400 Jahre später von Futuhiro ================================================================================ Kapitel 1: Schauriger Fund -------------------------- Maya spazierte langsam den einsamen Waldweg entlang und sah sich fasziniert um. Der Wald stand in den strahlendsten Herbstfarben und das Sonnenlicht überflutete alles mit Gold. Irgendwo zirpten ein paar Zikaden und aus den Baumwipfeln sangen volltönend die Vögel, alles war unglaublich friedlich und wunderschön. Maya liebte das. Er konnte stundenlang in diesem Wäldern herumstreifen, es brachte ihn zur Ruhe und machte ihn völlig ausgeglichen. An der Weggabelung blieb er kurz stehen. Es war schon eine Weile her, daß er das letzte Mal die große Runde gelaufen war, vorbei am alten Hexenhaus. Bei diesem Wetter sah es sicher toll aus. Der junge Mann strich sich die hellbraunen Haare aus dem Gesicht, zog seinen Schal zurecht und stopfte seine Hände dann wieder in die Jackentaschen. Das warme Sonnenlicht tat der herbstlichen Kälte leider keinen Abbruch, aber das hatte ihn noch nie von seinen ausgedehnten Spaziergängen abgehalten. Kurzentschlossen bog er nach rechts ab. Vor dem Hexenhaus blieb er eine Weile später stehen. Es hatte weder Dach noch Fenster, es war nicht mehr als eine Handvoll verwitterter Ziegelmauerreste, zugewuchert von Wald und Unkraut. Es führte nicht mal mehr ein Pfad dort hin. Maya war bisher immer achtlos an dieser Ruine vorbeigelaufen, von der er sich lediglich fragte, warum sie noch nicht vom Wind endgültig umgepustet worden war. Früher, vor ein paar hundert Jahren, sollte hier ein Magierzirkel residiert haben. Aber bei einem missglückten Zauber sollte das Haus komplett abgebrannt sein und mit ihm der halbe Wald. Davon sah man heute freilich nichts mehr. Irgendwie doch neugierig geworden – und weil er nichts besseres vorhatte – stapfte Maya durch das Bollwerk von Unkraut und Gestrüpp und stellte sich in die Tür, um einen Blick in das Haus zu werfen. Außer Staub, Geröll und hereingewehten Blättern war freilich nichts drin. Dennoch trat er ein. Es gab ja kein Dach mehr, das über ihm hätte zusammenbrechen können. Nur noch die Reste einer morschen Holztreppe, die in eine nicht mehr vorhandene, obere Etage führte. Unter der Treppe, an der einzigen wettergeschützten Wand, entdeckte Maya verblasste Zeichnungen. Ein Dämon mit roten Augen und wilden schwarzen Haaren, der mit einem bluttriefenden Menschenkopf und gezücktem Schwert auf einem Berg Leichen stand. Ein Ritter mit einer Lanze, der vergeblich gegen den Dämon kämpfte und unterlag. Ein Kreis weißgekleideter Männer und Frauen, die sich selbst töteten. Dann wieder der Dämon mit den roten Augen, tot. War das die Geschichte des Magierzirkels, der hier sesshaft gewesen war? Hatten sie sich selbst geopfert, um jenen Teufel zu bannen? War deshalb auch das riesige Feuer ausgebrochen und hatte die Residenz und den halben Wald verheert? Ob sie erfolgreich gewesen waren?, dachte Maya schmunzelnd. Zwischen den Bildern standen einige Runen. Maya musste sehr nah herangehen, um sie überhaupt noch entziffern zu können. Er hatte mal aus Spaß gelernt, Runen zu lesen, als dieses Thema in seinem Studium behandelt wurde, aber das war schon eine ganze Weile her. Deuten konnte er sie sicher nicht mehr, bestenfalls noch aussprechen. Gestammelt und holprig las er jede einzelne Rune laut vor, in der Hoffnung, sich über das Klangbild wieder an die Bedeutung zu erinnern. Aber mehr als und verstand er nicht. War doch schon zu lange her, daß er sich damit beschäftigt hatte. Mit dem Zeigefinger fuhr er die Zeile nach, während er die letzte Rune laut vorlas, dann richtete er sich seufzend wieder auf. Und sprang erschrocken zurück, als die Wand vor ihm zu knirschen und zu bröseln begann. Sie bekam Risse, der Fugenmörtel rieselte heraus und letztlich fielen sogar zwei Ziegel aus der Wand. Dann kehrte wieder Ruhe ein. Eine gespenstige Ruhe. Der Gesang der Vögel hatte aufgehört. Maya trat unschlüssig und mit klopfendem Herzen von einem Fuß auf den anderen. Was war das gewesen? Ein Erdbeben? Oder hatte er die Wand versehentlich selbst eingedrückt, als er sich beim Lesen dagegengelehnt hatte? Hinter den Löchern, die die herausgefallenen Ziegel hinterlassen hatten, gähnte dichte Schwärze. Da war offenbar ein Hohlraum, vielleicht sogar eine kleine Kammer. Wieso sollte es in einem Hexenhaus zugemauerte Hohlräume geben? Hin- und hergerissen zwischen Neugier und Angst griff er schließlich nach dem Mauerloch und zog einen dritten Ziegel heraus. Nichts geschah. Also machte er vorsichtig weiter, bereit jederzeit die Flucht zu ergreifen. Irgendwie gespenstig war das ja schon. Nach einer Weile zückte er sein Handy und leuchtete mit seinem Display in das inzwischen recht ansehnliche Loch hinein. Außer Staub und Schwebstoffen sah er zunächst gar nichts. Doch dann, als er das klägliche Licht ein wenig bewegte ... ein Glitzern ... dann Umrisse, flach auf dem Boden. Ermutigt steckte Maya das Handy wieder ein und brach weitere Steine aus der Mauer, um sich einen Zugang zu verschaffen. Bis genug Licht hineinfiel, um zu erkennen, was er da eigentlich gerade ausbuddelte. Ihm rutschte das Herz in den Magen. Die Umrisse auf dem Boden waren menschlich gewesen. Minutenlang stand er einfach nur vor dem Loch und rang um Fassung und eine Entscheidung über das weitere Vorgehen. Eine Weile später kauerte der junge Student neben seinem Fund und wusste schon wieder nicht was er tun sollte. Es sah wie ein Mann in schwarzen Klamotten aus. Er lag auf dem Bauch, das Gesicht in die Ellbeuge gelegt und dadurch verdeckt. Er rührte sich nicht. Er war eingemauert gewesen, wer weis wie lange schon, er KONNTE nicht mehr leben! Seine Haare und seine Lederjacke waren ziemlich eingestaubt. Aber die Haut auf seinen Händen sah so natürlich aus. So lebendig. Maya hatte Angst, daß ihm die Maden aus seinen Augenhöhlen und seinem Mund entgegenquollen, wenn er den Kerl umdrehte. Vielleicht war er erst kürzlich ermordet und hier versteckt worden, damit ihn keiner fand, sinnierte Maya und schauderte. Letztlich fasste es sich doch ein Herz und tippte dem schwarzgekleideten Typen mit dem Zeigefinger auf das Schulterblatt. Ihm stellten sich die Nackenhaare auf, als ein leises Seufzen erklang. Seine Angst und Fantasie spielten ihm einen Streich, ganz sicher! Er zögerte. Aber er hatte es doch gehört, oder? Probehalber tippte er den Kerl nochmal an. Ein unwilliges Zucken, wie von jemandem der gerade auf lästige Weise geweckt wurde, ließ Maya zurückprallen. „Hallo? Le ... lebst du noch?“, wollte er heißer wissen und kam sich dabei ziemlich dämlich vor. Weil es einfach unlogisch war, daß der noch lebte, egal was sein Gehirn ihm vorgaukelte. Langsam hob sich der Kopf. Langsam, furchtbar langsam, schwebte das Gesicht aus dem Jackenärmel empor, in den es gebettet gewesen war, und sah Maya mit geblendet zusammengekniffenen Augen an. Mayas Herz sackte in quälender Deutlichkeit vom Magen aus noch tiefer, bis in die Kniekehlen, während es ihm heiß und kalt den Rücken hinunterlief. Die Augen waren weinrot, um das rechte rankte sich eine kunstvolle Tätowierung. „Wie ... wie kommst du hier her?“, wollte Maya wissen als er endlich seine Fassung wiedergefunden hatte. Der andere wandte das Gesicht ab und griff sich stöhnend an den Kopf. „Wo bin ich denn hier?“, stellte er eine Gegenfrage. „Na im Hexenhaus.“ „Hexenhaus?“ Der Schwarzhaarige sah sich verständnislos um. Langsam gewöhnte er sich an das Tageslicht. „Wo ist hier ein Hexenhaus?“ „Du liegst mittendrin.“ „Welche Stadt?“ „Außerhalb von Dachau.“ Wieder sah der Auferstandene Maya fragend an. Dachau schien er nicht zu kennen. „Welches Jahr?“ Nun zog Maya doch ungläubig eine Augenbraue hoch und half dem Fremden, der sich mühsam in eine sitzende Position hochzurappeln begann. Der Kerl schien nicht gefährlich zu sein, so langsam gewöhnte sich Maya an ihn. „2012. Der 14. Juli. ... Erinnerst du dich an irgendwas? Wer bist du überhaupt, man?“ „Ich weis nicht ...“, meinte der junge Mann in den schwarzen Klamotten nachdenklich. „Ich heiße Shinda ... glaube ich.“ „Glaubst du?“ „Das ist alles, was ich weis.“ „Nagut ...“ Maya seufzte ratlos und kratzte sich überlegend am Hinterkopf. „Nagut, ich bin Maya. Komm, ich nehm dich erstmal mit zu mir nach Hause, da kannst du duschen, was essen, saubere Klamotten anziehen, und dann kriegen wir schon raus, wo du hingehörst.“, beschloss er und zog den anderen hilfsbereit am Ellenbogen auf die Beine. Sein Blick wanderte unmerklich zurück zu der halb eingerissenen Wand, auf der noch das verblasste Bild des Dämons mit den schwarzen Haaren und den roten Augen prankte. Er hoffte wirklich, daß er hier keinen Fehler machte. Andererseits, wenn es so war, dann war eh schon alles zu spät. Kapitel 2: Freund oder Feind ---------------------------- „Was ist das?“ Maya seufzte. Diese Frage hatte er in den letzten anderthalb Stunden – solange hatten sie für die paar Meter nach Hause gebraucht – schon gefühlte 200 Mal gehört. Shinda kannte wirklich überhaupt nichts. Keine asphaltierten Straßen, keine Hochhäuser, keine Ladenstraßen, keine Haustürschlüssel, keine Handys oder Autos, nichts was auch nur ansatzweise an Technik grenzte. Es war, als käme er von einem anderen Planeten. Schaudernd dachte Maya an die Wandzeichnungen im Hexenhaus zurück. Ein Dämon mit schwarzen Haaren und roten Augen, gebannt vor ca. 400 Jahren. Langsam drängte sich ihm der grauenvolle Verdacht immer nachdrücklicher auf, so sehr er es auch mit seinem rationalen Verstand wegzuleugnen versuchte. Shinda kannte auch nichts, was es vor 400 Jahren noch nicht gegeben hatte. „Das ist ein Sofa, Shinda.“, beantwortete er betont ruhig die Frage. „Wozu dient es?“ „Man setzt sich darauf.“ Shinda wuselte begeistert zu dem Möbelstück hinüber und nahm theatralisch Platz, sprang aber sofort wieder hoch. „Es weicht vor mir zurück!“ „Nein, es ist nur gut gepolstert. Das ist Absicht, damit man es darauf bequemer hat.“ Skeptisch lies sich der Schwarzhaarige wieder auf das Sofa sinken und wippte dann darauf herum wie auf einem Trampulin. Dann grinste er breit und entblößte dabei ein paar außergewöhnlich spitze Eckzähne. „Hier, lass dich ein bischen bespaßen, ich hab noch zu tun.“, meinte Maya seufzend, schaltete den Fernseher an und drückte Shinda die Fernbedienung in die Hand. „Wenn´s langweilig wird, dann drück einfach eine der Zahlen oder Pfeile.“ , fügte er in Gedanken an. Au man, was sollte er mit diesem Kerl bloß anfangen? Er wagte gar nicht darüber nachzudenken, daß er morgen früh wieder zur Uni musste und der dann den ganzen Tag alleine hier in seiner Wohnung rumspukte. Oder noch schlimmer – draußen! Ob er ihn einfach zur Uni mitnehmen konnte? Maya rieb sich müde die Augen und warf einen kurzen Blick zum Fenster, als er die Tür klappern hörte. Es war stockdunkel draußen, wahrscheinlich schon nach Mitternacht. Er spürte, wie Shinda hinter ihn trat und ihm interessiert über die Schulter schaute. „Das ist ein Laptop.“, erklärte Maya matt, obwohl die übliche Was-ist-das?-Frage diesmal ausblieb. „Das sehe ich. Was googlest du denn da?“ Verwundert drehte er sich auf dem Stuhl um und sah seinen neuen Mitbewohner an. „Du kennst Google?“ „Ja, hab im Fernsehen was darüber gesehen. Internet scheint ja eine nützliche Sache zu sein.“, gab Shinda zurück. Seine Haare stachelten pitschnass und schwarzglänzend in alle Richtungen. Er war wohl inzwischen duschen gegangen. „Du lernst schnell!“, fand der junge Student anerkennend und wandte sich wieder dem Computer zu. „Internet ist super. Aber leider nützt es mir gerade nicht viel. Ich hatte gehofft, etwas über dich herauszufinden. Wer du bist und warum ich dich im Hexenhaus gefunden habe und sowas.“ „Und du meinst, sowas steht im Internet?“ „Nun, offensichtlich nicht. Ich werde wohl morgen an der Uni Professor Undo fragen müssen, unseren Dozenten für Lokalgeschichte.“ „Warum willst du einen Geschichte-Professor nach mir fragen? Ich bin doch kein Relikt.“, erwiderte Shinda etwas missmutig. Mayas Gesicht wurde weicher, als er versuchte, sich das Lachen zu verkneifen. „Doch, ich fürchte schon. ... Darf ich mal?“ Er stand auf und griff nach Shindas Gesicht, um ihm die wilden Haare aus den Augen zu streichen und die geschwungene Tätowierung um das rechte Auge genauer zu mustern. Dabei fiel sein Blick auf die Ohren, die er dabei ebenfalls mit freilegte. Sie waren spitz. Kein Mensch hatte solche spitzen Ohren. Was auch immer Shinda war, ein Mensch ganz bestimmt nicht. Nun ja, Maya hatte sich inzwischen damit abgefunden, einen Dämon in seinen vier Wänden zu haben. Und da der bisher auch keinen Ärger gemacht hatte, konnte er vorerst damit leben. Lange würde der ja hoffentlich nicht hier bleiben. „Hör auf, mich anzugrabschen.“, nörgelte Shinda und zog unwillig seinen Kopf weg. „Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch. Du behandelst mich wie einen Außerirdischen. Nur weil ich nicht mehr weis, wie ich in die blöde Ruine gekommen bin, bin ich nicht weniger wert als du.“ „Das sagt doch auch keiner. Komm, geh ins Bett, Shinda. Wir müssen morgen früh raus.“ „Du glaubst doch nicht etwa, daß ich recht zeitig aufstehe!“ Maya schaute ihn kurz verdutzt an. Er hatte nicht erwartet, daß der Kollege eine so große Klappe hatte. „Doch, wirst du. Ich lass dich nicht alleine in meiner Wohnung.“, stellte er also betont klar. „Und ich lass mich nicht zur Uni schleppen. Was soll ich auch da?“ „Schaden wird es dir nicht, du hast viel nachzuholen, was Geschichte angeht.“ „Quatsch. Sag mir lieber, wo die Polizeiwache ist, damit ich meine Identität feststellen lassen kann und damit mir irgendjemand sagt, was passiert ist.“ „Das können wir gern nach der Uni machen, ist das ein Deal?“ Shinda zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Was ist denn bitte ein Deal?“ Seufzend schaute Maya am nächsten Morgen auf seinen Sitznachbarn im Lesesaal. Nicht nur er, wohlbemerkt. So mancher Blick ruhte missbilligend auf Shinda. Der lag nämlich gemütlich auf der Tischplatte und schlief den Schlaf der Seligen, während der Dozent vorn etwas über Hexenverfolgung im Mittelalter erzählte. Nun, wenigstens war Shinda jetzt wieder ruhig, dachte Maya und lies ihn schlafen. Er hatte einen riesigen Aufriss gemacht, als Maya ihn heute früh halb gewaltsam aus dem Bett geholt hatte, hatte sich ausführlich über das Frühstück beschwert, hatte fast eine halbe Stunde mit ihm diskutiert ob er seine schmuddeligen schwarzen Lederklamotten weiterhin tragen durfte und hatte auch die ganze Fahrt und die ersten beiden Vorlesungen über nur gemeckert. Aber das war wohl purer Trotz, weil Maya immer noch darauf beharrte, daß der Geschichte-Professor ein besserer Ansprechpartner als die Polizei wäre. Leider war Professor Undo heute nicht an der Uni, der kam erst morgen wieder, wie Maya inzwischen wusste. Irgendwie musste er Shinda nachher klarmachen, daß er sich also in die Bibliothek setzen und selber recherchieren würde. Er wurde von hinten angestuppst. „Ey man, wer is´n der Vogel?“, raunte ihm einer seiner Kommilitonen leise zu, um die Vorlesung nicht über Gebühr zu stören. „Ein Freund.“, gab Maya nach kurzem Hadern knapp zurück. Er entschied sich doch dagegen, Shindas Bekanntschaft zu verleugnen, auch wenn er den Drang danach gerade sehr eindeutig verspürte. „Ist er Gasthörer an der Uni? Der studiert doch nicht hier, oder? Den hab ich ja noch nie gesehen.“ „Er ist nur zu Besuch.“ „Hab ich vorhin richtig gesehen? Hat er rote Augen?“ „Das sind Kontaktlinsen.“, log Maya unbehaglich. „Und die Tätowierung am Auge?“ „Wie du schon sagst, eine Tätowierung eben.“ „Der ist ja krass drauf man. Was treibt er so?“ Maya drehte sich auf dem Sitz um und wollte eine patzige Antwort geben, obwohl das sonst gar nicht in seiner Natur lag. Aber langsam fühlte er sich mit den Fragen dermaßen in die Ecke getrieben, daß er das Gespräch irgendwie abbrechen musste. Aufstehen und gehen konnte er ja nicht, genauso wenig wie er denen sagen konnte, daß Shinda allem Anschein nach ein Dämon war, der bis gestern noch in einer Ruine im Wald eingemauert gewesen war. Aber als er sah, wer da eigentlich gerade hinter ihm saß und mit ihm sprach, blieb ihm die patzige Antwort im Hals stecken. Duncan. Einer dieser dämlichen Säcke, die von ihren Papis in die Uni eingekauft worden waren, obwohl sie den numerus clausus bei weitem nicht erfüllten. Duncan verpatzte jede Prüfung mit meisterlicher Bravur, wohl weil er seine Zeit lieber im Uni-Boxclub als in den Vorlesungen verbrachte. Warum musste der Typ ausgerechnet heute mal im Unterricht sitzen? Der war doch sonst nie anwesend. „Er ... treibt gar nichts so richtig ... Er ... ähm ... ist ein Gothic und ... lebt so in den Tag hinein.“, stammelte Maya also schnell eine Antwort zusammen. „Ah ja? Wie kommt denn ein Streber wie du an so einen Typen?“, hakte Duncan gehässig nach. „Ich dachte du gibst dich nur mit den anderen Schnöseln ab, die auch so ein schickes Stipendium haben wie du.“ Maya schnaubte nur beleidigt und drehte sich wieder um, um weiter dem Unterricht zu folgen. Na und, dann war er eben ein Streber mit Stipendium. Wenigstens musste er sich an dieser Uni seinen Abschluss nicht kaufen. „Du hast doch nichts mit ihm am Laufen, oder?“, legte Duncan unbarmherzig und lauter als nötig nach und brachte damit andere in seiner Umgebung zum Lachen. „Ich wusste gar nicht, daß du auf Kerle stehst!“ Maya stieg die Verlegenheitsröte ins Gesicht, da er aber stur weiter nach vorn starrte und nicht mehr reagierte, sah es zum Glück keiner. „Hör dir das an, Shinda. Im Jahre 1607 gab es hier in der Gegend eine ganze Reihe von Massenmorden, es herrschte zeitweilig ein bürgerkriegartiger Zustand. Die Morde hörten schlagartig auf, nachdem das Hexenhaus und der halbe Wald niedergebrannt sind. Man geht davon aus, daß der Mörder in dem Feuer mit umgekommen ist. Zu seiner Identität wurden nie Aussagen getroffen.“ Der Schwarzhaarige zuckte gelangweilt mit den Schultern. „Na und?“, gab er nur zurück. „Kommt dir das irgendwie bekannt vor?“ „Nö.“ Maya starrte ihn durchdringend an. „Moment mal. Du denkst doch wohl nicht ernsthaft, daß ich das ... Das war 1607, man!“ „Wie alt werdet ihr Dämonen denn?“ „Ich BIN kein Dämon!“ „Hast du mal in den Spiegel geschaut, Shinda?“, konterte Maya. Da es schon spät war und sie die letzten in der Bibliothek waren, sprach er ganz ungeniert aus, was er dachte. Es hörte ja keiner. „Deine spitzen Eckzähne, deine Ohren, deine roten Augen! Ein Mensch bist du jedenfalls nicht.“ Shinda verschränkte nur mürrisch die Arme. Darauf konnte er natürlich nichts kontern. „Na schön, lassen wir dich aus dem Spiel. Sagen wir mal . Wie alt werden die?“, lenkte Maya schließlich ein und erhob sich auf der Suche nach ein paar okkultistischeren Büchern. „Ein paar hundert Jahre.“, gab Shinda trotzig zurück. „Sind Dämonen denn sterblich?