DQ8: Il Santuario in Cielo von Phantom (Das Heiligtum im Himmel) ================================================================================ Kapitel 12: Hore ---------------- Auch die Ritter entblößten ihre Klingen, aber Angelo kam ihnen zuvor. Rastlos drosch er auf seinen Kontrahenten ein. „Sollen wir nicht eingreifen?“ „Das ist zu riskant! Dieser dumme Junge kämpft wie ein Berserker!“ Einrichtung ging zu Bruch, das aufgeschlitzte Bettzeug versprühte Daunen. Der Invasor hatte keine Probleme, mit Angelo zu halten, obzwar sein waffenführender Arm verbunden und damit allem Anschein nach verletzt war. Degenwirbelnd fegten sie um den König, der sich seines blauen Blutes nicht mehr sicher war. Dann knickte dem Eindringling unverhofft das rechte Bein ein, und scharf über sein schwarzes Haar hinweg schnellte die Lichtschneide des Templerhauptmannes in den Spiegel. Mit dem Klingenrücken stieß er ihn fort und stemmte sich in die Höhe. Als Angelo zum nächsten Streich ansetzte, hob sein Gegenüber die freie Hand und wies mit dem Daumen gen Grund. „Vielleicht offerieren Ritter dir eines richtig schönen Tages auch deinen Tod. Ritter achten selten Interessen eines Reisenden – einer rechten Bedrohung ihres taktisch territorialen Erfolges.“ „Los!“ Die Ordensangehörigen schwangen ihre Schwerter, doch deren Ziel warf ihnen die sich von den Schultern gerissene Robe über die Schädel, glitt an den darunter Wühlenden vorbei und verschwand, gefolgt von den sich orientierenden Rittern, aus der Tür. „Sie werden ihn nicht fangen.“ Angelos Augenmerk richtete sich auf König Clavius, der sich erhob. „Es war Euer ehemaliger Vorgesetzter, habe ich Recht? Jener ambitionierte junge Mann, der vor zwei Monaten zum Obersten Hohepriester hätte gekürt werden sollen: Marcello.“ „Ihr habt ihn erkannt?“ „Nicht auf den ersten Blick. Sein Erscheinungsbild hat sich außerordentlich gewandelt. Doch als ich in seine Augen sah, wurde es mir klar.“ „Ich kann nicht glauben, dass er…“ Dann schüttelte Angelo seinen weißen Schopf. „Eure Majestät? Ich habe ein paar Fragen an Euch.“ „Es gereicht mir zur Freude, einem unserer honorablen Helden zur Seite stehen zu können, wie es in meiner Macht ist, und ich werde es tun. Allerdings nicht umgehend. Ich muss Euch darum bitten, mir nach diesem Vorfall etwas Zeit für mich einzuräumen.“ „Aber…!“ „Ich sagte "bitte"“, versetzte Clavius, „aber es ist eine Anordnung. Ihr steht nicht in meinem Dienst, Angelo, dennoch bin ich ein König und verlange von Euch, dass Ihr mir mit gebührendem Respekt begegnet.“ Mehrmals verlief sich Angelo in der Burg, bevor er eines der Tore zur Stadt fand, dergestalt komplex waren auch seine Gedanken. Marcello. Dass er es gewesen war, erschien ihm so unwirklich. Selbst wenn der König überzeugt davon war, dem einstmaligen Hauptmann der Templer gegenübergesessen zu haben, selbst wenn die Fechtfertigkeiten keinen Zweifel daran ließen, rechnete Angelo damit, sich soeben mit einer Einbildung duelliert zu haben. Marcello… Und was hatten seine jähe Gebärde und diese Botschaft zu bedeuten? "Vielleicht offerieren Ritter dir eines richtig schönen Tages auch deinen Tod". Der Satz war untypisch für Marcello – so rätselhaft, so mannigfaltig zu interpretieren. Aus irgendeinem Grund hatte er sich in das Gedächtnis des Jüngeren gebrannt. Vielleicht offerieren Ritter dir eines richtig schönen Tages auch deinen Tod. Vielleicht offerieren Ritter dir eines richtig schönen Tages… Moment. Vielleicht offerieren Ritter… – v, o, R… …dir eines richtig… – d, e, r… V, o, R, d, e, r, s, T, a, d, T. "Vor der Stadt"! Unter Templern war es doch eine bekannte Geheimsprache! Er warf seinem Halbbruder die kleine Klinge zu. „Du kommst spät.