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Die Geschichte des Shinigami Will

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
YEAH *trö~t*
Erst mal danke, dass ihr meine Fanfiction tapfer bis zum Ende durchgelesen habt!! Zum allerersten Mal ist es mir gelungen, eine Geschichte zu beginnen und auch wieder zu beenden... Zwischendurch hab ich echt ein paarmal gedacht, ich breche die jetzt ab, ich tu es wirklich. Aber dann haben mich bestimmte Leute immer wieder ermutigt, doch weiterzuschreiben: Vielen, vielen Dank an mein liebes Sockendarling-chan, das bis zum Schluss zu Chris und mir gehalten hat, Yurrriii die heilende Birne, die mit ihren Kommentaren immer wieder für Grinsen auf den billigen und teuren Plätzen gesorgt hat, und meine Eltern, die mich inspiriert und dazu gebracht haben, das bis zum Ende durchzuziehen.

Für die, die es interressiert (also keinen):
Zeit: ‎11.09.2012, 18:36 bis 02.04.‎2013, 22:42 --> 142 Tage (~5 Monate)
Die Idee: Diese OVA war immer schon irgendwie besonders für mich, und ich habe mich gefragt, was eigentlich so in Wills Kopf vorgeht ^^ Also habe ich beschlossen, DAS hier zu erschaffen, muhaha!
Die Charaktere: Eigentlich habe ich gar keine Zeit mit dem Kreieren der Ocs verbracht, die sind mir einfach so aus den Fingern geflossen, sozusagen ^.^
Darüber, ob Chris letztendlich ein guter oder schlechter Mensch ist, lässt sich streiten. Auf jeden Fall habe ich ihn sehr lieb gewonnen ~♥
Die Story: Ich habe immer wieder Teile aus der OVA und selbstgeschriebene Teile eingefügt. Hoffentlich ist mir die Balance gut gelungen und mein Schreibstil hat durch die teils vorgeschriebene Handlung nicht zu stark gewechselt...
Eigentlich bin ich ganz zufrieden mit dem Ende, allerdings gibt es sicher einiges, das ich verbessern kann. Ich bitte um Kritik C:

Und zum Schluss kann ich nur sagen: Ich hoffe, meine Fanfiction hat euch gefallen und ihr werdet bei meiner nächsten auch mitlesen! *death* Komplett anzeigen

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William drehte sich auf den Rücken. Es war nicht das erste Mal, dass er deswegen nicht zur Ruhe kam.

Was sie wohl gerade tat? Ob sie noch wach war, am Fenster stand und ihn beobachtete? Nein, das hätte er bemerkt.

Sie ist schon seltsam, dachte Will und wälzte sich auf die Seite. Durch das Fenster erspähte er eine... Krähe? Er konnte den Vogel nicht zuordnen, der auf einem Baum saß und Will anzustarren schien.

Stets tauchte sie auf, wenn er sie am wenigsten erwartete. Tatsächlich schaffte sie es immer wieder von neuem, Will völlig zu verblüffen. Eine seltsame Sache, die sie da hatten. Es war etwas Zärtliches, jedoch hatten sie sich noch nie geküsst. Er wünschte sich nichts sehnlicher, aber er wollte warten.

Warten, bis sie bereit war.

Warten, bis es endlich Morgen wurde.
 

Sieben Uhr. Wills Wecker erklang. Es war ein besonderer Wecker; eine mit rötlichem Sand gefüllte Sanduhr. Man musste jeden Abend, wenn man sie umdrehte, einen größeren Stein obenauf legen, indem man eine kleine Klappe, die an beiden Böden der Uhr vorhanden war, öffnete. Nachdem sieben Stunden verstrichen waren, entstand durch das Gewicht des Steines eine Einbuchtung im heruntergerieselten Sand. Diese wurde immer größer, bis man den gläsernen Grund der Sanduhr sehen konnte. Dann fiel der Stein und traf mit einem leisen, hell klingenden Geräusch auf den Boden der Uhr.

Will starrte den golden schimmernden Stein an, seine Augen waren verklebt und er fühlte sich unfähig, aufzustehen. Aber es war seine Pflicht, und er gehörte nicht zu der Sorte von Leuten, die sich über ihre Pflichten beschwerten. Er kam seinen nach, streng und emotionslos. Nur so konnte er unnötige Probleme vermeiden. Umso schöner war es, dass er es manchmal ein paar Augenblicke lang zuließ, zuließ, dass Gefühle wie Leidenschaft und Zärtlichkeit seinen ganzen Körper durchströmten.

Er befreite sich aus der wohlig warmen Umklammerung der Decke, stand auf und brachte Ordnung in sein Bett, in dem er sich die ganze Nacht hin und her gewälzt hatte.

Bedächtig schob er die Tür seines Kleiderschrankes auf. Ordentlich gebügelte Jacketts hingen in der rechten Seite, daneben lagen übereinander gestapelte blütenweiße Hemden, schwarze Anzughosen und Krawatten. Seine Dienstkleidung. Jeden Tag trug er diese Anzüge, mittlerweile besaß er mindestens acht Garnituren, wenn nicht mehr. Gleichgültig zog Will frische Unterwäsche, ein Hemd und eine Hose aus dem Schrank und knöpfte das weiße Nachthemd auf. Während er sich umzog, dachte er an den heutigen Tag.

Die Abschlussprüfung. Will schluckte. Heute begann die Aufnahmeprüfung für ihn als Shinigami. Er spürte ein Gefühl der Nervosität in seinem Inneren aufkeimen, aber hastig erstickte er es; so etwas konnte er sich jetzt nicht leisten.

Als er das Hemd sorgfältig in die Hose gesteckt hatte, begann er, eine eintönig schwarze Krawatte unter seinem Kragen festzubinden. Schlingen, reinstecken, festziehen. Immer wieder das gleiche.

Er öffnete die Schlafzimmertür, schlüpfte in den Flur und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Verbittert starrte er sich selbst durch den Spiegel an, während er die Zahnbürste in kreisenden Bewegungen durch seinen Mund führte. Was er da tat, war gegen seine Regeln. Keine Emotionen, hatte es geheißen, damals, als er sie aufgestellt hatte. Damals, als er aus Angst diesen riesigen Fehler gemacht hatte. Niemals würde er sich das verzeihen. Doch sie schaffte es, Wills Schutzhülle zu durchdringen, als wäre sie aus Eis und schmelze dahin, sobald sie Will mit ihrer wärmenden Anwesenheit beschenkte. Und doch tat er etwas Verbotenes. Sie ließ ihn loslassen und für den Moment... etwas Echtes, Gutes fühlen.

Kopschüttelnd spuckte Will aus und legte die Zahnbürste neben die Tube mit der Zahnpasta vor den Spiegel. Er sollte nicht daran denken.

Er verließ das Bad wieder, kippte alle Fenster seiner kleinen Wohnung und ging dann zur Haustür.

Saß die Krawatte? War die Brille sauber? Waren die Schuhe ordentlich zugebunden? Prüfend betrachtete er sein Spiegelbild und stellte fest, dass alles passte. Schnell streifte er noch eine schwarze Jacke über; es war bereits Mitte November und ziemlich kalt. Will drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Kinke herunter. Knarzend öffnete sich die Tür und gab einen Blick auf den hellen Flur frei, der die ersten Sonnenstrahlen des Morgens vielfach reflektierte, sodass er von Licht durchflutet wurde.

Die Tür musste geölt werden. Mit diesem Gedanken schloss er sie und trat auf den Flur. Etwas zügiger stieg er die Treppen hinunter. Er wollte schließlich nicht zu spät kommen.

Egal, zu welcher Zeit man eintraf, es waren immer schon mindestens fünfzig Leute vor einem da. Hohe und tiefe Stimmen riefen durcheinander, er war nicht der Einzige, der heute seine Abschlussprüfung begann. Aus dem Augenwinkel sah er, wie zwei junge Frauen aufgeregt auf und ab hüpften und sich gegenseitig Luft zufächerten. Lächerlich.

Der vertraute Geruch stieg Will in die Nase; er konnte nicht sagen, wonach es stets im Shinigami-Gebäude roch, aber es war etwas ganz eigenes.

Gleich fiel ihm ein riesiges Schild neben dem Eingang auf, nach dem die Prüflinge in kleine Gruppen eingeteilt wurden. Es dauerte nicht lange, bis Will seinen Namen fand:
 

ABSCHLUSSPRÜFLINGE
 

Gruppe 4: Bitte in Büro 16 einfinden.
 

Christopher Corner

Ronald Knox

William T. Spears

Grell Sutcliff

Bruce van Dogge

Cedric Luville
 

Also las Will auf dem riesigen Plan, der das gesamte Gebäude beschrieb, nach, in welchen Stock er musste. Da war es: Stock 6.

Seufzend begann er, über die Treppen hinaufzusteigen. In der Zukunft, das wusste er, würde es andere Möglichkeiten geben, nach oben zu gelangen.

Nachdem er einige Minuten damit beschäftigt gewesen war, gleichmäßig zu atmen, war er bereits im sechsten Stock angelangt. Gleich neben der Treppe hing ein Plan des Stockwerks. Will warf einen kurzen Blick darauf, dann ging er nach rechts. Um nicht an Büro 16 vorbeizulaufen, drehte er seinen Kopf beim Gehen nach links und rechts. Und dann... war er da.

Leise öffnete er die Tür. Er stand jetzt in einem kleineren Raum, an den Wänden waren Stühle ordentlich nebeneinander aufgereiht – ein Warteraum.

Da die Tür zum eigentlichen Büro geschlossen war, setzte Will sich hin. Einige Shinigami waren bereits da: Ein jüngerer blonder, der Will frech angrinste, als er bemerkte, dass er ihn beobachtete. Ein schüchtern aussehender mit hellbraunen glänzenden Haaren, der das Gesicht in den Händen verbarg – Cedric Luville. Ein schokohaariger, der verkrampft eine Zeitschrift anstarrte, die er in den Händen hielt – Bruce van Dogge. Ein seltsam wirkender mit schwarzen, violett glänzenden Haaren, den Will nicht kannte. Er biss genüsslich in ein Vollkornbrot mit Chilis und Kartoffelscheiben. Als er Wills Blick bemerkte, funkelte er ihn durch silbrige Augen an. Seltsam, dachte William. Hatten nicht alle Shinigami grüne Augen? Und als er ihn so anstarrte, fiel ihm noch etwas auf.

Er trug keine Brille.

Verstört wandte er seinen Blick ab und griff nach einer Zeitschrift. Da sprang die Tür auf, Will erschrak und fuhr in sich zusammen. Der Blonde grinste.

In der Tür stand ein Shinigami mit karminroten, strubbeligen Haaren, seine Lippen umspielte ein Lächeln. Als er den jungen Blonden erkannte, öffnete er den Mund zu einem schmalen Grinsen und entblößte dabei eine Reihe spitzer, blitzweißer Raubtierzähne.

„Welch angenehme Überraschung“, rief er. Er senkte die Stimme: „Mr Knox.“

„Ja“, erwiderte der junge Shinigami, „Mr Suftcliff.“

Der rothaarige, der sich als Sutcliff herausgestellt hatte, tänzelte in Richtung des Blonden –Knox – und ließ sich dann elegant neben ihm nieder.

„Bitte treten Sie ein“, sagte ein großer, schlanker Mann mit dunkelbraunem Haar und Koteletten.

Will versuchte, gleichgültig zu bleiben – was war schon eine Prüfung – und ging langsam auf das Büro zu. Als er schon fast in der Tür stand, sah er nur etwas Rotes und wurde angerempelt – Sutcliff.