“ „Natürlich. Es werden ja auch immer neue geboren. Wenn dafür keine anderen sterben würden, wäre die Welt bald überbevölkert mit denen. ... Was willst du jetzt mit dem ?“, hakte er nach, als der Student mit einem dicken, alten Buch zurückkam. „Willst du jetzt nachlesen, wie du mich wieder loswirst?“ „Nein, Shinda.“, gab Maya ruhig zurück und versuchte dabei so glaubwürdig und beruhigend wie möglich zu klingen. „Ich will dich nicht loswerden. Ich mag dich. Ich versuche lediglich herauszufinden, wer du bist und warum du im Hexenhaus eingemauert warst.“ „Mit einem Buch über die eindeutige Erkennung und zuverlässige Vernichtung von Hexen!?“ „Willst du nicht wissen, wer du bist?“, gab Maya ruhig zurück, die beißend zynische Tonlage seines Gegenübers ignorierend. „Nicht aus solchen schwachsinnigen, abergläubigen Schinken, nein.“ Maya seufzte. „Hast wohl recht. Der Hexenhammer ist da nicht die richtige Literatur. Hier steht aber leider auch nichts anderes über die lokale Geschichte. Also müssen wir wohl doch morgen Professor Undo fragen.“ „Tu was du nicht lassen kannst.“, murrte Shinda und erhob sich, um sein Buch über mittelalterliche Folterpraktiken zurückzubringen, mit dem er sich die Zeit vertrieben hatte. „Gehen wir jetzt endlich heim, oder was?“ „Ja, lass uns heimgehen.“, stimmte Maya zu. „Sei mal ehrlich, magst du mich?“, wollte Shinda gedankenversunken wissen, als sie durch die leeren, nur noch mit Notbeleuchtung erhellten Gänge der Universität spazierten. Maya hoffte, daß der Sicherheitsdienst das Gebäude noch nicht abgeschlossen hatte, es war schon verdammt spät. „Wieso fragst du? ... Ich weis schon, weil ich Recherchen über Dämonen anstelle, was? Mach dir keine Sorgen, Shinda. Ich will dich nicht wieder verbannen. Ich vertraue dir.“ „Weist du, wenn ich wirklich ein Dämon bin ... Nein, anders. Daran, daß ich einer bin, besteht ja wohl inzwischen kein Zweifel mehr. Aber wenn ich ein Dämon bin, dann heißt das auch, daß ich nirgends hin kann. Ich hab kein zu Hause, an das ich mich aufgrund meines Gedächtnisverlustes einfach nur nicht mehr erinnere. Ich habe keine menschliche Abstammung, also kriege ich auch keine Papiere. Das heißt, ich werde hier nie ein normales oder auch nur legales Leben führen können. Allerdings habe ich auch keine Ahnung, wo es noch andere wie mich geben könnte, zu denen ich zurückkehren könnte. Hast du eine Idee, wo man Dämonen suchen müsste, wenn man welche finden will?“, dachte er laut nach. „Darum müssen wir uns momentan keine Sorgen machen, Shinda. Du wohnst ja bei mir, und da kannst du doch auch erstmal bleiben. Du störst mich nicht. Im Gegenteil. Also, ja, so gesehen mag ich dich wirklich. Bleib ruhig bei mir.“ „Dann sind wir demnach Freunde?“, hakte Shinda nach. Maya zuckte hilflos mit den Schultern. „Ich schätze schon.“, gab er unbeholfen zurück und drückte die große Eingangstür auf, die sie inzwischen erreicht hatten. Zum Glück war noch nicht abgeschlossen. Er trat in den Hof hinaus und atmete tief durch, oder holte viel mehr Luft, um an das Freundschaftsversprechen noch die eine oder andere Bedingung anzuknüpfen, aber er kam nicht mehr dazu, denn schon griff aus der Dunkelheit eine Hand nach ihm und zerrte ihn am Jackensaum aus der Tür heraus. „Maya, hat ja lange gedauert!“, vernahm er die höhnische Stimme und erkannte auch endlich das dazugehörige Gesicht, nachdem er seine Gedanken wieder geordnet hatte. „Wir dachten schon, wir hätten dich verpasst oder du wärst durch den Hintereingang abgehauen!“ „Duncan ...“, seufzte Maya und hob ergeben die Hände, während der andere ihn noch immer am Kragen gepackt hielt. „Was willst du heute?“ Langsam war er es fast gewöhnt, in gewissen Abständen von Duncan und seinem Boxclub aufgelauert zu bekommen. Manchmal wollten sie Geld, manchmal Hausaufgaben, manchmal einen anderen Gefallen ohne Gegenleistung, ab und zu wollten sie auch einfach nur irgendwen sinnlos verprügeln. Maya war ihr beliebtestes Opfer, wenn auch nicht ihr einziges. Aber er wehrte sich am wenigsten. Wie auch, so ein Hämpfling wie er war? Meistens wählten sie den, der zuletzt aus der Uni herauskam, weil es weniger Zuschauer gab wenn schon alle weg waren. Anfängerfehler, dachte Maya, sauer auf sich selbst. „Reden! Heute wollen wir nur Infos. Und vielleicht ein bischen Spaß.“, grinste Duncan zurück und seine Bande hinter ihm johlte auf. Neben sich hörte er Shinda ein empörtes „Aua!“ von sich geben, als sie ihn überfielen und radikal zu Boden rangen. Aber er kam nicht dazu, sich groß darum zu kümmern, denn Duncan schüttelte ihn bereits wieder am Kragen. „Spuck´s schon aus! Wer ist dein kurioser Kumpel hier? Nur irgendein Gothic, der so in den Tag hineinlebt, was?“, verlangte der Kerl zynisch. Shinda gab ein Knurren von sich, das einem Löwen nicht unähnlich klang, und katapultierte die vier Schläger, die ihn am Boden hatten halten wollen, mit einer brachialen Windung von sich herunter. Dann fuhr er, der Schwerkraft trotzend, hoch wie ein Vampir und stürzte sich brüllend auf Duncan. Maya sah noch seine rotglühenden Augen in der Dunkelheit des Kampus. Fangzähne blitzten in der spärlichen Notbeleuchtung, entsetzliche Schreie, hässlich reißende Geräusche, wieder Schreie. Er wurde losgelassen und sank ohnmächtig in sich zusammen. Kapitel 3: Geschichte Nachhilfe ------------------------------- Vielen lieben Dank schonmal an die Freischalter, die gerade so fleißig sind. Ziemliches Aufgebot gerade ... ^^ _____________________________________________ Als Maya wieder zu sich kam, lag er in einem Bett, gut eingepackt in eine Decke, und es wurde draußen schon langsam wieder hell. Schreckartig weiteten sich seine Augen und er war auf der Stelle hellwach. „Shinda!“ „Was´n los ...“, nörgelte es müde hinter ihm. Maya schauderte. Er wusste noch sehr genau, was gestern Abend passiert war. Shinda hatte die Schläger vom Boxerclub niedergemetzelt, einfach so. Und jetzt lag er hier seelenruhig in dem Feldklappbett, das er provisorisch als Gästebett in sein Schlafzimmer gestellt hatte, und schlief als sei nichts gewesen. Nein, schlimmer, bemerkte Maya in diesem Moment. Er selbst lag in dem Provisorium und Shinda hatte es sich in dem großen Eichenholzbett bequem gemacht. „Du hast sie umgebracht!“, platzte es aus Maya heraus und er fuhr hoch, nur um eine Sekunde später mit dröhnendem Schädel wieder ins Kopfkissen zurückzusinken. Shinda knüllte die dicke weiche Decke zur Seite, die er sich bis über die Ohren gezogen hatte, um Maya müde anzublinzeln. „Und?“, machte er nur. „Hast du sie noch alle?“ „Sie haben dich angegriffen.“ „Es hätte völlig gereicht, sie K.O. zu hauen!“ Shindas Blick wurde geringschätzig. „Ich dachte, wir wären Freunde.“ „Was ... hat das denn damit zu tun?“, gab Maya perplex zurück. „Das ist immer noch kein hinreichender Grund, jemanden umzubringen!“ Shinda wandte sich seufzend im Bett um. Drehte ihm den Rücken zu. „Ein einfaches hätte es auch getan.“, meinte er enttäuscht. „Danke??? Shinda, bist du von allen guten Geistern verlassen? Du hast gemordet!“ „Sind wir jetzt Freunde oder nicht?“, maulte der Schwarzhaarige nur genervt. „Ich ... uhm.“ Maya musste ernsthaft überlegen. Ob er Shinda wirklich so akzeptieren musste. So akzeptieren konnte. Oder wollte. Ob Dämonen nicht anders konnten als so zu sein. Und ob er dann wirklich der Freund eines Dämons sein wollte, wenn Dämonen so waren. „Ja, sind wir. Danke für deine Hilfe, Shinda. ... Aber jetzt verrat mir trotzdem mal, wie wir das der Polizei oder irgendjemandem erklären wollen.“, verlangte er, schon wesentlich ruhiger. „Die Idioten leben doch noch. Ich hab niemanden umgebracht.“, gab Shinda nur zurück, noch immer mit dem Rücken zu ihm gewandt und die Decke über die Ohren gezogen. Maya brauchte einen Moment, um diese Aussage zu verarbeiten. Dann brach ein Lachen aus ihm heraus. Erst zaghaft, dann immer nachdrücklicher. Er lachte sich die ganze Erleichterung von der Seele. Und lachte und lachte. „Sieh lieber zu, daß du fertig wirst. Du hättest schon vor einer halben Stunde aufstehen müssen. Du kommst zu spät zur Uni.“, merkte Shinda kühl und humorlos an. Mit einem mühsam versteckten Schmunzeln musterte Maya Duncan und die 5 Schläger, die neben ihm saßen. Duncan hatte einen eingegipsten Arm in der Armschlinge, einer hatte ein fettes, blaues Auge, einer ein entsetzlich zerkratztes Gesicht, und auch die anderen sahen irgendwie ziemlich rampuniert aus. Aber Shinda hatte Wort gehalten, sie alle lebten noch. Und waren überaus sauer, daß Maya heute wieder in Begleitung des kampferfahrenen Schwarzhaarigen herumstrolchte und sie sich somit nicht revanchieren konnten. Es wagte auch keiner zu fragen, wer oder was Shinda nun war, obwohl sein Auftritt gestern ziemlich eindeutig gewesen war. Zumindest das wunderte Maya ein wenig. Er hatte mit einer Anzeige oder sonstwas gerechnet, aber die Prügelknaben schienen sich still zu verhalten. Klar, wer würde ihnen auch glauben, daß ein Dämon ihnen die Visagen poliert hatte? Das hier war ein zivilisiertes Land in einem aufgeklärten Zeitalter. An Dämonen und dergleichen glaubte keiner mehr. Auch Maya hatte bis vor zwei Tagen nur ein müdes Lächeln für diese Sagen und Märchen übrig gehabt. „Komm, wir müssen uns beeilen, sonst verpassen wir Professor Undo.“, raunte Maya, als der Dozent vorn langsam die Verabschiedung und das Ende der Vorlesung einleitete und tippte Shinda neben sich mit dem Finger an. „Ja, wird auch Zeit. Die Vorlesung hier ist ja saulangweilig. Wie kannst du sowas nur studieren?“, gab der Dämon zurück. „Naja, Wirtschaftsgeschichte ist jetzt auch nicht so mein Fall. Aber es ist ein Pflichtfach, was will man machen.“ „Muss ich unbedingt mit zu diesem Hochstapler?“, hakte Shinda nach, als sie draußen auf dem Gang angekommen waren. „Wie kannst du sowas sagen, Shinda? Du kennst Professor Undo doch gar nicht!“ „Ich halte nicht viel auf Gelehrte. ... Außerdem, wenn ich wirklich das bin wofür du mich hältst, willst du mich diesem Mann dann wirklich zeigen? Wohlmöglich hat er ein bischen Ahnung von der Materie und erkennt mich am Ende noch. Wer weis, worin das endet.“ „Auch wieder wahr ...“, seufzte Maya nachdenklich. „Wo willst du denn solange hin?“ „Ich geh in die Bibliothek, wenn´s recht ist. Lass dich nicht wieder wegfangen, während ich nicht da bin.“, meinte Shinda noch mit einem fast fröhlichen Grinsen und spazierte übergangslos davon. Maya sah ihm noch kurz skeptisch nach. Dieser plötzliche Ausbruch von guter Laune war verdächtig. Aber dann wandte er sich doch kopfschüttelnd um und ging weiter zu Professor Undos Zimmer. „Ja, das alte Hexenhaus im Wald kenne ich.“, meinte Professor Undo nachdenklich und nahm Platz, nachdem er zunächst seinem Studenten einen Stuhl angeboten und ihm einen Tee vorgesetzt hatte. „Warum interessiert dich das Haus?“ „Ach, eigentlich reine Neugierde.“, tat Maya leichthin ab. „Ich bin vorgestern da spazieren gegangen und hab es mir näher angesehen und habe dabei ein paar ziemlich mystische Zeichnungen an der Wand entdeckt. Da hat es mich einfach interessiert, was es damit auf sich hat. In der Bibliothek findet man leider keine Bücher über unsere lokale Geschichte, jedenfalls nicht über diese Zeit, ich habe schon nachgesehen.“ Das war ja sogar die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze. „Ja, das hat so seinen Grund, warum es keine Bücher dazu gibt.“, merkte Professor Undo besorgt an. Es schien ihm wirklich nicht zu gefallen, daß sich ein Student näher für das alte Hexenhaus interessierte. „Nun, ich dachte, ich könnte meine Semesterarbeit darüber schreiben.“ Professor Undo seufzte. „Nein, das wirst du definitiv nicht. Ich kann dir gern ein bischen was darüber erzählen, wenn es dich interessiert, aber Nachforschungen im Umfang einer Semesterarbeit gehen wirklich zu weit.“ „Wieso, was hat sich denn dort zugetragen?“, wollte Maya verdutzt wissen. Es war ja nun nicht so, daß die Legenden um das alte Hexenhaus ein Tabu-Thema gewesen wären. Selbst mit seiner bloßen Allgemeinbildung wusste er, daß dort ein Magierzirkel sesshaft gewesen war und es im Zusammenhang damit einen furchtbaren Brand gegeben hatte. Und das wusste jeder, der schon länger hier in Dachau lebte. Das gehörte einfach zur allgemein bekannten Stadtgeschichte. „Also da muss ich etwas weiter ausholen.“, begann Professor Undo und stand wieder auf, um eine Mappe aus seinem privaten Regal zu holen. Es war eine Sammlung von Holz- oder Kupferstichen, die er vor Maya ausbreitete. Sie hatten in Art und Inhalt große Ähnlichkeit mit den Zeichnungen an der Mauer im Hexenhaus. „Zwischen 1500 und 1600 gab es in Dachau mehrere gewaltige Mord- und Vandalismusserien, alle auf die gleiche brutale Weise ausgeführt. Sie gipfelten darin, daß das alte Hexenhaus und große Teile des Waldes völlig niederbrannten. In der Stadtchronik und den offiziellen Berichten aus dieser Zeit war von einem Mörder oder einer Mörderbande die Rede, die bei dem Brand ums Leben gekommen sind. Man hat danach jedenfalls nie wieder von ihnen gehört. Die Morde an sich wurden nie aufgeklärt, und die damalige Justiz schien auch kein großes Interesse daran zu haben. In den wenigen erhaltenen privaten Tagebüchern und Briefen sprach man allerdings von einem Dämon, der das alles angerichtet haben soll.“ Maya schluckte. „Glauben Sie an Dämonen, Professor Undo?“, wollte er heißer wissen und griff zittrig nach seiner Tasse Tee. „Zumindest glaube ich, daß diese Morde nicht alle von ein und demselben Menschen begangen wurden. Glaubst DU denn an Dämonen, Junge?“ „Irgendwie ... schon ein bischen, ja.“, druckste er herum und nippte an seinem Tee. „Dann solltest du erst recht keine Nachforschungen mehr dazu anstellen.“, gab der Dozent ernsthaft zurück. „Es gab schon zwei Schüler, die sich zu sehr für die Geschichte des alten Hexenhauses interessiert haben. Sie sind beide tot. Das Thema ist nicht unbedingt segensreich.“ „Was ist denn mit ihnen passiert?“ „Nun, einer hat sich auf dem Dachboden seiner Eltern erhängt, nachdem er Kontakt zu einem gewissen Hexenzirkel aufgenommen hat. Von dem anderen Mädchen, 5 Jahre später, weis ich es nicht. Sie ist spurlos verschwunden und nie wieder gesehen worden.“ Maya schaute verängstigt. „Es gibt in Dachau wieder einen Hexenzirkel? Ich dachte, die hätten sich alle selbst geopfert.“ Professor Undo sah Maya abwägend an. Als sei er unschlüssig, ob er nicht gerade zuviel erzählte. Er wollte nicht, daß noch mehr Studenten diesem Fluch auf den Leim gingen. Er hatte nicht grundlos die wenigen vorhandenen Berichte darüber aus dem Bestand genommen. Und ganz sicher waren damals all die Tagebücher und Briefe nicht grundlos von der Obrigkeit eingezogen und vernichtet worden, so daß es heute so gut wie keine privaten Aufzeichnungen mehr aus dieser Zeit gab. Es war um 1600 eine regelrechte Bücherverbrennung abgehalten worden, um alle inoffiziellen Spuren über den Fall aus dem Weg zu räumen. Schließlich seufzte Professor Undo resignierend. „Den Geschichtsquellen zufolge soll der Hexenzirkel eine junge Novizin gehabt haben, die noch zu unerfahren war, um aktiv an der Bannung des Dämons mitzuwirken. Sie hat die Geschichte weitergegeben, die wir heute als kennen und auf sie geht auch der heute noch existierende Hexenzirkel zurück. Aber ich muss wie gesagt etwas weiter ausholen. An der Nordsee gab es um 1500 einen Bauern, einen gewissen Gottlieb Wilhelms. Es hieß, er ging jeden Abend am Strand spazieren, um seinen Bruder zu suchen, der zur See gefahren und nicht wiedergekehrt war. Seinen Bruder fand er nicht, dafür aber ein auf Riff gelaufenes Schiff bei Ebbe. Als er hineilte, waren alle an Bord tot. Und er konnte sich das nicht erklären. Sie waren nicht ertrunken oder ermordet, sie waren einfach so gestorben, ohne ersichtlichen Grund. Alle bis auf eine asiatische Frau, die er etwas abseits des Schiffes im Watt fand. Sie war schwanger, also nahm er sie mit zu sich nach Hause. Das aufgelaufene Schiff war am nächsten Morgen fort, vermutlich von der Flut weggespült. Er hatte keine Anhaltspunkte, woher es kam oder wohin es wollte, und die asiatische Frau sprach nicht genug Deutsch, um es ihm zu sagen, darum behielt er sie einfach bei sich. Bald darauf gebar sie einen Sohn, den sie Shinjudai nannte.“ Maya musste hart an sich halten, nicht korrigierend zu erwidern oder bekräftigend zu nicken. Das wäre sein Todesurteil gewesen. Er rutschte hibbelig auf dem Stuhl herum. Da hatte er nun quasi den endgültigen Beweis. Ob Shinda die Kurzform für Shinjudai war, eine Alternativform, eine über die Jahrhunderte entstandene Überlieferungsverfälschung oder was auch immer, die Ähnlichkeit wäre einfach zu viel des Zufalls gewesen. Shinda war besagter Dämon, egal wie man es jetzt noch drehte oder wendete. „Ist das Japanisch? War die Frau demnach Japanerin?“, hakte er nach. „Ja. Shinjudai heißt je nach Verwendung der Kanji oder oder etwas in der Art.“ „Dann hat er eine menschliche Mutter? Ist er nur ein halber Dämon?“ „Ich denke nicht. Er ist schon ein vollwertiger Dämon und ist wohl parasitär in ihrem Mutterleib herangewachsen. Es gibt Dämonen, die ihr Kind nicht selbst gebären können. Dann pflanzen sie es einem Menschen ein und lassen es von ihm zur Welt bringen. So wie ein Kuckuck, der seine Nachkommen auch in einem fremden Nest ausbrüten und großziehen lässt. - Jedenfalls gebar diese Frau einen Jungen mit blutroten Augen und spitzen Ohren. Und als er nach ein paar Monaten die ersten Zähne bekam, da waren es außergewöhnlich raubtierhafte Fänge. Der Junge wurde nie krank, war für ein Kind überdurchschnittlich begabt, von auffallend rationalem, kühlem Charakter, wuchs aber ansonsten ganz normal auf, einmal abgesehen davon, daß er wegen seines Erscheinungsbildes von allen gemieden wurde. Man sagte, er habe ausgezeichnete Manieren gehabt und habe sich niemals ungebührlich verhalten, obwohl aus seinen Augen die blanke Bosheit stach. Den Menschen war das jedenfalls nicht geheuer und sie mieden Gottlieb Wilhelms, seine Frau und das teuflische Kind. Und als der Junge 6 Jahre alt wurde, jagte man sie schließlich fort.“ „Und sie kamen nach Dachau.