eine Stimme hinter ihr. Sie war fest, aber weiblich und beinahe wäre sie herumgefahren, schwieg aber und verharrte ruhig, obwohl ihr Herz in ihrem Inneren in die Sterne gesprungen war vor Schreck. „Die Drachen rufen.“ Fuxya spürte, wie ein Durchzug im Tempel entstand, als sei hinter ihr eine Tür offen, doch der Wind, der an ihr vorüberwehte, raubte ihr ihr Bewusstsein und das Letzte, was sie hörte, war ein leichtes Seufzen und einen gemurmelten Satz: „Schon wieder eine mit diesem Trank vernebelt. Dragoniar!“ Kapitel 4: Drachenheiligtum --------------------------- Sie wurde wach, traute sich aber nicht die Augen zu öffnen. Mit fest zusammengepressten Lidern lag sie auf dem kühlen Marmorstein und atmete ruhig weiter, tat so, als würde sie noch ohnmächtig sein. Innerlich horchte sie aber auf jeden Laut in ihrer näheren Umgebung. Wo? Wann? Wie? Was? Wer? Das galt es jetzt zu beantworten. Ein Kichern in ihrer Nähe lenkte ihre Aufmerksamkeit nach rechts. Eine Gruppe junger Mädchen, den Stimmen nach zu urteilen. Sie flüsterten leise, wahrscheinlich in einem Kreis sitzend und mit zusammengesteckten Köpfen. Fuxya konzentrierte sich auf die einzelnen Stimmen und hörte bald Unterschiede heraus. „Sie ist schöner als wir“, meinte eine kindliche, schmollende Stimme. „Schwarze Haare! Nur Drachen haben andere Haarfarben als Dragoniar“, stimmte eine tiefe, strenge Stimme hinzu, die jedoch nicht im Geringsten missbilligend klang – eher verwundert. „Sie bringt weniger Gold mit als alle anderen Tänzerinnen“, fügte die erste Stimme an. „Ein Mädchen kann sich den Reichtum nicht aussuchen, in dem es geboren wird“, antwortete die Zweite. Eine dritte Stimme setzte an. Sie war klar und hell, jedoch sehr leise. „Was sie ohne Zweifel hübscher macht, als Maara es bei ihrer Hochzeit war.“ Alles klar. Die Frauen redeten über Fuxya und diese Maara, die zuletzt erwähnt worden war, war die als letztes berufene Tänzerin, Maara vir Nardarre. Die berüchtigte Hochzeit dieser Frau hatte Fuxya nicht miterleben dürfen, denn sie fand lange vor ihrer Geburt statt. Ihre Eltern waren jedoch dort gewesen und ihr Vater hatte immer von der überragenden Schönheit der Braut gesprochen – seine Frau war nicht eine Sekunde eifersüchtig über diesen Kommentar gewesen. „Zu viel Gold. Zu viel Reichtum zerstört die Feinheit der Dragoniar. Menschen mögen sich mit Gold behängen und glücklich sein, erfolgreich sein, bewundert werden, aber nicht einmal eingehüllt in Gold reichen sie an die wahre Schönheit der Dragoniar heran“, kicherte das erste Mädchen. „Pst, Calla! Das gehört sich nicht. Es waren Dragoniar, die die Menschen so erschufen“, verwarnte die zweite Frau das junge Mädchen, das Calla hieß. „Oh! Ich bitte dich, Sonli!“, antwortete Calla bloß. Die Frau hieß also Sonli. Die dritte Stimme mischte sich wieder unter die anderen: „Streitet nicht, Schwestern. Was ist eine Begrüßung, die im Ärger ausgesprochen wurde? Wie soll sich das arme Mädchen bei uns wohlfühlen, wenn ihr es gleich so empfangt?“ „Verzeih, Earsa“, entschuldigte sich Sonli. Calla stieß einen erstickten Aufschrei aus und grummelte dann: „Ja, Verzeihung.“ Earsa antwortete nicht, aber die beiden Frauen erwarteten wohl auch nichts anderes, denn sie schienen nicht ungehalten über das Ausbleiben einer Erwiderung. Fuxya schwieg immer noch und versuchte, ihr jetzt wieder hastig klopfendes Herz zu beruhigen. Was hatte sie herausgefunden? Die drei Frauen hießen Calla, Sonli und Earsa. Was noch? Sie waren gekommen, um sie zu begrüßen. Und sonst? Sie waren Dragoniar und wussten um die Herkunft der Menschen, sprachen aber auch über die Drachen, als hätten sie sie persönlich gesehen: Also waren sie auch Tänzerinnen! Vielleicht sollte Fuxya die Augen öffnen und ihrem neuen Leben entgegenblicken. Doch dieser Gedanke wurde unterbrochen, als Sonli sich zu Wort meldete: „Sie haben sie auch mit diesem Trank benebelt, nicht wahr?