Fünf von YuiMadao (Fünf Leben, fünf Leiden) ================================================================================ Kapitel 3: Aoi - SVV -------------------- Endlich kann ich wieder atmen. Endlich kann ich wieder klar sehen und endlich ist dieser Druck weg. Aber ich weiß, dass es nur für eine kurze Zeit anhalten wird und ich mich bald wieder in diesem Teufelskreis befinden werde. Denn ich bin ein Junkie. Wie ein Junkie seine Drogen braucht, so brauche ich ES. Würde mich einer fragen, was ich in diesem Moment empfinde, wenn ich ES tue, könnte ich gar nicht sagen, wie es ist diesen Zustand zu empfinden. Ich habe mir bis jetzt noch nie Gedanken darüber gemacht, wie es sich anfühlt. Befreiend, würde ich jetzt sagen. Ich wusste meistens nicht einmal, was vorher geschehen war, ehe ich meinen ersten Atemzug genommen habe. Ich wusste nur, dass ich es wollte. Doch die wenigen Momente, die ich es bewusst miterlebt habe, waren einfach nur die schlimmsten von allen gewesen. Vielleicht kann man sich das so vorstellen wie einen Druck. Wie, wenn man zu tief taucht, sich ein Schmerz in den Ohren und Kopf ausbreitet und man denkt zu platzen, wenn man nicht auftaucht und nach Luft schnappt. Wie, als würde sich etwas Schweres auf die Brust legen und nicht mehr von einem weichen. Man hat das Gefühl, nichts mehr zu spüren, und alles zieht an einem vorbei. Man nimmt sich nicht mehr wahr. Man will endlich atmen. Man will sich spüren, man will es fließen sehen. Am Anfang möchte man nur den Druck los werden, doch wie jede Droge fängt es an zur Gewohnheit zu werden. Doch wie fing mein Problem, oder eher Sucht, an? Es war an einem heißen Sommertag vor Ewigkeiten. Damals entschied sich, auf welche Oberschule ich gehen würde. Der Druck seitens meiner Eltern stieg immer mehr an. Seit Tagen, Wochen gelang mir nichts mehr und ich fürchtete um meine Noten. Ich zog mich einfach immer mehr zurück. Einerseits war ich sauer auf meine Eltern, dass sie ständig davon redeten, mich da und da unterbringen zu wollen und dass ich immer Leistung erbringen musste. Doch sie taten nichts dafür. Keine aufbauenden Worte, keine Unterstützung. Im Nachhinein habe ich mir Gedanken darüber gemacht, was an dieser Situation falsch war. Doch ich konnte nichts finden. Ich kam zu dem Schluss, dass wahrscheinlich jeder so was zu Hause erfahren hatte. Jeder wurde unter Druck gesetzt Leistungen zu bringen, um der Familie keine Schande zu sein. Doch warum war ich so sensibel und anfällig für die Worte meiner Eltern? Vielleicht dachte ich einfach nur zu schlecht darüber und über sie. Ich bekam immer mehr Angst, nicht das zu schaffen, was sie von mir verlangten. Stattdessen schraubte ich meine Erwartung an mich selber ins Unermessliche. Ich wollte alleine diesen Weg bestreiten, komme was wolle. Auch dass ich Selbsthass entwickelte, wenn etwas nicht klappte, und anfing mir unbewusst zu schaden, merkte ich nicht mal. Ich verbrachte daher mehr Zeit auf meinem Zimmer und grübelte mich in den Schlaf. Meine Noten wurden sehr gut, weshalb ich mir da keine Sorgen mehr machte. Ich kam auch auf die gewünschte Oberschule. Meine Eltern waren stolz, aber nur für den Moment. Doch etwas blieb in mir. Die Angst zu versagen und keinem gerecht zu werden. Meine Eltern waren scheinbar der selben Meinung wie ich und meinten, mich weiter puschen zu müssen. Auch äußere Einflüsse fingen an, extrem auf mich zu wirken. Ich fühlte mich einfach in die Ecke gedrängt. Ich sagte nichts mehr. Ich ließ sie alle einfach auf mich einreden. Meine Eltern hielten sich nie zurück sich zu irgendetwas, teils belanglosem, zu äußern und sich immer mehr in mein Leben ein zu mischen. Es war nie gut genug, egal was ich tat oder welche Leistungen ich erbrachte. Als es nur um die Schule ging, konnte ich mich besser damit abfinden, doch langsam schlichen sie sich in mein Wesen ein und verboten mir vieles. Alles, was ich tat, störte