“, vermutete Maya. „Korrekt. Natürlich wurde der Junge auch hier nicht sonderlich wohlwollend aufgenommen. Die Familie war ständigen Anfeindungen ausgesetzt und bezichtigt, mit dem Teufel im Bunde zu stehen. Als Shinjudai etwa 20 Jahre alt war, erschlug man Gottlieb Wilhelms und seine Frau schließlich auf Geheiß der Inquisition. Shinjudai selbst entging dem Massaker, aber sein bis dahin so zivilisiertes Verhalten kippte schlagartig in pure Mordgier um. Getrieben vom Rachedurst und dem Willen, den Tod seiner zu sühnen, begann er blind alles zu vernichten, was seinen Weg kreuzte. Er erschlug Menschen aller Alters- und Gesellschaftsklassen, egal ob Einwohner oder Fremde, er meuchelte ganze Viehherden, setzte Felder und Anwesen in Brand, kurzum, seine dämonische Seite war erwacht. Nun trug es sich zu, daß Shinjudai noch eine jüngere Schwester hatte, ein menschliches Mädchen, die eheliche Tochter von Gottlieb Wilhelms und seiner asiatischen Frau. Sie war bewandert in der Magie und dergleichen, weil sie ihren Bruder liebte und verstehen wollte wer oder was er war. Sie war die einzige, die ihm dann und wann Einhalt gebieten konnte, aber sie liebte ihn zu sehr um ihn töten oder verbannen zu können. Auch ihre Tochter, ebenfalls eine begabte Erbhexe, vermochte es nicht. Und so tauchte der Dämon in gewissen Abständen immer wieder auf und richtete gewaltige Blutbäder und Zerstörungen in Dachau und den umliegenden Ortschaften an, um dann, von den Nachkommen seiner Schwester vertrieben, wieder für eine Weile zu verschwinden. Als sich nach gut 100 Jahren das erste Mal wieder ein Inquisitionskommando nach Dachau wagte, fanden sie den Hexenzirkel vor, der sich inzwischen um die Wilhelms-Nachkommen gebildet hatte, und schrieben all die jahrzehntelangen Morde und Verwüstungen ihm zu. Der Erzbischof, der dem Inquisitionskommando vorstand, klagte sie an, den Dämon immer wieder herbeigerufen und ihm all die Untaten befohlen zu haben, und er richtete sie alle miteinander zum Scheiterhaufen. Da die Vollstrecker Gottes aber des gerade wieder in Dachau wütenden Dämons nicht Herr werden konnten, baten die Mitglieder des Zirkels darum, mit ihrem Tod wenigstens noch etwas Sinnvolles tun und den Dämon bannen zu dürfen, was ihre rituelle Selbstopferung voraussetzte. Da sie so oder so des Todes waren, stimmte der Erzbischof unwillig zu, um im Falle ihres Erfolges die Lorbeeren für sich selbst einstreichen oder aber gehässig ihr Versagen kommentieren zu können. Noch in der gleichen Nacht rief der Nachfahre Gottlieb Wilhelms heimlich Shinjudai zu sich, um mit ihm zu reden und ihm alles zu erklären. Aber nach fast 100 Jahren war sein Bewusstsein schon dermaßen vom Blutrausch und Rachedurst und der ziellosen Zerstörungswut vernebelt, daß er für keine Übereinkunft mehr zugänglich war und den Mann in seiner Wut tötete. Sein gewaltiger Zorn beschwor ein grässliches Unwetter herauf, und ein Sturm peitschte verheerend über den ganzen Landstrich. Die Einwohner Dachaus bekamen Angst und fühlten sich betrogen. Sie dachten, daß die Magier die ganze Stadt verfluchen würden, bevor sie in den Tod gingen, und so zogen sie mit Fackeln hin und brannten das Haus des Wilhelms-Nachkommen nieder, und den halben Wald noch dazu.“ „Mein Gott.“, keuchte Maya. „Nein, Gott hat hier seine Finger nicht im Spiel, Junge. Nur ein wütender Dämon und ein noch viel wütenderer Mob von dummen, abergläubigen Menschen.“ Maya nickte nur erschlagen und starrte seinen Professor mit großen Augen an. „Was ... was ist mit dem Dämon passiert?“, stammelte er verstört. Professor Undo lehnte sich zurück. „Warum interessiert dich jetzt plötzlich dieser vermaledeite Dämon so?“ „Na weil ... weil ...“ Weil der seit zwei Tagen bei mir wohnt, wollte Maya sagen, biss sich aber auf die Zunge. Professor Undo würde ihn entweder in die geschlossene Anstalt einweisen lassen oder gleich eigenhändig um die Ecke bringen, so wie der auf das Thema zu sprechen war. „Weil er doch in dem alten Hexenhaus an die Wand gemalt war.“ „Ja, ich kenne die Bilder im Hexenhaus. Die hat wohl die überlebende Novizin hinterlassen, nachdem das Haus niedergebrannt ist. Um die Geschichte für die Nachwelt zu überliefern. Sie sind zumindest einige hundert Jahre alt. Nun, als Shinjudai seinen Verwandten erschlagen hatte, kam er endlich wieder zu klarem Verstand und vergaß seinen Rachedurst. Als er sah, was er angerichtet hatte, erfüllte sein tränenreiches Wehklagen die Nacht. Und getrieben von Reue ging er zu den noch vorhandenen Mitgliedern des Hexenzirkels und ließ sich freiwillig von ihnen bannen. Es heißt, sie schlugen ihn in Ketten, zeichneten ein Bannmal auf sein rechtes Auge, welches seiner Macht und seiner Erinnerung Einhalt gebot, und versetzten ihn dann in einer rituellen Selbstopferung in den ewigen Kälteschlaf, so wie sie es dem Erzbischof versprochen hatten. Nur die jüngste von ihnen, eine Novizin, blieb am Leben und versteckte den Dämon vor der Welt, so wie der letzte Nachfahre Wilhelms es gewünscht hatte. Sie führte nach dem Weggang der Inquisition den Hexenzirkel weiter und überlieferte uns diese Geschichte.“ Maya presste die Lippen aufeinander, um nicht versehentlich die 1-Million-Euro-Frage nach dem Versteck des Dämons zu stellen. Aber Professor Undo deutete das stumme Verlangen nach Mehr zum Glück nicht ganz richtig. „Du wirst mich jetzt nicht fragen, wo man diesen Zirkel findet!“, stellte er in drohendem Tonfall klar. „Maya! Versprich mir, keine Nachforschungen über das alte Hexenhaus oder den Hexenzirkel mehr zu betreiben! Versprich mir das!“ „Glauben sie, er lebt noch? Oder kann wieder aufwachen, oder sowas?“ „Hoffen wir einfach, daß wir nie wieder von diesem Gesellen hören werden. Es ist spät Maya, du solltest langsam gehen. Ich habe gleich eine Vorlesung zu halten.“, wechselte Professor Undo galant das Thema und leerte seine eigene Teetasse in einem Zug. „Sie haben Recht, Professor. Danke für alles.“, meinte der junge Mann und erhob sich rasch. Etwas zu rasch, fast fluchtartig. „Und, Maya!!!???“ „Keine Studien mehr dazu, schon klar.“ „Guter Junge. Mach dir noch einen schönen Abend, ja?“ „Danke, Sie auch, Professor Undo.“ Er winkte dem Dozenten für Lokalgeschichte noch kurz zu und wandte sich dann um, dem Gang zu. „Ach, Professor?“ „Hm?“ Die schon halb geschlossene Bürotür schwang wieder ein wenig auf. „Woher wissen Sie das alles? Ich meine, Sie sind Dozent für unsere lokale Geschichte, aber trotzdem ...“ Professor Undo lächelte traurig. „Die Novizin war meine Vorfahrin. Unsere Familie bewahrt dieses Wissen seit Generationen.“ Maya schlief das Gesicht ein. Vorfahrin seiner Familie. Das war aus vielen Gründen sehr schlecht. Das bedeutete, Professor Undo glaubte wirklich jedes einzelne Wort, das er hier gerade erzählt hatte. Schlimmer, er WUSSTE, daß es wahr gewesen ist. Er kannte den Dämon und den Ort, an den man ihn gebannt hatte. Wahrscheinlich war seine Familie sogar sowas wie Wächter über das Dämonengrab. Wenn er jetzt aufgrund von Mayas neunmalklugen Fragen loszog und dem alten Hexenhaus einen Besuch abstattete, würde er merken, daß der Dämon nicht mehr da war. Und sicher würde er dann eins und eins zusammenzählen können. Wenn Maya wirklich Pech hatte, gingen wohlmöglich sogar die zwei toten Studenten auf sein Konto. „Echt? Ist ja krass.“, würgte er mühsam hervor, um seinen Schock zu überspielen und versuchte nicht sofort in Panik zu verfallen. „Wenn du das sagst!?“, lachte der Dozent. „Also dann, bis später, Maya.“ „Ja, bis später.“ Maya drehte sich dem Gang zu und zwang sich, langsam zu laufen. Wenigstens bis die Tür hinter ihm zugefallen war. Kapitel 4: Die Weißen --------------------- Natürlich fand er Shinda nicht in der Bibliothek. Das hätte ihn auch gewundert. Dennoch ging er hinein und lieh sich noch schnell alle Bücher über Hexerei aus, derer er habhaft werden konnte, bevor er weiterzog. Es waren nicht allzu viele, aber diese waren dafür ziemlich fiese Wälzer. Unter seinem schweren Rucksack ächzend schleppte sich Maya die Gänge der Uni entlang und überlegte, wo er Shinda wohl am ehesten finden würde. An sich war er ganz froh darüber, den Dämon erst suchen zu müssen. Umso mehr Zeit hatte er, sich wieder zu beruhigen und sich im Klaren darüber zu werden, was er von nun an mit dem Kerl anstellen wollte. Professor Undo hatte ihn letztlich nicht als abgrundtief böse hingestellt, sondern doch irgendwie als klar denkendes Wesen, das wieder zur Einsicht gekommen war. Und so richtig blutrünstig kam Shinda ihm eigentlich auch nicht vor, wenn er nicht gerade von Duncan Prügel angeboten bekam. „Na, was hat der Professor erzählt?“, wollte in diesem Moment jemand wie aus dem Nichts wissen und tackelte ihn kameradschaftlich zur Seite. Maya strauchelte unter dem rüden Rempler und dem Gewicht seiner Bücher und taumelte haltlos gegen die Wand des Korridors. „Shinda!“, protestierte er tadelnd. „Sorry. Komm, gib den Rucksack her, du Weichei, ich trag ihn für dich.“ „Wo kommst du her?“, wollte Maya wissen und hievte dankbar die schwere Tasche von seinem Rücken, um sie dem Schwarzhaarigen zu geben, der sie sich lässig über eine Schulter warf. „Aus dem Chemie-Labor.“ „Hast du dort irgendwas angefasst?“, wollte er alarmiert wissen. „Nein, ich wurde ja von dem Lehrer gleich wieder rausgeschmissen. ... Also, was ist nun mit deinem Lokalprofessor?“ Maya seufzte. „Wir haben ein Problem.“ „Ach nein, echt?“ „Sagen wir es war klug von dir, nicht mitzukommen.“ Er musterte den Schwarzhaarigen neben sich nachdenklich, während sie weitergingen. War es wirklich erst 2 Tage her, daß er ihn im alten Hexenhaus gefunden hatte? Es war so viel passiert seither, zumindest kam es Maya so vor. Seine große Klappe brachte ihn manchmal um den Verstand, aber er hatte auch schon so viel Spaß mit ihm gehabt. Er fragte sich einen Moment lang ernsthaft, ob er Shinda mochte oder hasste oder ob es tatsächlich möglich war, beides gleichzeitig für ihn zu empfinden. Er hatte den Dämon nicht absichtlich geweckt, und hatte anfangs auch nichts über ihn gewusst. Aber langsam fügten sich alle Puzzleteile zu einem Ganzen zusammen und es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen, denn so wie sich gerade alles entwickelte, würde er schon bald einen klaren Standpunkt brauchen. Er überlegte, wieviel er dem Dämon erzählen sollte. Und wie er am besten anfangen sollte. „Shinda, egal was passiert, ich werde immer zu dir halten.“, fand er ruhig. Und das meinte er ernst. „Solche Versprechen solltest du mir lieber nicht machen. Wer weis, ob du sie dann noch einhalten willst.“, erwiderte Shinda kühl, blieb stehen und sah säuerlich den langen Korridor hinunter. Maya schaute ihn kurz verdutzt an, angesichts dieser unerwartet herzlosen Antwort, und folgte dann seinem Blick. Weiter unten im Gang standen zwei Frauen in langen, weißen Kleidern, ganz offensichtlich mit dem Ziel, ihnen den Weg zu versperren. Erschrocken sah Maya zurück. Auch von dort wurde ihnen der Weg von einer Frau im weißen Kleid und einem älteren Mann im weißen Gehrock abgeschnitten. „Shinda, wer sind die?“, hauchte er leise, als hätte er Angst, zu laute Geräusche könnten einen Angriff der Weißen provozieren. „Sag du es mir. Das hier ist deine Welt und dein Zeitalter.“ „Los, ins Treppenhaus!“, entschied Maya und zog seinen Freund am Ärmel durch eine Seitentür. Hinter ihnen wurde wütender Protest laut. Dann rannten sie um ihr Leben. Völlig außer Puste spähte Maya aus dem Rückfenster der Straßenbahn und ließ sich dann ermattet auf einen Sitz fallen. Die weißen Gestalten wurden draußen in der Ferne immer kleiner. „Wir haben sie abgehängt.“, seufzte er erleichtert und sah sich nun in der Bahn um. Sie waren die einzigen im ganzen Wagon. Die Weißen hatten sie von der Uni aus durch die halbe Innenstadt gehetzt, bis sie schließlich in diese Straßenbahn und damit in Sicherheit gesprungen waren. Maya war sich jetzt im Nachhinein gar nicht mehr so sicher, ob die wirklich Menschen gewesen waren. Ihre Bewegungen waren abnormal schnell und fahrig gewesen und sie waren immer wieder willkürlich hinter irgendwelchen Ecken aufgetaucht, ohne daß Maya gewusst hätte, wann und wie sie ihn überholt hatten. Gespenstige Typen! „Die waren hinter mir her, oder?“, wollte Shinda ernst wissen und ließ sich ebenfalls langsam auf einen Sitz sinken. Er war nichtmal ansatzweise außer Atem. „Willst du reden, oder gibt es da Dinge, die ich besser gar nicht wissen sollte?“ Maya fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Ich kenne diese Burschen auch nicht. Wenn die nicht so freaky drauf wären, hätte ich ja vermutet, die sind von dem Hexenzirkel, der dich damals in den Kälteschlaf geschickt hat. Aber dann hätten die uns wirklich verdammt schnell gefunden. ... Ich hätte dich nicht mit zur Uni nehmen sollen, wo dich jeder sieht.“ „Diesen Hexenzirkel gibt es noch?“, hakte Shinda ungläubig nach. „Nach allem was Professor Undo erzählt hat, ja.“ Der Schwarzhaarige schaute ihn nur abwartend an. Sein Blick verlangte stumm nach mehr Informationen, also begann Maya langsam zu erzählen, wenn auch nur in Kurzfassung. Von Gottlieb Wilhelms, der erschlagen worden war. Von Shinjudai auf seinem hundertjährigen Rachefeldzug. Vom Hexenzirkel, der Generation um Generation weitergeführt wurde. Von der japanischen Novizin, die überlebte. „Das ist alles 400 Jahre her.“, schloss er letztlich kopfschüttelnd. „Mir kommt nichts davon bekannt vor.“ „Vermutlich nicht, nein. Deswegen trägst du ja die Tätowierung am Auge. Sie haben dein Gedächtnis zensiert und deine Kräfte eingeschränkt. Professor Undo gehört sicher auch zu diesem Hexenzirkel, wenn ich mir das so recht überlege. Wenn er ein Urenkel dieser Novizin ist ...“ „Na bravo. Hast du ihm gesagt, daß du mit mir zu tun hast?“ „Nein, ich habe ihm gesagt, daß ich eine Semesterarbeit über das Hexenhaus schreiben will. Aber er wird es sich sicher denken können.“ Shinda seufzte. „Wir können also davon ausgehen, daß der Hexenzirkel weis, daß ich wieder wach bin. Dann steht mir jetzt ein Krieg bevor.“ „Uns, Shinda! Uns! Ich sagte, ich stehe zu dir.“ Shinda warf ihm einen halb amüsierten, halb mitleidigen Blick zu und schüttelte dann langsam den Kopf. „Das solltest du lassen, Maya. Mich zu wecken, war sicher ein Versehen, ein Missgeschick. Aber wenn du mich jetzt auch noch verteidigst, nach allem was du mir über meine Vergangenheit erzählst, werden sie dich umbringen. Dem bist du nicht gewachsen.“ „Das ist mir egal. Du bist mein Freund, man. Ich lasse dich nicht gehen. Schon gar nicht so.“ Shinda rollte kurz mit den Augen und er überlegte sichtlich, ob er oder sagen sollte. Er entschied sich für keines von beiden, sondern seufzte nur ergeben. „Nagut. Und wie sieht dein toller Plan aus?“ „Ich weis es nicht. Vielleicht sollte ich nochmal mit Professor Undo reden.“ „Ich dachte, der ist auch ein Hexer.“ „Ja, aber er schien vernünftig zu sein. Er hat die Geschichte ziemlich objektiv erzählt. Sicher kann man sich mit ihm gewaltlos einigen.“ „Indem ich mich freiwillig ausliefere, zum Beispiel.“, schlug Shinda zynisch vor. „Hör auf, sowas zu sagen!“ „Mal ehrlich, selbst wenn ich von diesem Hexenklan widersinnigerweise tatsächlich in Ruhe gelassen werden sollte, wo soll ich denn hin? Das hier ist eine Welt, in der Magie so gut wie ausgestorben ist. Ein Zeitalter der Technik. Die Menschen glauben ja gar nicht mehr an Dämonen und Zauberei, viele nicht mal mehr an Gott. Also wo soll ich hin? Einhörner, Harpyen, Zentauren, Trolle, all die großen magiebegabten Zivilisationen der Geschichte sind von der Erde verschwunden und leben nur noch in euren Legenden. Ich bin ein Dämon, für mich gibt es keinen Platz mehr hier. Denkst du denn, ich könnte hier sehr lange existieren?“ „Ja, denke ich! Du brauchst bloß einen Grund dazu!“, fuhr Maya ihn lauter als nötig an. „Na dann gib mir einen!“, verlangte Shinda ungehalten. Dem Student stiegen Tränen in die Augen. Ein Grund zu leben, was sollte er darauf sagen? Er schluckte schwer. „Den musst du selber finden, Shinda.“, gab er ruhig zurück. Dämpfend. Zum Nachdenken zwingend. Er konnte ja schlecht sagen, so sehr er es sich auch wünschte. Es wäre maßlos arrogant gewesen, so etwas von einem anderen zu verlangen. Shinda schaute ihn in einem wahren Wechselbad von Emotionen an. Erstaunen, Ärger, Verzweiflung, Trotz, in seinem Gesicht war alles eins. Endlose Sekunden herrschte drückendes Schweigen zwischen ihnen. Nur unterbrochen von der Haltestellendurchsage der Straßenbahn. Maya schüttelte den Kopf. „Warum nur sagst du sowas?“, brachte er schließlich hervor, obwohl er es eigentlich wusste. Wenn er erzählt bekommen hätte, daß er ein blutrünstiger Massenmörder war, der sich über etliche Jahrzehnte hinweg brutal und wahllos durch die Welt geschlachtet hatte, hätte er auch so abweisend, verzweifelt und lebensüberdrüssig reagiert. Wahrscheinlich hätte er sich direkt am nächsten Baum aufgeknüpft, um so mehr, da er wusste, daß nun solche weißen, konfliktbereiten Scherzbolde und demnächst wahrscheinlich auch ein stinksaurer Hexenklan hinter ihm her waren. „Komm schon, wir müssen hier aussteigen.“, gab der Schwarzhaarige bloß zurück und erhob sich von seinem Sitzplatz. Ein markerschütternder Schrei lies Maya in dieser Nacht im Bett hochfahren. Sein Blick irrte kurz orientierungslos durch die Dunkelheit und blieb letztlich am Wecker kleben. 2:17 Uhr nachts. Ein weiteres Kreischen, dann schaurige Horrorfilmmusik. Maya sank in sich zusammen. Zur Hölle, er musste Shinda unbedingt mal die verdammte Fernbedienung wegnehmen. Müde quälte er sich aus dem Bett und schlurkste ins Wohnzimmer. „Shinda.“ „Hm? Oh, hey, kannst du nicht schlafen?“ „Nein, bei diesem Krach nicht. Mach den Fernseher leiser, ja?“ „Komm, setz dich mit her und schau den Film mit mir. Der ist echt gut.“, meinte er und winkte einladend mit einer Colaflasche. Auf dem Bildschirm wurde gerade eine Frau in Großaufnahme ausgeweidet, das Blut tropfte beinahe aus der Bildröhre heraus. Maya schloss angeekelt die Augen. „Kein Bedarf. Ich muss morgen wieder zur Vorlesung und will jetzt schlafen. Also mach leiser.“ „Ach was, wenn du bei sowas nicht schlafen kannst, bist du noch nicht müde genug.“, hielt Shinda voller Überzeugung dagegen und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Maya drehte sich der Magen um, als in diesem Moment die Werbepause einsetzte und sich eine nackte Nutte stöhnend unter einer 0190-Nummer räkelte. Er machte sich akut Sorgen um seine nächste Telefonrechnung. Ob Shinda schon eine dieser Nummern ausprobiert hatte, wenn er sich hier jede Nacht diese Horror- und Metzelfilme reinzog? Er war sich sicher, daß Shinda schon gelernt hatte, mit einem Telefon umzugehen. Und seine unersättliche Neugier auf alles trieb ihn zu so ziemlich jeder vorstellbaren und unvorstellbaren Handlung. Maya angelte schnell nach der Fernbedienung und drückte fest auf den großen, roten Powerknopf. „Hey!“, protestierte Shinda empört, als der Bildschirm mit einem letzten Aufblitzen schwarz wurde. „Leiser oder gar nicht, such´s dir aus!“ „Man, den Sender find ich doch nie wieder!“, gab Shinda halbhysterisch zurück. Der Geschichte-Student schloss kurz die Augen und holte tief Luft, um nicht etwas sehr unhöfliches zu entgegnen. Shindas elende große Klappe, gekoppelt mit seiner bisweilen selbstverständlichen Uneinsichtigkeit machten ihn noch fertig. Kommentarlos drehte er sich um und ging, die Fernbedienung noch in der Hand, wieder ins Bett, wo er sie unter sein Kopfkissen stopfte. Keine 30 Sekunden später dröhnte eine lästige Klaviermusik durch die ganze Wohnung, dann begann jemand durch die Sender zu schalten. Das war eindeutig wieder der Fernseher. Aber die Fernbedienung hatte er doch noch hier. Verständnislos strampelte Maya erneut die Bettdecke weg und stand sauer auf, um nachzusehen. Da kniete Shinda vor der Bildröhre auf dem Boden, hatte die Frontabdeckung heruntergelöst und fingerte an den Hilfsknöpfen herum. „Was zur Hölle ... Shinda, leiser!