„Oh, das tut mir leid“, kicherte er. „Ich habe Sie einfach übersehen!“ Er beugte sich zu Will vor und flüsterte: „Sie brauchen Stil, Liebster.“

Will hustete; er hatte den Geruch scharfer Pfefferminzbonbons noch nie leiden können. Sutcliff stolzierte vor ihm in den Saal hinein, der als Büro bezeichnet wurde. Der Raum war mindestens so groß wie eine kleinere Bibliothek, bestand so gut wie ausschließlich aus Marmor, in der Mitte stand ein langer heller Tisch mit Stühlen aus weiß gestrichenem Metall. Alle Schüler setzten sich, auch Will fand einen Platz zwischen Sutcliff und van Dogge. Der Mann mit den silbernen Augen fuhr sich lässig durchs Haar. Er war wirklich seltsam... Da riss ihn eine hohe Männerstimme aus seinen Gedanken.

An der langen Seite des Saales stand ein Pult, dahinter saß der Mann mit den Koteletten. Neben ihm stand ein jünger aussehender Mann mit etwas helleren Haaren und räsuperte sich. Dann sprach er mit lauter Stimme: „Mein Name ist Arthur Green. Gleich beginnt Ihre schriftliche Überprüfung, bestehend aus sechs Bögen. Auf den ersten vier finden Sie Fragen, die auf dem Papier zu beantworten sind. Auf den restlichen zwei werden drei Aufgaben für Texte zu finden sein, die Sie auf die Bögen schreiben werden, die wir Ihnen zur Verfügung stellen.“

Damit setzte er sich in Bewegung und teilte die Zettel aus. Knox biss sich auf die Unterlippe, Luville ballte die Hände unter dem Tisch zu Fäusten, van Dogge blickte zu Boden und Sutcliff – Sutcliff saß einfach nur da und sah versonnen aus dem Fenster.

„Sie haben 180 Minuten Zeit, ab...“, die Mundwinkel des Mannes schossen nach oben, „... jetzt.“

Der Raum wurde von Rauschen erfüllt, jeder drehte seine Aufgabenbögen um.

Es war soweit.

„Abgeben!“, ertönte Greens Stimme. Luville fluchte leise, doch ehe er noch etwas schreiben konnte, stand hinter ihm der Mann mit den Koteletten und nahm ihm die Zettel weg. Er sah ihn tadelnd an, dann drehte er sich um und rauschte durch den Saal zu seinem Pult, wo bereits fast alle Zettel lagen. Will und Sutcliff waren die einzigen Schüler, die noch hier waren. William stand auf, um seine Prüfung ebenfalls einzuhändigen. Vor ihm stapfte Sutcliff über den marmornen Boden, sodass das laute Klappern seiner Absätze alle anderen Geräusche übertönte. Der Rothaarige sah seltsam wütend aus, als er seinen Prüfungsbogen auf das Pult knallte. Er funkelte Green zornig an, dann drehte er sich um und rauschte davon. Will legte seine komplett ausgefüllte Prüfung auf Sutcliffs, dann verließ er das Büro.

Es war kurz nach zwölf Uhr. Will machte sich auf den Weg zur Caféteria, wobei er sechs Stockwerke nach unten gehen musste. Dabei begegnete er einigen Shinigami, die ihm freundlich zulächelten.

Unten angekommen, bog er links ab und ging einige Schritte geradeaus, dann sah er die schwarz angestrichene Tür. Schon stieg ihm der Geruch frischer Brötchen in die Nase. Ja, er hatte wirklich Hunger. An der Bar standen einige Shinigami, Will stellte sich hinter etwa drei anderen Shinigami an.

„Luwannige Prüfung, nicht?“, sagte jemand hinter Will. Überrascht drehte er sich um und sah den Schwarzhaarigen, dessen Namen er nicht kannte. Wie war er hereingekommen?

„ Mein Name ist Corner...“ , er lächelte verschlagen, „Chris Corner.“

Will nickte höflich. „Mein Name ist William T. Spears. Was meinten sie mit ´luwannige Prüfung´?“

„Na ja, du weißt schon... Ich fand sie eben luwannig.“ Seine silbrigen Augen verengten sich zu Schlitzen und er beugte sich zu Will vor: „Im Ernst, ich versteh nicht, wozu wir drei Texte schreiben müssen. Einer hätte doch gereicht!“

Will zuckte die Schultern: „Es hat alles seines Zweck, Mr Corner.“

Corner lachte auf. „Da wäre ich mir nicht so sicher. Ach ja, und nenn mich Chris.“

„Es ist ein Gebot der Höflichkeit, hier alle mit dem Nachnamen anzusprechen“, beharrte Will.

„Ach, komm“, lachte er, „Ich nenne dich auch Will.“

Will ignorierte ihn und fragte: „Warum tragen Sie keine Brille?“

Corners Lachen verstummte augenblicklich und er sah William in die Augen. „Ach so, das nennst du also Höflichkeit.“

„Verzeihen Sie“, entschuldigte sich Will, „ich wusste nicht, dass Sie es mir nicht sagen möchten.“ Er hielt seinem intensiven Blick nicht länger stand und wandte die Augen ab.

„Tja“, sagte Corner abfällig, „jetzt weißt du es.“ Damit wandte er sich ab; Will verstand und drehte sich wieder nach vorne. Als der Shinigami vor ihm sich mit seinem Tablett entfernte, bestellte er sich Gemüseauflauf mit Pasta. Während der Koch in die Küche huschte, drehte Will sich wieder zu Corner um. Dieser lehnte an der Theke, die Hände lässig in die Hosentaschen gesteckt. „Ich wusste es“, grinste er und zeigte dabei seine in allen Regenbogenfarben zu schimmern scheinenden Zähne. „Warte auf mich.“

Will nickte, obwohl er nicht ganz verstand, und nahm seinen dampfenden Teller entgegen. Er platzierte ihn auf einem Tablett und stellte sich neben die Theke, um auf Corner zu warten. Dieser nahm sich eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser, dann bestellte er Kartoffelsalat mit Mangopudding. Schon wieder so ein seltsames Gericht. Der Koch sah verwirrt aus, aber er nahm die Bestellung entgegen. Corner sah Will an und lächelte. „Weißt du“, eklärte er, „ich bin ein besonderer Fall.“

Er wusste nicht, ob sich das auf seine nicht vorhandene Brille oder die seltsamen Speisen bezog, auf jeden Fall gab er dem merkwürdigen Mann recht.

Der Koch reichte Chris den Teller und die Schüssel. Corner stellte sie auf ein Tablett, legte es auf seine linke Hand, klemmte sich die Flasche unter den Arm und balancierte die Gläser auf der rechten Hand. Dann steuerte er auf einen Tisch in einer hinteren Ecke zu. Will folgte ihm, sie setzten sich und Corner schenkte in beide Gläser etwas Soda ein, dann reichte er eines Will. Er nippte daran und bemühte sich, das Gesicht nicht zu verziehen – er hasste Kohlensäure.

Chris – nein, Corner – kicherte. Dann fuhr er mit einem Messer in den Mangopudding, zog es wieder heraus und schleckte die Messerspitze genüsslich ab. Will starrte ihn an. Daraufhin kicherte er wieder und sagte: „Hast du denn keinen Hunger?“

Ach ja. Er nahm das Messer in die rechte, die Gabel in die linke Hand und schob etwas von dem Gemüse auf seine Gabel. Langsam führte er sie zum Mund und pustete kräftig darauf. Das Gemüse dampfte. Doch als er es sich in den Mund schob, war es immer noch heiß. Er hielt sich die Hand vor die Lippen und hauchte dagegen. Corner, der gerade einen tiefen Schluck Mineralwasser getan hatte, stellte das Glas wieder zum Tisch. „Wenn du willst, Will“, sagte er und grinste, „kann ich dir helfen.“

„Und wie“, fragte Will und unterdrückte einen Seufzer, „Corner?“

„Aber nur, wenn du mich Chris nennst“, sagte Corner mit Nachdruck.

Will zuckte die Schultern: „In Ordnung.“

Dann war ein leises Geräusch zu hören, das wie das Heulen von Wind klang. Chris hob die Augenbrauen und bedeutete Will, weiter zu essen. Und es war nicht mehr heiß.

Er sah Chris fragend an, doch dieser lächelte nur. Dann stand er auf und schwebte zu dem Klavier, das einige Tische weiter stand. Er setzte sich auf den davor stehenden Hocker und legte die Hände auf die Tasten. Seine Augen waren leer, und einen Moment wirkte es, als wäre er nicht von dieser Welt, ein anderes Wesen. Doch dann... begann er, zu spielen.

Seine Finger wanderten flink und doch mit Bedacht über die Tasten. Es klang lieblich, aber auch irgendwie... düster. Auf jeden Fall war es sehr schön. Alle Shinigami schauten auf, eine Blonde sah ihn verträumt an.

Chris spielte weiter, die Stimmung schien zunehmend neblig zu werden. Er war wie ein... Geist. Er war anders als alles, was Will je gesehen hatte. Er war, als hätte er bereits ein Leben hinter sich.

Etwas Rotes kam hereinspaziert – Sutcliff. Als er Chris am Klavier erspähte, schnaubte er und stellte sich an die Theke. Nachdem er einen roten, glänzenden Apfel in die Hand gedrückt bekommen hatte, setzte er sich an einen freien Tisch gleich neben der Tür. Er schien der einzige zu sein, der von Chris´Spiel völlig unbeeindruckt schien.

Einige Minuten später erklang der letzte Akkord. Er klang, als wäre das Stück noch nicht fertig, aber Chris stand auf und kam wieder zu ihrem Tisch. Der letzte Akkord hing in der Luft wie ein Nebel, der sich über alles andere legte und eine gewisse Angespanntheit zurückließ.

Bewundernd fragte Will: „Woher können Sie so schön Klavier spielen?“

Chris sah auf, einen Moment lang schien er zu überlegen. Dann senkte er die Stimme und lächelte düster. „Verstehst du es noch immer nicht? Ich bin eben was Besonderes.“

„Im Anschluss erfahren Sie die Aufgabe der praktischen Abschlussprüfung.

Grell Sutcliff: Praktische Leistungen dreimal A, schriftliche B, Ethik C. Durchschnittsnote A.

William T. Spears: Praktische Leistungen, schriftliche und Ethik jeweils B. Durchschnittsnote B.“

„Und“, fuhr Sutcliff den braunhaarigen mit den Koteletten, Mr Rowling, an, „warum werde ich mir Dreifachnote A zusammengesteckt mit jemandem, der nur Note B hat?!“ Er deutete auf Will.

„Kritik an der Beurteilung wird nicht geduldet!“, warf Green ein.

„Das Dreifach-A haben Sie nur für Ihre praktischen Fähigkeiten erhalten, Grell Sutcliff“, sagte Rowling gereizt.

So so. Grell.

„Ich finde“, sagte Grell Sutcliff und grinste, „ein Dreifach-A bei den praktischen Fähigkeiten ist alles, was man braucht. Falls nötig“, fuhr er for, schob seine Jacke zur Seite und zeigte die Sense an seinem Gürtel, „dürfen Sie mein Können gern noch überprüfen.“

„Lassen Sie diesen Unsinn, Grell Sutcliff!“, tadelte Green und stützte sich auf dem Pult ab. „Ist Ihnen klar, was passiert, wenn Sie schon wieder Probleme machen?“

Schon wieder?

„Ist ja gut“, sagte er, drehte sich um und legte die Hände in den Nacken, „mein Partner muss sowieso ein echter Mann sein, um mich auf Touren zu bringen...“

Green und Rowling verdrehten die Augen.

„Wie auch immer“, fuhr Rowling fort, „sie beide werden im nächsten Monat genauestens überprüfen, ob dieser Mensch den Tod wirklich verdient hat. Selbstverständlich dürfen Sie auch schon früher zu einem Ergebnis kommen.“

Will sah aus dem Fenster; es war mitten in der Nacht und er war ziemlich müde. Er würde wohl in nächster Zeit öfter die Nacht durchmachen.

Green legte einen Stapel Papier auf das Pult und erklärte: „Die Unterlagen über besagtes Subjekt. Und jetzt“, schloss er ab, „viel Erfolg.“

„Steh mir bloß nicht im Weg rum“, sagte Sutcliff abfällig und warf Will über die Schulter einen kurzen Blick zu.