“ „Ja. Es ekelt mich immer wieder, dass sie denken, dass die Drachen auf dem Altar über die Bräute herfallen“, antwortete Earsa und ein Zittern in ihrer Stimme, verriet eine unterdrückte Wut. „Schön wär’s! Aber die Priester vergessen immer, dass wir an erster Stelle als Tänzerinnen herkommen und nicht als Bräute. Unter den hunderten Mädchen einem Drachen aufzufallen, ist allein schon ein Wunder …“, seufzte Calla und Sonli schnaubte. „Ist das alles, woran du denkst?“ „Du hast die Drachen noch nicht oft genug zu Gesicht bekommen, sonst würdest du genauso denken!“, beschwerte sich Calla. Earsa stieß ein kurzes Lachen aus und meinte: „Bis einer dich aussucht, verbringst du noch hunderte Jahre damit, sie anzuschmachten.“ „Bitte?“, empörte sich Calla und schnappte hörbar nach Luft. „Du bist etwas zu aufdringlich, Schwester. Mein Mann lacht gerne über die Annäherungsversuche von deiner Seite an einen Drachen“, erläuterte Earsa sachlich. Sie war also verheiratet! Aber gab es hier außer Drachen noch andere Männer? Oder war ihr Mann ein Drache? Verwirrt hielt sich Fuxya gerade noch davon ab, die Stirn zu runzeln. „Wie ich wünschte, das auch einmal sagen zu können! Was für ein Glück du hast, einen von ihnen ergattert zu haben“, stöhnte Calla frustriert und beantwortete Fuxyas Frage. Earsas Mann war ein Drache! Interesse regte sich in Fuxyas Körper und brachte ihn zum Erbeben: Der Trank war noch nicht ganz abgeklungen. Ganz im Gegenteil, er schien nur ein wenig gedämpfter zu wirken, aber ansonsten an seiner Intensität nichts eingebüßt zu haben. „Sie wird wach“, lautete Earsas Antwort auf Callas Frust und sofort ertönte das Rascheln der Kleider über Steinboden, als die Frauen nähertraten. Ärgerlich! Jetzt musste Fuxya also ihre Augen öffnen und konnte nicht weiter lauschen! Sie blinzelte und schaute in die Gesichter der Drei. „Willkommen im Heiligtum der Drachen“, begrüßte Earsas Stimme sie und jetzt erkannte Fuxya auch das Gesicht der Frau. Sie hatte ihre braunen Haare in einem Zopf um ihren Kopf wie einen Kranz geflochten. An einigen Stellen ringelten sich Locken hervor und umrahmten verspielt ihr herzförmiges Gesicht. Ihre Haut war weiß und ihre Ohren so spitz wie die der Dragoniar. Sie war ebenso dünn und leicht muskulös wie die Kriegerinnen, die alle Frauen der Dragoniar waren. Ihre braunen Augen starrten sie aus unergründlichen Tiefen heraus an und ihre gerade Körperhaltung verriet nichts über ihren Gefühlszustand. Sie war dennoch eine unzweifelhaft schöne Frau. Fuxya setzte sich vorsichtig auf und bekämpfte die Hitze, die in ihr aufstieg, während ein Schwindel ihr Sichtfeld zum Drehen brachte. Sie fasste sich an den Kopf und bemerkte, dass man ihr den Schleier zurückgeschlagen hatte. Ansonsten sah sie genauso aus wie bei ihrer Hochzeit. Es war also kaum Zeit vergangen. „Geht es?“, fragte die zweite Stimme, die tief und streng klang. Sonli. Fuxya wandte sich zu der Frau um, die hinter Earsa hervorschaute. Sie war größer, stand aber ebenso aufrecht und schaute Fuxya ebenfalls sehr direkt an. Schüchternheit gab es in ihrer Miene nicht: Ihre dunkelblauen Augen strahlten eine Ruhe und ein Selbstbewusstsein aus, das Fuxya selten bei Frauen der Dragoniar erblickt hatte – außer bei Topazza, aber die hatte es ja auch weit gebracht. Wie Earsa hatte Sonli ihre Haare um den Kopf geflochten, sie waren jedoch von einem helleren Braunton. Fuxya vertraute ihrer Stimme nicht, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt und der Kloß war in ihren Hals zurückgekehrt. Die Frauen sollten nicht sehen, dass ihr ihr Herz fast zum Halse herausschlug und sie Angst hatte. Also nickte sie bloß und bereute die Bewegung sofort. Es war, als würde ihr Gehirn in ihrem Kopf herumschwimmen und der bloße Gedanken daran ekelte Fuxya also hielt sie sich ruhig. „Die müssen dir echt viel von dem Trank eingeflößt haben, wenn du immer noch davon beeinträchtigt wirst“, kommentierte Calla ihren Zustand. Natürlich war keiner der Frauen entgangen, dass es Fuxya nicht viel besser ging. Wie aschfahl sie wahrscheinlich aussah! Es musste wahrhaftig ein scheußlicher Anblick sein. „Eine Karaffe“, krächzte sie und hustete ihren Hals frei. Zufrieden bemerkte sie, dass ihre Zunge sich lockerte und sie ihre Stimme zurückhatte, als sie auf die staunenden Gesichter hin erwiderte: „Wahrscheinlich, um mich besonders lange außer Gefecht zu setzen.