sie. Die Medien und unser Umfeld trugen nicht minder dazu bei. Kaum wurde im Fernseher erwähnt, dass eine Gruppe Satanisten irgendwelche Opferungen dargebracht hatten, wurde ich schon ins Visier genommen, wenn ich schwarze Klamotten trug. Nicht, weil meine Eltern vermuteten, ich wäre mit dabei gewesen, eher weil sie dann vermuteten, ich würde ebenfalls in diese Szene abrutschen. Heute war ich Satanist, morgen schon drogenabhängig, nur weil ich mal ein paar hektische Bewegungen gemacht habe. Ich war es so leid, aber ließ es immer zu. Doch irgendwann ertrug ich es nicht mehr. Ich legte die Hände in den Schoss und machte nichts mehr. Meine guten Noten aus der Mittelschule wurden von den schlechten Noten in der Oberschule überschattet. Ich fing an zu rebellieren. Schminkte mich, wie ich lustig war, und zog mir immer düstere Klamotten an. Meine Eltern rasteten jedes mal aus. Nicht nur, weil ich ein Junge war, sondern weil ich zum Dummkopf mutiert bin, wie meine Eltern mir eines Tages vermittelt haben. Ihrer Meinung nach bestätigten sich ihre immer gedachten, eher gesagten Vermutungen. Doch zurück zu dem Tag. Wie gesagt, es war an einem heißen Sommertag, als ich nach der Schule nach Hause kam. Meine Mutter vergaß mal wieder zu kochen. Sie war immer auf Diät und mein Vater war nie da. Also musste man ja nichts für mich kochen. Voller Wut, mal wieder hungrig aus der Schule gekommen zu sein und nichts bekommen zu haben, machte ich mich dran, mir selber etwas zu kochen. Also holte ich alles, was ich brauchte, raus und fing an zu schneiden. Wenige Augenblicke später erschien meine Mutter in der Küche und fing an rum zu meckern, ich solle bloß nicht die Küche in einen Saustall verwandeln und immer schön auf den Boden achten, den sie noch vor einigen Stunden mühsam geputzt hatte. Dann kam mein Vater und meckerte, warum ich nicht lernen würde und stattdessen hier in der Küche stehen würde. Und außerdem, wie ich mal wieder angezogen sei. Grufti und Spinner waren noch ganz nett ausgedrückt, doch sie merkten nicht mal, wie sehr mich das verletzte. Ich fühlte mich mal wieder eingeengt. Ich spürte, wie ich auf einmal keine Luft mehr bekam und unter Tränen weiter an meinem Gemüse herum schnitt . Ich fühlte mich so schwach. Gleichzeitig empfand ich so viel Wut in mir. Ich versuchte gegen das erstickende Gefühl anzukämpfen und wollte mich umdrehen, um endlich meinen Eltern Konter zu geben, da passierte es. Ich weiß auch nicht mehr wie, doch irgendwie schaffte ich es, dass die Klinge des Messers meine Handfläche streifte und einen Schnitt hinterließ, aus dem das Blut nur so heraus quoll. Und auf einmal fühlte ich mich so ruhig und entspannt. Nicht nach außen hin, sondern nach innen. So, als wäre ich aufgewacht. Selber Schuld, hatte meine Mutter damals zu mir gesagt. Ich würde ja nicht aufpassen, was ich machte, und würde immer ignorieren, was sie mir sagten. Das geschieht dir recht, sagte sie auch noch Von da an änderte sich wiederum alles für mich. Ich wollte nichts mehr wahr nehmen, hielt mich so gut es ging aus allem raus. Meine Freunde hielten mich für distanziert und kalt, dabei war ich einfach nur vorsichtig. Ich erlaubte mir nichts mehr. Ich hörte auf zu weinen. Meine Tränen waren das Blut, was ich seit jeher vergoss. Meine häusliche Situation veränderte meinen Umfeld außerhalb der Familie. Das Ritzen wurde ein Geheimnis und ich hütete dieses wie ein Schatz. Es war etwas, an das ich mich Klammern konnte. Irgendwie traurig, dass ausgerechnet so etwas einem Halt gab. Genauso wie heute. Sehr lange hatte ich vor dem Spiegel gestanden und mich darin angesehen. Noch einmal führte ich mir meine Fehler vor Augen. Noch einmal fütterte ich meinen Selbsthass damit. Als ich wieder atmen konnte, saß ich auf dem Boden und lehnte gegen die Badewanne. Die Rasierklinge in meiner Hand war ganz rot und auch den Fußboden zierte mein Blut. Die Schnitte mochte