“ „Ja wie denn, ohne Fernbedienung?“, nörgelte der genervt zurück und schaltete ungestört weiter durch das Programm. „Hier sind nur Pfeile zum Weiterschalten, für die Helligkeit und für die Farbtöne.“ „Mach mich doch nicht alle.“, stöhnte der Student, holte die Fernbedienung aus dem Schlafzimmer und sorgte selbst für eine angemessene Lautstärke. Er fragte sich, woher Shinda von diesen dämlichen Hilfsknöpfen wusste. „Geht doch! Jetzt rück schon die Fernbedienung wieder raus!“ „Wenn du mich jetzt nicht schlafen lässt, gibt´s hier richtig Ärger!“, stellte Maya klar und drückte ihm das Technikteil in die Hand. Shinda sah ihn noch einen Moment lang übertrieben beleidigt an, dann machte sich langsam ein gutgelauntes Grinsen auf seinem Gesicht breit. „Schon gut. Waffenruhe. ... Dich kann man aber auch immer so schön ärgern. Selber Schuld.“ Maya funkelte ihn noch sauer an, verzichtete aber darauf, ihn mit einem kreativen Schimpfwort zu betiteln. Damit hätte er Shinda nur noch mehr Spaß bereitet, was am Ende bloß wieder dazu geführt hätte, daß sie beide gemeinsam lachten. Und dann wäre jeglicher erzieherischer Resteffekt endgültig im Eimer gewesen. Am nächsten Morgen ging Maya allein zur Uni. Da Shinda erst irgendwann kurz vor dem Weckerklingeln ins Bett gegangen war, hatte er ihn schlafen lassen. Inzwischen traute er dem Schwarzhaarigen zu, mal ein paar Stunden auf sich selbst aufzupassen und nicht aus Unwissenheit mit dem Herd die ganze Wohnung anzuzünden, oder etwas in der Art. Außerdem hatte er heute nur Vorlesung bis 13 Uhr und würde ja zeitig wieder zurück sein. Eigentlich war es sinnlos, heute überhaupt zur Uni zu gehen, das merkte Maya schon, als er seine Wohnung verließ. Er fühlte sich furchtbar zerstreut und abgelenkt. Die Frauen in den langen, weißen Kleidern, von denen er gestern gejagt worden war, gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte die ganze Nacht Alpträume von ihnen gehabt und grübelte auch jetzt im Wachzustand unaufhörlich über sie und ihre Absichten nach. Sicher würde er sich heute nichtmal ansatzweise auf irgendeine Vorlesung konzentrieren können. Aber aus irgendeinem Grund hatte er keine Bedenken, ihnen nochmal zu begegnen. Er war sich sicher, selbst wenn sie ihn fänden, daß sie ihn gar nicht beachten würden, solange er nicht in Begleitung seines dämonischen Kameraden war. Noch so ein Punkt, warum er Shinda zu Hause gelassen hatte. Auf dem Kampus war Shinda einfach zu auffällig und daher ständig in Gefahr, von irgendwem erkannt und verfolgt zu werden. „Wo ist denn dein Kumpel heute?“ „Wie?“ Maya schreckte aus seinen Gedanken hoch und musste erstmal kurz realisieren, wo er überhaupt war. Ach ja, in der Mensa. Vor ihm stand ein Mädchen mit schwarzen Haaren, sonnengelbem T-Shirt und einem Tablett in der Hand und musterte ihn besorgt. Er fröstelte schon bei dem bloßen Anblick. T-Shirt. Im Herbst. Er selbst saß im Rollkragenpulli hier. „Rubiko.“, seufzte er. „Du siehst schlecht aus. Ist alles okay mit dir?“ „Hm. Hatte eine unruhige Nacht.“ „Ist hier noch frei?“, wollte sie wissen und deutete mit den Augen auf einen Stuhl, da sie beide Hände zum Halten ihres Tablettes brauchte. Trotz seines wenig begeisterten Blickes stellte sie ihr Essen ungefragt ab und setzte sich. „Also wo ist er?“ „Wer?“ „Na dein Freund.“, hakte Rubiko ungeduldig nach. „Nicht hier.“, gab Maya knapp zurück. Sie zog eine halb nachdenkliche, halb beleidigte Schnute und sah ihn mit ihren dick kajal-umrandeten Katzenaugen fest an. „Er ist ein Dämon, dein Kumpel.“, stellte sie voller Überzeugung in den Raum. Maya zuckte leicht zusammen und hörte auf, zu kauen. Das Mädchen durchbohrte ihn fast mit ihren Blicken, jede seiner Reaktionen genau beobachtend und analysierend. Sie strahlte eine lästige Entschlossenheit aus. Einen Moment herrschte abschätzendes Schweigen zwischen ihnen. „Unsinn.“, gab Maya nach kurzer Erwägung ruhig zurück und spickte ein Stück Kartoffel auf seine Gabel, um weiter zu essen. Er glaubte nicht, daß Rubiko das ernst meinte. Sie studierte Politik und Sprachen, zwei Jahrgänge unter ihm, war die Freundin seines Hausnachbarn und soweit er wusste, hatte sie keinerlei Kenntnisse oder Interessen auf dem Gebiet der Magie oder Dämonologie. Also woher sollte sie irgendeine Ahnung davon haben? „Du bist gestern von den Weißen verfolgt worden!“ Verdutzt sah Maya doch wieder auf. „Kennst du die?“ „Sie waren Treiber. Das sind projezierte Abbilder von realen Menschen. Geisterbilder, wenn du so willst.“ „Warte mal. Das versteh ich nicht.“ „Sie sind Fata Morganas!“, erklärte sie in einem ungeduldigen kapierst-du´s-nicht?-Tonfall. „Spiegelungen von Menschen, die sich eigentlich gerade ganz wo anders aufhalten. Erzeugen kann man sie mit Magie, aber sie haben an sich keine Macht. Die können dir nichts tun, können dich nichtmal berühren, sie haben keinen stofflichen Körper. Sie werden nur eingesetzt um jemanden zu erschrecken oder Botschaften zu übermitteln.“ „Na, eine Botschaft hatten die wohl nicht, sonst hätten sie mich angerufen oder mir einen Brief geschrieben, statt mir diese Dinger auf den Hals zu hetzen. Woher zur Hölle weist du sowas überhaupt?“ Rubiko wurde schlagartig kleinlaut und eine gewisse Verlegenheitsröte trat auf ihre Wangen. Nun hatte sie sich in ihrer hitzigen Art selbst verraten. „Dein Freund ist ein Dämon! Du solltest dich von ihm fernhalten!“, betonte sie nur nochmal und stand auf, als hätte sie schon fertig gegessen. Hastig eilte sie davon und lies ihr volles Tablett einfach stehen. Seufzend schüttelte Maya den Kopf und schob auch sein Essen von sich. Der Appetit war ihm vergangen. Egal ob Rubiko nun wirklich wusste oder nur vermutete, daß Shinda ein Dämon war, es war in beiden Fällen ein schlechtes Zeichen. Und was noch schlimmer war, sie schien sich tatsächlich mit Magie auszukennen. Ob sie ihm vielleicht mehr erzählte, wenn er sie nett fragte? Zum Beispiel, wer diese Dinger geschickt hatte und ob die wiederkommen würden? Immerhin hatte sie ihn warnen wollen, also war sie zumindest nicht perse sein Feind. Andererseits, wenn sie doch nicht soviel wusste wie sie vorgab, sondern sich nur wichtig tat, würde er damit schlafende Hunde wecken. Verdammt, der Kreis zog sich immer enger. Professor Undo hatte wohlmöglich schon Wind davon bekommen, daß der Dämon wieder wach war. Irgendwer hetzte ihm magische Trugbilder auf den Hals. Duncan und seine Schläger waren sicher auch nicht blöd genug um zu übersehen von wem sie da zusammengeschlagen worden waren. Und nun fing seine Quasi-Nachbarin auch schon damit an, Shinda als Dämon hinzustellen. Maya beschloss, die letze Vorlesung sausen zu lassen und stattdessen noch eine Runde durch den Wald zu spazieren. Er musste wieder einen klaren Kopf kriegen und sich was einfallen lassen. Zufrieden klappte Maya an diesem Abend seinen dicken Wälzer aus der Uni-Bibliothek zu und überflog nochmal seinen Stichpunktzettel. Weidenholz hatte er. Bergkristall und Lapislazuli hatte er auch. Eine Kerze, okay, würde sich sicher irgendwo in seiner Wohnung finden. Eine Pfeife hatte er nicht. Aber eine Holzflöte. Er hoffte, das würde auch reichen. „Du willst jetzt nicht ernsthaft hexen, oder?“, warf Shinda von der Seite ein und wusste nicht recht, ob er lachen oder den Kopf schütteln sollte. „Warum nicht? Wenn es ganze Zirkel von Magiern gibt, kann ich das doch auch. Ist ja nicht so, als ob man dafür eine Erlaubnis oder besondere Fähigkeiten bräuchte.“ „Nein, aber ein bischen Ahnung würde nicht schaden. Was willst du denn machen?“ „Ich will Feuer kontrollieren.“ „In deinen eigenen vier Wänden? Sehr mutig! Hast du auch mal bedacht, daß es schiefgehen könnte? Du könntest das ganze Haus abfackeln.“ „Ach was, ich hab extra alles brennbare weit weggeräumt.“ Shinda seufzte. „Zeig mir das Buch!“, verlangte er ernst. Ihm war dieses wilde Rumgepfusche nicht geheuer, er wollte schon wissen was hier gleich losgehen würde. Er blätterte eine Weile wahllos darin herum und klappte es dann amüsiert wieder zu. „Das Ding ist totaler Nonsense. Hätte mich auch gewundert, wenn sie an einer Universität Bücher über Zauberei hätten, die auch funktionieren.“, urteilte er schließlich unbesorgt, erhob sich vom Tisch und ging zum Fenster, um hinauszusehen. „Dann zeig mir doch mal irgendwas, was funktioniert!“, bat Maya. „Ach, ich weis nicht. Ich erinnere mich kaum noch an etwas. Und selbst von dem, was ich noch weis, klappt vieles nicht mehr. Und glaub mir, ich hab´s wirklich versucht. Diese komische Tätowierung an meinem Auge scheint meine Macht tatsächlich ziemlich einzuschränken.“, meinte er wehmütig. „Ich habe gehört, man kann sich Tatoos weglasern lassen.“ „Nein, das wirst du schön bleiben lassen, Shinda. Du trägst das Ding nicht grundlos. Ich möchte nicht, daß du wieder zu diesem blutrünstigen, rachegetriebenen Teufel aus den Legenden wirst.“ Shinda lächelte dankend. Er hatte sich inzwischen mit seiner Situation arrangiert. Obwohl er sich immer noch nicht selbst an seine Handlungen vor dem Kälteschlaf erinnern konnte, glaubte er Mayas ausführlichen Erzählungen diesbezüglich vorbehaltlos. Mehr noch, er akzeptierte inzwischen was er war und was er getan hatte. Er hatte sich damit abgefunden, von verschiedenen Seiten gejagt zu werden, wusste aber noch nicht so recht wie er darauf reagieren wollte. Shinda war dankbar, daß Maya ihm ungeachtet all dieser Tatsachen immer noch freundschaftlich zur Seite stand. Er deutete wieder auf das Hexereilehrbuch. „Warum willst du jetzt plötzlich zaubern?“, wollte er mit sachlichem Interesse wissen. So eine Art von Interesse, die schon, unabhängig von der Antwort, im Vorab Hilfe anbot. „Damit ich nicht wieder so unvorbereitet und hilflos dastehe, wenn wir den Weißen nochmal begegnen. Oder dem Magierzirkel. Ich will mich wehren können.“ „Abgesehen davon, daß du nicht in 3 Tagen ein so mächtiger Magier werden wirst, daß du da irgendwas ausrichten könntest; hast du nicht das Vertrauen, daß ich dich beschützen würde?“, erwiderte der Schwarzhaarige ruhig. Gar nicht vorwurfsvoll. „Doch. Aber das kann ich ja nicht einfach als selbstverständlich voraussetzen, oder?“ Kapitel 5: Hardrock ------------------- Die Tage vergingen und verliefen sehr ruhig. Die Vorlesungszeiten waren vorüber und da er auch schon genug Praxiszeiten vorzuweisen hatte, hatte Maya quasi Urlaub. Weder Professor Undo noch Rubiko noch Duncan und seine Schläger hatten jemals wieder ein Wort über Shinda verloren. Auch die Weißen hatte er nicht mehr zu Gesicht bekommen, obwohl er durchaus mit Shinda gemeinsam um die Häuser zog. Sein unabänderlicher Willen, Magie zu erlernen, beruhte inzwischen viel mehr auf reiner Neugier als auf dem Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Nach fast zwei Wochen ohne Zwischenfälle begann Maya beinahe zu vergessen, was Shinda war und wem das alles ein Dorn im Auge sein könnte. Er hatte einfach nur eine glückliche Zeit mit einem guten, wenn auch skurrilen Freund. Abgesehen natürlich von den regelmäßigen Situationen, in denen Shinda ihm wiedermal so richtig den Rest gab. Aber selbst das wusste Maya inzwischen zu nehmen. Er hatte es aufgegeben, Shinda erziehen zu wollen. Maya murmelte eine lateinische Formel, von der er zwar nur die Hälfte verstand, aber die seiner groben Übersetzung nach zumindest Sinn ergab, rührte dabei mit einem 15,8 cm langen, dreieinviertel Jahre alten Bambusstab in seiner Schüssel viermal schnell nach links und siebenmal langsam nach rechts, klopfte dann mit dem trockenen Ende des Stabes zweimal auf die Nordkante der Schüssel und jeweils einmal seitlich gegen die anderen Seiten, schüttete dann eine genau abgemessene Menge heißer Milch dazu und stellte letztlich eine große, brennende Kerze in die Brühe. Natürlich trieb der Wachsklotz auf dem Wassergemisch nach oben, kippte um und erlosch zischend. Er hörte Shinda vom Sofa aus lachen. Mist, es hatte schon wieder nicht funktioniert. „Jaja, lach du nur. Ich werde das schon noch hinbekommen, verlass dich drauf!“, maulte er trotzig und fischte die Kerze aus der Wasserschüssel. Er musste die Kerze irgendwie beschweren oder fixieren. Shinda kicherte weiter. „Ganz sicher nicht. Was soll das bitte auch für eine Wirkung haben?“, wollte er belustigt wissen. „Statt dich hier lustig zu machen könntest du mir ja mal sagen, was ich falsch mache.“ „Ach, daran gibt es eigentlich nichts falsch zu machen. Weil es ganz einfach nichts richtig zu machen gibt. Das ganze Ritual ist Schwachsinn, glaub mir doch endlich. Denkst du denn, wenn das wirklich klappen würde, daß es dann in einem frei käuflichen Buch vom Weltbildverlag stünde? Hexen haben einen Ehrencodex, Maya. Die geben ihr Wissen an niemanden weiter.“ Der Student sah ihn nur trotzig an. Zugegeben, gerade als Geschichte-Student hätte er wissen müssen, daß man bei weitem nicht alles glauben konnte, was auf Papier niedergeschrieben stand. Aber der Unwillen siegte in diesem Moment. „Na schön, ich verrate dir was über Magie.“, beschloss Shinda und setzte sich zu ihm. „Also zuerst mal, Magie ist viel mehr eine Frage der inneren Einstellung als der äußeren Rituale. Es reicht nicht, mit einem Weidenzweig über einer brennenden Kerze herumzufuchteln. Du musst glauben! Du musst fühlen und vor allem wollen, daß dein Zauber funktioniert. Wenn du das verstanden hast, ist es halbwegs egal, wie du dein Ritual gestaltest. Dann kannst du statt des Weidenzweigs auch ein Essstäbchen aus Plastik nehmen und es wird trotzdem klappen.“ „Ah ja?“, gab Maya skeptisch zurück. „Das würde ja voraussetzen, daß die Magie aus mir selbst heraus entsteht, und nicht aus den Zauberutensilien.“ „Natürlich entsteht sie nicht aus den Zauberutensilien. Wie auch? Das hier ist nur totes Holz und lebloses Wachs, wo soll da Magie rauskommen? Die sind nur Hilfsmittel, um deinen Willen in der gewünschten Form umzusetzen.“ „Aber Menschen sind nicht magisch begabt. Also nicht aus sich selbst heraus, meine ich. Menschen können nur mit Utensilien zaubern.“ Shinda rollte seufzend mit den Augen. „Menschen SIND magisch begabt. Obwohl sowieso nicht das richtige Wort ist. Man braucht dafür keine Begabung, sondern nur Wissen. Die Menschen haben es lediglich verlernt und vergessen. ... Nein, nichtmal das! Sie hexen ja immer noch! Sie nennen es nur anders.“ „Wie zum Beispiel?“ „Zum Beispiel ... Na, zum Beispiel das Kochen von Zaubertränken! Das ist das beste Beispiel. Ein Zaubertrank gegen Schmerzen: früher haben Menschen unter viel theatralischem Getue Weidenrinde gekocht und den Sud getrunken und es dann Magie genannt, wenn die Schmerzen weggegangen sind.“ „Das hat ja wohl auch nichts mit Magie zu tun. Aus der Weidenrinde wird Acetylsalicylsäure gewonnen, die die Botenstoffe lahmlegt, welche die Synapsen in den Nervenenden reizen. Unsere Mediziner haben das eingehend erforscht, daraus marktfähige Tabletten gemacht und es dann genannt.“ „Sicherlich, aber willst du bestreiten, daß das Magie ist? Ihr nennt es nur anders. Ihr nennt das heute Chemie, Biologie, Physik, Medizin, was weis ich, Technik, aber unter´m Strich ist es einfach nur Magie.“ „Dann willst du mir also sagen, daß Magie gar nicht existiert? Das es für alles eine wissenschaftliche Erklärung gibt?“, rückversicherte sich Maya ungläubig. „Also das hängt jetzt davon ab, wie du Magie definieren willst, aber unromantisch ausgedrückt: ja. Ihr Menschen haltet euch für nicht magiebegabt, weil ihr eure Wissenschaft dafür habt. Früher war es noch Magie, wenn man Magnesiumpulver in eine Kerze geworfen und sich dann über den Knall gewundert hat. Irgendwann hat ein lustiger Mensch den Fotoblitz daraus gebaut, und schon war es keine Magie mehr, sondern Technik. Aber das Magnesiumpulver ist doch immer noch das gleiche, nicht? Ihr bildet euch bloß ein, es jetzt mit euren ach so klugen Gehirnen durchschaut und verstanden zu haben. Und warum ist das so? Weil ihr Menschen Angst vor allem habt, was ihr nicht versteht!“ „Aber die Magie kommt dennoch aus den Utensilien, und nicht aus uns Menschen.“ „Magie ist, die Mittel so einzusetzen, daß sie die gewünschte Reaktion zeigen und die beabsichtige Wirkung erzielen. Der Boswellia-Baum für sich genommen ist nicht magisch. Es muss erst jemand wissen, daß man sein Harz trocknen und in die Glut werfen muss, um sich damit berauschen und Visionen sehen zu können.“ Maya seufzte. „Rubiko meinte, diese Weißen, die uns verfolgt haben, wären Trugbilder gewesen. Ablichtungen von Menschen, die zu diesem Zeitpunkt ganz wo anders waren. Wie willst du mir das wissenschaftlich erklären? Man kann mit Magie offenbar Feuer und Wasser aus dem Nichts erschaffen! Du kannst Gewitter herbeirufen und fliegen! Wie willst du mir das erklären?“ „Ich kann nicht fliegen, Maya.“, warf Shinda ruhig ein. „Als ich Duncan von dir runterprügeln wollte, habe ich lediglich mit Chi mein Gewicht reduziert, um schneller wieder auf die Beine zu kommen und sehr weit springen zu können. Dafür wird deine hochgelobte Wissenschaft auch irgendwann noch eine plausible Erklärung finden, ganz sicher. Solange können wir es ja nennen.“ Ernüchtert schob Maya sein Hexereilehrbuch von sich und kratzte sich nachdenklich an der Nase. „Und die Weißen?“ „Geister.“, gab Shinda überzeugt zurück. „Wenn sie wirklich das waren, was du mir hier erzählst, dann waren sie einfach nur Geister, die von jemandem dafür belohnt wurden, uns zu jagen. Allerdings habe ich sie mir während unserer Flucht nicht so genau angeschaut, um das beurteilen zu können.“ Er klopfte dem Studenten tröstend auf die Schulter. Irgendwie schien er den Jungen gerade ziemlich desillusioniert zu haben. „Komm, leg endlich dein albernes Hexereibuch weg und lass uns in den Park gehen. Da spielt heute Abend eine tolle Hardrockband.“, schlug er vor. „Wie kann man sowas nur Musik nennen?“, seufzte Maya, als sie zwei Stunden später auf der Wiese im Stadtpark standen, wo man eine kleine Bühne aufgebaut hatte. „Und dafür habe ich tatsächlich Eintritt bezahlt.“ „Zu meiner Zeit gab es so machtvolle Musik nicht! Ich finde das unglaublich!“, warf Shinda mit einem seligen Grinsen im Gesicht ein und rockte zu den harten Basstönen herum. Bewegen konnte sich Shinda wirklich, das musste er ihm etwas neidisch zugestehen. Er tanzte wie ein Profi. Aber das änderte nichts an der Tatsache, daß die Musik furchtbar war. Sie war schwer, dominiert von einem trägen Bass - dagegen hatte Maya nichts - aber der Vocal schien mehr ins Mikrophon zu kotzen als zu singen, obwohl er offenbar durchaus singen konnte. Außerdem war die Soundanlage so übersteuert, daß man außer dem Bass und den Brech-/Durchfall-Krämpfen des Sängers nichts weiter hörte. „Na, zumindest fällst du hier nicht auf, Shinda. Hier rennen alle tätowiert, mit schwarzen Lederkombis und langen Haaren rum.