“ „Ich dachte, du hättest sieben gezeigt.“ „Fünf. Die Anzeige richtet sich immer nach dem, der sie ausführt.“ „In deinem Leben richtet sich doch immer alles nach dir.“ Angelo setzte sich zu ihm unter den Schirm eines Baumes und beobachtete, wie er sich den befremdlichen Bart abrasierte. „Ich habe dich nicht herbeordert, damit du mir die üblichen Vorwürfe hältst.“ „Worum geht es dann? Um dein Attentat auf den König? Sie könnten dich dafür in die Insel der Läuterung werfen!“ „Nein.“ „Doch, Marcello!“ „Nein, das können sie nicht.“ Erstmals visierte Marcello ihn direkt. Kein Wunder, dass niemand den Papstmörder wiedererkannte: Überall entdeckte er Blessuren, und seine Haut war ganz schmutzig. Dünnen Fontänen gleich standen einige Strähnen aus seiner sonst akkuraten Frisur, und auf seinen Wangen lagen graue Schatten. Allein die Augen waren noch unverwechselbar dieselben. „Die Insel der Läuterung existiert nicht mehr.“ „Was?“ „Monster. Das Gleiche wie auf Neos und der Nordwest-Insel.“ „Du weißt davon?“ „Nur weil du mich seit Neos nicht mehr gesehen hast, bedeutet das nicht, dass ich die ganze Zeit wie hinter dem Mond gelebt habe.“ Da kam er nicht länger um die Frage her: „Wo warst du?“ „Dein Interesse an meinem Aufenthaltsort rührt mich, doch wir haben jetzt Wichtiges zu besprechen.“ Angelos Hand senkte sich auf jene, die gerade die Rasierklinge ablegte. „Marcello. Bitte. Ein kurzer Satz genügt mir.“ Sein Blick verfinsterte sich. „In der Hölle.“ Als hätte ihn ein Blitz gestochen, zog der Templer seine Hand zurück. „Bist du nun bereit, mir zuzuhören?“ „J-ja. Aber vorher möchte ich etwas erfahren: Du weißt, was auf den Inseln passiert ist, aber ist dir auch bekannt, dass es am schwindenden Glauben der Menschen an die Göttin liegt? Nach dem, was du und dieser Hohepriester Rolo verbrochen habt, haben sie sich peu à peu von der Kirche ab- und dem Argon-Orden zugewandt.“ „Willst du mich für das ganze Chaos verantwortlich machen?“ „Versteh mich nicht falsch. Dieses Mal geht es nicht um dich. Ich möchte lediglich klarstellen, was unser Ziel ist.“ „Wenn du dir ausrechnest, wir verfolgten ein gemeinsames Ziel, dann täuschst du dich.“ „Wie meinst du das?“ „Wir werden eine Weile zusammen gehen, doch wir sind kein Team.“ Angelo folgte ihm in den Stand. „Einen Augenblick mal! Wie kommst du auf die Idee, ich würde dich begleiten wollen?“ „Du möchtest deine Angelegenheit mit den Rittern klären, sonst wärst du heute nicht unter ihnen gewesen. Allerdings rate ich dir, mit dem Oberhaupt des Ordens zu sprechen. Seine Handlanger werden dir kaum nützlich sein.“ „Aber der Großmeister ist doch…!“ Da entsann er sich der Abschiedsworte desselben: "Hier werde ich nicht länger disponibel für Euch sein". „Du weißt aber auch wieder alles, hm? Vielleicht auch, wohin wir dann müssen?“ „Zum Hauptquartier des Ordens natürlich“, versetzte Marcello, als hätte er einen besonders einfältigen Novizen vor sich. „Soweit ist es mir schon klar. Wo genau der liegt, möchte ich wissen.“ „Selbstverständlich an einem Ort, von dem aus er die ganze Zivilisation sowohl überschauen als auch manipulieren kann.