“ „Eine Karaffe? Ich habe eine Gläschen bekommen!“, schnalzte Calla, als wäre sie neidisch auf diese große Menge Feuertrank. Fuxya musterte die junge Frau: Sie war zwei Köpfe kleiner als Earsa, also auch kleiner als sie selbst. Ihr blondes Haar war in einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden und reichte ihr bis unter die Schulterblätter. Im Zopf befanden sich mehrere kleine geflochtene Zöpfchen, die sie sehr kriegerisch aussehen ließen. Ihre strahlend blauen Augen schauten voller Begeisterung auf Fuxya – es war, als sähe sie dort kleine Flammen tanzen. Calla war ebenso dünn wie die beiden anderen Frauen, aber ihre Haut strahlte leicht golden und ihre Brüste drückten sich gegen den eng um den Körper geschlungenen blauen Seidenstoff. Sie mussten beachtlich groß sein, ansonsten hätte Fuxya von ihnen wohl so wenig gesehen wie von denen der beiden anderen. „Mir ist ein bisschen übel“, murmelte Fuxya und konnte mit Hilfe dieser Ausrede einen umfassenden Blick durch den Raum werfen. Fast hätte sie gedacht, sie wäre immer noch im Tempel der Dragoniar, läge nur andersherum, bis sie bemerkte, dass sie in einem spiegelverkehrten Saal war. Sie lag auf dem weißen Marmoraltar und zu ihrer Linken befand sich ein großes Bild. Dieses Mal jedoch nicht von Drachen über dem Tal der Dragoniar sondern von jungen Frauen, die mit wundersamem Schmuck und durchsichtigen Seidenkleidern in allen möglichen Farben durch wunderschöne Landschaften tanzten. Am Himmel waren Drachen, aber das Interessantere waren die unfassbar hübschen Männer, die sich am Boden befanden. Es waren äußerlich Dragoniar, aber sie trugen die gleiche Kleidung wie die Frauen, nur dass bei ihnen der Oberkörper freiblieb, während die Frauen mit Hilfe der goldenen Schnallen auf ihren Schultern ihren Busen eher notdürftig verbargen. Es war ein fantastisches Bild, denn es barg eine Schönheit, die Fuxya sich nie im Leben erträumt hätte: Die Landschaften waren so fruchtbar und protzten mit ihren Farben, als würde in ihnen das Leben entstehen. „Dein erster Blick auf das Reich der Drachen, Schwester“, sagte Earsa mit feierlicher Miene und die vier Frauen schauten eine Weile auf das Bild, um die Wunder darin aufzunehmen. Als Fuxya sich davon abwandte, konnte sie auch den aus weißem Marmor gebauten Gebetssaal erkennen. Er sah genauso aus wie der auf der anderen Seite: Säulen stützten das Dach und säumten die freie Mitte des Saals. Dort standen keine Tischchen und lagen keine Kissen. Dort gab es nichts als in den Fußboden eingelassene Mosaiken mit wunderschönen Szenen. Sie handelten von Drachenkämpfen, - kriegen und –hochzeiten. Viele zeigten auch die Geburt eines neuen Drachensohnes. Hinter den Säulen, an denen sich wundersamer Weise Efeu emporrankte, der irgendwo und vor allem irgendwie im Fußboden entstanden war, blitzten mannshohe Fenster auf Hüfthöhe hervor. Durch sie entstand ein leises Lüftchen, das Tiergeräusche hereintrug. Man hörte auch das Rauschen der Bäume und Plätschern von Flüssen in der Ferne. „Hier sieht es anders aus als auf der anderen Seite, nicht wahr?