„Nein“, erwiderte dieser und versuchte, sachlich zu bleiben, „auf gute Zusammenarbeit.“

Auf dem Weg nach unten begegneten sie Chris, welcher mit Bruce van Dogge unterwegs war. „Wie du siehst“, seufzte Chris und blieb stehen, „muss ich mit einem Nichtsnutz zusammenarbeiten.“ Er deutete abfällig auf van Dogge. „Aber wie ich sehe“, fuhr er fort, rümpfte die Nase und schielte zu Sutcliff, „bist du auch nicht besser dran, Will.“ Sutcliff funkelte böse zurück. Die zwei konnten sich offensichtlich nicht leiden.

„Komm schon, Tratschtante“, schnappte Sutcliff. „Gehen wir!“

Will nickte Chris noch kurz zu, dann ging er weiter.

Unten angelangt, stieß Grell ungestüm die Tür auf und fragte: „Und, was machen wir jetzt, B-Typ?“

„Wir werden auf ein Dach in der Stadtmitte steigen, um unser Opfer zu finden“, erklärte Will.

„Opfer“, wiederholte Grell. „Das passt mal wieder zu dir.“

Will zuckte die Schultern. Er würde sich schon daran gewöhnen.

„England ist nach wie vor ein schmutziger Ort“, beschwerte sich Grell, der sich ein Fernglas vor die Augen hielt. Es war völlig dunkel, nicht einmal der Mond stand am Himmel. Auch Will sah sich um und versuchte, das Objekt zu finden. Und – da war er.

„Ich habe ihn gefunden“, sagte er, Grell drehte sich um. „Er ist es. Thomas Wallis.“

Dort, an einem Fenster saß er und... schrieb etwas.

„Geboren 1775 in Brystal“, erklärte Will. „Ein junger Mann, der Schriftsteller werden will.“

„Ein Schriftsteller?“, fragte Grell gespielt erstaunt. „Eine häufig vorkommende Situation. Völlig mittellos, ohne Talent und unbeliebt“, sagte er abfällig, zückte die Unterlagen. „Das bedeutet“, meinte er ungerührt und wollte gerade einen Stempel auf einen Bogen Papier drücken, „er kann sterben.“

Blitzartig reagierte Will; er schnappte Grell die Unterlagen aus der Hand und erklärte: „Das werden wir einen Monat lang überprüfen.“ Wo käme man denn da hin, dachte er kopfschüttelnd.

„Heißt das etwa“, erwiderte Sutcliff mit gesenkter Stimme, „dass du dich mir widersetzen willst?“ Er öffnete die Lippen zu einem Grinsen.

Damit holte er aus und schlug mit seiner Sense gegen Will, der seine glücklicherweise auch gerade in der Hand hatte. Er hielt sie sich abwehrend vor den Körper, sodass Grells Sense mit einem metallischen Klirren auf Wills traf und dagegendrückte. Für einen Moment sahen sie sahen sie ich in die Augen. Grell grinste. Dann trat er Will so heftig in den Bauch, dass er zurückgeschleudert wurde und an einem Vorsprung abprallte. Langsam sank er daran hinab auf das Dach und schloss die Augen; er hatte Schmerzen. Da spürte er etwas Kaltes, Hartes an seinem Hals: Sutcliffs Sense. Er hielt sie ihm an den Hals und Will sah zu ihm auf.

„Immer noch widerspenstig?“, sagte er und lächelte.

„Die Überprüngszeit beträgt einen Monat“, beharrte Will, „und es ist für uns beide immerhin die erste Beurteilung! Damit uns kein Fehler unterläuft, sollten wir ihn weiter beobachten.“

Grell lockerte den Griff seiner Sense und wandte sein Gesicht ab. „Was bist du für ein Langweiler“, sagte er lächelnd. Dann entfernte er sich einige Schritte. „Mach doch einfach, was du willst. Genau das werde ich dann auch tun. Ach ja“, sagte er, „wann war noch gleich der Einsammeltag?“

Will rückte seine Brille zurecht. „1799. Am 16. Dezember, um 16 Uhr.“ Als er in den Himmel blickte, bemerkte er, dass bereits der Morgen dämmerte. Sollte er schlafen? Auf jeden Fall musste er nach Hause.
 

Als er das Gebäude betrat, war sogar der sonst vom Tageslicht erleuchtete Flur stockfister. Erschöpft kämpfte Will sich die Treppe nach oben, er bereute schon, dass er in den 3. Stock gezogen war. Plötzlich spürte er einen Luftzug, wie wenn jemand an einem vorbeirauscht. Er roch nach Kaffee. Hastig drehte er sich um; zweifellos war jemand hier. „Zeigen Sie sich sofort!“, rief er.

Aber niemand zeigte sich. Verstört stieg Will die wenigen restlichen Stufen nach oben, die in den 3. Stock führten.

Langsam schloss er die knarzende Tür auf und nahm sich vor, so schnell wie möglich Öl zu besorgen. Er hängte seine Jacke an den Garderobenhaken neben der Tür, stellte die Schuhe auf den Boden, legte seine Sense auf einem Kästchen ab und – da war sie.

Sie stand mitten im Flur, trug ein weißes dünnes Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte. Es schwebte um sie herum wie eine Aura. Sie hatte beide Hände an ihr Herz gepresst und... lächelte ihn an.

Will hielt den Atem an. Sie war das Einzige, das er schön fand, von dem niemand wusste, außer ihm selbst. Er hatte sie für sich allein.

„Hallo“, hauchte sie.

„Hallo“, erwiderte Will, überwältigt von ihrer atemberaubenden Schönheit.

„Komm“, sagte sie, kam näher und nahm in an der Hand.

Will ließ sich von ihr ziehen, diese Momente mit ihr waren kostbar, kostbarer zumindest als sein Schlaf. Ja, es stimmte: Wenn sie bei ihm war, war er verwandelt. Jemand anderes.

Sie liefen die Treppen hinunter nach draußen, Will war es gleich, dass er später wieder nach oben gehen musste.

Sie gingen einige Minuten schweigend eine Allee entlang, dann setzten sie sich auf eine Bank.

„Sieh nur“, flüsterte sie und zeigte zum Himmel, „der Schütze.“

Will folgte ihrem Blick, und tatsächlich, da war er. Will fragte sich...

„Ob er nicht eher ein Shinigami mit einer Sense ist?“, überlegte sie.

Will musste lächeln... Das tat er selten. Er sah ihr ins zum Himmel geneigte Gesicht. Ihr wunderschönes Gesicht. Die schmalen, geschwungenen Lippen, deren Schwung er tausendmal im Kopf nachgefahren hatte. Die fein geschwungene Nase, mit der sie einige Male seine angestupst hatte. Die dunklen Augenbrauen, die eine regelmäßige, halbrunde Form beschrieben. Er fragte sich, ob ihre Augen von sich aus so leuchteten oder nur das Funkeln der Sterne spiegelten. Sie drehte den Kopf zu ihm schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann lächelte sie ein zaghaftes, bedachtes Lächeln.

„Wirst du jetzt immer so spät kommen?

„Ja“, erwiderte Will, „meine Abschlussprüfung hat begonnnen Ich... Wir müssen den Todeskandidaten einen Monat lang überprüfen.“

„Tag und Nacht?“

„Ja“, bestätigte Will und wandte seine Augen wieder dem Himmel zu. Dem Shinigami aus Sternen. Er wollte jetzt nicht über die Arbeit reden.

Sie war so wunderschön. Noch nie war er von etwas so fasziniert gewesen.

„Will... Ich wollte dich noch etwas fragen.“

Er nickte.

„Will... ich...“ Sie holte tief Luft und stieß sie wieder aus. „Ich habe nur überlegt... Wen du mit ´wir´ meinst?“

Warum sagte sie es ihm nicht? Sie wollten sich nichts verschweigen.

Andererseits wusste sie nicht wirklich, was er war. Dass sein Beruf das Töten war. Er war eigentlich ein Auftragskiller.

„Ich meine mich und Grell Sutcliff. Wir sollen die Abschlussprüfung gemeinsam bestehen.“

Sie nickte.

Will fuhr in Gedanken den Verlauf einer Reihe schwach leuchtender Sterne nach. Sollte er ihr von diesem seltsamen Chris erzählen? Der weder die Augen noch die Brille eines Shinigami besaß und trotzdem die Prüfung durchführte? Nein. Er wollte sie nicht mit seinen Problemen bedrängen.

Andererseits... Sie wollten sich doch nichts verschweigen.Vielleicht war sie ehrlich zu ihm, wenn er ehrlich zu ihr war. Wieder fiel Will auf, wie sehr ihre Anwesenheit ihn veränderte. Sonst musste er nie überlegen, ob er etwas tun sollte. Er wusste immer alles.

„Einer ist mir aufgefallen...“, begann Will und drehte den Kopf zur Seite, aber sie war nicht mehr da. Verschwunden.

Langsam machte er sich wieder auf den Weg zu seiner Wohnung. Er sollte schlafen.

Will gähnte. Er hatte kaum geschlafen in dieser Nacht; um Thomas Wallis noch rechtzeitig abzufangen, musste er so früh wie möglich aufstehen – schließlich hatte er keinen geringsten Hinweis auf dessen Berufung. So hatte er beschlossen, um fünf Uhr aus dem Haus zu gehen.

Und hier war er nun. Er stand auf einem Dach eines hohen Hauses, von dem aus er eine ziemlich gute Aussicht auf Thomas Wallis´ Wohnung hatte. Es war ein Wirtshaus mit einigen mietbaren Zimmern, die recht klein waren, aber doch genug Platz für eine Person boten. Viel mehr wusste Will noch nicht über ihn.

Das sollte sich aber sehr bald ändern; er sah, wie der frisch geduschte – wie man an den nassen Haaren erkennen konnte, die ihm am Hals klebten –Thomas Wallis das Fenster öffnete und die frische Luft einsog. Er strahlte. Ein von Natur aus fröhlicher Mensch.

Jetzt hieß es, gut aufzupassen. Will durfte ihn nicht verpassen, wenn er das Haus verließ, und musste ihm dann über die Hausdächer folgen. Nur so konnte er unentdeckt bleiben.

Also sah Will ihm zu, wie er das Fenster wieder schloss, dann heftete er seinen Blick auf die sparsam beschriftete Tür des Wirtes und wartete. Nachdem er seine Gedanken einige Minuten lang zwischen seiner Vorgehensweise, dem seltsamen Chris Corner und ihr schweifen hatte lassen, sah er, wie die Tür geöffnet wurde und Thomas Wallis heraustrat. Er schloss die Augen, reckte seinen Kopf in den Himmel und verweilte für einen Augenblick. Er trug ein beigefarbenes Hemd aus Leinen, eine braune dicke Hose und Stiefel aus hellem, weichen Tierleder. Außerdem saß auf seinem weißblonden Kopf ein Hut mit einer seltsamen Form, den man auch als Kappe oder Mütze bezeichnen könnte. Will wunderte sich, dass er mit dieser leichten Bekleidung nicht fror. Vielleicht tat er das doch, aber ihm war nichts anzumerken.

Jetzt ging er los. Will drehte seinen Kopf aufmerksam in die Richtung, die er einschlug. Dann bewegte er sich zügig nach links und sprang auf das nächste Dach. Es war etwas tiefer, aber lange nicht so tief, dass Will sich Sorgen machen müsste, entdeckt zu werden. Noch ging Wallis glücklicherweise geradeaus, sodass Will ihm einfach folgen konnte, indem er sich langsam von Hausdach zu Hausdach bewegte. Er war gerade so nah, dass er hören konnte, wie er fröhlich vor sich hin pfiff. Was für eine sinnlose Beschäftigung. Er hätte während des Gehens seinen Tagesplan noch einmal durchgehen können, wie Will es immer machte.