“ „Was ist das für ein Zeug, das die sich da alle reinschütten?“ „Bier.“, meinte Maya wenig begeistert und warf einen verachtenden Blick auf einen vorbeitorkelnden, laut rülpsenden Typen. „Ja, hab ich schon im Fernsehen gesehen. Aber das soll Bier sein?“ „Naja, es ist sicher nicht mehr das, was ihr vor 400 Jahren unter verstanden habt.“ „Krieg ich eins?“ Maya schaute seinen Kumpel unsicher an. „Und du verträgst das Zeug auch ganz sicher? Das hat ein paar Prozente mehr als eure Plörre von damals. Obwohl, ich könnte auch mal wieder eins trinken. Ich hol uns welches.“, beschloss der Student. Wenn er sich schon diese grauenvolle Musik antun musste, konnte er sich zur Entschädigung auch mal ein Bier genehmigen. Er trank ja sonst nie. „Lauf nicht weg, Shinda, hörst du? Sonst find ich dich nie wieder.“ „Ich bleib hier stehen!“, versprach der Schwarzhaarige und wandte sich lächelnd wieder der Bühne zu, um weiterzurocken. Der Student verschränkte die Arme und versuchte sich ein Augenrollen zu verkneifen. Ging es in dieser endlosen Warteschlange denn gar nicht vorwärts? Die dröhnende Hardrockmusik war hier zwar etwas leiser, aber dafür machten ihn die zwei Idioten hinter ihm fertig, deren Gespräch er in voller Lautstärke mithören musste. Die Bierausschenker im Imbiss mussten eingeschlafen sein. Maya hatte das Gefühl, schon seit 10 Minuten hier zu stehen und darauf zu warten, endlich dranzukommen. Die Schnapsleichen in der näheren Umgebung trugen auch nicht zu einer besseren Laune bei. Was hatte er sich nur dabei gedacht, auf ein Hardrockkonzert zu gehen? Mayas Blick schweifte gelangweilt nach links ab und ihm schlief das Gesicht ein, als er die Frau entdeckte, die reglos dastand und ihn finster anstarrte. Mit ihrem langen, schneeweißen Kleid stach sie aus den Lederoutfits der Rocker heraus wie ein Leuchtturm. Schnell schaute sich Maya um. Shinda war nirgends zu sehen. Warum also war die Weiße hier? Was wollte sie? Und vor allem: ob Shinda auch gerade von denen belauert wurde? Ein leicht angetrunkener Konzertbesucher gesellte sich zu der weißgekleideten Frau und sprach sie an. Über den Lärm und die Entfernung verstand Maya nicht, was er sagte, aber seine Körpersprache zeigte ein eindeutig obszönes Angebot. Die Frau griff blind nach seinem Hals und er sank ohnmächtig in sich zusammen. Sie hatte wohl einen Vitalpunkt traktiert. Dann setzte sie sich langsam in Bewegung und kam mit entschlossenem Blick auf Maya zu. Maya fuhr mit einem Fluch herum und rannte. Gleich hinter dem nächsten Baum trat eine weitere Weiße hervor und versperrte ihm den Weg, so daß er seine Richtung korrigieren musste. Vor ihm tauchte das Tor des Stadtparks auf, der Ausgang. Maya stürzte kopflos hindurch und verschwand in der nächstbesten Seitengasse. Und das war dann auch schon das Ende der Reise, denn dort wurde er bereits von zwei anderen Frauen in weißen Kleidern erwartet. Gehetzt sah er sich um, fand aber keine weiteren Fluchtwege mehr. Also starrte er den seltsamen Damen entgegen, die ihn von vorn und hinten einkesselten und näher kamen. Sie sahen mit ihren langen, weinroten Haaren alle gleich aus, wie er nun feststellte, und sie hatten trübe, blinde Augen mit denen sie scheinbar nichts wahrnehmen konnten. Die waren echt gespenstig, dachte er schaudernd und keuchte. Als sie näher kamen und mit ihren dürren Fingern nach ihm griffen, bemerkte er, daß sie allesamt leicht qualmten und entsetzlich nach Weihrauch stanken. „Maya!“, tönte in diesem Moment eine bekannte Stimme und eine der Frauen wurde von den Füßen gerissen, um mit einem wilden Knäuel aus schwarzen Armen, Beinen und Haaren zu Boden zu gehen. „Shinda!“, schnappte er erleichtert, als er seinen Freund erkannte. Die anderen vier Frauen fuhren verdutzt herum, stürzten sich dann ebenfalls auf den Dämon und begannen eine wilde Schlägerei mit ihm und vergaßen Maya einfach. Maya wollte eine der Weißen an den Haaren packen und von Shinda herunterzerren, griff aber durch sie hindurch wie durch Nebel. Er bekam sie nicht zu fassen, sie waren wie Geister. Nur Shinda schien sich überaus stofflich mit ihnen herumprügeln zu können, er rammte ihnen kompromisslos die Fäuste und Krallen in den Leib wo immer er sie erwischen konnte, auch wenn sie scheinbar nicht bluten konnten. Hilflos stand Maya am Rand, unfähig irgendwie in den Kampf einzugreifen, und musste mit ansehen, wie die fünf Furien Shinda niedermachten. In Kampfkraft standen sie einem Dämon in nichts nach, musste Shinda fassungslos feststellen. Nach Mayas Erzählungen hatte er sie nur für machtlose Geister gehalten, aber diese Dinger boten ihm erschreckend leicht Paroli. Wenigstens waren sie stofflich genug, damit ein Dämon sie verprügeln konnte. Aber viel mehr als das konnte er auch nicht ausrichten. Sie unterbanden seine Teleporterfähigkeiten, solange sie ihn festhielten. Und gegen Druckwellen schienen sie völlig resistent zu sein, er konnte sie einfach nicht von sich schleudern. Mit der ersten Frau war er zu Boden gegangen, und die anderen unterbanden sehr radikal, daß er wieder auf die Füße kam. Relativ rasch, aufgrund ihrer schieren Überzahl, hatten sie ihn bewegungsunfähig fixiert. Es ging furchtbar schnell. Nach einem herben Magentreffer fand er sich auf dem Rücken liegend wieder. Sie hielten seine Arme und Beine mit übermenschlicher Kraft am Boden, kreuzigten ihn regelrecht auf den Asphalt der Straße. Ehe er reagieren konnte, saß plötzlich eine der Frauen rittlings auf ihm. Er sah eine Dolchklinge Richtung seiner Herzgegend blitzen. Dann fegte eine monströse Feuerfontaine sie von ihm herunter. So schnell wie sie ihn niedergekämpft hatten, war er auch wieder frei. Die anderen vier Weiber flohen heulend in alle Himmelsrichtungen. „Ha! Ihr seid nur Physik und Chemie! Ich hab keine Angst vor euch!“, jubelte Maya lauthals und wedelte mit einem Feuerzeug und einem Deospray aus seinem Rucksack, mit denen er die Feuerfontaine offensichtlich erzeugt hatte. Er machte Anstalten, einer der Frauen nachrennen zu wollen. „Hast du eine Macke?“, keuchte Shinda hysterisch und fuhr schnell hoch, um ihn aufzuhalten. „Die sind gefährlich! Lass uns abhauen!“ Er schnappte Maya am Ärmel und zerrte ihn fluchtartig aus der Gasse heraus. „Du sagtest doch, es gäbe für alles eine logische Erklärung!“ „Ja, man, aber deswegen muss nicht alles ungefährlich sein! Wenn jemand an einem vergifteten Sauerkraut stirbt, gibt es dafür auch logische Erklärungen!“ „Warum bist du nicht auf dem Konzert geblieben? In der Menschenmasse hätten sie keinen offenen Krieg mit uns anfangen können!“, wollte Shinda ruhig wissen, als sie kurz darauf wieder vor dem Stadtpark angekommen waren. Schmerzlich rieb er sich über den Bauch und die Brust, wo er einige herbe Treffer kassiert hatte. Er konnte vor lauter Übelkeit kaum noch atmen, konnte sich aber auch nicht wirklich übergeben. Der Magenhieb war echt hart gewesen. Maya griff sich an den Kopf und schloss die Augen. „Tut mir leid ...“, meinte leise. Er war endfertig. Das kurze Triumpfgefühl war der Erschöpfung gewichen. Dieses ganze Ereignis hatte ihn unglaublich mitgenommen, wie er jetzt merkte. Shinda legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schultern. „Danke, Maya.“ Der Student sah fragend auf. „Du hast mir das Leben gerettet. Der Dolch hatte eine Kupferklinge. Es gibt zwar nicht viel, was einen Dämon umbringt, aber eine Kupferklinge wäre mein Ende gewesen.“ Maya lächelte matt. „Ich dachte immer, daß euch Silber schadet.“ „Das ist nur eine dumme Vampirlegende. Silber bringt keinen um. Und außerdem bin ich kein Vampir. Komm, lass uns heimgehen.“ Er nickte und spazierte mit Shinda langsam los. Diese Dinger würden heute nicht nochmal wiederkommen, da war er sich sicher. „Danke, daß du mich da rausgeholt hast, Shinda. Wenn du nicht eingegriffen hättest, hätten sie mich sicher niedergemacht.“ „Vermutlich. Und das gibt mir zu denken. Ich kann mir nicht vorstellen, was die von dir wollen könnten. Die sollten eigentlich hinter mir her sein.“ Kapitel 6: Rubikos Auftritt --------------------------- Als Maya am nächsten Tag von seinem morgentlichen Waldspaziergang nach Hause kam, lag ein verführerischer Duft in der Luft. Und ein Mädchen auf dem Boden. Ihm fiel vor Schreck der Schlüssel aus der Hand, als er in seinem eigenen Flur über sie stolperte. „Shit! Rubiko!“, keuchte er fassungslos. In der Küchentür erschienen ein Kochlöffel und Shindas Kopf mit fragendem Blick. „Hi, du bist aber früh dran.“, meinte er erstaunt. „Was zum Teufel ... Hast du sie umgebracht?“ „Unterstell mir doch nicht ständig Totschlag, man. Die ist nur K.O.“, gab er genervt zurück und verschwand wieder in der Küche. „Warum?“ „Weil ich sie mit einem Bann belegt habe. Die Zicke wollte mir ans Leder.“ Vorsichtig ging Maya neben ihr in die Hocke. Sie atmete tatsächlich, stellte er beruhigt fest. In der Hand hielt sie noch ein grünes Papierstück mit einer Runenformel und einem aufgeklebten Edelstein. Sie hatte Shindas Dämonenidentität ernster genommen als Maya geglaubt hatte. Da sie nie wieder davon gesprochen hatte, hatte er das Thema schon längst wieder abgehakt. „Wie ist sie denn hier reingekommen?“ „Sie hat geklingelt und ich hab aufgemacht.“ „Wieso hast du aufgemacht?“, wollte er etwas mürrisch wissen, während er Rubiko vorsichtig auf den Rücken drehte. Er wollte nicht, daß Shinda einfach so fremde Leute in seine Wohnung ließ. „Was weis ich! Ich dachte du wärst das. Oder der Postbote. Ich kann ja nicht ahnen, daß eine ominöse Freizeithexe bei dir in der Tür steht. Wer ist die Tussi überhaupt?“ „Das ist meine Nachbarin. Aber, daß die rumhext wusste ich bis heute auch noch nicht. Nagut, komm schon, heb den Bann wieder auf, Shinda.“ „Kann ich nicht.“ „Wieso nicht?“ „Weil ich nicht weis, wie.“ Ihm rutsche das Herz ein paar Etagen tiefer. „Aber du hast doch den Bann ausgesprochen.“ „Ja, aber ich kenne den Gegenbann nicht.“ „Was denkst du dir dabei?“, wollte Maya hysterisch wissen. Shinda erschien wieder in der Tür. Er war sichtlich sauer. „Ich hab mir GAR NICHTS dabei gedacht! Ich wollte sie lediglich mundtot machen, bevor sie mir alle drei Herzarterien zerplatzen lässt. Ich hätte dazu auch das Küchenmesser nehmen können, wenn dir das lieber gewesen wäre.“ Maya massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den toten Punkt über der Nasenwurzel und bemühte sich um Ruhe. Dann warf er wieder einen Blick auf den grünen Runenzettel mit der klebenden Rückseite. Sicher hatte sie ihn Shinda auf die Stirn oder Brust kleben wollen, um den Zauber in Gang zu setzen. „So eine fiese Wirkung hat das Ding?“, hakte er etwas besänftigt nach. Wenn das so war, konnte er Shinda natürlich verstehen. „In der ersten Phase zerplatzen die luft- und wasserführenden, inneren Organe wie Augen, Lunge und Blase im Körper. Und danach die großen Hauptschlagadern. Nicht, daß das noch nötig wäre, wenn schon die Lunge futsch ist. Aber immerhin ist es human, man ist schneller tot.“ „Hilfst du mir, sie zum Sofa zu tragen?“, bat Maya müde. Langsam hatte er diese magische Welt, die er bis vor kurzem noch faszinierend gefunden hatte, einfach nur noch satt. Als sie die ohnmächtige Rubiko auf das Sofa gebettet hatten und Maya so langsam wieder zur Ruhe kam, stieg ihm wieder der leckere Duft in die Nase, der in Schwaden durch die Wohnung zog. „Sag mal, was treibst du eigentlich da drin?“, wollte er wissen und spazierte in die Küche, um nach dem Rechten zu sehen. „Ich koche Böfflamott mit Bayrischkraut in Rotweinbeize. Habe ich heute früh in einer Kochsendung im Fernsehen gesehen, das sah recht lecker aus.“ Der Student fand sich in einem gewaltigen Sammelsorium von Flaschen, Gewürzen, Bechern und Gemüsen wieder. In mehreren Schüsseln und Töpfen standen Semmelbrösel, in Zuckersud karamelisierte Zwiebeln und Schmorbratenbrühe, die nur darauf warteten, mit dem schon geschnipselten Weißkohl zusammengerührt zu werden. Maya griff nach einer offenen Flasche und roch prüfend daran, bevor er das Etikett musterte. „19 Jahre alter Rotwein. Meine Fresse.“, stellte er beeindruckt fest und lies den Blick weiter über die Kartoffeln, die frische Petersilie und den Napf gesalzenen Schweineschmalz wandern. „Wo hast du das ganze Zeug her, sag mal? Sowas hab ich doch sonst nicht im Haus.“ „Ich war einkaufen.“ „Womit denn? Hast du Geld?“ „Jede Menge.“ „Will ich wissen woher du das hast?“, seufzte Maya. Er hoffte inständig, Shinda würde jetzt sowas wie sagen, und nicht sowas wie oder . Wobei er eigentlich nicht glaubte, daß man sich mit Magie aus Knöpfen Münzen zaubern konnte. „Du musst ja nicht mitessen. Das schmeckt mir auch alleine.“, gab er nur zurück, sichtlich genervt von Mayas bohrenden Fragen, trat wieder an den Herd heran und rührte energisch in einem Topf. Der Student winkte nur ab und ging aus der Küche, um nach seiner Sparbüchse und nach Rubiko zu sehen. „Verrat mir mal, was wir mit unserem Besuch hier machen! Wacht die irgendwann von selber wieder auf?“, rief er dabei noch über die Schulter. Im Flur stolperte er über eine fremde Geldbörse. Die hatte Rubiko wohl bei ihrem Gefecht mit Shinda verloren. Interessiert schaute er hinein und suchte nach einem Personalausweis oder ähnlichem, um zu sehen, ob sie wirklich dem Mädchen gehörte. „Shit.“, raunte er nur, als er das erstbeste, was er zu fassen bekam, herauszog. „Was ist?“, hakte Shinda nach, als er in der Küchentür erschien. Maya hielt ihm den Studentenausweis des Mädchens hin, den er in der Geldbörse gefunden hatte. „Wirf mal nen Blick hierrauf.“ Er war unschlüssig, ob er lachen oder heulen oder sonstwas tun sollte, also hielt er sich emotionslos. „Na wer hätte das gedacht? Sie ist Student!“, gab Shinda zynisch zurück. „Du sollst auf den Namen schauen!“ „Rubiko Undo. Na und?“ „Sagt dir was?“ Nun schlief auch dem Schwarzhaarigen das Gesicht ein. „Warte mal. Hieß dein Professor für Lokalgeschichte nicht auch Undo? Der Typ da, dieser Nachfahre der Hexenzirkel-Novizin? ... Glaubst du, die ist seine Tochter?“ „Es sieht so aus, ja. Das hier ist Dachau, so viele japanische Familien gibt es hier nun auch wieder nicht. Ich meine, der Name stimmt. Und sie versteht was von Zauberei.“ „Okay ... dann .“, stimmt Shinda zu. „Na schön, welchen Bann hast du benutzt?“, wollte Maya wissen und blätterte unschlüssig in einem der dicken Wälzer über Hexerei aus der Uni-Bibliothek. Er saß auf dem Sofa neben dem schlafenden Mädchen, ignorierte sie aber. „Einen der Lazarus-Flüche, wieso?“ „Wir müssen einen Gegenbann finden. Wir können Rubiko ja nicht einfach hier liegen lassen. Irgendwann wird jemand sie vermissen und suchen.“ „Deine Bücher sind Schwachsinn, wie oft denn noch!? Da drin steht nichts, was auch nur ansatzweise funktioniert. Such lieber diesen Hexenzirkel und frag die nach Hilfe, damit hast du bessere Aussicht auf Erfolg.“ „Dann müsste ich dich opfern, Shinda.“, entgegnete Maya ruhig, in einem Tonfall der die schwergewichtigen Folgen so einer Handlung nachdrücklich zu bedenken gab. „Das will ich nicht. Glaubst du, die werden nicht nachfragen, wie Rubiko sich diesen Bann eingehandelt hat? Ich will denen nicht erklären müssen, wo sie dich finden.“ „Sie wird in ein paar Tagen von selber wieder aufwachen. Darum heißen die Dinger ja Lazarus-Flüche. Lazarus aus der biblischen Geschichte ist auch nach ein paar Tagen von selber wieder aufgewacht.“ „Erstens wurde er von Jesus wieder aufgeweckt und zweitens haben wir leider keine paar Tage. Professor Undo wird sie spätestens heute Abend suchen.“ Shinda stöhnte genervt. Als ob Maya mehr Ahnung von Hexerei hätte als er. Er wollte gerade vorschlagen, Rubiko doch einfach ins Krankenhaus zu bringen. Dann hätten sie sie los, sie wäre in guter Obhut und keiner würde sie suchen. Doch da gab Maya schon einen begeisterten Ton von sich. „Lazarus-Fluch! Hier steht was dazu!“ „Du glaubst doch nicht ernsthaft, daß du das Mädel wieder wach bekommst mit ... Pfefferminztee.“, seufzte Shinda und überflog die Seite in Mayas Buch. „Wenn du keine bessere Lösung hast, dann halt jetzt die Klappe. Ich muss mich konzentrieren.“, gab Maya nur betont zurück und griff nach seinem Hühnerschädel. Es war gar nicht so einfach gewesen, den Fleischer an der Ecke dazu zu überreden, Schlachtabfälle rauszurücken. Shinda rollte nur mit den Augen und verschränkte die Arme, als er auf Rubiko schaute, während Maya neben ihm einen Zettel mit einem albernen, lateinischen Kindergedicht zurechtlegte und Tee in eine kleine Feuerschale kippte. Wenn der nur wüsste, wie lächerlich er sich gerade machte. Er verzog erschrocken eine Augenbraue, als Rubiko plötzlich auf dem Sofa hustend hochfuhr. „Das ging ja schnell.“ „Sekunde mal, ich war doch noch gar nicht fertig!“, warf Maya protestierend ein. Rubiko keuchte und würgte noch einige Momente lang, bis sie ihren Hustenanfall wieder unter Kontrolle hatte und sah sich dann halb fragend, halb sauer um. Ihr Blick fiel sofort auf Shinda. „Oh! Du!“, zeterte sie mit drohendem Zeigefinger. Sie schien sich noch sehr genau zu erinnern, was zuletzt passiert war. Sie sprang wütend vom Sofa hoch, wankte kurz weil ihr Kreislauf noch halb im Leerlauf drehte und stürmte dann auf ihn zu. Shinda stöhnte nur ein genervtes „Jetzt geht das wieder von vorn los.“ und trat einen Schritt zurück, um ihren Anprall besser auffangen zu können. Er hätte sie mit einem Wort töten können, so viel Macht hatte er trotz seines Bannmahles am Auge immer noch, aber Maya zuliebe ließ er sie gewähren. Hysterisch aber lahm wie ein Mädchen begann sie mit den Fäusten gegen seine Brust zu trommeln. „Elender Dämon! Was fällt dir ein, mich mit einem Bann zu belegen!? Das kriegst du zurück, wart´s nur ab! Meine magischen Fähigkeiten werden dein Ende sein!“ Aus irgendeiner Westentasche heraus hatte sie auch schon ein neues Bannpapier mit Runentext, Edelstein und klebender Rückseite einsatzbereit zwischen Zeige- und Mittelfinger klemmen. Shinda riss erschrocken die Hände hoch, als sehe er sich unvermittelt einer Pistolenmündung gegenüber. Er fühlte sich einen Moment lang überrumpelt. Ihr ganzer Aufstand hier war nur gespielt gewesen, allein zu dem Zweck, nah genug an seinen Körper heranzukommen. Aber er überwand den Schreckmoment sofort wieder und schlug ihr sauer die Hand weg, so daß sie das Bannpapier fallen lies. Er packte Rubiko derb am Kragen, beförderte das angriffslustig um sich schlagende Mädchen radikaler als nötig zu Boden und kletterte auf sie, um sie besser unter sich festhalten zu können. Ihre Handgelenke drückte er grob auf den Teppich, damit sie endlich aufhörte, weiter um sich zu schlagen oder immer neue Bannmarken aus ihren Taschen zu zaubern. Maya stand bewegungsunfähig mit seinem Hühnerschädel im Wohnzimmer und starrte perplex auf die obskure Szene, die sich ihm bot. Er wusste im ersten Moment einfach nicht, was er sagen oder tun sollte, also verfolgte er sprachlos die Keilerei der beiden. Shinda stand auf allen Vieren über dem schreckerstarrten japanischen Mädchen. Shinda war zwar selbst nicht besonders kräftig gebaut, wirkte in seiner robusten Lederkombi aber um einiges stärker als die zierliche, dünne Rubiko, die er unter sich festhielt. Sie sah regelrecht hilflos unter ihm aus, wie ein Opfer. Und Shindas selbstbewusste Körpersprache zeigte auch, daß er in ihr tatsächlich nicht viel mehr als das sah. Ein Opfer. Er nahm sie nicht im Mindesten ernst. Nach dem hektischen Tumult und Gezetere und Handgemenge setzte eine gespenstige Stille ein. „Du gottverfluchte Ausgeburt der Hölle! Ich verachte dich!