“, hauchte Sonli und die Strenge in ihren Zügen erweichte sich zu einem liebevollen Lächeln. Das stand der Frau deutlich besser und Fuxya nickte überwältigt. Auch hier fiel ein heller Lichtstrahl durch ein rechteckiges Loch im Dach auf den Altar, doch auch aus anderen Rechtecken drang Licht in den Raum und hellte ihn auf, weil sich die Lichter in dem bunten Glas der Mosaiken brach und unzählige Muster an die Wände warf. Atemberaubende Kunstfertigkeit, anders konnte man das nicht nennen. Fuxyas Blick fiel auf die Öffnung, die das Tor zum Tempel markierte. Dieser stand eindeutig auf einer Berganhöhe, denn sie konnte weit in die Ferne schauen in eben jenes Tal, das auf dem Bild hinter ihr so fantastisch abgebildet worden war. In der Realität sah es noch viel besser aus. Eingerahmt von silbernen Bergen mit weißen Kronen und Nebelschweifen bildete das Tal einen satten grünen Kontrast dazu. Das Grün wurde vom schillernden Türkisblau der Seen und Flüsse durchbrochen, die in ihren Betten sanft plätschernd auf ein weit entferntes Meer zuflossen. „Es ist ….“, stammelte Fuxya. Sie wusste gar nicht wie sie das ausdrücken sollte, doch die drei Frauen schienen sie durchaus verstanden zu haben, daher brauchte sie ihren Satz nicht zu Ende führen. Man hatte sie bereits verstanden. Noch einmal sagte Earsa: „Willkommen im Heiligtum der Drachen. Schwester, dies ist dein neues Zuhause!“ Fuxya blinzelte die Tränen weg. Ihr wurde ein atemberaubendes neues Zuhause geboten und das zum gefühlten ersten Mal in ihrem Leben. Langsam tastete sie sich an den Rand des Altars und rutschte daran hinab, bis ihre Füße den kühlen Marmorboden berührten. Noch etwas unsicher vom Feuertrank wankte sie leicht hin und her. Sonli und Calla nahmen sie, ohne zu zögern, an den Arm und gingen mit ihr in der Mitte vorsichtig Richtung Ausgang. Earsa ging voran, schlug jedoch vorher den Schleier zurück, sodass Fuxya ihre ersten Schritte in das erlöschende Tageslicht der untergehenden Sonne und ihrer neuen Heimat mit einem Stoff im Gesicht tat. Das Gewicht der bestickten Stoffe lastete immer noch schwer auf ihr und ihre zittrigen Knie machten es ihr besonders schwer, auch nur einen selbstständigen Schritt zu tätigen, doch ihr Herz war seit Langem das erste Mal wieder voller Freude und Frieden, darum kümmerte das zusätzliche Gewicht sie nicht. Sie fühlte sich federleicht. „Das Tal der Drachen“, summte Calla neben ihr und sang eine bekannte Melodie. Fuxya mochte sie wohl gelernt haben, als sie wie jedes Dragoniar-Mädchen noch die Tempelschule besucht hatte. Sie erinnerte sich jedoch nur flüchtig an den Liedtext und lauschte jetzt. Calla hatte eine tolle Singstimme – glockenhell und sanft. Fuxyas anfänglich schreckhaft rasendes Herz beruhigte sich zunehmend, während sie durch das Tor des Tempels schritt. Drei Stufen führten hinab auf einen mit Marmorplatten befestigten Weg, der in Schlangenlinien links den Berg hinabführte. Der Abgrund vor ihnen war mit einem Seilgeländer gesichert, doch nichts hätte Fuxya überreden können, hineinzuspringen, so wie sie sich vor einem Tag noch im Drachensee hatte das Leben nehmen wollen. Tränen stiegen wieder in ihr auf, während sie den Blick über das Tal schweifen ließ und ihr kalter Körper sich mit Wärme füllte. Keine der Frauen konnte ihre Tränen sehen, weil der Schleier ihr Gesicht undeutlich erscheinen ließ, doch sie alle bemerkten es. Keine sprach auch nur ein Wort, wofür Fuxya ihnen außerordentlich dankbar war. Sie begleiteten sie still die drei Stufen hinunter. Dort ließen Calla und Sonli Fuxya los, die sich bereits viel sicherer fühlte und tatsächlich nicht mehr wankte. „Die Wirkung lässt hier schneller nach“, erklärte Sonli, die Fuxyas Unbehagen gespürt hatte. Dann lächelte sie wieder ihr zartes Lächeln und ging die paar Schritte zu Earsa, dicht gefolgt von Calla. Die drei Frauen drehten sich zu Fuxya um und Earsa begann zu reden: „Das Tal der Drachen. Nur Auserwählte dürfen es betreten – nur Drachen und Tänzerinnen. Drachen sind, wie du sicherlich weißt, Schwester, immer männlich und von überragender Schönheit. Ich verrate dir jetzt unser größtes Geheimnis, das nicht einmal die Hüter wissen: Diese Männer auf dem Bild sind die Drachen. Verwunschene Dragoniar, die sich in die mit Flügeln gesegneten Echsen verwandeln können.