“ „Muss man dir eigentlich alles aus deinem Zinken ziehen?“ Toll. Keine zehn Minuten mit ihm zusammen und schon war Angelo frustriert wie nach acht Stunden Metall-Königsschleim-Jagd. Dann fiel ihm die barrikadierte Brücke hinter Farebury ein, die Wachen, die nicht einmal einem Templer Passage gewährten, und Jessicas Wampendrache. „Etwa Trodain?!“ Abermals ließ Marcello ihn dastehen wie einen Kobold, der Kabumm wirkt, obwohl er überhaupt keine magische Energie hat: „Denk doch mal nach! Eine Gemeinschaft, die sich Argon-Orden tituliert, wird wohl weder in Schloss Trodain noch in der Festung von Ascantha residieren! Da Neos, wie wir wissen, zerstört ist, bleibt nur ein Ort, der unserem Kriterium entspricht.“ „Savella.“ „Korrekt. Unser Ziel ist die Insel Savella. Da die argonischen Schiffe sicher mit Rittern verseucht sind, müssen wir versuchen, am Hafen von Baccarat eine Überfahrt zu organisieren.“ „Gut. Wann brechen wir auf?“ „Unverzüglich. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich hoffe, du hattest nicht viel Gepäck dabei.“ Marcello wandte sich der versinkenden Sonne entgegen. Für Angelo war das alles nicht so selbstverständlich. „Warte!“ Sein Halbbruder drehte sich zu ihm um. Er strich den cremefarbenen Umhang zur Seite, lüftete seinen Kragen und fingerte hinein. Der goldene, zirkulare Anhänger kam zum Vorschein. „Das gehört dir.“ Bar eines Wortes des Dankes, eines Ausdrucks der Verblüffung, als wäre auch die Aushändigung dieses Kleinods zu erwarten gewesen, nahm er die Kette an sich. Anschließend begaben sie sich auf den Weg. Marcello… Es war seltsam, neben ihm herzugehen, als wäre Neos niemals geschehen. Als hätte er niemals erwogen, dass er tot war. „Der Angriff auf den König – war das eigentlich wirklich nötig?“ „Das ist eben meine Art, mich aus einer bedrohlichen Situation zu lavieren.“ „Indem du andere einer größeren Bedrohung aussetzt als der, in der du steckst? Ja – solch eine Art zu denken sieht dir ähnlich. Vielleicht hätte ich die Ritter doch auf dich loslassen sollen.“ „Mich irritierte mehr deine Assoziation mit einer Blume als dein Verzicht, mir eins auszuwischen. Du hast vorgetäuscht, mich nicht zu kennen.“ „Ich wollte verhindern, dass der Orden dich und deine Aktion mit der Maella-Abtei in Verbindung bringt. Ihre Bewohner hätten es nicht verdient, auf der Insel der Läuterung zu landen.“ „Und ich?“, ereiferte er sich plötzlich. „Ich hätte es in deinen Augen?! "Läuterung"! Du hast doch keine Ahnung, was in den Kerkern tatsächlich vor sich geht!“ Angelo blieb gelassen. „Oh. Doch. Hast du schon vergessen? Du hast mich und meine Gefährten dort unten einsperren lassen.“ Marcello beschleunigte seine Schritte. Er ließ ihn ziehen mit der Gewissheit, dass er ihn nicht erst aufgefordert hätte, ihn zu begleiten, wenn er jetzt so einfach auf ihn verzichten könnte. Am Händlerzelt, das hier bereits gestanden hatte, als sie auf der Jagd nach Dhoulmagus gewesen waren, holte er ihn ein. Ein intensiver Duft strömte aus der Öffnung, vor der zwei Leute hockten. „Gehört ihr zusammen?“, wandte sich der Ältere an ihn. „Der Herr hier hat sich bereits nach dem Essen erkundigt. Ihr müsst verstehen, dass wir Händler nichts für lau vergeben.“ „Du hast Hunger?“ „Ich dachte nur, du würdest länger brauchen als ich, um eine Mahlzeit einzunehmen.“ „Wie viel verlangt Ihr?