“, raunte Rubiko schließlich hasserfüllt und sah giftsprühenden Blickes zu Shinda hoch. „Da bin ich sicher, kleine Anfängerin. Du bist mir komplett ausgeliefert.“, flüsterte Shinda souverän auf sie herunter. Ein Flüstern, das trotz des Lautstärkemangels und trotz der Ruhe eine solche Macht ausstrahlte, daß es einem eine Gänsehaut bereitete. Ein grenzdiabolisches Lächeln stahl sich auf seine Lippen, vervollkommnete das gefährliche Glitzern seiner Augen zu einem siegessicheren Ausdruck. „Du hast mir ... nichts ... entgegenzusetzen.“, flüsterte er einschüchternd weiter. Und so war es. „Bastard.“, zischte sie. „Mach mal halblang! Lass Shinda in Ruhe!“, schaltete sich Maya endlich ein, warf den Hühnerschädel weg und kam näher. Rubikos Kopf ruckte herum. Sie schien noch gar nicht registriert zu haben, daß sie mit dem Dämon nicht alleine war. „Ich ihn in Ruhe lassen? Sag dem mal, daß er MICH in Ruhe lassen soll!“, zeterte sie dann sauer. „Sei froh, daß du noch lebst, man! Was willst du überhaupt hier in meiner Wohnung?“, hakte der Geschichte-Student nach und begann ihre Westentaschen zu filzen, bevor er Shinda bat, sie doch wieder loszulassen. Er fand noch drei weitere Bannmarken in ihren Klamotten. Sie war wirklich nicht unvorbereitet hergekommen. „Also ... du bist Professor Undos Tochter, oder?“, versuchte Maya ein Gespräch zu beginnen und setzte Rubiko eine Tasse Cappuccino vor. Sie hatte sich zwar wieder eingekriegt und versuchte vorerst nicht mehr, Shinda umzubringen, aber die Atmosphäre im Wohnzimmer war spürbar frostig. Die Wut, die sie für Shinda empfand, beruhte gänzlichst auf Gegenseitigkeit. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, seine Schwester.“ „Schwester? Wouw.“ „Ja, wir sind altersmäßig ziemlich weit auseinander, er ist 17 Jahre älter als ich.“, gab sie schulterzuckend zurück und schloss die Hände um die heiße Tasse. „Und warum rennst du mit Bannpapieren in meiner Wohnung rum?“ „Ich sagte dir doch schon, daß dein Freund ein Dämon ist.“ „Ja, soweit war ich auch schon, Rubiko. Ich weis, wer und was Shinda ist.“, warf Maya ruhig ein. „Aber ist das ein hinreichender Grund für deinen Auftritt hier? Ich habe Shinda selbst aufgeweckt. Versehentlich, aber trotzdem. Seither hat er keinem was getan.“ „Das sehe ich anders. Wenn jemand die Weißen auf euch hetzt, MUSS er was angestellt haben. Wegen den Weißen bin ich überhaupt erst auf den Dämon aufmerksam geworden.“ „Guter Stichpunkt. Verrate uns doch mal, wer die sind. Harmlose Geister, die im Grunde nicht die Macht haben, irgendwas anzustellen, sind sie jedenfalls nicht.“, warf Shinda ein. Rubiko seufzte. „Nagut, es hat wohl keinen Sinn, euch anzulügen. Das die Weißen keine einfachen Treiber sind, hab ich inzwischen auch gemerkt. Ich hab sie anfangs wirklich dafür gehalten, aber sie sind anders. Ich weis nicht, was. Diese Wesen sind mir unbekannt. Beschworen wurden sie von jemandem aus unserem Hexenzirkel. Soviel ich mitbekommen habe, wurde einer von uns beauftragt, diese Dinger auf euch zu hetzen, aber ich weis nicht von wem. Ich bin nur eine Novizin, ich werde nicht über alles informiert.“ Also war sie doch eine Magierin und gehörte zu diesem Zirkel, dachte Maya und wusste nicht recht ob er enttäuscht sein sollte. Er hatte wirklich gehofft, Rubiko wäre nur ein ganz normales Mädchen. Im Grunde mochte er sie nämlich. „Kannst du es rauskriegen?“ „Nein. Diese Frage wird mir keiner beantworten.“ „Und Professor Undo?“ Rubiko schüttelte den Kopf. „Der wird es mir auch nicht verraten.“ „Okay, also im Grunde weis der Hexenzirkel demnach schon längst, daß Shinda wieder wach ist. Wieso haben die uns noch nicht selber angegriffen und versucht, ihn wieder in den Kälteschlaf zurückzuschicken? ... Ich meine ...“, er deutete auf eines der Bannpapiere. „Die werden ja wohl kaum dich mit dieser Aufgabe betraut haben, oder?“ „Das weis ich auch nicht. Dafür, daß sie seit Jahrhunderten über seinen Schlaf gewacht haben, sind sie gerade noch sehr teilnahmslos. Sie wissen, daß der Dämon wieder erwacht ist. Sie wissen auch ganz genau, wo er zu finden ist. Die kennen dich besser als du denkst, Maya. Sie wissen wo du wohnst. Sie überwachen jeden Schritt, den du mit oder ohne ihn machst.“, meinte Rubiko nachdenklich und setzte ihre Cappuccino-Tasse an, um sie in einem Zug halb zu leeren. „Das ist irgendwie shizophren.“, fand Shinda. „Einerseits haben sie kein Interesse daran, mich wieder wegzusperren, aber andererseits hetzen sie im Auftrag wildfremder Leute diese Dinger auf mich.“ „Vielleicht spekulieren sie darauf, daß diese Weißen das schon erledigen werden und sie sich nicht selber zu kümmern brauchen.“, überlegte Maya. „Nein.“ Rubiko schüttelte den Kopf. „Da steckt mehr dahinter. Ich glaube, die Angriffe von diesen Dingern sind nicht ernstgemeint. Der Zirkel weis, wo ihr wohnt und weis in jeder Minute, wo ihr seid. Würden die euch wirklich was tun wollen, würden die Weißen euch anders bedrängen. Konsequenter, häufiger, in größerer Zahl, mit brachialeren Waffen, überall, zu jeder Zeit.“ „Also den Kupferdolch fand ich schon ziemlich brachial!“, protestierte Shinda. Maya grübelte. Es konnte schwerlich daran liegen, daß die Weißen im Falle eines Kampfes keine Zeugen oder unbeteiligten Opfer wollten. Er und Shinda hockten jeden Tag stundenlang in dieser Wohnung. Schon hier drin wären sie die Zielscheiben schlechthin gewesen. Allerdings passte dann etwas anderes nicht ins Bild. „Sag mal, Rubiko.“, begann er nachdenklich. „Wenn der Hexenklan uns wirklich jede Minute überwacht, warum wissen die dann nicht, daß du gerade hier bist?“ „Wieso sollten sie das nicht wissen?“ „Naja ... du hast dich alleine mit einem Dämon angelegt. Hätten die etwa zugelassen, daß du stirbst? Shinda hätte dich ja auch umbringen können, statt dich netterweise nur in einen Schlafbann zu schlagen.“ Rubiko sah etwas verständnislos in ihre Tasse. „Stimmt. Das habe ich so noch gar nicht gesehen. ... Hm ... Sicher hätten sie eingegriffen, wenn es wirklich gefährlich geworden wäre.“, redete sie sich dann selbst ein. „Seinem Bann konnte ich ja auch alleine entgegenwirken. Darum war ich schon nach ein paar Stunden wieder wach, und nicht erst nach mehreren Tagen.“ Maya schüttelte leicht den Kopf über so viel Blauäugigkeit. Magier waren ja nun auch nicht allmächtig. Die hätten mit Sicherheit nichts machen können, es wäre alles viel zu schnell gegangen. Maya hatte ja vorhin selbst gesehen, wie schnell und unkompliziert Shinda das Mädchen abgefertigt hatte. Kapitel 7: Neues über Dämonen ----------------------------- „Maya, schön, daß du kommst.“, meinte Professor Undo beinahe fröhlich, jedoch ohne von seiner Tageszeitung hochzuschauen. „Lebt Rubiko noch?“ „Äh ... was?“, machte Maya perplex, der völlig auf gut Glück zur Uni gekommen war, in der Hoffnung, der Dozent wäre da. Er konnte dem Gedankengang des Professors so schnell nicht folgen. Professor Undo sah auf. „Sie war doch gestern Vormittag bei dir zu Besuch, oder? Sind sie oder dein Freund zu Schaden gekommen? Ich bin sicher, es ging zwischen den beiden hoch her.“ „Wie meinen Sie das?“, wollte Maya verdutzt wissen. Es fiel ihm gerade verdammt schwer, abzuschätzen, wieviel Professor Undo wusste oder wieviel Wissen Professor Undo von ihm voraussetzte. Und vor allem, hatten sich die beiden seit gestern etwa noch gar nicht gesprochen? „Rubiko ist eine Erbhexe. Und dein Freund ist ein Dämon, der von ihrem Hexenklan eigentlich im Kälteschlaf gehalten werden sollte, aber jetzt dummerweise aufgewacht ist. Soweit sind wir uns doch einig, oder?“, lachte er und faltete die Zeitung zusammen, um sich nun ganz dem Gespräch zu widmen. „Ich hab sie mehrfach gebeten, Shinjudai in Ruhe zu lassen. Aber sie ist ganz besessen davon, ihn wieder zu bannen. Sie ist ein furchtbarer Kindskopf, trotz ihres Alters. Deswegen ist sie auch immer noch nicht zur vollwertigen Hexe ernannt worden, sondern immer noch Novizin. Sie hat die Prinzipien und die Aufgabe unseres Zirkels immer noch nicht verstanden.“ Maya lies sich ungefragt auf einem Stuhl nieder. „Erzählen Sie mir davon!“, bat er gerade heraus. Eigentlich hatte er sich erstmal bedanken wollen, daß der Professor ihn überhaupt außerhalb der Vorlesungszeiten noch unangemeldet empfing. Aber wenn der so direkt ins Gespräch einsteigen wollte, gern. „Nun, ich nehme an, Rubiko hat dir das wichtigste schon erzählt. Und was sie dir nicht erzählen konnte oder wollte, darf auch ich dir vermutlich nicht sagen. Aber was willst du denn wissen?“ Maya strich sich überfordert die hellbraunen Haare aus den Augen und überlegte, wo er überhaupt anfangen sollte. „Sind Sie auch in diesem Hexenzirkel?“ „Ich leite ihn, ja.“ „Was sind das für weiße Dinger, die hinter uns her sind?“ „Ein Missgeschick von ein paar Amateurhexern. Wir wissen nicht, was genau sie sind, daher konnten wir sie bisher noch nicht verbannen. Aber wir sind seither gut damit beschäftigt, sie von Shinjudai fernzuhalten, das kannst du mir glauben.“ „Fernzuhalten?“, gab Maya empört zurück. „Ja, die beiden Male, wo sie uns durchgebrochen sind und euch tatsächlich angegriffen haben, tun mir wirklich leid.“ „Rubiko sagte, jemand von euch hätte diese Dinger überhaupt erst hergerufen!“ Professor Undo schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein. Sie kommen von außerhalb, wir wissen nicht von wem. Wir haben aber aus unserer Mitte jemanden beauftragt, sich dieser Sache anzunehmen. Vielleicht hat Rubiko das falsch aufgefasst. Als Novizin erfährt sie nicht alles, was vor sich geht.“ „Ja, dafür hängt sie sich aber mächtig ins Zeug. Die kann echt froh sein, daß Shinda sie nicht gleich abgemurkst hat. Zwei Anlässe dazu hatte er schon.“ „Shinda?“, echote Professor Undo interessiert. „So nennt er sich jetzt? Gut, dann muss ich ihn auch so nennen, wenn ich ihm jemals gegenüberstehen sollte. Dämonen haben viele Namen, weist du? Einen, den sie den Menschen verraten, der kann sich mitunter ändern. Dazu mehrere, die sie je nach Anlass untereinander verwenden. Und einen, den sie gar keinem verraten, den nur sie selber kennen.“ „Na schön, wenn diese Dinger von außerhalb kommen, und ihr euch sogar dafür einsetzt, daß die uns nichts tun, welche Rolle spielt ihr dann in dem ganzen Gefüge? Was habt ihr vor? Warum will der Magierzirkel Shinda nicht in den Kälteschlaf zurückschicken, wo er ja eurer Meinung nach hingehört?“ „Das ist die entscheidende Frage, die ich euch nicht beantworten kann.“, seufzte Professor Undo und faltete die Hände auf der Tischplatte. „Und warum nicht?“ „Weil es alles zunichte machen würde, wofür unser Zirkel in den letzten 400 Jahren gearbeitet hat.“ „Ich dachte, euer Zirkel existiert einzig und allein zu dem Zweck, Shinda im Kälteschlaf zu halten.“, gab Maya verdutzt zurück. Der Dozent erwiderte nichts darauf, sondern sah ihn nur halb tröstend, halb bedauernd an, weil er ihm nicht helfen konnte. „Also ist der Hexenzirkel nicht hinter Shinda her?“, rückversicherte sich Maya. „Für´s erste nicht, nein.“ „Nun ... zumindest das wird ihn freuen zu hören.“ Er fuhr sich überlegend durch die Haare, welche Fragen er noch hatte stellen wollen. „Wirst du ihn mir mal vorstellen?“, wollte der Professor hoffnungsvoll wissen. Maya lachte auf. Zynisch. „Wenn man Rubiko glauben darf, überwacht ihr uns doch ohnehin rund um die Uhr.“ „Ja. Aber mit jemandem bei einer Tasse Tee am Tisch zu sitzen und sich ungezwungen zu unterhalten, ist doch irgendwie was anderes.“ „Bevor ich eure Absichten nicht kenne, werde ich Shinda nur schwer davon überzeugen können.“, meinte er toternst. „Ich sollte jetzt gehen.“ Professor Undo nickte bedrückt. Ihm war klar, daß er sich mit dieser unbedachten Frage gerade äußerst zwielichtig gemacht und Maya ein wenig verschreckt hatte. „Mach´s gut. Und pass auf dich auf. ... Du, Maya?“ „Hm?“ Der Junge drehte sich auf dem Weg zur Tür nochmal um. „Ich freue mich, daß Shinda einen Freund gefunden hat, dem er so viel bedeutet und der so für ihn kämpft.“ Maya zog skeptisch die Augenbrauen hoch. Diese Aussage machte die ganze Situation auch nicht wirklich vertrauenswürdiger. Aber er wusste auch nicht, was er darauf entgegnen sollte. „Auf Wiedersehen, Professor.“, meinte er daher nur und ging. Er wusste nicht, was er glauben sollte. Oder wem. Professor Undos Version unterschied sich in so ziemlich allen Punkten grundlegend von Rubikos. Einer von beiden log. Was so viel bedeutete wie, daß er im Prinzip genauso schlau war wie vorher. „Maya!“, rief ihm eine Mädchenstimme nach, als er das Uni-Gebäude gerade verließ. Als er sich fragend umsah, hechtete ihm Rubiko winkend hinterher. „Hey! Gehst du nach Hause? Lass uns doch zusammen gehen!“, schlug sie vor. „Um diese Zeit schon?“, wollte er verdutzt wissen. „Ich dachte, du hättest noch Vorlesungen, im Gegensatz zu mir.“ „Und was tust du hier, wenn du gar keine Vorlesungen hast?“, umging sie die Frage galant und rückte ihre Tasche zurecht. „Ich habe mit Professor Undo gesprochen. Über Shinda.“ „Hat er dir mehr erzählt als mir?“ „Nun, ich hatte den Eindruck, es gibt Gründe, warum man dir nicht alles erzählt.“ Rubiko seufzte und senkte den Blick auf den Fußweg, um mit gesenktem Kopf weiter neben ihm herzulaufen. „Ja, ich weis. Sie sagen ich hätte den Sinn des Zirkels noch nicht verstanden.“, gab sie zu. „Ich dachte bisher immer, sie wären zu konservativ und würden an längst überholten Traditionen festhalten. ... Das war, bevor ich Shinda kannte.“ Maya musste grinsen. „Hat Shinda deine Ansichten verändert?“ „Allerdings.“ „Mein Leben und meine Sicht auf viele Dinge hat sich auch geändert, seit er da ist.“, seufzte er nach einer Weile, teils um die einsetzende Stille zu unterbrechen, teils in der Hoffnung, mehr Informationen aus ihr herauszulocken. Aber Rubiko schwieg weiter. Auch sie schien ihm nicht verraten zu wollen, warum der Magierzirkel nicht hinter Shinda her war. Also spazierten sie wortlos die paar Straßen zu Mayas Wohnhaus hinüber. „Okay, dann mach´s mal gut, Rubiko. Bis die Tage.“, meinte Maya leichthin und zückte seinen Wohnungsschlüssel. Das Mädchen sah ihn verwundert an. „Darf ich denn nicht mit reinkommen?“ „Zu mir? Ich dachte, du bist nur mit mir gelaufen, weil du zu deinem Freund willst!“, gab er nun seinerseits verwirrt zurück und deutete auf die Tür seines Nachbarn. Er wusste ja, daß sie die Freundin seines Nachbarn war. Rubiko kicherte verlegen und fuhr sich durch die Haare. „Um ehrlich zu sein, wollte ich schon zu dir. ... Eigentlich zu Shinda, um ganz genau zu sein. Ich will mich bei ihm entschuldigen.“ Maya wandte sich der Wohnungstür zu und schloss auf. „Ich kann nicht versprechen, daß er da ist. Er hockt nicht den ganzen Tag alleine hier, weist du? Er geht meistens raus und läuft in der Stadt rum, wenn wir nicht gerade zusammen ...“ In diesem Moment steckte ihm der Schwarzhaarige aber auch schon seinen Wuschelkopf aus der Schlafzimmertür entgegen. „Hi! Mit wem redest du?“, wollte er wissen. Dann wurde sein Blick enttäuscht, als er Rubiko sah. „Ach, bloß die Hexe. Ich dachte, ich lern endlich mal ein paar Freunde von dir kennen. Hast du überhaupt Freunde?“ „Sei doch nicht immer so zynisch. Shinda.“, bat er seufzend und hängte seine Jacke an den Gaderobenhaken. „Kann ich euch zwei gefahrlos ein paar Minuten alleine lassen? Ich muss mal runter in den Keller.“ „Wenn du sie in einem Stück zurückhaben willst, dann lieber nicht.“, warf Shinda mit einem gehässigen Grinsen ein. Maya rollte mit den Augen. „Rubiko, lass ihn in Ruhe, hörst du? Ich will Professor Undo nicht erklären müssen, daß ... keine Ahnung ... ich will´s ihm einfach hinterher nicht erklären müssen.“ Mit diesen Worten zog er die Tür hinter sich zu und war weg. Man hörte seine Schritte im Treppenhaus verhallen. Rubiko wandte sich Shinda zu, der mit verschränkten Armen im Türrahmen lehnte, und streckte beide Hände nach ihm aus. „Hi! Schön, dich wiederzusehen.“ „Das seh ich nicht so. Was willst du hier?“ Das Mädchen lies die Hände resignierend wieder sinken, als würde sie doch darauf verzichten, ihn unbedingt umarmen zu müssen, und kam näher. „Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Mein Angriff gestern war unangemessen. Es tut mir leid.“ „Es tut dir leid ...“, gab Shinda sarkastisch zurück und löste sich aus der Tür. „Naja. Es wäre eine Lüge, zu sagen, ich hätte es nicht absichtlich getan. Aber, doch, jetzt im Nachhinein tut es mir wirklich leid. Es war ein Fehler.“ „Setz dich auf´s Sofa, ich bring dir einen Saft oder sowas.“, beschloss der Schwarzhaarige. Immerhin war sie Mayas Gast und schien ihm gerade nicht an die Gurgel zu wollen, also entschied er ihr wenigstens ein Mindestmaß an guten Manieren entgegenkommen zu lassen. Shinda stellte ihr das Glas auf den Couchtisch, setzte sich dann neben sie und drehte sich zu ihr herum. Dazu musste er ein Bein angewinkelt mit auf die Sitzfläche hochlegen, aber so konnte er sich immerhin bequem seitlich anlehnen, während er sie musterte. Sie trug eine japanische Schuluniform mit kurzem Rock, was weder für Dachau noch für eine Universität passend war. Schien wohl einfach ihrem Modeempfinden zu entsprechen. Die Bluse und der Rock hatten zumindest keine Taschen, in denen sie irgendwelche Bannpapiere oder sonstwas verstecken konnte. „Ich finde dich unglaublich faszinierend, Shinda.“, begann sie etwas verlegen. „Tatsächlich?“ Rubiko nickte. „Ich hatte nicht geglaubt, daß du so hübsch sein würdest. ... Eigentlich hatte ich gar nicht geglaubt, dir jemals persönlich zu begegnen.“ Shinda sagte nichts dazu. Ein Dämon bemaß andere nicht nach solchen Kriterien wie hübsch, hässlich oder zinkennäsig. Aber wenn sie ihn hübsch fand, bitte, dann freute er sich natürlich darüber. Er wusste, daß das vieles einfacher machte, wenn man den Menschen sympatisch war. „Hast du schon viele Mädchen gesehen, seit du wach bist?“ „Einige.“ „Hast du da auch welche hübsch gefunden?“ Er wog kurz nachdenklich den Kopf. „Das kann man so nicht sagen. Sicher habe ich ein anderes Empfinden dafür als ihr Menschen.“ „Findest du mich hübsch?