“ Fuxyas Kinnlade klappte herunter und plötzlich spürte sie eine Flut Erleichterung durch sich hindurchschwappen. Andererseits schossen ihr genauso plötzlich tausende Fragen durch den Kopf. Auf Einige hatte sie ja jetzt eine Antwort: Drachen waren Dragoniar. Deshalb konnten sie mit Dragoniar-Mädchen Kinder zeugen! Aber weil diese Männer in der Lage waren, sich zu verwandeln, waren sie Heilig. Und nur die Kinder dieser Männer erlangten eben jene Fähigkeit, daher war die Rasse vom Aussterben bedroht: Dragoniar waren nicht besonders fruchtbar. „Die Dragoniar denken bis heute, dass eine Tänzerin eine Braut ist, die den Drachen ihre Söhne gebiert, aber das stimmt nicht direkt. Tänzerinnen sind im Grunde Priesterinnen, die mit ihren magischen Kräften die Verwandlungen dieser Dragoniar ermöglichen. Die Drachen brauchen uns Frauen also nicht nur, um sich fortzupflanzen“, fuhr Earsa fort. Plötzlich machte auch dies Sinn: Warum hätte man eine „Tänzerin“ berufen sollen, wenn man nur Kinder mit ihr zeugen würde? Die wahre Aufgabe einer Tänzerin war also, mit ihrer großen magischen Kraft den Drachen bei ihren Verwandlungen zu helfen! Fuxya fühlte sich sofort leichter. Dann war sie doch keine einfache Konkubine. „Und noch ein Vorurteil heben wir gleich auf: Eine Tänzerin wird nicht mit einem Drachen verheiratet, den sie nicht kennt und nicht liebt. Sie hat eine freiere Wahl als jedes Dragoniar-Mädchen außerhalb. Wir hier heiraten nur die, die wir lieben. Auch Drachen nehmen uns Tänzerinnen nicht nur als Fortpflanzungsmittel wahr. Sie suchen in uns eine Gefährtin, die sie respektieren und die sie in ihrer Abwesenheit vom Tal, wenn sie die Welt bereisen, würdig vertritt. Die Partnersuche dauert hier länger als bloße hundert Jahre. Viele von uns heiraten erst, wenn wir die vierhundert Jahre überschritten haben.“ Fuxyas Herz machte Luftsprünge als sie das hörte. Sie war keine Konkubine! Keine Prostituierte! Sie konnte ganz sie selbst sein und lieben, wen auch immer sie wollte. Vielleicht war ja auch ein guter Mann für sie dabei? Ihr neues Leben schien immer besser zu werden. War das nun Grünhaars Plan oder war das hier pures Glück? Eigentlich war es egal, aber innerlich wollte sie trotzdem irgendwem dafür danken, hier herkommen zu dürfen. „Dann muss ich also nicht … Massen von Kindern auf die Welt bringen?“, erkundigte sich Fuxya zögerlich, aber in ihrer Stimme schwang klar und deutlich Freude mit. Die Frauen lachten. „Nicht zwangsweise. Es sei denn, du willst es natürlich, Schwester“, antwortete Sonli und Calla fügte hinzu: „Earsa hier hat zwölf Söhne. Und sie ist noch jung genug, um mehr zu bekommen!“ Fuxya starrte die hochgewachsene Frau an und konnte sich des Respekts nicht erwehren, der in ihr aufstieg. Zwölf Stück! Das war keine schlechte Zahl. Earsa lächelte strahlend, ihr Antlitz war nicht erschöpft von all den Geburten und keine Fältchen verunzierten ihr Gesicht. Fuxya erinnerte sich mehr als genau an die jungen Mädchen, die nach hundert Jahren und fünf Kindern aussahen wie alte Frauen. Mit zweihundert Jahren schon dem Tod geweiht … Aber Earsa sprühte vor Glück. „Beeindruckend“, lobte Fuxya und Earsa verdeckte ihre erröteten Wangen. „Genug über mich. Reden wir weiter über das Drachental“, rügte sie die kichernden Frauen, die sofort wieder ernst wurden. Dann fuhr sie fort: „Keine Frau muss hier heiraten. Für alle Tänzerinnen gibt es auch nicht genug Drachen. Im Moment haben wir um die hundert Herren und hundertdreiundvierzig Frauen. Aber wenn wir heiraten, dann für den Rest unseres Lebens.“ Fuxya nickte. Bei den Dragoniarn war es ähnlich. Nur dass keiner von ihnen lange genug lebte, um vom „Rest des Lebens“ zu plaudern, schließlich starben viele Frauen bei den schweren Geburten und die Männer häufig bei Übergriffen durch menschliche Armeen. Das Leben außerhalb dieses Tals war bei weitem nicht so einladend, wie die Dragoniar, die dort lebten, es immer darstellten. Hier würde es sicherlich angenehmer sein. „Nun zur Gesellschaft: Die höchste Position hier ist der Drachenkönig. Chrysopras heißt er, du wirst ihn noch kennenlernen, Schwester“, erklärte Earsa und wurde von Calla unterbrochen: „Chrysopras ist Earsas Mann, sie ist hier die Königin. Da es aber die Position der „Königin“ nicht gibt, nennen wir sie hier die Ausbildungsleiterin der Auserwählten.