Jetzt bog er in eine kleine Seitengasse ab, jedoch stand Will auf einem Dach auf der anderen Straßenseite. Aber er wusste immer alles. Er rannte über die Dächer, bis er am Ende der Straße angelangt war und über ein Haus um die Ecke und somit auf die andere Seite der Straße gelangte. Jetzt musste er nur noch den Weg zurück laufen, und dann... musste er schnellstens nach unten kommen. Während er über die Hausdächer flog, überlegte er, wie er es unauffälig machen könnte, aber... dann erinnerte er sich wieder, dass in den Vorschriften nichts von Geheimhaltung gestanden hatte. Er stand jetzt am Rand eines Dachs, das tief lag. Perfekt. Will hob einen Fuß vor den anderen und sprang. So, wie er es oft geübt hatte, um sich auf Augenblicke wie diesen vorzubereiten, wenn er besonders schnell von einem Ort zum anderen musste. Wahrhaftig, Will war immer perfekt vorbereitet.

Sobald er auf den harten Pflasterstein traf, rannte er weiter, so schnell er konnte. Er achtete nicht auf die wenigen Menschen, die ihm verdutzt nachstarrten. Es stellte sich bald heraus, dass die kleine Seitengasse nicht wirklich eine Gasse war; sie war nur einige Meter lang und führte dann auf einen großen Marktplatz mit einer Kirche. Vergeblich versuchte Will, Thomas Wallis zu erspähen, aber er hatte ihn verloren. Entmutigt ließ er die Arme sinken und an seinem Körper entlang schlaff herunterhängen. Diesmal hatte er versagt. Das durfte nicht noch einmal passieren.

Und plötzlich sah er etwas rot aus der Menge aufblitzen. Will konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er lief zügig durch die Menschenmenge, bis er bei Sutcliff angelangt war.

„Na, jetzt schon die Fährte verloren?“, fragte er und fuhr sich durchs Haar. „Das ist ein schlechtes Zeichen. Du wirst es nicht schaffen mit deinen B-Fähigkeiten.“

Als Will ihn nervös ansah, nickte er mit dem Kopf nach rechts: „Da lang.“

Er ging schnell, aber elegant, in die Richtung, die er gezeigt hatte, und Will folgte ihm in schnellem Tempo.

„Huch?“, machte... Grell. So sollte Will ihn nennen. „Zu schade. Ich kann ihn nicht mehr sehen.“ Er öffnete die Lippen zu einem verschwörerischen Grinsen, das Will daran erinnerte, dass er raubtierzähne besaß. „Wir müssen wohl die Initiative ergreifen.“ Mit diesen Worten packte er Will am Arm, sprang an einer Hauswand hoch und stieß sich davon ab. Bevor er an der Hauswand direkt gegenüber abprallen konnte, stieß er sich auch von dieser ab und sprang so mit dem benommenen Will am Arm zwischen zwei Wänden hin und her, immer höher, bis beide schließlich auf dem Dach des rechten Hauses standen. Grell ließ Will keine Zeit zum Verschnaufen; er zog ihn unsanft am Arm vorwärts, während er auf das nächste Dach sprang. Will befreite sich aus Sutcliffs grobem Griff und flog ihm hinterher. Wie er so unbekümmert Gefahr lief, einen schwerwiegendes Fehler zu begehen, brachte ihn aus dem Konzept. Wie konnte er nur ein solches Risiko eingehen? Wobei... war das vielleicht der Grund, warum er ein Dreifach-A in der Praktik bekommen hatte? Musste man als Shinigami einfach handeln, ohne nachzudenken oder alles zu planen? Sollte man das Meiste dem Zufall überlassen und es einfach noch einmal versuchen, wenn es missglückte?

„Da ist er“, rief Grell triumphierend. Er keuchte nur ein klein wenig. Und tatsächlich: Thomas Wallis betrat gerade ein kleines Gebäude, das sich in verschnörkelten Buchstaben Druckerei nannte.

Eine Druckere. Natürlich. Jemand, der ein Autor werden wollte, wählte auch einen entsprechenden Beruf.

Will warf Grell einen eindeutigen Blick zu, dann sprangen sie beide vom Dach; Sutcliff graziös und dramatisch, Will kerzengerade und sicher. Sie nickten sich kurz zu, dann stellten sie sich an ein Fenster, das von einer harten Schmutzkruste überzogen war. Man hatte von dort aus eine mittelmäßig gute Sicht auf einen kleineren Raum, der voller Druckerpressen stand. Die Tür öffnete sich und Thomas trat ein. Er schleuderte seine kleine Tasche in eine Ecke neben der Tür, dann schlurfte er zu einem der Geräte.

Nachdem Will und Grell ihm einige Zeit beim Arbeiten zugesehen hatten, erhob sich Sutcliff aus seiner gebeugten Haltung – die er eingenommen hatte, um nicht entdeckt zu werden – und streckte sich. „Ich glaube, wir haben für heute genug gesehen.“

Will sah ihn ungläubig an. Das sollte alles sein? Nein. Sie mussten warten, bis er seine Mittagspause hatte, und ihn dann weiter beobachten. Was er in seiner Freizeit tat, sagte oft mehr über einen Menschen aus man dachte. Er erklärte dies Grell. Und dann dämmerte es Will: wie ermüdend die Abschlussprüfung werden würde.

Sutcliff schlug mit geluwannigter Stimme vor: „Lass uns zur Shinigami-Behörde gehen und in ein paar Stunden wiederkommen. Es bringt doch nichts, wenn wir hier ewig warten.“ Will zögerte kurz, aber dann willigte er ein. Wenn sie heute zu spät kämen und Thomas nicht vor der Mittagspause fanden , würden sie morgen schon früher hier sein. Grell nahm seine Hand und beförderte ihn auf seine Art über die zwei alten Häuser, deren Wände schon abbröckelten, nach oben.

Es war seltsam voll für diese Uhrzeit. Draußen war gerade die Sonne aufgegangen, und der Himmel färbte sich langsam grau. Es sollte wieder ein kalter, bewölkter Tag werden.

Will bahnte sich seinen Weg durch die Massen an Shinigami, bis er in der Cafeteria angekommen war. An der Theke hatte sich bereits eine längere Warteschlange gebildet, und es blieb Will nichts anderes übrig, als sich ganz hinten anzustellen. Er würde wohl eine Viertelstunde warten müssen.

Ziellos ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen, und er blieb an einem silbrig schimmernden Augenpaar hängen, das ihn eingehend betrachtete. Chris.

Mit leicht zusammengekniffenen Augen und unter dem Stuhl verschränkten Beinen saß er da und zuckte nicht mit der Wimper, nicht einmal als er Will seinen Blick bemerken sah. Ohne die Augen auch nur eine Sekunde abzuwenden, schob er sich eine Gabel in den Mund, auf die er einige Walnussstücke aufgespießt hatte.

Will blinzelte und wandte sich ab. Er drehte seinen Kopf so zur Seite, dass Chris ihn nicht sehen konnte. Dieser seltsame Mann machte ihn nervös. Was hatte es mit seinen Augen auf sich? Und der fehlenden Brille? Ehe Will sich noch mehr Gedanken machen konnte, riss ihn eine sanfte Stimme aus den Gedanken. „Früh- Frühstück, was?“ Chris stand neben ihm und starrte ihn an, jetzt aber lächelnd. Es war ein seltsames Lächeln, seine Augen blieben völlig starr, nur sein Mund zeigte nach oben.

Er wusste, dass es zeimlich früh war, aber dennoch griff Will nach der kleinen goldenen Uhr in seiner Jackentasche. Sie zeigte kurz vor sieben Uhr an. Jetzt erst bemerkte er, wie müde er eigentlich war, und konnte nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken. Chris‘ Lächeln wurde zu einem Grinsen, als er fortfuhr. „Ich könnte dich ein wenig nach vorne bringen“, flüsterte er verschwörerisch. Ehe Will widersprechen konnte, hatte Chris ihn schon grob am Rücken gefasst. Er schob ihn durch die vielen Leute hindurch, die daraufhin lauthals zu schimpfen begannen. Will versuchte sich aus Chris‘ Griff zu befreien, doch der grub seine Finger nur tiefer in seinen Rücken. Es tat weh.

Nur wenige Sekunden später stand er direkt hinter dem gerade bestellenden Shinigami. Verblüfft drehte er sich nach Chris um – doch dieser saß bereits wieder auf seinem Platz, als hätte er sich kaum gerührt. Als Will ihn etwas verwirrt betrachtete, huschte ein Lächeln über seine dünnen Lippen. Dann schob er sich eine Gabel Walnüsse in den Mund und drehte den Kopf zur Seite.

Als er sich wieder gefangen und sein Frühstück bestellt hatte, setzte Will sich zu Chris.

„Was war das eben?“, fuhr er ihn an.

Chris starrte an die Decke. „Ich habe dir nur geholfen. Aber“, er beugte sich vor und sah Will direkt in die Augen, „ich habe auch ein eigenes Interesse daran. Jetzt habe ich mehr Zeit, um mit dir zu plaudern.“ Er grinste.

„Ich habe Zeit bis heute Mittag“, sagte Will.

„Oh“, sagte er schlicht, lehnte sich wieder zurück und sah, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, aus dem Fenster, „dann bist du jetzt eben ewige Warterei los. Jedenfalls“ – er zog das Wort in die Länge – „finde ich, dass du auch einmal anfangen solltest zu essen.“

Ach ja. Das, weswegen er hierher gekommen war. Will nahm sein Messer in die eine Hand und ein Stück helles Brot in die andere. Die Rinde war hart – das Messer war zu weich, um sie zu zerschneiden.

„Lass mich das machen“, meinte Chris, riss Will das Brot aus der hand und legte es auf die Mitte de Tisches. Er griff an seinen Gürtel und zog etwas heraus – seine Todessense. Aber es war keine gewöhnliche Sense, sondern... ein Schwert. Die zerkratzteKlinge war etwa zwanzig Zentimeter lang, der mahagonihölzerne Griff hatte die Form eines Kreuzes und war mit weißen und schwarzen Edelsteinen besetzt, die matt glänzten. Er holte aus, hielt sein Schwert einen Moment lang in der Luft und grinste Will an, wobei er seine perlmuttfarbenen Zähne entblößte. Dann stieß er das Schwert mit solcher Wucht in das Stück Brot, dass es zerkrümelte und die kleinen Brotstücke durch den ganzen Saal flogen. Alle Shinigami wandten sich zu ihnen um. Chris setzte sich wieder. „Ups“, sagte er, „ich habe wohl etwas zu weit ausgeholt.“

Einen Moment später drehten sich alle Leute zueinander um und spekulierten wie wild. Einige warfen ihnen immer wieder einen verstohlenen Blick zu.

„Sie haben die Abschlussprüfung bestanden?“, fragte Will ernst. Das war die Vorraussetzung um eine eigene Death Scythe zu besitzen. Und außerdem... Waren nicht ausschließlich Gartenwerkzeuge erlaubt?

„Nun ja“, erwiderte Chris und lächelte, „so könnte man es auch nennen.“ Ohne Wills Reaktion abzuwarten, fuhr er fort. „Ich bin erst vor kurzem hierher gezogen. Eigentlich bin ich in Irland geboren und habe bis vor Kurzem dort gelebt.“

„Interessant“, war alles, was Will herausbrachte. Erst, als Chris ihn fragend ansah und den Kopf neigte, antwortete er: „Ich bin hier geboren.“

„Interessant“, ahmte Chris ihn nach. „Nun, was machst du in deiner Freizeit?“

„Ich? Nun...“ Fieberhaft überlegte er, was er in seiner Freizeit machte. Aber er kam nur zu einem Schluss: Er hatte keine Freizeit. Er war eigentlich immer am Arbeiten. Er öffnete den Mund und erwartete, dass ihm etwas Schlagfertiges einfiel, aber alles, was er herausbrachte, war: „Verschiedenes.“

Chris schien ihn sofort durchschaut zu haben, denn er grinste kurz, bevor er wieder ernst fragte: „Bist du schon viel in der Welt herumgekommen? Asien und so?“

Will schüttelte nur den Kopf.