“ Er spürte Marcellos stechenden Blick. „Ich habe es nicht nötig, dass jemand für mich bezahlt! Erst recht nicht du!“ „Dies ist die letzte Raststätte auf einem noch sehr weiten Weg. Wir werden hier etwas essen, und das "wir" schließt dich mit ein, denn ich habe keine Lust, dich nachher die ganze Strecke zu schleppen, weil du zusammengeklappt bist. Du kannst es mir ja später zurückzahlen.“ Er schnaubte. „Dir werde ich gar nichts zurückzahlen!“ Dafür, dass er es "nicht nötig hatte", schaufelte er viele Portionen in sich hinein. Angelo war nicht entgangen, wie schmal sein Gesicht geworden war, und die Arme, welche zuweilen unter den Ärmeln des weißen Hemdes zu erspähen waren, ließen ihn nicht an der Hölle zweifeln, die sein Halbbruder erwähnt hatte. „Hör mir zu“, begann Marcello, da er – gesättigt und einigermaßen beschwichtigt – später wieder an seiner Seite schritt. „Du darfst dir nicht mit den Rittern einig werden. Sie machen dir große Versprechungen, doch in der Realität ist eine derart autoritäre Institution nicht auf die Interessen eines jugendlichen Hauptmanns und seiner kleinen Abtei angewiesen. Sie werden dich gnadenlos ausnehmen, wenn du es tust.“ „Bleib locker. Ich habe ihren Großmeister bereits kennengelernt. Lilius ist ein Mann, der sich selbst gerne reden hört. Solange ich keinen Grund sehe, werde ich ihnen die Abtei niemals überlassen.“ „Selbst wenn du einen Grund siehst!“, insistierte Marcello auf seiner unfreundlichen Besorgnis. „Sie können dich blenden, ohne dass du es wahrnimmst.“ An einer Weggabelung hielten sie an. Angelo war schon einmal hier gewesen, allerdings waren sie damals von Baccarat gekommen. Er erinnerte sich nicht, welche Richtung sie einschlagen mussten, und das Schild, auf welchem lediglich "Argonsee" sowie ein sie zurückleitender Pfeil eingezeichnet waren, half ihnen kein bisschen weiter. „Links“, schlug er vor. „Rechts“, befahl Marcello, also gingen sie schließlich nach rechts. Angelos Vorschlag war rein intuitiv gewesen, trotzdem erachtete er es als wahrscheinlicher, dass seine Intuition Recht hatte als die schlichte Kompromisslosigkeit seines Anverwandten, und ließ diesem nur deshalb seinen Willen, um ihn, wenn sie in der Sackgasse endeten, vorzuführen. Hinter einer Brücke über den Fluss hörte der Pfad auf. „Siehst du? Wir hätten gleich nach links gehen sollen.“ „Sei nicht gleich pikiert. Der Pfad hört hier zwar auf, doch es geht immer noch weiter.“ „Das Unvernünftigste, was man machen kann, wenn man keine Karte mit sich führt, ist das Verlassen des Weges.“ Verfluchte Bäume drehten sich nach ihnen um, und hinter ihren Stämmen schossen Kampfkäfer aus der Finsternis auf sie zu. Marcello zog seine Waffe und wehrte sie ab. „Lass mich das machen!“ Angelo beschwor einen Wirbel herauf, der die Wurzeln der Baumteufel aus der Erde zerrte. Die Monster stellten keinerlei Fährnis für sie dar. Nachdem sie besiegt waren, kippte die Welt um den jungen Templerhauptmann zur Seite und wurde schwarz. * Dort waren sie. Ein Drakoschwanz von Templern hinter ihrem neuen Befehlshaber, welcher selbst ein letztes Mal folgen sollte, und zwar den Schritten eines von unheimlicher Aura umgebenen Kirchenmannes, den er niemals zuvor hier gesichtet hatte, über den Innenhof der Abtei. Angelo hielt sich hinter einer Säule auf der anderen Seite verborgen und spähte ihnen hinterher, neugierig geworden durch die