“ „Worauf willst du eigentlich hinaus?“, wollte Shinda, nun doch langsam skeptisch, wissen. Sie wurde etwas rot und konnte seinem Blick nicht mehr standhalten. „Ich weis nicht. Ich schätze ... ich ... mag dich.“ Shinda grinste amüsiert, wobei seine spitzen Eckzähne aufblitzten. „Sehr komisch. Gestern hast du mich noch als gottverfluchte Ausgeburt der Hölle bezeichnet und wolltest mich umbringen.“ „Ja. Tut mir leid.“, gab sie leise zurück. „Mit dieser Aggressivität hab ich wohl versucht, mir selber was vorzumachen.“ Sie blinzelte unschlüssig zu ihm hinüber. „Würdest du mich berühren?“, bat sie und kam sich dabei sichtlich dämlich vor. „Wir haben uns gestern geprügelt. Reicht das nicht erstmal?“, gab er ernst zurück, als er den Wohnungsschlüssel hinter sich klappern hörte. Maya war wohl aus dem Keller zurück. Vielleicht stellte sie ihr lästiges Balzgehabe ja wieder ein, wenn er da war. „Das ist doch was anderes.“, hielt sie dagegen und griff nach Shindas Hand. „Küss mich! Einmal nur, bitte.“ Der Schwarzhaarige grinste wissend und betrachtete seine Hand in ihrer. Er dachte kurz nach, während er genau spürte, wie Maya skeptisch in der Zimmertür stehen geblieben war und von dort aus alles verfolgte. Allerdings machte Shinda auch keine Anstalten, ihr seine Hand wieder zu entziehen. Einen Moment spielte er sichtlich mit dem Gedanken, sie wirklich zu küssen, doch dann seufzte er bedauernd. „Sei vorsichtig mit solchen Wünschen, Kleine. Es bekommt dir nicht, glaub mir.“ „Shinda, bitte! Tu es!“, beharrte sie fast verzweifelt, griff mit beiden Händen den Saum des weißen Hemdes, das er heute trug, und zog ihn erstaunlich kräftig zu sich heran. Ehe er sich fragen konnte, ob sie Mayas Rückkehr überhaupt registriert hatte, fand er sich schon auf allen Vieren über ihr wieder. Rubiko lag auf dem Sofa unter ihm und klammerte immer noch in seinem Hemd. Auf diese Nähe stieg ihm nun auch ihr betörender Niembaum-Duft in die Nase. Er musste ernstlich um seine Beherrschung kämpfen. Für Dämonen war dieser Duft regelrecht drogenartig. Sie musste das gewusst haben und sich dieses Zeug ganz vorsätzlich rangeschmiert haben, denn als Parfüm gab es sowas definitiv nicht. Rubiko bekam zuerst Shindas warmen, zuckergeschwängerten Atem ins Gesicht, als sie ihn zu sich herunterzog. Er hatte wohl gerade einen Pfannkuchen gegessen. Sie wollte wissen, ob er auch so süß schmeckte wie er roch und drängte ihm entgegen. Shinda beugte sich berauscht und beinahe schwindelig zu ihr herunter und hatte gerade noch genug Restverstand, seinen Kuss nicht auf ihren Mund sondern ihre Halsseite zu platzieren. Seine Hand fuhr über ihren Oberkörper. Sie spürte die vorsichtigen Lippen auf ihrer Haut und schlagartig schnürte sich ihr die Luftröhre zu. Sie würgte erstickt. Von seinem Kuss aus fuhr eine unerhörte Hitze durch ihren Hals bis in die Lunge hinunter, daß sie dachte sie würde innerlich verglühen. Gleichzeitig zuckte ein bestialischer Schmerz durch ihren Kopf und nahm ihr letztlich die Besinnung. Dann riss Shinda sich, schockiert über sich selbst, los und sprang vom Sofa hoch, um nur zwei Schritte weiter in die Knie zu sacken und keuchend auf dem blanken Fußboden sitzen zu bleiben. Er griff sich stöhnend an den Kopf. Ihm schwirrten von der ganzen Situation und dem Niembaum alle Sinneseindrücke unkoordiniert durcheinander. Eine Sekunde lang war ihm vor lauter Schwindelgefühl fast, als er müsse sich direkt hier übergeben, er fing sich aber langsam wieder. Die Übelkeit wollte nur sehr widerwillig weichen. Er hörte Maya in der Tür genervt stöhnen und sah zögerlich auf. Das Schwindelgefühl ebbte ab und er wurde nach und nach wieder Herr seiner selbst. „Au man.“, maulte Maya. Es schien, als wollte er noch mehr dazu sagen, aber er ließ es bleiben. „Ist alles okay mit dir, Shinda?“ Der Schwarzhaarige nickte und schluckte schwer. „Tut mir leid.“, raunte er. „Was genau ist passiert?“, hakte er nach und ging zum Sofa, um nach Rubiko zu sehen. „Menschen vertragen das nicht. Der Kuss eines Dämons kann einen umbringen. Hätte ich ihre Lippen geküsst, hätte es sie zerrissen.“ „Super. Dann danke, daß du es nicht getan hast.“ Maya kontrollierte Rubikos Vitalfunktionen. Sie atmete sehr flach, ihr Puls war kaum zu spüren, und sie schien sich in Alpträumen zu winden. Nein, wohl eher im Fieberwahn, stellte er fest, als er ihr eine Hand auf die Stirn legte. Sie war heiß wie eine Wärmflasche. Aber sie lebte, also kein Grund zur Sorge, redete er sich selbst ein, um sich zur Ruhe zu zwingen. Natürlich hatte er Angst und fühlte sich überfordert, aber das half ja jetzt keinem weiter. Weder Rubiko noch Shinda. Fieber. Was tat man gegen Fieber? Kalte Umschläge! Erzwungen rational ging er ins Bad. Als er kurz darauf mit einer Schüssel Wasser und einem Lappen zurückkam, saß Shinda immer noch wie ein Häufchen Elend auf dem Boden und starrte vor sich hin. Maya hielt ihm mit einem sanften Lächeln einladend die Hand hin, um ihm wieder hochzuhelfen. „Alles okay?“, rückversicherte er sich nochmals. Keine Spur von Ärger – jedenfalls nicht auf ihn. Nein, nicht wirklich, dachte Shinda. Er fühlte sich elend und sein ganzer Körper schien schwer wie Blei, so daß er sich kaum alleine aufrecht halten konnte. Dennoch nickte er auf die Frage. „Danke.“, meinte er leise und ließ sich auf die Beine ziehen, wich Mayas Blick aber aus. „Du nimmst das erstaunlich gelassen.“, fügte er vorsichtig an. Irgendwie konnte er nicht recht glauben, daß Maya so gar nicht sauer auf ihn war. Immerhin hatte er Rubiko ziemlich zugesetzt, im Zweifelsfall hätte sie tot sein können. Der Student setzte sich zu dem bewusstlosen Mädchen auf´s Sofa – wieder einmal – und legte ihr einen kalten Lappen auf die Stirn. „Rubiko hat es ja nicht anders gewollt. Als Erbhexe, deren Familie sich schon seit Generationen mit Dämonen beschäftigt, hätte sie eigentlich im Bilde sein müssen, wie das endet. Ich weis nicht, wie sie dich überhaupt so weit gekriegt hat, aber sicher hat sie nachgeholfen. ... Du kannst nichts dafür, Shinda.“, beruhigte er den Schwarzhaarigen. „Meinst du, wir sollten Professor Undo anrufen? Was wird hieraus noch werden?“ „In ein paar Stunden sollte sie wieder wach und fit sein.“, gab Shinda matt zurück und lies sich auf einem Sessel nieder. Maya schaute ihn an und grinste amüsiert. „Schau doch nicht so niedergeschlagen. Es ist alles gut, okay?“ Kapitel 8: Ying-Dai und der Magierzirkel ---------------------------------------- „Kommst du mit, Shinda?“ „Vergiss es. Ich bin ja nicht lebensmüde.“ „Aber Professor Undo wollte dich so gern mal kennenlernen.“, meinte Maya. „Oh, da bin ich sicher. Den Typen, der meine kleine Schwester mit Lazarus-Flüchen belegt und in die Ohnmacht küsst, würde ich auch kennenlernen wollen. Aber sicher nicht, um ihm danke zu sagen.“ „Er wird dir nichts tun. Das verspreche ich dir.“, schaltete sich Rubiko ein, während sie ihre Jacke zuknöpfte. „Dir glaub ich gar nichts mehr!“, maulte Shinda nur. Immerhin hatte sie ihn gestern umbringen und heute unter Einsatz von Drogen verführen wollen. Seine Abneigung gegen die junge Studentin hatte damit nicht gerade abgenommen. Sie war immer noch etwas benommen, wollte aber unbedingt auf der Stelle heim. Maya hatte Professor Undo angerufen, ob er Rubiko abholen könne. Sie wollten sich vor der Uni mit ihm treffen, da Maya ihn ungern in seiner Wohnung haben wollte. Selbstverständlich wussten die genau, wo er wohnte, immerhin überwachten sie ihn rund um die Uhr. Aber wenn er die Wahl hatte, wollte er den Leuten vom Magierzirkel doch lieber auf neutralem Boden begegnen. „Na schön.“, meinte Maya und stopfte die Hände in seine Jackentaschen, während er mit dem japanischen Mädchen durch die dunkler werdenden Straßen lief. Es war schon ganz schön spät geworden. Über ihnen flammten gerade die Straßenlaternen auf. „Was hast du dir dabei gedacht? Sag´s mir.“, verlangte er. „Wobei?“ Maya warf ihr einen bösen Seitenblick zu. „Frag nicht so saudämlich. Du weist genau, was ich meine!“, stellte er sauer klar. Er war wirklich wütend, daß sie Shinda ständig nur ans Leder wollte. Ihm lag einfach zu viel an Shinda, um solche üblen Aktionen zu dulden, auch wenn sie ihm eindeutig unterlegen war und ihm nur schwerlich ernsthaft schaden konnte. Rubiko senkte den Blick. „Ich weis nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Aber nachdem ich Shinda das erste Mal in der Uni gesehen habe ... und als ich dann gestern gegen ihn gekämpft habe und gemerkt habe, wie unglaublich stark er ist ...“ „Entzieht man einem Dämon Kraft, wenn man ihm einen Kuss abnötigt? Oder macht es einen selber stärker?“, fragte Maya gerade heraus. Irgendeine Bewandnis musste es ja schließlich haben, daß Rubiko unbedingt diesen Kuss hatte haben wollen. „Nein, weder das eine noch das andere. Ich war einfach nur vernarrt in ihn. Ich war ja so blind.“, tadelte sie sich selbst. Und das glaubte Maya ihr auf´s Wort. Sie hatte sich schon immer durch eine sehr impulsive Art ausgezeichnet, die nicht nach den Konsequenzen fragte, sondern nur stur den eigenen Kopf durchsetzte. „Ich war tatsächlich der Meinung, man könnte was mit einem Dämon anfangen.“ Maya rollte mit den Augen. Kein Wunder, daß die immer noch nicht über den Stand einer Novizin hinausgekommen war. „Ich sag es dir nochmal, lass Shinda in Ruhe! Und das meine ich ernst, sonst wirst du es nicht nur mit ihm selber zu tun kriegen!“ Rubiko nickte nur betrübt. Es ging ihr wirklich noch nicht gut, das sah man deutlich. Sie lief sehr langsam und kraftlos und sah selbst im Laternenlicht ziemlich blass aus. Auf ihrem Hals, wo Shindas Lippen sie berührt hatten, zeichnete sich ein gewaltiger Bluterguss ab. Das konnte man nichtmal mehr scherzhaft als Knutschfleck bezeichnen, es sah eher aus, als hätte jemand versucht, sie mit einem Baseballschläger zu enthaupten. Und ihrem Gesicht nach zu urteilen hatte sie immer noch starke Kopfschmerzen. Also verzichtete Maya darauf, ihr eine größerangelegte Strafpredigt zu halten. Außerdem hatte sie ihre Strafe ja schon irgendwie weg, redete er sich ein. „Wir sind zu früh.“, stellte er mit einem Blick auf die Uhr fest, als sie vor dem ausgestorbenen Uni-Gelände angekommen waren. Rubiko wollte etwas erwidern, wurde aber von einem grünen Blitz unterbrochen, der knapp neben ihr in die steinernen Bodenplatten einschlug und zwei davon zertrümmerte. Sie sprang quiekend zur Seite. Ein seltsames Nachglitzern spiegelte noch die Flugbahn des Blitzes in der Luft nach. Kurz schauten sich beide verdutzt um, woher das gekommen war. Aber bevor Maya den Übeltäter entdeckte, wurde er schon von Rubiko am Ärmel gepackt und weggezerrt, bevor der nächste Blitz ihn traf. „Die weißen Dinger!“, keuchte sie panisch und deutete auf eine Baumgruppe. Aus den Baumkronen ergossen sich Nebelgebilde auf den Boden und nahmen dort Gestalt an. Die Gestalt von einigen Frauen in langen, weißen Kleidern, und Männern in weißen Fracks. Und zwar auffallend viele davon. „Aber die Blitze kamen doch nicht von denen.“ „Renn lieber! Du kannst es mit denen nicht aufnehmen! Renn, ich halte sie auf!“ Aufhalten?, dachte Maya hysterisch. Er hatte versucht, gegen sie zu kämpfen! Das war nicht mal eben so einfach wie Rubiko es hier gerade darstellte. Sicher würde er sie diesmal nicht mit Rexona-Deospray verjagen können. Ach nein, er hatte ja sowieso keins dabei, fiel ihm da auch schon auf. Unsicher ob er Rubiko wirklich allein lassen konnte, und nicht wissend wohin er überhaupt gesollt hätte, blieb er einfach stehen und sah verblüfft zu, wie sie ein wenig Kies aufhob, und einen Zauberspruch über ihnen aufsagte. Lateinisch war das nicht, aber obwohl Maya die Sprache bekannt vorkam, konnte er sie nicht einordnen. Vielleicht Gälisch oder Dänisch. Die Steine gingen in ihrer Handfläche in blauen Flammen auf und begannen zu schweben, dann schossen sie wie Kometen davon und hämmerten mit der durchschlagenden Wirkung von Projektilen in die Körper der Weißen. Drei der Frauen wurden von den Füßen gerissen, ein Mann brach in die Knie und löste sich kurz in Nebel auf. Leider fand er seine feste Erscheinung nur Sekunden später schon wieder und erhob sich wieder. Fluchend riss Rubiko sich ihren Rucksack vom Rücken und kippte ihn kurzentschlossen aus, um nach ihrem Zauberstab zu suchen. Ein weiterer grüner Blitz krachte direkt in den Haufen verstreuter Sachen und die Druckwelle schleuderte sie zwei Meter weit weg, wo sie mit einem unkoordinierten Rückwärtsüberschlag zu Boden ging, direkt vor die Füße einiger Weißer. Ehe sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, war sie bereits von den weißen Gestalten eingekreist. Erschrocken grub sie ihre Hand in den Schotter des Kampus und schleuderte eine weitere Ladung davon um sich. Obwohl die Kiesel diesmal nicht blau brannten, hatten sie zumindest den erhofften Überraschungseffekt und ließen die Angreifer zurückweichen. Schnell angelte Rubiko nach ihrem Zauberstab, der nach der unfreiwilligen Flugstunde zum Glück in Reichweite neben ihr gelandet war, und raffte sich in eine wenigstens knieende Position auf. Sie richtete ihren Zauberstab abwehrend auf eine Frau, die mit einem langen, schmalen Schwert näherkam. Ihr Stab wirkte regelrecht lächerlich gegen die Waffe. Maya verfolgte einige Sekunden lang Rubikos Gefecht, wurde dann aber selbst von den Weißen umzingelt. Panisch sah er sich um. Auf dem Kampus der Universität wimmelte es inzwischen nur so von diesen Dingern, es mussten schon fast 20 Weiße hier herumstreifen. Was sollte er nur tun? Ein leises Puffen lies ihn zusammenfahren. „Maya! Ist alles okay?“, wollte in diesem Moment jemand von hinten wissen. Der Student fuhr herum. „Shinda!“ Der Schwarzhaarige schloss Maya erleichtert in die Arme. „Ich hab vom Fenster aus gesehen, wie die Schatten tiefer geworden sind, da bin ich euch gefolgt! Ich hab mir Sorgen um dich gemacht!“ „Shinda, tu doch was!“, keuchte Maya verzweifelt und deutete auf Rubiko, die immer noch wie paralysiert dem langen Schwert entgegenstarrte, mit dem gerade über ihr ausgeholt wurde um sie zu erschlagen. Er verzog unwillig das Gesicht. „Warum sollte ich? Die Ziege hat versucht, mich zu meucheln. Und außerdem kann ich doch auch nichts gegen die Dinger ausrichten.“ „Shinda, BITTE!!!“ Shinda gab einen genervten Ton von sich, war mit einem leisen plötzlich verschwunden und tauchte 20 Meter weiter neben Rubiko wieder auf, wo er das herabsausende Schwert im letzten Moment noch aus der Bahn schlug, so daß es die Studentin verfehlte. Der Dämon hatte Teleporter-Fähigkeiten, dachte Maya erstaunt. Noch so ein Ding, neben Rubikos blau brennenden Kieseln, von denen er sich absolut nicht vorstellen konnte, daß es dafür tatsächlich wissenschaftliche Erklärungen geben sollte. Aber länger darüber nachdenken konnte er nicht mehr, denn er war ja selbst immer noch von Weißen eingekesselt. Erschrocken sprang Shinda zur Seite, als wieder einer der grünen Blitze zwischen ihm und Rubiko einschlug und das Mädchen erneut zu Boden warf. Ihr hölzerner Zauberstab mit der Silberspitze flog in hohem Bogen davon. Dann senkte sich eine seltsame Dunkelheit über den ganzen Kampus. Es war eine eigenartige Dunkelheit, die deutlich abgrenzbar vom Himmel her herabschwebte und sich langsam wie eine Glocke über alles stülpte, obwohl der Mond und die Laternen immer noch schienen. Shinda schaute sich verwundert um, als die Weißen langsam zurückwichen. Und als er sich umdrehte, erkannte er auch den Grund. Da schwebte ein Kerl zwei Meter über dem Boden reglos in der Luft. Auch er war weiß, aber auf eine gänzlich andere, reinere Art als die gespenstigen, weißen Nebelgestalten. Er hatte lange, schneeweiße Haare, von denen er einige auf dem Hinterkopf zu einem Knoten gebunden hatte, und einen ebenso weißen Kimono, der ihm viel zu groß schien, so daß Füße und Hände gänzlich unter endlosem Stoff verschwanden. Seine Haut war unnatürlich hell und der Blick seiner azurblauen Augen kalt wie Eis. Wenn es jemanden gab, der mit Blicken töten konnte, dann ganz sicher er. So weiß und unbefleckt er äußerlich auch schien, man sah ihm die rabenschwarze Seele förmlich an. Stumm hob der Schwebende eine Hand aus dem weiten Kimonostoff und streckte sie nach Rubiko aus. Zwischen seinen Fingern sammelte sich schon wieder die grün zuckende Energie, die sich dann in mächtigen Blitzen entlud. „Nein!“, blaffte Shinda sauer. Seine roten Augen begannen zu leuchten und seine Fingernägel wurden zu scharfen Krallen. Mit einem animalischen Knurren entblößte er seine spitzen Eckzähne zu einer Drohgebärde. „Du Narr.“, kommentierte der andere emotionslos. Seine Stimme war tief und volltönend, fast dröhnend. „Hey!“ Maya schloss zu den beiden auf und schaute dem Kerl mit den langen, weißen Haaren und den eisigen Augen fragend entgegen. Er war verwirrt. „Ist das ... ein Engel?“, wollte er wissen, obwohl der Typ keinen wirklich göttlichen Eindruck machte. Der Blick des Kimonomannes wanderte quälend langsam von Shinda zu ihm hinüber, mit gemütslosem Gesicht. „Mach dich nicht lächerlich, unwürdiger Wurm.“, gab er zurück. „Ich bin Ying-Dai.“ „Das beantwortet nicht meine Frage!“, meinte Maya eingeschnappt. Unwürdiger Wurm? Hatte der noch alle Schrauben auf der Festplatte? „Shinda, wer ist der Typ?“ „Ich weis es nicht. Aber er ist mächtig.“ „Ich bin dein Bruder, du Hund! Haben Sie dein Gedächtnis so sehr eingeschränkt, daß du nicht einmal mehr das weist?“, fuhr Ying-Dai ihn mit einer seltsam wütend wirkenden Unbewegtheit an. Er war zu erhaben, um Gefühle offen zu zeigen, er hatte sich völlig im Griff und lies andere bestenfalls ahnen, was in ihm vorging. Mit einer psychologisch voll ausgereiften Geste deutete er mit seiner Hand auf Maya. Die grüne, funkende Energie, die er nicht mehr auf Rubiko schleudern konnte, weil Shinda ihm inzwischen im Weg stand, richtete er nun auf den Geschichte-Student. „Bruder.“, gab Shinda verächtlich zurück. „Wenn du meinen Freund angreifst, dann bist du nicht mein Bruder!“ Auf eine Handbewegung hin ging eine gewaltige Druckwelle von Shinda aus, die Ying-Dai aber ungerührt abwehrte und auf ihn zurückwarf. Shinda, Maya und Rubiko kugelten ein Stück weit wild durcheinander, als sie hammerartig davon getroffen wurden. „Dämonen haben keine menschlichen Freunde. Sieh dir an, was dein Hang zu den Menschen dir eingebracht hat. Die Liebe zu deinen Eltern hätte dich beinahe in die Fänge der Inquisition getrieben und hat dazu geführt, daß ein dilletantischer Hexenklan dein Gedächtnis und deine Kräfte unterdrückt und dich 400 Jahre lang in den Kälteschlaf geschickt hat. Und wegen deinem sogenannten Freund hier sind nun diese weißen Mutanten hinter dir her, gegen die du nichts ausrichten kannst. Du kommst ja nichtmal gegen diese kleine Hexenschülerin an.“ „Halt die Klappe!