„Und sonst? Hast du andere Interressen?“

Jetzt wurde es ihm zu dumm.

„Ich bin an der Reihe“, sagte er gereizt. „Also, was sind Ihre Lieblingsbeschäftigungen?“

„Nun ja“, erwiderte Chris, „meistens spiele ich Klavier.“

Will nickte. Eine zeitlang schwiegen sie beide, dann fragte er: „Was hat es mit Ihrer Sense auf sich?“

Chris‘ Gesichtsausdruck wurde kalt. „Was soll schon damit sein“, meinte er gleichgültig.

„Es sind nur Gartenwerkzeuge erlaubt“, tadelte Will.

„Ach“, machte Chris und lachte auf, „wer kümmert sich denn schon um solche Regeln?“ Als er Wills Miene bemerkte,hörte er auf zu lachen und fügte hinzu: „Oh, tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass du zu dieser Sorte Mensch gehörst, die das Gesetz so streng befolgen.“

„Jedes Gesetz hat seinen Grund, Corner“, sagte Will kopfschüttelnd. Er stand auf, um sich ein neues Stück Brot zu holen. Dieser Chris war wirklich seltsam. Er hatte weder Shinigami-Augen noch eine Brille noch ein geprüftes Werkzeug. Er musste etwas vor ihm verbergen. Hatte es mit seinem Wesen zu tun... oder hatte er vielleicht schwarze Geschäfte am Laufen?

Als er mit einer Semmel zu seinem Tisch zurückkam, war Chris verschwunden. Alles, was von seiner vergangenen Anwesenheit zeugte, war ein seltsames Gefühl, als hätte sich ein Nebel über den Tisch gelegt.

Ein düsterer, tödlicher Nebel.

Will sah auf seine Uhr. Kurz nach elf. Er hatte vorgehabt, sich um Punkt elf Uhr mit Grell Sutcliff zu treffen. Vor dem Eingang.

Aber er kam nicht. Will öffnete die gläserne, riesengroße Tür und trat hinaus auf die Straße. Die Blätter fielen von den Bäumen, alles war in warme, dunkle Herbstfarben getaucht. Sogar das Licht wirkte beinahe golden. Außerdem war es ziemlich kalt.

Zügig setzte er sich in Bewegung und bog in die Hauptstraße ein. Und dann, von einem Augenblick auf den anderen verebbte die Stille. Leute riefen durcheinander, Pferde wieherten, Straßenmusiker spielten auf ihren Violinen, Kinder schrien, in der Ferne flötete eine Dampflokomotive. Augenblicklich blieb er stehen, in seinen Ohren rauschte es. Er war schon immer empfindlich gegenüber Geräuschen gewesen. Schnell schüttelte Will den Kopf und ging weiter – direkt in den Lärm hinein. Es wurde immer lauter, als würde um seinen Kopf ein Dutzend Bienen schwirren, jede einzelne voller Stimmen und Geräusche. Urplötzlich gaben seine Knie nach, und Will entfuhr ein leises Stöhnen. Er dachte, er würde nun in den Dreck fallen, aber stattdessen packte ihn irgendjemand von hinten. Grell Sutcliff hatte sich Wills Arme zwischen Unter- und Oberarm geklemmt und ihn somit aufgefangen.

„Es gehört sich nicht, andere zu versetzen“, sang er ihm leise ins Ohr. Will versuchte, seine Verlegenheit zu verbergen, klopfte seine Hose ab und sagte: „Sie waren mindestens vier Minuten zu spät. Ich hatte jedes Recht, alleine loszugehen.“

„Tse“, machte Grell und stolzierte los. Will hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, schließlich musste er laufen, um mit ihm auf gleicher Höhe zu bleiben. „Was haben Sie vor?“, keuchte er.

Grell, der nicht im Geringsten angestrengt zu sein schien, erwiderte: „Ich weiß, wo er ist, dieser... Thomas. Folg mir einfach“, grinste er durch seine spitzen Zähne. Einfach? Will lachte innerlich. „Aber er müsste doch noch in der Druckerei sein!“, sagte er im Laufen.

„Falsch“, erwiderte Grell, „er wurde heute schon früher entlassen, weil er einen Termin bei einem Verleger hat.“

Woher wusste Grell das? Verwundert blickte Will ihm in die Augen – doch das war ein Fehler, denn eine Sekude später stieß er gegen eine ältere Frau. „Passen Sie doch auf!“, schrie sie ihm nach, als er weiter rannte.

Grell grinste und bog in eine kleinere Straße ein, wo es nicht mehr ganz so laut war. Will entspannte sich, seine verkrampften Muskeln wurden etwas lockerer. Schließlich wurde Grell langsamer, bis sie vor einem großen Gebäude aus Backstein stehenblieben.

Will wollte gerade etwas sagen, da zog sein Partner ihn hinter einen Busch.

„Ich habe jetzt nicht das vor, was du denkst“, grinste er, als er sich die Jacke auszog. „Ich brauche lediglich eine weiche Unterlage zum Sitzen... Oder Liegen. Also“, fuhr er fort, „ich habe meine Arbeit erledigt. Weck mich, wenn irgendwas passiert.“

Also blieb Will einfach sitzen, spähte durch die kahlen Zweige hinaus auf die Straße. Thomas Wallis schien bereits in dem Gebäude zu sein, denn er kam in der folgenden Stunde nicht vorbei.

Will fühlte sich behaglich hier, warm, geschützt vor Blicken, mitten in der Öffentlichkeit und trotzdem wie in einem kleinen Haus. Über dem Busch hingen die schweren Zweige eines Baumes, dahinter war nur der Hinterhof eines Schlachthauses, das längst keinem mehr gehörte.

Und plötzlich stand direkt vor ihm, auf der anderen Seite des Busches Chris. Er starrte ihn durch die Zweige hindurch an und verzog keine Miene. Perplex rieb Will sich die Augen, und als er einen Augenblick später wieder nach draußen schaute, war Chris verschwunden.

Irgendwann am späteren Nachmittag, als die Tür zum zigsten Mal aufging, schrak Will auf. Da. In der letzten Stunde hatte er abgeschaltet. Er hatte zwar immer auf dieselbe Stelle gestarrt, aber nichts davon mitbekommen, was passiert war. Immer nur ein Gesicht im Kopf.

Und da war das Gesicht. Will hielt die Luft an. Niedergeschlagen, resigniert, frustriert, enttäuscht, fast verzweifelt. Mit diesem Gesicht und hängenden Schultern trottete Thomas Wallis davon.

Hastig weckte Will seinen Partner und rüttelte an seinen Schultern, während dieser schlaftrunken vor sich hin murmelte.

Er musste das schaffen. Egal, ob allein oder mit ihm. Schnell schlüpfte er unter dem Busch hervor und huschte hinter Thomas Wallis auf die andere Straßenseite, wo die hohen Häuser mit den Flachdächern standen. Er machte einen Schritt zwischen zwei eng beieinanderstehende Hauswände. Perfekt. Jetzt musste er nur noch... Ja, er musste geschickt sein und es so machen wie Grell. Für Zweifel hatte er jetzt keine Zeit. Flink stieß er sich zwischen den beiden Hauswänden hin und her, immer weiter nach oben. Als er oben war, suchte er kurz die Straße nach Thomas Wallis ab, und er hatte Erfolg. Er war noch gar nicht so weit weg, und so reichte es, dass Will zügig neben ihm herlief. Nur mit ein paar Metern Höhenunterschied, dachte er belustigt.

Jetzt bewegte sich Thomas Wallis in Richtung seines Heims. Will sprang von dem Dach ab und folgte ihm unauffällig, bis er schließlich das kleine Wirtshaus erkannte. Als der junge Mann das Haus betrat, wartete Will kurz ab, dann drehte er um. Für heute hatte er genug, es war bereits spät am Nachmittag und noch kälter geworden. Fröstelnd machte er sich auf den Weg nach Hause.

Wenig später stand er neben der Spüle, vor sich auf dem hellen Holz der Küchentheke ein paar Karotten, nicht mehr ganz frischer Schnittlauch und eine handvoll Kartoffeln. In letzter Zeit aß er immer viel Gemüse. Er brauchte jetzt Energie.

Nachdenklich begann Will, die Karotten in kleine Stifte zu schnippeln.

Kaum hatte er sie einen Tag lang nicht gesehen, vermisste er sie so sehr, als wären sie sich seit Wochen nicht mehr begegnet. Ihre weichen hellen Haare, die ein wenig gewellt waren. Ihre großen mandelförmigen Augen, deren Farbe er noch nie hatte erkennen können, da er sie immer nur nachts zu Gesicht bekam. Ihre kleinen, weichen Hände mit den glatten Fingernägeln. Den leisen süßen Duft, der sie immer wie Seide umgab.

Er musste sie wiedersehen. Bald...

Perspektivenwechsel

*
 

Ein leichter Nebel lag in der Luft. Zwischen das leise, stetige Rauschen mischte sich ein Ton, ein Akkord, der wie der Gesang von Engeln kang. Es war unglaublich hell, aber das Licht blendete nicht. Es war warm und sanft. Weiße Federn fielen von oben auf sie herab, streiften ihre Haut fast unmerklich und glitten dann unter ihr in die Tiefe.

Sie dachte, sie hätte es geschafft. Warum? Warum war es so unmöglich, ihr den größten Wunsch zu gewähren, den sie je gehabt hatte? Es war kein Verbrechen. Es war... ihr Schicksal.

„Du hättest das nicht tun dürfen“, ertönte eine leise, aber klare Stimme. Sie kam nirgendwoher, sie war überall. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

„Ich weiß“, sagte sie leise. Es war eine Lüge.

„Ich muss dich bestrafen.“ Nun wurde die Stimme lauter.

Sie nickte zaghaft.

„Du wirst sterben!“, rief die Stimme.

Sie wäre in sich zusammengesackt, wenn sie könnte. „Nein!“, schrie sie. „Bitte nicht! Ich mache alles!“

„Dies ist die einzige gerechte Strafe“, sagte die Stimme und wurde wieder leiser. „Du wirst durch einen Shinigami sterben. Schnell und schmerzlos. Er macht seine Sache gut, das verspreche ich dir.“

Sie kämpfte gegen die Tränen an. Sie wollte nicht sterben, denn... dafür gab es sie nicht.

„Die, die in deinem Herzen sind, werden für immer dort bleiben“, sagte die Stimme tröstend.

Jetzt konnte sie sich nicht mehr halten. Eine Träne rollte aus ihrem Auge und tropfte auf eine Feder, die daraufhin zerfiel. Die vielen kleinen Flaumknäuel wirbelten im Kreis herum. Weitere Tränen folgten, bis ihre Wangen tränenüberströmt waren. Obwohl sie niemanden sah, spürte sie, wie sie in die Arme genommen wurde. In weiche, warme, sanfte, ungeheuer tröstende Arme.

Er war so gerecht. Er bestrafte jeden, ohne ihn zu hassen, liebte jeden, egal was er tat, war Richter und Beschützer zugleich. Sie schmiegte sich kurz in seine Arme, dann fragte sie zögerlich: „Wie lange noch?“

„Nicht mehr lange“, antwortete die Stimme.
 

*

Will schrak auf. Er war beim Kochen eingeschlafen. Und hatte vergessen, seinen Wecker zu stellen. Es war zehn Uhr morgens.

Hastig sprang er auf. Ihm wurde schwindlig und er setzte sich auf einen Stuhl. Sein Kopf dröhnte. Die Schmerzen pochten in seiner Stirn. Ihm war speiübel.

Er würde zumindest am Vormittag nicht viel machen können. Also schleppte er sich in sein Schlafzimmer aufs Bett.

Hoffentlich hatte er sich keine dieser gerade kursierenden Grippen eingefangen. Das konnte er jetzt nicht brauchen. Er wusste wirklich nicht, warum es ihm auf einmal so schlecht ging. Will wollte sich noch duschen, aber es gelang ihm nicht mehr. Sofort war er wieder eingeschlafen.
 