sonderbaren Ereignisse, die den gewohnten Lauf in der Abtei schon seit Tagen unterbrachen. Alle Templer waren Teil jenes Prozesses, selbst die Wachposten – alle Templer, bloß er nicht. Und jedes Mal, wenn er sich erkundigte, wies man ihn ab, und er erkundigte sich oft. Die Angelegenheit reizte ihn zu sehr – insbesondere seit Abt Francisco verkündet hatte, er würde nichts damit zu tun haben wollen, und es überhaupt nur deswegen gestattete, weil sein Halbbruder mit ausdauernder Geduld auf ihn eingeredet und alles daran gesetzt hatte, ihn von der Notwendigkeit dieses Zeremoniells zu überzeugen. Zeremoniell? Notwendigkeit? Man schloss Angelo aus wie ein Kind, das er längst nicht mehr war, und so hatte er sich vorgenommen, dem Brunnen selbst auf den Grund zu gehen, zumal sein Halbbruder Mittelpunkt jeglicher Vorgänge war, so wie jetzt Zentrum des Zuges, majestätisch geradezu, obzwar lediglich gekleidet in eine kalkweiße Robe, wie der einsame Mondstein an einem Vollmondring. Sie kamen aus der Kapelle, wo er ein Gebet gesprochen, sechzig Mal in der Stunde, und anschließend einen Eid mit der Hand auf das Wort der Mutter geleistet hatte. Angelo hatte jedem Wort gelauscht, und anders als in den vorangegangenen Tagen der Vorbereitung wollte er dabei sein, wenn das Wesentliche stattfand; wollte daneben stehen, wenn der kaum erwachsene Templer Titel und Amt des Kommandanten der Templer zur Maella-Abtei entgegennahm. Hauptmann… Ihm wurde die Brust eng. Marcello richtete nun sein Antlitz auf den Innenhof und ließ den Blick darüber schweifen, als würde er ihn hier vermuten. Ob er sich verraten hatte? Er machte sich so kompakt, wie er konnte, drückte den weißen Zopf und die blauen Schleppen seines Habits an sich und vernahm, wie die Templer die Türen zu den Quartieren öffneten. Nachdem er bis fünf gezählt hatte, lugte er hinter seiner Säule hervor. Die Gefahr schien vorüber: Marcello machte sich nicht weiter Mühe, nach etwaigen kleinen Halbbrüdern Ausschau zu halten. Gerade trat er auf die Schwelle der Tür, da schwang sein Haupt herum, was alle aufmerken ließ – vor allem Angelo, denn jetzt befand er sich mitten im Visier des Hauptmannes in spe! Sofort setzte er zu einer lächerlichen Erklärung an, als Marcello sein Templerflorett unter dem Mantel hervorzog und selbiges geradewegs auf Angelo warf! Der starrte mit aufgerissenen Augen auf die tödliche Klingenspitze, pfeilschnell und doch unwirklich langsam, als käme sie gar nicht näher; als wäre es die Umgebung, die vor ihm flüchtete, und plötzlich schnellte sie dicht an ihm vorbei. Lautlos wie ein Blitz steckte das Schwert in den Rippen eines Mannes, den er erst registrierte, nachdem er sich auf allen Vieren japsend nach der Quelle eines Stöhnens umgedreht hatte. Unmittelbar hinter ihm röchelte ein schäbig Gewandeter seine vielleicht letzten Atemzüge, und wo das Florett ihn erwischt hatte, war ein Beutel zerschnitten, aus dem Goldmünzen in die Blutlache prasselten, neben einem abgenutzten Dolch. Und da erkannte Angelo, dass es ein Räuber gewesen war. Einer, der ihn hätte töten können, der ihn getötet hätte, wenn er nicht gewesen wäre. Marcello. Er schien dem Vertrauten zu misstrauen, wenn er seine Waffe selbst nach einem Bad noch an seiner Seite trug. Die Templer sahen nicht minder bestürzt drein denn Angelo. Der Kirchenmann hingegen zuckte mit den Achseln und setzte seinen Gang