“, brüllte Shinda, fuhr hoch und stürzte sich mit einem gewaltigen Satz auf den in der Luft schwebenden Dämon. Nur weil er Rubiko nicht getötet hatte, hieß das noch lange nicht, daß er nicht gegen sie ankam. Ying-Dai wehrte den herannahenden Schwarzhaarigen mit einer unverschämt überlegenen Ohrfeige ab, die ihn meterweit davonfliegen und hart auf dem Boden aufschlagen lies, wo er noch einige Umdrehungen weiterrollte und dann liegenblieb. Ying-Dai deutete ein verständnisloses Kopfschütteln an und wandte sich den beiden Menschen zu. „Jetzt zu euch, anmaßendes Ungeziefer. Es war dein Fehler, einen Dämon töten und verführen zu wollen, Hexe. Das sollt ihr büßen.“, fuhr er mit seiner tiefen, hallenden Stimme fort. „Sekunde mal! Shinda ist mein Freund, ich hab ihm nie was getan!“, warf Maya protestierend ein. Zu weiteren Argumentationen kam er nicht, denn da entlud sich die Energie in der Hand des weißen Dämons. Maya reagierte zu langsam. Er konnte sich nicht mehr schützend vor Rubiko werfen. Sie kreischte erschrocken auf, als der grüne Blitz sie punktgenau traf. Panisch umschloss er die junge Japanerin mit beiden Armen und spürte, wie sie unter seinen Händen zu einer steifen, kalten Eisskulptur erstarrte. „Rubiko ...“ Tränen schossen ihm in die Augen. „Warum!? Was zur Hölle willst du von uns!?“, schrie Maya den fremden Dämon an. „Es liegt nicht in deinem Ermessen, solche Fragen zu stellen.“ „Arrogantes Großmaul! Sag mir gefälligst, was das alles soll!“, schrie Maya wütend und fuhr hoch. Am liebsten wäre er dem Kerl an die Gurgel gesprungen, aber er wusste, wie aussichtslos dieser Versuch war. Er wünschte, Shinda hätte ihm wenigstens ein kleines bischen Magie beigebracht, die er diesem Dämon jetzt wie schlechte Beleidigungen an den Kopf hätte werfen können. „Mäßige deinen Wortschatz, sonst bist du der nächste.“, mahnte Ying-Dai drohend und schwebte zu Shinda hinüber. „Lass ihn in Ruhe!“ Maya hechtete ihm verzweifelt nach, in der Hoffnung Shinda vor dem Eisdämon zu erreichen. Der Weißhaarige hielt genervt inne. „Da du ihn tatsächlich meistens in Schutz genommen hast, wollte ich dich eigentlich verschonen. Wenn du klug bist, solltest du mich von diesem Vorsatz nicht abbringen. Also mach Platz!“, verlangte er. „Nein! Du musst erst an mir vorbei, wenn du ...“ Der Rest des Satzes ging in dem Schneesturm unter, den Ying-Dai ihm mit einem pfeifenden Geräusch aus voller Lunge entgegenblies. Die Kälte nahm ihm schockartig die Luft und lies seinen ganzen Körper zusammenkrampfen. Eine Eisschicht lagerte sich auf seiner Front ab und legte auch auf Shindas Jacke und Haare noch eine dünne Schneewehe, bevor der Sturm so stark wurde, daß er Maya einfach wegblies. Shinda kam stöhnend wieder zu sich und blinzelte den weißen Dämon mit zusammengekniffenen Augen an. Er blieb immer noch reglos so liegen wie er war. „Ying-Dai ... lass den Jungen in Ruhe ...“, hauchte er leise. Er fühlte sich so schwach, daß er kaum die Augen offenhalten konnte. „Elender Dummkopf. Hast du immer noch nicht eingesehen, daß man von den Menschen über kurz oder lang immer nur enttäuscht wird?“ „Bitte. Er will mich nur schützen.“ „Das weis ich. Das ist der Grund, warum er noch lebt. Und jetzt komm endlich wieder zur Vernunft und lass die Menschenwelt hinter dir, Bruder. Komm mit mir. Wir Dämonen gehören hier nicht her.“ Shinda schloss die Augen. „Ich kann nicht. Mich hält zu viel hier.“ „Der Junge?“ „Ja, der Junge. Er hat mir gesagt, daß man nur einen Grund braucht, um hier leben zu können. Und ich habe meinen Grund gefunden.“ Ying-Dai schüttelte den Kopf. „Shinjudai, Shinjudai, was soll aus dir bloß noch werden? Hast du das nicht endlich satt?“, wollte er mit seiner üblichen Gefühlskälte wissen und schob die Hände in die jeweils gegenüberliegenden Ärmel seines weiten Kimonos, so daß der Stoff einen Muff bildete. „Nun gut, ich werde warten, bis du zur Vernunft kommst. Bleib meinetwegen bei diesem Menschen, bis er Freunde findet, die ihm ähnlicher sind als du, und er das Interesse an dir verliert. Ich verfolge dein Treiben schon seit 500 Jahren, da kommt es auf ein paar mehr nun auch nicht mehr an.“ Ying-Dai erhob sich höher in die Luft und war dann schlagartig verschwunden. „Ich werde auch weiter ein wachsames Auge auf dich haben.“, hallte noch über den Kampus der Uni. Scheinbar hatte er sich nicht wegteleportiert sondern unsichtbar gemacht. Die stoffliche Schwärze, die immer noch wie eine Glocke über allem lag, lichtete sich langsam wieder – ein Zeichen, daß Ying-Dai nun tatsächlich ging. Shinda lies das Gesicht wieder auf den Kiesboden sinken, als er eine Hand auf seinem Rücken spürte. Maya. „Hey, alles okay bei dir?“, wollte der Student zwischen besorgt und müde wissen. „Ich fasse es nicht, daß er einfach so gegangen ist.“ „Ja. Er hat wohl eingesehen, daß er mich hier so einfach nicht wegholen kann. Er wollte Rache an der kleinen Hexe, weil er dachte, ich wäre selber nicht in der Lage dazu. Warum er dich nicht getötet hat, verstehe ich allerdings nicht.“, gab Shinda zurück, setzte sich mühsam auf und putzte sich den Schnee von der Jacke. „Dann hätte mich nichts mehr hier gehalten und ich wäre sicher mit ihm gegangen.“ „Ihr Dämonen seid wohl doch nicht so unparteiisch böse, wie man immer sagt. Ihr habt auch genug Moral, keine Unschuldigen zu töten. ... Und sicher wollte er sich nicht deine Feindschaft zuziehen.“ Shinda legte seine Handflächen auf Rubikos Schultern. Sie war so kalt, daß er das Gefühl hatte, sie müsse unter seiner Körperwärme zu Wasser schmelzen. Eine Eissäule. Sie war wirklich lebendig eingefroren worden. Nun, das war schwierig. Nicht gänzlich irreversibel, aber verdammt schwierig. Er atmete tief durch. Sein Gesicht verzerrte sich leicht vor Konzentration und Anstrengung. Ruhe. Nichts geschah. „Ich kann es nicht.“, seufzte Shinda und lies die Hände wieder sinken. „Das Tatoo an meinem Auge schränkt Fähigkeiten dieser Art zu sehr ein.“ Er schaute zu Maya hinüber und sah ihn noch betrübt nicken. Tränen sickerten langsam über seine Wangen. Kurz herrschte Schweigen zwischen ihnen. „Bereust du es manchmal?“, wollte er mitfühlend wissen. „Was?“ „Mich aufgeweckt zu haben.“ Maya schüttelte den Kopf und quälte sich ein Lächeln ab. „Nein, zu keinem Zeitpunkt.“ „Auch jetzt nicht?“ „Auch jetzt nicht.“ „Ich schon manchmal. Jedesmal wenn ich mit ansehen muss, daß meine Existenz jemandem zum Schaden gereicht, egal ob ich nun direkt was dafür kann oder nicht.“, gestand er mit einem Blick auf Rubiko. „Unsinn.“, gab Maya gefasst zurück und wischte sich das Gesicht mit dem Jackenärmel trocken. Dann sah er sich um. Eigentlich wollte er gerade anmerken, daß die Stille hier nach dem wilden Kampf gegen Ying-Dai gerade ziemlich unnormal und absurd war. Aber diese Auffassung musste er schon revidieren, bevor er sie überhaupt aussprechen konnte. „Ach shit, die Weißen sind wieder da. Die fehlen mir jetzt gerade noch.“, stöhnte er in einem zermürbten -Tonfall und schlug die Hände vor´s Gesicht, wie um die lästigen Nebelgestalten nicht mehr sehen zu müssen. „Ja, und der Magierzirkel ist auch eingetroffen.“, fügte Shinda mit einem Deut in die Runde an und stand auf, um vor Rubiko zurückzuweichen. Sicher war es sowieso zu spät, sie würden Rubikos Tod auch ihm zuschreiben, wenn sie ihn nicht direkt neben ihrer tiefgefrorenen Leiche sitzend vorfinden würden. Dennoch hatte er den Drang, sich optisch von dem Mädchen und ihrem Zustand zu distanzieren. Maya fiel es zunächst schwer, die Hexen von den Weißen zu unterscheiden, denn auch sie liefen in weißen Kleidern und weißen Anzügen herum. Aber sie hatten keine langen, weinroten Haare und qualmten nicht. Shinda gab schon wieder sein tierisches Knurren von sich, als die Weißen ihm zu nahe kamen. Mit rotglühenden Augen und ausgefahrenen Krallen machte er einen Satz in die Meute hinein und begann ein wildes Gemetzel unter ihnen, um sie von Maya fernzuhalten. Maya war immer wieder schockiert darüber, wie schnell Shinda in diesen Kampfmodus wechselte und von einem Moment auf den anderen zu einer halben Bestie mutierte. Ob er in diesem Zustand noch genug Verstand hatte, Freund von Feind zu unterscheiden, fragte sich der Student schaudernd und wich einen Schritt zurück. Dann wurde seine Aufmerksamkeit wieder von den 4 Magiern vereinnahmt, von denen drei die Weißen vertrieben und eine sich um Rubiko kümmerte. Maya hoffte, die kannten einen Zauber, um Rubiko wieder aufzutauen. Erleichtert sah er zu, wie das japanische Mädchen hustend wieder zu sich kam. Eine der Hexen leuchtete den letzten Weißen von Shinda herunter. Auf ihrem ganz und gar aus Silber bestehenden Zauberstab tronte in einer filigranen Einfassung ein orange glühender Kristall, dessen Licht die Nebelgestalten offenbar nicht standhalten konnen. Von dem Licht berührt, lösten sie sich schreiend auf. Shinda sprang auf und sah sich mit seinen spitzen Krallen und gebläckten Eckzähnen nach seinem nächsten Opfer um. Eine weitere Hexe fuhr mit finsterem Blick herum und richtete ihren kristallgekrönten Zauberstab drohend auf ihn. „Nein!“, keuchte Maya und sprang vor Shinda, um ihn wie ein lebendes Schutzschild zu decken. Er drängte sich mit dem Rücken gegen seinen Freund, um möglichst wenig Angriffsfläche offen zu lassen. Und um zu verhindern, daß Shinda wohlmöglich eigensinnig hinter ihm hervortrat und sich selbst auslieferte um ihn zu schonen. Immerhin waren sie inzwischen von dem Hexenzirkel umzingelt. Shindas Körper war so heiß, daß er den Körperkontakt trotz der Kleidung, die sie beide trennte, kaum halten konnte, weil er sich fast verbrannte. Dennoch blieb er unbeirrt so vor Shinda stehen und starrte die Frau entschlossen in Grund und Boden. „Geh zur Seite, du Idiot!“, zeterte die Hexe. „Nein! Ihr werdet erst an mir vorbei müssen, wenn ihr ihn wollt!“, schrie Maya sie an. Wieso nur kam ihm diese Situation gerade so bekannt vor? „Ich werde ihn euch nicht freiwillig überlassen.“ „Sei nicht dumm, Maya. Geh zur Seite.“, meinte nun auch Shinda hinter ihm. Er klang ruhig und gefasst. Er hatte seinen Kampfmodus wohl wieder unterdrückt und war wieder normal. Seine Haut kühlte zunehmend aus, dort wo Maya Körperkontakt zu ihm hatte und es beurteilen konnte. „Nur über meine Leiche werden die dich kriegen!“ „Warum?“, wollte der Schwarzhaarige in einem Tonfall wissen, der ganz klar darum bat, doch endlich Vernunft anzunehmen. „Weil du mein Freund bist! Und weil ich auch nicht einsehe, was die von dir wollen! Du hast keinem was getan! Es ist ungerecht! Davon hat Ying-Dai mich nicht abgebracht, und davon werden auch die mich nicht abbringen.“ Maya schossen Tränen in die Augen, als er das sagte, in dem Wissen, daß es wahrscheinlich nichts nützen oder ändern würde. Er hatte gegen einen ganzen Hexenklan ja wahrlich keine Chance, so sehr er es auch wollte. Dem weißhaarigen Dämon hatte er noch getrotzt, aber gegen diese Magier sah er sich machtslos. Und das schlimme war, daß er nichtmal wusste, warum, denn der Dämon war eindeutig mächtiger gewesen – aber nicht so entschlossen. Es waren Tränen der Wut und des Trotzes. Und einfach nur der irrationale Wille, Shinda nicht zu verlieren. „Nimm den Stab runter!“, bat da jemand mit ruhiger Stimme. „Undo.“, meinte die Hexe verwundert. Auch die anderen ließen ihre Zauberstäbe tatsächlich sinken und schauten dem Neuankömmling entgegen. „Professor Undo?“, warf auch Maya verdutzt ein. „Entschuldige, daß ich zu spät bin, Maya. Ich musste mich noch um jemand anderen kümmern.“, lächelte er und deutete dabei auf Duncan, der mürrisch hinter ihm hertrottete. Der war offensichtlich nicht ganz freiwillig hier. „Rubiko, wenn du dir das nächste Mal deine Hausaufgaben von diesem Schläger wegnehmen lässt, dann gib ihm nicht auch noch deine Magieaufzeichnungen dazu.“, bat er und gab seiner Schwester einen Zettel zurück, den er Duncan abgenommen hatte. Sie fluchte erst, nahm den Zettel dann dankend entgegen, und fluchte wieder. Ihr war noch gar nicht aufgefallen, daß der Zettel überhaupt gefehlt hatte. „Deine Aufzeichnungen sind außerdem fehlerhaft. Deswegen sind diese komischen weißen Dinger entstanden, die wir nicht zuordnen und daher nicht wirksam bekämpfen konnten.“, fügte er an. „Zum Glück hat Duncan mir den Zettel zurückgegeben, sonst wüssten wir immer noch nicht, wie man sie bekämpft.“ „Tut mir leid.“ „Siehst du, deswegen schreiben wir alle unsere Aufzeichnungen in Runen. Damit nicht jeder Dödel, wie zum Beispiel Duncan hier, sie lesen und anwenden kann.“ Duncan lachte gehässig. „Ja, ich bin gut, was? Ich habe gehext!“, brüstete er sich stolz. „Sei sicher, daß du deine Strafe dafür noch bekommst.“, gab Professor Undo zurück und brachte ihn damit wieder zum Schweigen. „Okay, jetzt aber zu euch beiden.“ Der Dozent wandte sich an Maya. „Ihr kriegt Shinda nur über meine Leiche!“ „Offensichtlich. Und das will ja keiner. Wir werden ihm nichts tun.“ „Undo!“, warf die fremde Hexe protestierend ein. „Könntest du mal eine angemessenere Anrede für mich finden?“, seufzte der Professor und warf ihr einen tadelnden Blick zu. „Es muss ja nicht oder sein. Aber nur ist unhöflich, Lydia. Ich sagte, wir lassen ihn in Ruhe, also lassen wir ihn in Ruhe. Er ist seit Wochen wach und hat niemandem etwas getan. Nichtmal wenn er angegriffen wurde. Duncan hat sich mit ihm geprügelt und wurde dabei nicht getötet. Rubiko wollte ihn umbringen, selbst da hat Shinda ihr Leben verschont. Sogar im Rauschzustand tut er keinem was. ... Rubiko, es war lebensmüde von dir, das Niembaum-Öl zu verwenden.“ „Woher weist du ...“ „Diesmal hab ich wirklich damit gerechnet, dich tot vorzufinden. Ich habe es aber auch zu spät realisiert, um es noch verhindern zu können. Das war von all deinen dickköpfigen Aktionen die bisher schlimmste und wahnsinnigste. Du hast ja keine Ahnung, wie stark Niembaum wirkt, noch dazu in der Konzentration einer reinen, unverdünnten Samenhülsenpressung. Du hast damit nicht nur dein eigenes Leben weggeworfen. Wenn Shinda sich nicht dermaßen im Griff gehabt hätte, hättest du auch Mayas Tod und den Untergang unseres gesamten Magierzirkels in Kauf genommen. Darüber sprechen wir nochmal.“ Rubiko zog ein unglückliches Gesicht. Es war klar, daß Professor Undo mit nicht meinte. Da stand eine weitaus größere Strafe zu Buche. „So, und du bist Shinda, ja?“, fuhr er an den Schwarzhaarigen gewandt weiter fort. „Du bist wirklich so charismatisch und hübsch wie man uns immer gesagt hat.“ „Äh ... was?“, machte Shinda nur verwirrt. Der Professor musterte ihn mit einem unverholen begeisterten Lächeln eingehend, soweit Maya das zuließ. „Ich hatte irgendwie immer gehofft, dir einmal gegenüberstehen zu können, auch wenn ich nie wirklich geglaubt habe, daß du noch zu meinen Lebzeiten wieder aufwachen würdest.“ „Was zur Hölle willst du von mir, man? Hör auf, mich mit schönen Worten einzulullen. Wenn du mich vernichten willst, dann tu es wenigstens im offenen Kampf, und nicht so hinterrücks.“ „Nein, ich will dich nicht vernichten, mein Bruder. Im Gegenteil.“ „Bruder???“ Noch ein Bruder! Das war ja nicht auszuhalten. Wenn wildfremde Dämonen aus dem Nichts aufkreuzten und sich als sein Bruder ausgaben, konnte er das ja noch nachvollziehen. Aber bei einem Menschen? „Du bist der Bruder meiner Ur-ur-ur-Großmutter, Shinda. Die Novizin, die damals bei deiner ersten Bannung überlebte. Sie war die jüngste Tochter des Wilhelms-Nachkommen, der den Zirkel zu diesem Zeitpunkt leitete, auch wenn die Familie aufgrund mehrerer Heiraten schon lange nicht mehr so hieß. Du bist zwar nicht unser leiblicher Bruder, das ist klar, aber dennoch familiär eingebunden. Unsere Familie liebt dich. Schon seit Generationen. Unser Hexenzirkel hat schon immer allein zu dem Zweck bestanden, dich zu schützen, während du im Kälteschlaf bist. Zugegeben, wir mussten dich ab und zu in den Kälteschlaf zurückschicken, wenn du aufgewacht bist, damit du nicht wegen deiner mordlustigen Art getötet wirst. Aber auch das war nur zu deinem Schutz.“ Shinda wurde nachdenklich. Als könne er sich endlich erinnern. „Wir haben dich eingeschläfert und versteckt, bevor jemand anderes dich ganz vernichtet.“, fuhr Professor Undo fort. „An diesem Punkt waren wir schon mehrfach, oder?“ „Schon ganze fünfmal seit der ersten Bannung. Immer wieder musste unser Zirkel dich in den Kälteschlaf zurückschicken, weil dein Herz immer noch von Rachedurst verdunkelt war. Aber jetzt bist du endlich geläutert.“ Professor Undo lächelte albern. „Ein sehr christliches Wort für einen Dämon, ich weis. Aber deine Handlungen beweisen es. Du weigerst dich zu töten, selbst wenn man dich fast darum bittet. Und für deine Freunde würdest du alles geben.“ „Ah, deshalb konnten Sie mir den Zweck und die Aufgabe Ihres Zirkels nicht verraten!“, warf Maya verstehend ein. „Genau. Shinda musste sich erst beweisen, ohne zu wissen was von ihm erwartet wird. Wir wollten verhindern, daß er uns etwas vorspielt.“ „Haben die Mitglieder des Hexenzirkels sich jedes Mal rituell selbst geopfert, wenn sie mich wieder in den Kälteschlaf zurückgeschickt haben?“, wollte Shinda fassungslos wissen. So sehr KONNTEN Menschen gar nicht lieben. Schon gar nicht jemanden, der gerade wild herummordete und den sie sonst nur aus Erzählungen kannten. „Nein, das haben nur die getan, die dich beim allerersten Mal gebannt haben. Sie haben dafür gesorgt, daß ihr Bann immer noch so stark wirkt, daß man dich heute noch ohne größere Verluste wieder einschläfern kann. Und sei versichert, daß wir das auch tun werden, wenn du jemals auf die Idee kommen solltest, doch mal wieder jemanden abmurksen zu wollen. Unser Magierzirkel wird immer noch weiterbestehen.“ „Das ist mir schon klar.“ Professor Undo nickte zufrieden. Vorerst alle Fragen geklärt. Na schön. „Rubiko, komm. Wir haben ein Wörtchen zu reden. Du auch, Duncan.“, verfügte er und wandte sich ab, um in der Nacht zu verschwinden. Die Mitglieder seines Zirkels schlossen sich zögerlich einer nach dem anderen an. „Maaaaan, ich hab doch gar nichts gemacht.“, hörte man Duncan noch maulen. „Du hast Seelenjäger erschaffen und sie auf Maya gehetzt. Ist das etwa nichts?“, hielt Professor Undo gelassen dagegen. „Aber doch nur, weil ich so sauer war, daß der Gothic-Typ mir den Arm gebrochen hat.“ „Auch das ist kein akzeptabler Grund, Duncan.“ Maya schaute sich seufzend nach Shinda um, der noch immer dicht hinter ihm stand. Irgendwie fand er es komisch, so völlig kommentarlos hier mit dem Schwarzhaarigen zurückgelassen zu werden, als wären alle Probleme gelöst. Naja, eigentlich waren ja alle Probleme gelöst. Aber trotzdem. Die konnten ja wohl schlecht so schlagartig jegliches Interesse an Shinda verloren haben. „Kommt dir diese ganze Situation hier auch gerade so seltsam vor?“, wollte Shinda kopfschüttelnd wissen. Maya lachte. „Sieht so aus, als wäre wieder alles in Butter. ... Also, ziehen wir uns heute Abend noch einen richtig miesen Metzelfilm rein, oder was hast du noch so vor?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)