Beobachtungstagebuch William T. Spears
 

Das Objekt Thomas Wallis ist ein ehrbarer junger Mann. Tagsüber arbeitet er in einer Druckerei und abends schreibt er in seinem Zimmer an einem Roman. Er war damit schon bei einem Verleger, aber er scheint kein Glück gehabt zu haben.

Arbeiten, Roman schreiben, einen Verleger suchen. Das ist sein ganzes Leben.
 

Will klappte sein Beobachtungstagebuch zu und schaute in den goldenen Himmel des frühen Abends. Da, an dieser Stelle, musste der Shinigami aus Sternen gewesen sein. Und hier... Ja, neben ihm hatte sie gesessen. Als hätte sie einen Teil ihrer Anwesenheit auf der Bank hinterlassen, berührte er das splittrige Holz neben sich. Nichts. Kein Schauder, kein warmes Prickeln in seinen Armen. Einfach nur Holz. Und... ein Splitter im Daumen.

Dieser Thomas Wallis schien keine Probleme zu machen, aber... seine Existenz wäre sicherlich nicht weltbewegend. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit würde er sterben.

Will fühlte sich etwas besser. Morgen würde er wieder arbeiten können.

Plötzlich hörte er Schritte. Rasch sprang er auf und versteckte sich hinter einem Baum. Er sollte noch kurz unentdeckt bleiben.

Thomas Wallis. Lange hellblonde Haare, ein Teil davon am Hinterkopf zusammengebunden, niedergeschlagener Gesichtsausdruck, einen Stapel Papier in der Hand. Seufzend ließ er sich auf die Bank nieder, wo gerade noch Will gesessen war. Er schob das Papier in seinen Händen hin und her und sah betreten zu Boden.

„He, du!“, sagte eine männliche Stimme neben Will. Er drehte sich zur Seite und wurde von einem grellen Rot geblendet: Sutcliff. Er trug einen tiefroten Mantel, der ihm bis fast zu den Knien reichte. Beim Oberkörper teilten sich die beiden Hälften des Stoffes, die mit länglichen vergoldeten Knöpfen verschlossen waren. Darunter trug er ein weißes Hemd und ein rotes Jackett, am Kragen prangte eine hellrote Schleife. Auf dem Kopf saß ein schwarzer Piratenhut. Er hatte sein typisches Grinsen aufgesetzt.

„Diese Aufmachung“, murmelte Will. Dieser Sutcliff machte immer so viel Wirbel um nichts.

„Das ist doch völlig egal“, sagte er und hob eine Hand. „Und? Willst du immer noch nicht den Stempel draufdrücken?“

„Es sind doch erst drei Tage vergangen“, erwiderte er kühl.

„Was soll das alles?“, nörgelte Grell und drehte Will den Rücken zu. „Ich bin der Erde so überdrüssig und aufregende Männer gibt es hier auch keine! Also triff deine Entscheidung schnell.“

Plötzlich wurde er ungeheuer wütend auf Grell. Er hatte diese respektlose Art, interessierte sich nur für etwas, wenn er selbst Vorteile daraus ziehen konnte. Also erwiderte Will möglichst ungerührt: „Gut, wie Sie wollen.“

Es war an der Zeit. Er ging zu der Bank, auf der er eben noch selbst gesessen war.

Ein Paar großer Augen betrachtete ihnüberrascht mit gläsernem Blick. Die Augen waren tiefblau, wie der Himmel an wolkenlosen Sommertagen. Will hatte noch nie ähnliche Augen gesehen. Es waren die von Thomas Wallis.

„Guten Tag, der Herr“, sagte Will freundlich. „Mein Name ist William T. Spears, sehr erfreut.“

Verdutzt antwortete Thomas: „Äh... Guten Tag, ich bin...“

„Thomas Wallis“, beendete Will den Satz für ihn.

„Aber woher...“

„Dürfte ich diesen Roman sehen?“
 

Es war kein Wunder, dass der Roman nicht angenommen geworden war. Es ging in den knapp 100 Seiten einzig um den Adeligen Mr Cole, und man erfuhr nicht einmal seinen Vornamen. Wallis beschrieb darin sein tägliches Leben und schob sehr geschickt Kritik an der Regierung des Landes ein.

„Diese Prosa erscheint mir etwas sehr weitschweifig“, kritisierte Will.

„Ganz genau dasselbe hat auch schon ein Verleger zu mir gesagt“, klagte Thomas.

Will wollte gerade etwas erwidern, da packte Grell ihn plötzlich und unerwartet am Kragen.

„Sag mal, was treibst du denn hier?“, zischte er. Will konnte den Geruch süßer Pfefferminze, den er so verabscheute, deutlich wahrnehmen.

„Das Sie sagten, ich solle mich schnell entscheiden...“, sagte Will schnell. Er wollte, dass Grell Abstand nahm.

„Und deshalb...“, empörte sich sein Gesprächspartner. Will hielt die Luft an. „Bist du bescheuert?!“, rief Grell.

„In den Vorschriften zur Überprüfung steht nicht, dass es verboten ist, Kontakt aufzunehmen“, zitierte Will.

„Warum tragen Sie denn eine Sense bei Sich?“, kam es von Thomas Wallis. Will war erleichtert, einen Grund zu haben, den Kopf wegzudrehen und antwortete schlicht: „Das ist eine Todessense.“

Grell gab einen fassungslosen Laut von sich. „Du kannst doch nicht...!“

„Eine Todessense?“, wiederholte Thomas. „Das ist doch eine, wie sie die Shinigami mit sich führen sollen... Nicht wahr?“

„Ja“, sagte Will und stand auf. „Wir beide sind tatsächlich Shinigami.“ Grell sprang entsetzt auf und Thomas Wallis‘ Miene wurde verständnislos.

„Es ist“, fuhr Will fort und neigte sein Gesicht so, dass sich die Abendsonne in seiner Brille spiegelte, „nämlich so, dass Sie schon in allernächster Zeit sterben werden – wir haben zu überprüfen, ob Sie ein Mensch sind, der es wert ist, weiterzuleben.“

Grell hielt ihm seine Sense an die Kehle. „Ich hätte dich doch gleich töten sollen.“

Will zitierte wieder: „Dass man seine Identität nicht bekanntgeben darf, steht nicht in den Prüfungsrichtlinien.“

Empört rief Grell: „So etwas versteht sich doch von selbst!“

Begeistier sagte Thomas nun: „Jetzt verstehe ich, Sie beide sind sicherlich Schauspieler! Ist das etwa diese avantgardistische Form des Theaters, bei der die Zuschauer in die Handlung miteinbezogen werden?“

„Halt den Mund!“, unterbrach ihn Grell. „Kinder haben hier nichts zu melden!“ Will musste unwillkürlich grinsen.

Ungerührt schwärmte Thomas weiter: „Damit erklärt sich auch ihr fantastisches Aussehen!“ Grells Gesichtsausdruck wurde plötzlich fassungslos. „Die leuchtend roten Haare, die zarte blasse Haut – ich habe noch nie zuvor einen so schönen Mann gesehen. Unser London ist wirklich eine Weltstadt!“

„Oh ja!“, schrie Grell jetzt. „Diese Welt ist die Bühne und ich bin der Schauspieler. Die Handlung ist eine Liebesgeschichte zwischen Mann und Frau, nein – ein Drama um die verzweifelte Hoffnung zwischen ihnen!“

Während Grell hysterisch zu lachen begann, musste Will an sich und... an sie denken.

Will wusste immer alles. Dabei wusste er noch nicht einmal ihren Namen.

Durch das Fenster fiel Modlicht in sein kleines Schlafzimmer. Will starrte seit fast einer Stunde an die Decke.

Er wusste rein gar nichts über sie, weder wo sie wohnte, noch ihre Beschäftgung. Er hatte fast nicht mit ihr geredet. Er kannte nicht einmal ihren Namen. Und trotzdem glaubte er, sie von ganzem Herzen zu lieben. War das überhaupt möglich nach so kurzer Zeit?

Eigentlich hatte er sich geschworen, nie mehr jemanden zu lieben. Es war so schrecklich schiefgegangen damals.

Nein. Er durfte sie nicht wiedersehen. Nie mehr!
 

Chris saß auf seinem Stammplatz und schien durch Will hindurchzustarren. Er knabberte an einer Erdbeere, die er in Daumen und Zeigefinger seiner beiden Hände hielt. Wie ein Hamster, dachte Will und musste sich beherrschen, um nicht zu grinsen. Er nahm sein Tablett und setzte sich zu ihm.

„Auch schon da?“, lachte Chris.

Will nickte kaum merklich. „Warum essen Sie immer ihre Mahlzeiten so...“

„Lass das mit dem Sie. Ich mag es nicht“, unterbrach ihn Chris. Sein Blick bereitete Will Unbehagen.

Er schüttelte den Kopf. „Es ist ein Gebot der Höflichkeit in unserer Gesellschaft. Akzeptieren Sie das.“ Will sagte das so, als hätte Chris jemals etwas so gemacht wie alle anderen.

„Ach ja?“ Chris lächelte milde. „So, wie man Meerestiere erst quält, dann tötet und schließlich so ekelhaft zubereitet, dass man sie doch nicht isst? Das ist also für dich höflich... Muss ich mir direkt aufschreiben.“

Mit schlechtem Gewissen starrte Will auf seinen Garnelensalat. Er hatte einfach irgendetwas bestellt, um... Er brauchte einen Grund, bei Chris zu sein. Nein, er liebte ihn nicht. Er wusste nicht einmal, ob er ihn mochte. Es war nur angenehm, in seiner Nähe zu sein. Als würde er mit einem unsichtbaren Schutzschild alles Böse fernhalten. Obwohl der Schutzschild so dunkel war.

Will starrte auf die Erdbeere, an der sein Gesprächspartner immer noch knabberte, und erkannte mit Ekel, dass ein Tropfen Ketchup darauf prangte.

Chris schien seinen Blick bemerkt zu haben, denn er grinste und hielt Will die Erdbeere hin. Der aber winkte dankend ab, obwohl er auch seinem Garnelensalat nicht so viel abverlangen konnte. Egal. Er würde auch ohne Essen auskommen.
 

„Meinen Sie wirklich, dass wir das tun sollten?“, fragte Will misstrauisch.

Grell zwinkerte ihm bloß zu und hievte sich am Fensterbrett hoch. Thomas Wallis wohnte im ersten Stock, was es für Grell und Will ziemlich einfach machte, ihn zu beobachten. Beide hockten jetzt auf dem glücklicherweise ziemlich großen Fensterbrett und spähten durch das weit geöffnete Fenster ins Zimmer.

Thomas Wallis saß an einem Tisch, den Kopf in die Arme gelegt. Er schlief. Ohne Vorwarnung hüpfte Grell in den Raum. Aufmunternd nickte er Will zu, welcher jetzt auch das Zimmer betrat.

Es war ziemlich klein und besaß nur einen protzigen hölzernen Schrank, einen Schreibisch am Fenster und ein ziemlich unbequem wirkendes Bett, das zerwühlt aussah.

Grell widmete sich gleich dem Stück Papier, das auf dem Tisch unter Wallis‘ Armen lag. Behutsam, ohne ihn aufzuwecken, zog er es hervor und begann leise vorzulesen.
 

Woher wusste der Mensch von diesen Dingen? Will fühlte sich plötzlich beobachtet. Es war ihm unheimlich, wie der junge Autor scheinbar sein ganzes Leben in einen Roman umwandelte.

Trotzdem: Er musste es aufschreiben.