fort, gefolgt von Marcello, bei welchem sich der Nachwuchstempler nicht sicher war, ob er wirklich den Eindringling hatte treffen wollen oder doch den knapp verfehlten Halbbruder. Mönche kreisten den Verwundeten ein wie Schleime, die sich verschmelzen wollen, und tuschelten emsig über den Zwischenfall. Schwatzen – das taten sie gerne, aber die Sache der Mönche war eben Sache der Mönche und nicht der Ritter, und weil Angelo eben ein Ritter war, kümmerte er sich um deren Angelegenheiten. Er beeilte sich, ihnen zu folgen; sie stiegen die Treppe hinab in den Keller. Der Keller. Es gab Templer, die sich hier nicht hinuntertrauten. Marcello hingegen liebte diese Räumlichkeiten; er schien sein Zuhause in ihnen gefunden zu haben, nutzte jede Gelegenheit, um hier unten zu sein, studierte hier, las Bücher, indes im Hinterzimmer ein Frevler auf der Streckbank schrie. Erst der Posten des Hauptmannes jedoch würde ihm gestatten, seine Leidenschaft richtig auszuleben. Angelo graute davor. In der Sache der peinlichen Befragung war Marcello nicht nur sensationell erfinderisch, sondern auch unerschöpflich. Auch wenn er die Folterkammer heute nicht als Inquisitor aufsuchte. Im Vorraum verschanzte sich der ahnungslose Zuschauer unterhalb des mit dicken, schwarzen Gitterstäben versehenen Spions. Marcello kniete sich nieder, streifte das Gewand von seinen Schultern. Einer der ihn Begleitenden zog seinen Gürtel ab und hielt ihn ihm entgegen, aber er schüttelte den Kopf, derweil der fremde Priester mit irgendwelchen filigranen Geräten hantierte. „Seid Ihr bereit?“ „Ich wäre nicht hier, wenn nicht, Vater. Die Abtei braucht einen neuen Hauptmann.“ „Feuer, bitte.“ Marcello sah hinauf zu jenem Mann, den Angelo häufig in seiner Nähe beobachtete. „Templer Gladio.“ Der Angesprochene verstand, und auch Angelo durchfuhr endlich eine Ahnung wie Gift, da dem Kahlkopf ein langer Stift ausgehändigt wurde, dessen Eisenspitze er in seiner Faust magisch behandelte, bis sie glühte wie die Sonne selbst. Das Gift lähmte ihn, obwohl er jetzt am liebsten davongerannt wäre. Dann fraß sich die heiße Nadel in den bloßen Rücken des künftigen Kommandanten. Er verkrampfte sich, schlug die Faust gegen das Gemäuer, als wollte er sich selbst disziplinieren, während der Fremde hinter ihm mit aller Ruhe Buchstaben in sein Fleisch zeichnete. Wort für Wort. Satz für Satz. Die Anwesenden wandten ihre Blicke ab. Marcello kratzte sich am Stein die Finger wund und schrie, wenn er es nicht hinunterschlucken konnte. Angelo war mesmerisiert. Was zwang einen rational denkenden Menschen, so etwas mit sich machen zu lassen? Wort für Wort… Satz für Satz… Der Gemarterte stieß seine Stirn an die Wand. Das Eisen musste neu erhitzt werden, und während Templer Gladio, wie aus einer Starre schreckend, die Faust um das Folterwerkzeug schloss, war für Minuten lediglich ein angestrengtes Schnaufen zu hören. Der Anblick war entsetzlich. Schweiß vermischte sich mit Blut und rann in die scharfen Wunden. „Schaut hin!“, befahl Marcello unvermittelt. „Seid tapfer! Ich möchte, dass ihr euch das anseht! Wendet eure Blicke nicht ab, Templer der Maella-Abtei, denn die Welt erwartet euch mit noch viel schlimmeren Anblicken! Dieses Blut fließt für die Göttin und für euch; dieses Fleisch wird der Göttin geopfert und unserem Orden! Ein Templer hat jeden Schmerz zu erdulden, jede Last zu ertragen, und er wird wieder aufstehen! Und wenn ein einzelner Templer das kann, dann könnt ihr gemeinsam es erst recht! Legt eure falsche Scheu ab und lasst diese blutigen Zeilen sich in euer Gedächtnis prägen, auf dass ihr ihren Inhalt niemals vergesst! Geht jetzt, wenn euch das Leid eines einzigen Menschen schon überfordert, oder bleibt für immer und folgt meiner ersten Order als euer Hauptmann: Seht hin!