ich noch nicht versorgen. Ich mochte es, wenn das Blut aus mir raus floss und ich das Leben sehen konnte. Es war bis jetzt noch nie so tief, dass man es nähen musste, doch es waren viele. Sie waren überall. Überall Schnitte. Auf meinem Arm und Bein und auch auf meinem Bauch und Schulter. Immer auf der linken Seite. Witzig. Das lag wahrscheinlich daran, dass ich Rechtshänder war. Noch gestern hatte ich ein Buch gelesen, welche die meisten Faktoren und Ursachen waren, wenn sich eine Person anfing zu ritzen. Ich konnte mich aber mit keinem dieser Punkte identifizieren. Ich war weder ein Missbrauchsopfer sexueller Übergriffe noch Opfer häuslicher Gewalt. Ich lebte ebenfalls nicht am Existenzminimum und war nicht Co-Abhängig. Ich hatte auch keine Traumata zu verzeichnen oder war körperlich eingeschränkt. Noch gehörte ich zu irgendwelchen Sekten oder folgte Trends einer bestimmten Jugendkultur. Doofes Buch. Wenn das die einzigen Gründe waren, sich selber weh zu tun, dann konnte ich in keine Kategorie eingeordnet werden und somit wahrscheinlich auch nicht therapiebedürftig. Was wussten Bücher und Therapeuten schon. Ich wartete, bis es aufgehört hat zu fließen, um dann meinen Arm sauber zu machen und zu verarzten. Verarzten konnte man das nicht nenne. Ich verband mir meinen Arm nie. Ich mochte es, wenn der Stoff meines Pullis gegen die frischen Wunden kratzte und ich das Brennen noch länger genießen konnte. Mittlerweile beschäftigte mich das Thema. Ich las nicht nur viel darüber, sondern habe mir auch Dokumentationen angeschaut. Doch ich fühlte mich immer noch mit keinem identifiziert. Jeder machte es aus verschiedenen Gründen. Die einen machten daraus richtige Rituale und haben auch einen richtigen Bezug zu ihren Klingen oder anderen Gegenständen, mit denen sie sich die Haut auf schnitten. Auch die Gründe waren überwiegend verschieden. Die einen folgten Trends, wie die eines Emos, die anderen kamen nicht mehr klar im Leben. Ein Mädchen sah überhaupt kein Sinn mehr im Leben und schluckte die Dinger. Die Gründe waren verschieden, teils Banale, teils Nachzuempfindende. So wie ich in dem Buch gelesen habe, so waren auch die Argumente der jeweiligen Personen, für mich klang es einfach nur nach einer Rechtfertigung, warum sie es taten. Das wiederum konnte ich verstehen. Ich meldete mich in diverse Foren an, um Gleichgesinnte zu finden. Zumindest jemanden, dem es gleich ging. Ich suchte jemanden, der auch bei dem Gedanken das Blut fließen zu sehen eine Gänsehaut bekam und dessen Stimmung sich automatisch hob. Denn schon lange ging es nicht mehr darum, sich seinem Druck zu entledigen, sondern auch seine Sucht nach dem brennenden Schmerz zu befriedigen. Da ich noch kein Sex gehabt hatte, hatte ich keine Vergleichsmöglichkeiten, aber so stelle ich mir einen sexuellen Höhepunkt vor. Meine Eltern merkten von all dem nichts. Vielleicht vermuteten sie etwas , doch sie sprachen mich nie auf irgendetwas an. Doch irgendwie hatte ich im Inneren das Gefühl, dass es bald ein unschönes Ende geben würde. Irgendwann hatte ich das Pech an einer richtig schlimmen Grippe zu erkranken und meine Eltern schleppten mich zum Arzt, um mir eine Spritze setzen zu lassen. Anfänglich wehrte ich mich dagegen, doch so schwach wie ich war, konnte ich mich gegen die starken Arme meines Vaters nicht wehren. Also saß ich da im Zimmer meiner Ärztin und sollte mich frei machen, damit sie besseren Zugang hatte, um meine Lungen ab zu hören. Erstmal weigerte ich mich. Verdammt. Was sollte ich machen? Sie würde dann sehen, was ich machte. Und das wollte ich nicht, ich wollte niemanden das sehen lassen, und sie war eine Ärztin. Sie meinte, ich solle mich nicht so anstellen, schließlich sei sie eine Ärztin und hätte schon so einiges gesehen. Sie versprach mir, nicht so genau hin zu sehen. Als würde das was bringen. Ich zog mein Hemd aus und so hatte sie einen gute Aussicht auf mein