Er hat begonnen, einen neuen Roman zu schreiben. Der Roman trägt den Titel „Die Geschichte des Shinigami Will“. Eine Geschichte über den Shinigami-Schüler Will und wie er die Leben der Menschen in Augenschein nimmt. Emotionslos betrachtet er die Seelen, die dem Tod geweiht sind – gleichgültig ob gut oder böse. Dieser Will verliebt sich in ein menschliches Mädchen; Ein Mädchen, dessen Schicksal es ist, bald zu sterben. Das Mädchen erwidert seine Liebe. Will schwankt zwischen dem Gesetz der Shinigami und seinen tiefen Gefühlen – und er wählt die Liebe. Er bricht das Gesetzund versucht, das Mädchen zu retten. Und schließlich ist da noch Wills Freund, der die beiden unterstützt: Der rothaarige Shinigami von edler Gesinnung, Grell.

Die Publikation des Romans steht fest. Abgabetermin ist der 16. Dezember um 16 Uhr.

Trotz der Bemühungen von Will und Grell stirbt das Mädchen. Will spricht zu dem Gott des Jenseits. Er sagt, dass er bereit ist, statt des Mädchens seine eigene Seele zu opfern. Und so kommt es, dass das Leben des Mädchens gerettet wird. Unter einer Bedingung: Dass alle Erinnerungen an Will gelöscht werden. Doch das war ihm gleich, denn selbst wenn alle Erinnerungen fehlen, bleibt doch im tiefsten Grunde der Seele ein Gefühl der Liebe verankert – und das kann von niemandem gelöscht werden.

Will verschwindet und das Mädchen kehrt ins Leben zurück. Es verliebt sich ganz normal, bringt ein Kind zur Welt und gibt ihm den Namen Will.

Will zitterte. Das war alles nur ein Zufall, ein lächerlicher Zufall, um den er sich wirklich keine Gedanken machen musste.

Es war inzwischen dunkel und sein Magen knurrte. Als er auf die Uhr sah, bemerkte er, dass er tatsächlich vergessen hatte, zu Abend zu essen.

Schnell klappte er sein Beobachtungstagebuch zu, verstaute es in einer Schublade und machte sich auf den Weg zum Kühlschrank. Doch der war praktisch leer. Zu dumm, er hatte schon den ganzen Tag nichts gegessen und war ziemlich ausgehungert... Aber diese Nacht würde er sicher auch noch durchstehen.

*

Der Mond beleuchtete den kleinen Pfad und die Landschaft runderhum. Die vielen kleinen Steine taten weh auf ihren unbekleideten Füßen. Zum Glück war es nicht mehr weit, sie konnte schon den großen Hügel sehen... Auch das Kreuz war da. Ihr Kreuz.

Sie kam ihm immer näher, fing zu laufen an. Nasse Grashalme. Kalter Nachtwind. Tierlaute in der Ferne. Wolken, die den Mond verhüllen. Dunkelheit. Das Gras wurde zu einem Hügel. Steil hinauf. Schneller Atmen.

Und dann... war sie da.

Es war eine unglaubliche Aussicht hier. Man konnte den Wald sehen, von dem sie gekommen war, die Felder, die Lichter der Stadt.

Und das Kreuz war wunderschön. Aus Holz, mit blumenförmigen Verzierungen und bis ins kleinste Detail kunstvoll ausgearbeitet. Die Aufschrift lautete: Hier ruht sie.

Sie. Sie hatte nicht einmal einen Namen. Warum? War sie so unwichtig? Gab es nicht eine Person, die sie sie so sehr liebte, dass sie ihr alles anvertrauen und sich bei ihr sicher fühlen konnte? Wie ein Mensch?

Nein. Sie hatte niemanden. Selbst Will durfte sie nichts erzählen. Ihrem Will.

*

„Ich verreise für einige Zeit.“

„W-Wie?“ Überrascht starrte Will seinen Gesprächspartner an.

„Na ja“, murmelte Chris, „ich habe... etwas zu erledigen.“

Also doch! War Wills Theorie mit dem Schwarzmarkt doch nicht so falsch gewesen?

Aber er nickte nur und biss hungrig von einem Schinkenbrot ab. Seit er gestern an seinem leeren Kühlschrank gescheitert war, hatte er keinen Bissen gegessen. Er musste heute wirklich einkaufen gehen.

Aber wie konnte er nur übersehen, dass er nichts zu Essen im Haus hatte? Was hatte ihn derart abgelenkt? Doch noch während er sich fragte, wusste er die Antwort schon.

Sie...

„Wo bleiben die üblichen Fragen?“, grinste Chris in die Stille hinein.

Will schrak auf. Er war völlig in Gedanken versunken gewesen. „N-Nun“, setzte er verlegen an und suchte fieberhaft nach einer schlagartigen Antwort.

Chris neigte den Kopf zur Seite und sah ihn herausfordend an.

„... Nichts“, sagte Will schließlich resignierend.

Chris‘ Miene veränderte sich leicht. „Muss ich mir Sorgen machen?“

„Und weswegen würden Sie das tun?“, fragte Will etwas gereizt.

„Will, bist du wirklich du?“

„Was soll das heißen?!“, fuhr er seinen Gesprächspartner an.

Chris grinste ihn nur weiter an.

Will gab es auf, mit diesem Mann ein Gespräch zu führen, und kaute wieder schweigend an seinem Brot. Es würde nur verdächtig wirken, wenn er jetzt Fragen stellte. Er durfte Chris auf keinen Fall merken lassen, was er wusste... dass an seiner bloßen Existenz etwas faul war.
 

Sry, dass das Kapitel so kurz ist, das nächste wird wieder länger.

Abschied

Der Himmel des 16. Dezembers schien zu pulsieren. Der Schnee fiel in dicken Flocken. Will und Grell standen auf einem Dach und beobachteten Thomas Wallis, wie er durch die Straße lief, mit einem Stapel Papier in den Händen und einem Gesicht, das so fröhlich war, dass alle Menschen sich nach ihm umdrehten.

„Die Seele eines talentierten Schriftstellers also...“, murmelte Grell vor sich hin, „ob man ihn am Leben lassen sollte? Wir könnten die Gesellschaft informieren...

„Das wird nicht nötig sein“, unterbrach ihn Will. „Wir werden seine Seele einsameln.“

Grell sah ihn überrascht an. „Was soll das?! Schon vergessen? Die Seelen von Menschen, die der Welt von Nutzen sind, werden von der Liste gestrichen.“

„Von Nutzen?“, fragte Will. „Dieser Junge Mann?“

„Du hast es doch selbst gesagt! Du hast gesagt, seine Geschichte sei ein Meisterwerk!“

„Wollen Sie mir damit sagen, dass man diesen Mann eventuell am Leben lassen sollte?“, fragte Will verächtlich. „Ist es so, Grell Sutcliff?“

„Ja“, gab Grell ruhig zurück und wirkte ziemlich gefährlich. „Und wenn es so wäre?“

„Also wirklich“, seufzte Will.

„Was denn? Hast du was dagegen?“

„Nein, habe ich nicht. Aber“, er rückte seine Brille zurecht, „Sie irren sich.“

„Ich soll mich irren?“, fragte Grell grinsend. „Ich soll mich irren? Ausgerechnet ich?! Du bist ganz schön vorlaut.“

Damit zog er seine Sense und stürzte sich auf Will, der einen Schritt zur Seite machte, um ihm auszuweichen. Dann schlug er mit seiner Sense gegen Grells, was den rothaarigen Shinigami zurücktaumeln ließ. „Du...“

„Den Partner zu verletzen wirkt sich negativ auf die Bewertung aus“, tadelte Will mit ruhiger Stimme.

„Willst du damit sagen, dass du nur nachsichtig mit mir bist?“, zischte Grell. „Mich mich einem Dreifach-A will so ein B-Typ wie du fertigmachen?!“

„Das Dreifach-A gab es nur für Ihre praktischen Fähigkeiten“, gab Will zu bedenken. „Außerdem ist ein Notendurchschnitt von B völlig ausreichend, um in die Gesellschaft aufgenommen zu werden.“

Grell knurrte und schrie dann: „Jetzt bist du fällig!“ Er rannte mit gezückter Sense auf Will zu, aber der wich aus und stieß ihm den Griff seiner Sense in den Bauch, so kämpften sie einige Augenblicke lang miteinander. Am Ende versetzte Will Grell einen Fußkick in den Rücken. „Ja, in der Tat. Er könnte einer der berühmtesten Schriftsteller werden, die in die Geschichte eingehen. Aber ob... “ Er hielt kurz inne. „Aber ob er nun lebt oder nicht, wird die Welt nicht verändern!“

Er ignorierte Grell, der plötzlich angefangen hatte zu stöhnen und dem die Beine ihren Dienst versagt zu haben schienen, und sagte: „Es ist an der Zeit. Wir müssen jetzt gehen.“ Damit sprang er vom Dach und machte sich auf den Weg.
 

*

„Bitte! Nur noch ein einziges Mal!“

„Es tut mir leid. Nein.“

„Ich will mich doch nur von dem Menschen verabschieden, den ich liebe!“

„Du sollst bestraft werden.“

„Ist es nicht schon Strafe genug, dass ich sterbe?“

„... Wenn es dein letzter Wunsch ist, geh.“

*
 

Sie hätte er hier am wenigsten erwartet.

„Will“, flüsterte sie und ging auf ihn zu, um ihre dünnen Arme um ihn zu schlingen. Ihre Haut war noch weißer als zuvor geworden.

Die Schneeflocken blieben in der Luft stehen. Nichts bewegte sich mehr, nichts außer ihnen. Will, der völlig überwältigt war, zog ihren Körper an sich und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Das durfte nicht passieren. Er hatte es sich geschworen, von dem Tag an, an dem er die beiden Menschen verloren hatte, die ihm am meisten bedeutet hatten.

„Ich...“ Sie löste sich aus der Umarmung. Jetzt konnten sie sich in die Augen sehen.

„Ich kann... Ich kann bald nicht mehr hier sein.“

Will starrte sie an. Was sagte sie da?

„Das ist das letzte Mal, dass wir uns sehen, Will.“ Sie legte den Kopf an seine Brust und schluchzte. „Es... tut mir so leid...“

„Was... meinst du damit?“, fragte er voller Angst.

„Ich... werde... “ Sie schaute ihm wieder in die Augen.

„Ich werde sterben.“

Sie... Sterben? Warum...?

„Ich liebe dich, Will.“

Will hob ihren Kopf und küsste sie sanft und lang. „Ich liebe dich auch“, flüsterte er dann. Das war der Abschied. Er spürte es. Endgültig.

„Ich liebe dich, Will. Mein geliebter Will.“

Wie versteinert blieb er alleine auf dem Dach stehen. Er bemerkte nicht, wie die Schneeflocken wieder in der Luft wirbelten, die Wolken weiterzogen, Menschen unten auf den Straßen ihr Leben lebten. Lebten.

Zehn Minuten vor 16 Uhr. Es war bald soweit. Will vefolgte Thomas Wallis, der aufgeregt in Richtung Verlag rannte. Jetzt sollte sein Roman endlich veröffentlicht werden.

Aber dann passierte es. Als er über die Straße lief, fuhr eine Kutsche ihm entgegen. Zu spät bemerkte er das Fahrzeug und es kam, wie es kommen musste: Die Kutsche fuhr Thomas Wallis an, er fiel zu Boden und die Seiten des Romans, in den er so viel Arbeit gesteckt hatte, wirbelten durch die Luft, bis sie neben dem blutüberströmten Körper zu Boden fielen. Die Kutsche fuhr einfach weiter.

Sofort versammelten sich einige Menschen um den Verletzten, überall brach Gemurmel aus.

Will sprang von dem Dach, von dem aus er alles gesehen hatte, zog seine Sense und kniete sich vor Thomas Wallis in den Schnee.

„Ich beginne nun mit der vorgeschriebenen Prozedur.“ Er holte aus und stieß ihm dann die Sense in den Bauch, so fest er konnte. Sofort strömten Erinnerungen aus seinem Körper. Will sprang wieder auf ein Dach und sammelte sie mit seiner Sense ein, als Thomas Wallis mit seiner letzten Kraft nach einem der Zettel griff, die um ihn herum verstreut waren.