“ Wenn dies wahrhaftig die Pflichten eines Templers waren, dann wollte Angelo keiner sein. Er war der Einzige, der nicht hinschaute, als die Tortur fortgesetzt wurde, deren Ende ein Eisen besiegelte, welches die Form des Templerkreuzes hatte. Dem Geruch der verbrannten Haut, dem Zischen des Dampfes, dem Schrei seines Anverwandten aber vermochte er nicht zu entfliehen. Nach dem Ritus reihte sich das Publikum in eine Schlange aus der Kammer, die so in Gedanken versunken war, dass es vermutlich nicht von Bedarf gewesen wäre – dennoch presste sich der Junge an die Wand neben der Tür, aus der sie an ihm vorbeischlurfte, hinter dem Geistlichen her. Marcello tastete nach den Wunden und zuckte zusammen, als er sie tatsächlich berührte. „Marcello?“ Prompt wich die Hand zurück, und ihr Besitzer wirbelte herum. „Du?!“ Seine Stimme war ungewohnt heiser. Kein Wunder, nachdem er sie dergestalt hatte malträtieren müssen. Angelo stieß sich ab, stürzte neben ihm auf die Knie und hatte just vergessen, was er hier wollte. Ihm war klar: Er war das Letzte, was sein Halbbruder jetzt sehen wollte; für ihn war er überhaupt das Letzte. „Du bist verwundet…“ Auf einmal fühlte er sich hilflos, was unüblich war, denn in den vergangenen Jahren hatte er sich zu einem Rebellen entwickelt, der auf Ordensregeln und nach hübschen Mädchen pfiff. „Ach was! Bist du gekommen, um mir das zu sagen?“ „Ich… ich wollte mich bedanken!“ „Bedanken wofür?“ „Die Rettung oben! Ich war…“ „Unvorsichtig? Statt deine Jugend mit Dankbarkeit und dilettantischer Spionage zu verschwenden, solltest du besser etwas dagegen unternehmen!“ Die Augen abwenden bedeutete, auf jenen gequälten Rücken zu blicken. Niemals würde er sich vollständig von diesen Verletzungen regenerieren; auf immerdar würde der Schwur eines Templeroffiziers ihn als solchen stigmatisieren. War dies alles, was ihm blieb? Marcello schlug die Hand vor die Augen. „Ist alles in Ordnung?!“, rief Angelo und hätte sich sogleich selbst ohrfeigen können, hätte es ihm sein Anverwandter nicht bereits abgenommen. „Verschwinde, du Balg!“ Da Angelo die weißen Wimpern hob, wiegte die Welt ihn wie ein kleines Kind. Seine Beine baumelten frei, und ein dezenter Duft akkompagnierte die Luft, die er schöpfte. Wärme. Weiß und Wärme. Der Schlummer, aus welchem er erwachte, war erholsam gewesen, und dennoch würde er am liebsten – statt abermals einzuschlafen – weiterhin so schwerelos zwischen der Traum- und der realen Sphäre hängen bleiben – wie ein kleines Kind eben, das sich um nichts zu kümmern braucht. Bis er zur Kenntnis nahm, dass es Marcello war, der ihn trug, auf dessen Schultern seine Arme lagen. Ein Blitz fuhr durch sein Inneres, als würde er sich in Rhapthornes Kochtopf wiederfinden, und er war bemüht, nichts nach außen zu senden, um Marcello auf keinen Fall zu signalisieren, dass er bei Bewusstsein war. „Wurde auch Zeit.“ Ihm war, als gefröre das Blut in seinen Adern, und er traute sich nicht, etwas zu sagen. „Tu nicht so. Dein Herz hämmert gegen meinen Rücken, als würde es versuchen, mich zu erschlagen.