“ Fuxyas Augen weiteten sich vor Staunen. In welchem Land kam schon die Königin höchstpersönlich, um ein Bauernmädchen in ihrem Land willkommen zu heißen. Hastig neigte sie den Kopf, was Earsa nur mit einem leichten Nicken taktierte. Ihr war diese Unterwürfigkeit anscheinend unangenehm, denn sie sagte: „Das musst du nicht. Wir Tänzerinnen haben alle das gleiche Schicksal. Wir sind Schwestern. Zwischen uns gibt es kein höher- und niedriggestellt. Schwester Earsa, so wirst du mich nennen.“ Fuxya nickte, immer noch nicht über die Überraschung hinweg, die man ihr so locker angetragen hatte. Calla schien das zu amüsieren, während Sonli bei den Worten Earsas bekräftigend nickte. Fuxya schwieg und hörte sich die weiteren Erklärungen an. „Danach kommen die ersten zehn Drachenprinzen, dann die Ältesten unter den Drachen. Verheiratete Prinzen von elftem Grad und niedriger, die Kinder haben kommen nach den Ältesten. Männer, die eine Ehefrau haben, stehen höher in der Rangliste als Männer ohne. Männer mit Söhnen noch viel höher als Männer mit Ehefrauen, die kinderlos sind. Kinder gelten hier als größter Schatz, obwohl hier natürlich nur Söhne geboren werden – aus einem nicht erschließbaren Grund. Unverheiratete Prinzen von elftem Grad und niedriger, die kinderlos sind, stehen in der Rangliste über anderen Männern gleicher Sorte. Darunter kommen unverheiratete, kinderlose Männer und ganz unten Jungtiere, egal welchen Rangs. Wir Tänzerinnen befinden uns gar nicht auf der Rangliste. Wir werden geehrt, wie es uns zusteht, wo wir doch alles für die Herren aufgegeben haben. Außerdem sind wir alle gleich, daher darf es zwischen uns keine höheren und niederen Frauen geben. Verstanden?“ „Verstanden“, murmelte Fuxya und warf einen schnellen Blick hinab ins Tal, das durch die länger werdenden Schatten des endenden Sommertages in Dunkelheit gehüllt wurde. Wie wohl das Leben dort unten aussah? Bestimmt besser als außerhalb! „Nun … du wirst hier noch einmal eine Ausbildung in den Dingen genießen, die du bereits in der Tempelschule gelernt hast. Wir wollen auf den Festen der Herren mit Perfektion glänzen, daher ist regelmäßiges Training vonnöten“, sagte Earsa und zeigte dann auf sich. „Ich bin hier die Ausbildungsleiterin. Ich werde dir zu gegebener Zeit erklären, was du tun musst und vor allem wie. Alle Schwestern leben in einem Frauenpalast, während die Männer im Herrenhaus leben. Nach einer Hochzeit werden Braut und Bräutigam ihr eigenes kleines Reich beziehen: Meistens ein kleiner Marmorpalast. Schade, dass die Sonne jetzt fort ist. Man hätte dir die weißen Paläste zeigen können … Nun ja. Dann eben morgen, von jetzt an hast du genug Zeit, um dich in Ruhe umzusehen. Es wird dir hier an nichts mangeln. Ach! Bevor ich es vergesse, für Festlichkeiten versammeln wir uns im Zeremonienpalast.“ „Deshalb sagte ich doch, Sonli hat noch nicht so oft Drachenmänner gesehen! Du wirst sie in deinen ersten Ausbildungsjahren auch nicht sehen, weil man dich nicht zu den Zeremonien lässt, da es dir an Fähigkeiten mangelt. Wir üben schon hunderte Jahre und gehören manchmal nicht zu den Tänzerinnen, die bei Banketten auftreten. Viele von uns sind auch noch nicht als Zuschauer zugelassen“, schmollte Calla. Sonli runzelte die Stirn, warf Fuxya einen Blick zu und zuckte die Schultern. Ihr schien es nichts auszumachen, so schnell keinen Mann zu Gesicht zu bekommen. Fuxya lächelte. Fantastische Meinung! Earsa räusperte sich und fuhr dann fort: „Wir wollen verhindern, dass die Damen von ihrer eigentlichen Aufgabe abgelenkt werden und allzu früh in Liebeleien versinken, aus denen sie nicht zwangsweise unbeschadet wieder auftauchen. Erinnert euch doch bloß an Schwester Cordierita!