Oberkörper und auch auf das, was ich diesem angetan habe. Ohne etwas zu sagen, horchte sie mich ab und ließ mich wieder mein Hemd anziehen. Sie bat mich, mich ins Labor zu setzen, dort würde man mir eine Spritze geben. Unterdessen redete sie mit meinen Eltern und ehe ich mich versah, saß ich in dem Aufnahmeraum einer psychiatrischen Anstalt. Quälende Wochen standen mir bevor. Ich wollte mit niemanden reden und empfand auch meine Anwesenheit in einem solchen Institut als sinnlos. Nie öffnete ich meinen Mund, wenn ich bei den Gesprächen war und wenn, dann gab ich irgendetwas Belangloses von mir. „Herr Shiroyama, wie sind Sie eigentlich dazu gekommen, sich zu ritzen? Es muss doch einen Ursprung geben oder eine Stelle, die Sie dazu verleitet hat, dies zu tun?“ Ich schwieg, es war mein Geheimnis und keinen ging es etwas an. Ein wenig war es mir auch peinlich, mich schwach zu präsentieren. Wochen vergingen und ehe ich mich versah, war ich schon drei Monate hier. Meine Eltern meldeten mich von der Schule ab. Meine Freunde wendeten sich von mir ab. Ich war alleine. Hatte hier mit vielen anderen in meinem Alter Bekanntschaft geschlossen. Die meisten hatten die gleiche Probleme wie ich. Also das mit dem Ritzen. Aber ob wir gleiche Probleme hatten, bezweifelte ich stark. Ich sah Leute kommen und gehen. Und auch ich durfte endlich die Klinik verlassen. In meinem Entlassungsbrief stand, ich hätte eine depressive Episode, doch fragte ich mich, warum ich in der Richtung nie behandelt worden war. Ich hatte Sporttherapie und Ergotherapie genau wie alle anderen Patienten auch. Und in die spezifischen Gruppen wie Depressionsrunde wurde ich nie zu geteilt. Nicht, dass es mich störte, dennoch fühlte ich mich verarscht. Das Ritzen habe ich auch nicht aufgegeben, nur weil die Therapeutin, die für mich zuständig war, der Meinung war, dass es mir ja doch nichts bringen würde. Und jedesmal wenn ich es gemacht habe, musste ich eine Verhaltensanalyse schreiben. Darin sollte ich erwähnen, was vor meinem Zustand war, ob es Auslöser gegeben hatte und wie ich mich vor und nach dem Ritzen gefühlt habe. Meistens fühlte ich mich sehr verarscht. Die Therapeutin meinte, sie würde meine Gedankengänge nicht verstehen, und ich hatte das Gefühl ihr Lieblingssatz hieße: Das kann nicht sein. Klar habe ich oft darüber nachgedacht, warum ich so bin. Warum ich so denke, wie ich denke, und warum ich das alles mache. Es gab genug Beispiele die meiner Situation ähnelten. Ein Freund bietet dir eine Zigarette an. Aus Neugier ziehst du daran und stellst fest, dass es voll ekelig ist. Ein normaler Mensch rührt das nie wieder an, doch die meisten entscheiden sich, dass noch einmal zu versuchen und just sind sie süchtig und kleben am Glimmstängel. Genauso wie mit den Drogen. Einmal kiffen macht auch nicht einen Süchtigen aus dir, nur wenn du es immer wieder machst und dann auch noch auf Härteres umsteigst, dann bist du zu schwach um nein zu sagen. Eine simple Verletzung treibt uns auch nicht dazu, es aus freien Stücken von selbst zu machen. Wir verbinden die Wunde und hoffen, dass es nicht noch einmal passiert. Doch so eine unscheinbare kleine Wunde an meiner Hand veränderte mein Leben. Diese fünf Minuten, wo sich das Brennen ausbreitet und das Blut aus dem Schnitt floss, machte mich zum Sklaven meiner Selbst. Denn in diesem Momenten war ich einfach zu schwach, um nein zu sagen und damit einen Schritt in die richtige Richtung zu tun. Wie es ausgeht, weiß ich schon, denn diese Geschichte ist vor fünf Jahren passiert. Ich werde den Drang immer haben, mir weh zu tun, um noch einmal diesen Rausch zu erleben, diese Gänsehaut zu spüren und das Blut fließen sehen. Doch ich werde mich für diesen Moment zurück halten, denn ich weiß, dass ich wie ein Junkie immer wieder Rückfälle erleiden werde. Vielleicht nicht jetzt, aber irgendwann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)