“ Noch immer brachte er kein Wort hervor. „Wie war das gleich noch einmal mit dem "nicht schleppen wollen"? Mir zwingst du die Nahrung auf, doch verwendest Magie, obwohl du völlig erschöpft bist.“ Er erinnerte sich daran, lange nicht mehr richtig geschlafen zu haben. „Warum hast du mich nicht liegen gelassen?“ „Ich habe eventuell noch Verwendung für dich.“ Es war nicht die Antwort, die er erwartet hatte… und irgendwie war sie es doch. Vor einer Brücke zurück über den Fluss blieb Marcello stehen. „Was sagst du nun? Meine Eingebung hat uns doch den richtigen Weg gewiesen.“ „Das hat sie“, murmelte er, den erdigen Geruch des Hemdes einatmend. „Aber nach einer wahrscheinlich stundenlangen Verzögerung.“ „Immerhin sind wir den Gefahren auf deinem Weg ausgewichen.“ „Marcello… Nicht jeder Weg wartet mit Gefahren auf.“ Abseits der Brücke fiel der Boden steil in ein kleines, grünes Tal ab, in dessen Mitte ein Kreis aus großen Steinen drapiert war. Das Ufer glitt direkt in den See hinein. „Es ist spät. Lass uns hier eine Pause einlegen, einverstanden?“ Es war seltsam, wie er so bald wieder mit dem Gegenstand seines Traumes konfrontiert wurde, als Marcello ihm den mondbeschienenen Rücken zuwandte. Auch Angelo legte seine Kleidung ab. Anschließend wollte er das schwarze Seidenband um seinen Zopf lösen und war einen Augenblick lang verwirrt, lediglich an Haarspitzen zu fassen. Komisch – hatte er sie sich doch aus freien Stücken kürzen lassen. Es war ein Zeichen gewesen. Nicht bloß die Templer hatte er sich vorgenommen zu maßregeln, sondern auch sich selbst. Bevor er mit Jessica und den anderen aufgebrochen war, hatte er kein Ziel vor Augen gehabt und dementsprechend gelebt. An jenem Tag jedoch, da die Schwarze Zitadelle in den blutroten Himmel gestiegen war, war ihm seine Mission klar geworden. Das graphitschwarze Haar seines Halbbruders hingegen war ungewöhnlich lang geworden. Nass und mit in den Nacken gelegtem Haupt, benetzte es die ersten Zeilen des dunkelgrauen Schwurs des vormaligen Templeroffiziers, der sich gerade ausgiebig zu waschen begann. Angelo stieg nun ebenfalls in das Wasser, welches kühl seine Beine erquickte, und watete heran, bis sie eine Handbreite voneinander trennte. „Ich mache das.“ Marcellos Einverständnis folgte zögernd in Form sinkender, untätig werdender Arme. Der Jüngere verrieb das Yggdrasil-Gelee in seinen Händen und legte sie auf die vernarbte Haut. Als er darüberfuhr, konnte er die Vertiefung jedes einzelnen Buchstabens und Zeichens unter den Fingerkuppen spüren. Die hellen Narben wiederum hoben sich von ihr ab. Es waren Peitschennarben. Angelo kannte sie von sich selbst. Sie reichten bis unter den Wasserspiegel. Sein Halbbruder hatte nie zu der Sorte Verrückter gehört, die sich selbst geißelt. Aber er konnte sich denken, woher sie rührten. „In der Hölle.“ Sorgfältig wusch er das Gel von seinem Rücken und widmete sich schließlich – unter linkischen Verrenkungen – der eigenen Körperpflege, ohne auf eine Gegenleistung zu hoffen. Marcello stand da, ohne sich zu regen. In den vergangenen zwei Monaten musste so vieles geschehen sein – vieles, was er sich nicht einmal ausmalen konnte. Doch er wusste: Selbst wenn er fragen würde, gäbe Marcello ihm niemals nur eine einzige Antwort. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)