“ Fuxya zuckte ob des Namens zusammen. Das war ihre Tante! Die, die nach der Rückkehr aus dem Drachental im Wahnsinn gestorben war. Man hatte vermutet, sie sei von den Geburten auf dieser Seite so mitgenommen worden, dass sie nicht mehr lebensfähig war. Aber das warf einen anderen Blick auf diese Situation. Interessiert hakte Fuxya nach. „Cordierita?“ „Eine junge Braut, kurz bevor Maara herkam. Vor zweihundertfünfzig Jahren berufen. Sie kam aus dem gleichen Stamm wie du, Schwester. Somriar. Sie war von ungemeiner Schönheit, aber verliebte sich außergewöhnlich schnell. Sprang von einem Mann zum anderen, ohne je mehr von ihnen zu ergattern als einen spöttischen Blick. Bis sie sich ernsthaft verliebte und zurückgewiesen wurde – sie verschwand mit gebrochenem Herzen. Halbtot hat man sie wiedergefunden, halbwahnsinnig. Wir wussten, dass sie hier keine Ruhe mehr finden würde und haben sie mit einem Gedächtniszauber belegt zu ihrer Familie außerhalb zurückgeschickt. Man kann nur hoffen, dass sie das überstanden hat“, erklärte Sonli und seufzte. Mitleid war in ihre Züge geschlichen und ließ sie müde erscheinen. „Sie ist tot“, hauchte Fuxya, was die Schwestern zusammenfahren ließ. Sie drehten sich zu ihr um und musterten sie, bevor Earsa fragte: „Du kanntest sie?“ „Sie war meine Tante. Sie hat nicht lange gelebt. Ein Jahr höchstens. Ich erinnere mich nicht mehr so gut – ich war erst zehn Jahre alt, als sie starb. Sie ist verhungert, weil nichts ihr schmecken wollte.“ „Wie grausam!“, rief Calla aus und in ihrem Gesicht erschien eine tiefe Trauer, die die Heiterkeit ablöste, die sonst die Züge erhellte. „Wenn Pruun das erfährt, …“, flüsterte Sonli und seufzte tief. Fuxya zog die Augenbrauen hoch. „Wer ist Pruun?“ „Pruun war der Mann, der sie zurückgewiesen hat. Er dachte damals, sie sei keine Jungfrau mehr und auch er wäre nur ein Liebhaber. Als sie verschwand, wurde ihm klar, dass ihre Liebe für ihn echt war. Doch sie wollte ihn nicht sehen, bekam Panikanfälle, wenn er ihr zu nahe kam, als sie wieder auftauchte. Wir haben sie hinausgelassen, um sie irgendwann wieder unter uns aufzunehmen, damit Pruun sie dann heiraten kann. Wie furchtbar, dass es so enden muss“, erklärte Earsa und schüttelte den Kopf mit der in Falten gelegten Stirn. Fuxya neigte den Kopf und trauerte ihrer verstorbenen Tante nach. Erst jetzt sah sie das ganze Ausmaß der Verzweiflung, die sich in dieser Frau breitgemacht hatte und bereute, es nicht früher gemerkt zu haben. Sie hätte besser von ihr geredet, hätte sie es gewusst. Sonli seufzte und meinte, wie um das Thema zu wechseln: „Calla und ich werden in den Schwesternpalast gehen. Earsa, du wirst sicherlich zu deinem Mann zurückkehren, nicht wahr?“ „Ja, nehmt unsere neue Schwester mit und führt sie dort herum. Morgen hat Chrysopras sie zu sich gerufen. Er scheint ihr etwas sagen zu wollen, hat mir jedoch nicht verraten, um was es geht. Ich bin äußerst neugierig.“ „Dann folge uns, Schwester“, forderte Sonli Fuxya auf, die bereits lang genug gestanden hatte, um sich an das Gewicht der Stoffe gewöhnt und sich ausgeruht zu haben. Auch die Wirkung des Feuertranks war vorüber und mit zunächst noch zaghaften Schritten bewegte sie sich auf die Frauen zu. Als sie bemerkte, dass es ohne weiteres klappte, atmete sie erleichtert aus und ging dann aufrecht hinter Calla und Sonli her. Earsa blieb am Tempel und schaute ihnen reglos nach. Sie winkte nicht, als Fuxya sich ein letztes Mal umdrehte, dadurch wirkte sie umso stolzer und mit einem aufkeimenden Respekt in sich stellte die junge Frau fest, dass die Drachenkönigin ihrer Position mehr als nur würdig war. „Dieser Weg führt ins Tal und verläuft an vielen Marmorpalästen vorbei. Ganz unten befinden sich dann Schwestern- und Herrenpalast. Der Zeremonienpalast ist in der Mitte des Tals“, erklärte Calla und machte dabei ausholende Bewegungen, die die ungefähren Richtungen der Gebäude wiesen. Fuxya schritt gemächlich hinter den Frauen her, die bald begannen, über Alltägliches zu plaudern: Die Wäsche, die neuen Badeöle, die neuen Lieder und neuen Tänze. Der Weg ins Tal, der so viel länger war, als der Weg zum Drachensee erschien ihr in der untergehenden Sonne so kurz wie ein Wimpernschlag und Fuxya bekam nur am Rande ihres Bewusstseins mit, dass die Drei vom Straßenrand neugierig beobachtet wurden. Manchmal schauten außergewöhnlich hübsche Männer und stolze Frauen aus den Fenstern der weißen Paläste, die in den Felsen gebaut worden waren und ihre Terrassen nach Süden gebaut hatten. Die ganzen Farben, die Fuxya umgaben, machten sie fast blind und sie fühlte sich durch die gewaltige Reizüberlastung übermüdet. Bevor sie sich gewahr wurde, war sie in einem großen hellen Raum. Sonli und Calla standen neben ihr und schauten sich um. Wieder waren Wände, Decke und Boden aus weißem Marmor. Links von ihnen, neben der Tür war ein in der Wand integrierter Steinschrank. Mit kunstvollen Verzierungen und Schnörkeln aus Stein umgeben, hätte er fast ihre ganze Aufmerksamkeit gefordert, doch auf einem kleinen Podest in der Mitte des Raums stand ein ausladendes Bett, das mit Seidenbettwäsche bezogen war. Das Gestell war ebenfalls aus weißem Marmor, die Matratze war dafür aber aus weichen Daunenschichten. „Schwester, das hier ist dein Zimmer. Schlaf gut, wir holen dich morgen früh ab und zeigen dir den Rest. Essen gibt es im Speisesaal und Baden kannst du im Waschsaal – auch das zeigen wir dir morgen. Begnüge dich mit diesem Waschtisch. Morgen werden wir dich genauso zurechtmachen, wie du uns heute erschienen bist. Das gehört sich für eine neue Braut der Drachen“, sagte Sonli und Fuxya zuckte fast zusammen, weil sie so lange nicht mehr angesprochen worden war. „Es mag alles neu sein, aber eingewöhnen wirst du dich schnell. Das Leben hier ist besser als das draußen, sorglos und friedlich. Schlaf gut, Schwester“, bestätigte Calla Fuxyas Vermutungen. Dann entkleideten die Frauen sie, legten die weißen Stoffbahnen säuberlich in den Schrank und den Goldschmuck darauf. Sonli zeigte auf den Waschtisch rechts von der Tür. Ein kleines Nachtschränkchen, auf dem eine Goldschüssel voll Wasser stand und an dessen Griff ein weiches, flauschiges Handtuch hing. Fuxya war jedoch noch zu sehr davon abgelenkt, dass man sie, ohne mit der Wimper zu zucken, ausgezogen hatte. Erst jetzt wurde ihr gewahr, dass die Tänzerinnen Seidenkleider trugen, die ebenso durchsichtig waren wie Fuxyas Hochzeitskleid – nur in den unterschiedlichsten Farben, was von den weiblichen Reizen ablenkte. „Danke“, verabschiedete sie sich und die beiden verließen zufrieden ihre Kammer. Alleine schaute sie sich im Wasser an. Ohne ihre Frisur und die ganze Schminke war sie wieder nur Fuxya vir Sallanis, Dragoniar-Schönheit mit gewissen Nachteilen. Sie seufzte und hoffte, dass die Schminke, die Calla, Earsa und Sonli getragen hatte normal war. Wenigstens konnte sie sich dann hübsch machen – jetzt, da sie anscheinend nicht mehr als hässlich galt. Zumindest hatten die Frauen nicht die Nasen gerümpft oder sie misstrauisch angeschaut. „Wer weiß, was der Tag uns bringt, bis die Sonne am Abend in den Wellen versinkt …“, sang sie und machte sich daran, sich zu waschen und die furchtbaren Öle der anderen Welt abzuwaschen. Das hier war also jetzt ihr neues Zuhause. Von dem, was sie gesehen und gehört hatte, war sie begeistert gewesen. Ein Leben, von dem sie nur in ihren kühnsten Träumen geträumt hatte. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte sie ein Kichern in sich aufsteigen. Kein Verrücktes, Wahnsinniges. Ein Mädchenkichern voller Glückseligkeit. „Fuxya vir Sallanis! Du Glückskind!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)