Eine der Erinnerungen raste jetzt auf Will zu und schlug ihm die Brille aus dem Gesicht. Verzweifelt versuchte er, sie wieder zu finden, aber er sah nichts als verschwommener Formen.

Eine der Erinnerungen umklammerte sein Bein; er stolperte und fiel. Fluchend versuchte er, sich aufzurappeln, aber jetzt schienen die Erinnerungen in ihn hineinzuströmen. Will schrie, er sah vor seinen Augen Thomas‘ Leben, wie es bis jetzt gewesen war.

Jetzt wusste er alles über diesen Menschen. Er war so gerührt, dass eine Träne aus seinem Auge rann.

Plötzlich war en lautes Geräusch zu hören, als würde jemand Papier zerschlitzen, und Will wurde aus der Umklammerung befreit.

„Wie kannst du nur?“, sagte Grell mit süßer Stimme. „Entfachst in mir das Feuer der Leidenschaft und gibst dich dann mit so einem Bürschchen ab!“ Er sprang von dem Vorsprung, auf dem er gesessen war, und ging auf Will zu, der keuchend auf dem Dach kniete. Dann beugte er sich zu ihm herunter und setzte ihm seine Brille auf die Nase. „Pass gut auf deine Brille auf“, säuselte er.

Beiden standen wieder auf. „Lass gefälligst die Hände von meinem Mann, du dreister Dieb“, rief Grell. „Hast du mich verstanden?“ Sie zückten ihre Sensen. „Wen meinen sie denn hier mit ‚meinem Mann‘?“, knurrte Will.

Die Erinnerungen griffen wieder an, beide kämpften als Team gegen sie. Immer wieder sammelten sie einige von ihnen ein.

War das das verzweifelte Strampeln eines Sterbenden? War das die Würde des Lebens?

Sie standen jetzt Rücken an Rücken und sammelten Erinnerungen ein.

„Wollen wir ihn nicht so langsam mal gehen lassen?“, fragte Grell und drehte den Kopf Will zu. „Was denkst du?“

Beide hörten auf, die Erinnerungen einzusammeln und legten ihre Sensen aufeinander. Sie begannen zu leuchten, und als sie beide gleichzeitig nach vorne stießen, schnellte ein riesiger leuchtender Ball durch die Luft und schleuderte die restlichen Erinnerungen zurück. Will sammelte diese ein und ließ sich wieder aufs Dach fallen, wo er sanft landete.

Genau in diesem Moment schlug es vier Uhr.

Thomas Wallis starb.
 

Seit Wills Abschlussprüfung waren einige Wochen vergangen. Grell und er hatten echte Shinigami-Brillen und Sensen, und Will bekam gerade in diesem Moment seinen ersten Auftrag.

Die Frau, die sterben sollte, würde er, wenn er den Anweisungen folgte, heute um Mitternacht in der Cafeteria der Shinigami-Behörde antreffen. Das kam ihm etwas seltsam vor, aber sie hatten ihm sogar den Schlüssel gegeben, also wollte er die Befehle befolgen.

Als er um kurz vor Mitternacht eintraf, war es dunkel und still. Was erwartete er sich auch, mitten in der Nacht hierher zu kommen?

Die zehn Minuten, die er hier in dem sonst so belebten Raum stand und wartete, kamen ihm ewig lang vor. Bis jemand kam.

Sie war klein, dünn, und schien beinahe zu leuchten, weil sie in einen weißen Umhang gehüllt war, der genauso weiß wie ihre Haare und ihre Haut waren.

Sie sollte er töten? Seine... Nein. Das durfte nicht passieren.

Aber als sie sich umdrehte, war Will sich ganz sicher.

„Will... Du?“, hauchte sie.

„Dein Name ist... Cherina Reary?“, murmelte er mit leerem Blick und sah von seiner Todesliste zu ihr.

Sie sah ihn ausdruckslos an. „Ich habe keinen Namen.“

War sie die Person, die er töten sollte?

„Bist du der Shinigami, der mich töten soll?“, fragte sie.

Es sah danach aus. Was sollte er tun? Nein, er konnte sie nicht umbringen.

„Schaffst du es nicht?“, rief eine bekannte Stimme. Will hörte Schritte und schließlich betrat er, gelassen wie immer, die Cafeteria: Chris.

„Du?“, sagte sie ungläubig.

Plötzlich veränderte sich Chris‘ Gesichtsausdruck. „Du.“

Er ging auf sie zu, nahm sie in die Arme, und Will konnte nichts tun.

Sie sah sehr ernst aus. „Du bist nicht mehr der, den ich liebe, Caesus.“

Caesus? Der Gefallene?

„Du hast also auch die Geschichten über mich gehört, ja?“

„Was geht hier vor?“, fragte Will.

„Wir sollten es ihm erzählen“, sagte sie.

Chris‘ Augen leuchteten kurz in strahlendem weiß auf, dann nickte er. „Will, ich liebe dieses Mädchen“, sagte er.

Wie?

„Wir beide sind Engel.“

Wie?

„Ich liebe sie seit Jahrhunderten. Und ich war einer der Thronengel, also sehr mächtig. Wenn sie in Gefahr war, habe ich meine Macht ausgenützt und andere Engel dazu gezwungen, die Menschen zu töten, die ihr etwas antun wollten.

Diese Engel waren die einzigen, die für meine Taten bestraft wurden. Bis einer mich verraten hat.

Seit diesem Tag, mein lieber Will, bin ich ein gefallener Engel. Ein Wesen, das dunkel und hell zugleich ist. Ich irre für alle Zeiten auf der Erde und habe das Mädchen meines Herzens gesucht. Und jetzt habe ich dich hier gefunden, Interita.“ Chris lächelte sie an. Die Untergegangene.

Will hörte zwar, was der Engel da sagte, aber es erreichte seine Ohren nicht ganz. Engel? Er hatte Zeit mit zwei Engeln verbracht? Sie war immer nur hier bei ihm gewesen, um jetzt von Chris gefunden zu werden?

„Und jetzt“, sagte dieser, „wirst du Abschied nehmen von dieser Welt. Sieh es als Geschenk, dass es dir nicht so ergeht wie mir und deine Seele ruhen kann.“

Will wartete, ob etwas passierte, aber keiner der drei bewegte sich auch nur einen Zentimeter. Als er begriff, wurde ihm sehr kalt. „Aber... das hier ist doch nicht dein Name. Dein Name ist Interita!“

Sie schüttelte traurig den Kopf. „So werde ich nur von Bewohnern des Himmels und allen Engeln genannt. Ich bin nur ein einfacher Engel, keiner von uns hat einen Namen. Der Name dieses Körpers... ist Cherina Reary.“

Verständnislos starrte er sie an.

„Will... Dieser Körper... ist eine Leiche.“

Eine... Leiche? Er hatte eine Leiche umarmt?

„Wenn ich nicht bald aus diesem Körper verschwinde, wird er verwesen und meine Seele wird für immer in den Knochen dieser Frau gefangen sein“, presste sie hervor und schaute gequält nach oben, als wollte sie Tränen zurückhalten.

„Und deshalb“, warf Chris ein, „musst du sie töten! Wenn ich ihre ‚Hülle‘ umbringe, wird sie nur unerträgliche Schmerzen erleiden, aber dieser Körper ist ja schon tot.“ Will konnte nicht fassen, mit welcher Gelassenheit der Engel diese Worte aussprach. Er erwartete einfach, dass Will ihm gehorchte. Ja, das Gesetz war sehr wichtig. Aber es gab eines, das ihm noch wichtiger war.

„Das“, sagte er mit fester Stimme, „werde ich auf keinen Fall tun.“

„Will...“, flüsterte sie.

„Aber damit tust du ihr ganz bestimmt keinen Gefallen“, meinte Chris. „Willst du wirklich, dass sie nie zur Ruhe kommt?“

„Es muss einen anderen Weg geben“, sagte Will ruhig.

„Dann sag mir doch, was du machen willst!“ Chris starrte ihn gereizt an. Warum war er heute so seltsam?

„Ich werde es herausfinden.“

„Lass mich doch damit in Ruhe! Wenn wir es nicht heute machen, ist es zu spät!“

„Nein.“

„Ich muss dich wohl belehren“, sagte Chris und hatte plötzlich ein boshaftes Grinsen auf den Lippen. Er machte einige Schritte auf Will zu und starrte ihm mit einem Blick in die Augen, bei dem ihm ganz anders wurde. Plötzlich begannen Chris‘ Augen weiß zu leuchten, und auch alles andere wurde weiß.
 

Als er wieder zu sich kam, sah Will, dass Chris, der jetzt vor ihm auf dem Boden kniete, sie auf einen Stuhl gefesselt hatte. „Oh, du bist wieder wach“, grinste der dunkle Engel. „Wirst du jetzt tun, was dir befohlen wurde?“

Will stand auf. „Ich werde sie nicht töten.“

Chris schüttelte den Kopf. „Ich muss wohl härter durchgreifen.“ Damit stand er auf und zog sein Schwert, das Will einmal für eine Todessense gehalten hatte. Ehe er wusste, wie ihm geschah, wurden seine Hände hinter dem Rücken zusammengehalten und das Schwert lag an seiner Kehle.

„Töte sie“, zischte Chris mit einer gefährlichen Stimme. Als Will den Kopf schüttelte, drückte er das Schwert fester an seinen Hals, Will spürte einen leichten Schmerz, als sein Hals leicht aufgeschlitzt wurde.

„Tu es“, flüsterte Chris.

Plötzlich drehte Will sich aus Chris‘ Griff heraus und zog in dem Moment, in dem der sich verblüfft umsah, seine Baumschere; seine Todessense. Dann sprang er so weit weg von Chris, wie er konnte. „Hiermit“, sagte er ruhig und rückte seine Brille zurecht, „kann ich auch von weiter Entfernung aus angreifen.“

Chris knurrte und rief: „Was bringt es dir, sie am Leben zu lassen?“

„Ich würde nie einer Person, die ich liebe, das Leben nehmen, egal, ob es auch für sie ein Vorteil ist.“

Seine Eltern waren nicht umsonst gestorben.

Er richtete seine Sense auf Chris,während er geschickt die Fesseln entfernte, die sie auf dem Stuhl festhielten. „Will“, flüsterte sie ihm schnell zu und sah ihn böse an, „für wen auch immer du das tust, für mich jedenfalls nicht.“

Das wusste er.

Plötzlich durchfuhr ihn ein so heftiger Schmerz, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Schreiend sank er zu Boden und sah, wie Blut an seinem Bein entlangströmte: Chris hatte ein Messer nach ih geworfen, das jetzt tief in seinem Bein steckte.

„Töte sie endlich!“, schrie er und warf mehrere Messer an ihm vorbei, das Glas der großen Fenster hinter ihm zerschellte, als sie daran abprallten.

Völlig abgelenkt von dem brennenden Schmerz in seinem Bein hatte Will seine Todessense fallen lassen, und so konnte Chris jetzt problemlos zu ihnen gelangen. Er entriss sie seinen Armen und griff nach einem der Messer, die in den Scherben am Boden lagen. Dann, ohne jegliche Warnung, stieß er ihr das Messer mit Wucht in den Bauch. Sie kreischte auf, keuchte, weinte, schrie ohrenbetäubend, dass es Will ganz schlecht wurde. Ihre weiße Kleidung färbte sich blutrot.

„Willst du sie denn noch immer nicht von dem unerträglichen Schmerz befreien?“, grinste Chris, während sie sich die Seele aus dem Leib schrie.

Es gab nur mehr einige Möglichkeit. Will zückte seine Todesliste, zog einen Stift aus seiner Jackettasche und schrieb einen Namen:

William T. Spears.

„Das wurde aber auch Zeit!“

Will rappelte sich auf und hustete. Einige Tropfen Blut schienen in der Luft stehenzubleiben. Der Boden war unsichtbar, genau wie alles andere hier. Er war im Nichts.

Zitternd kam er ins Stehen und rief, soweit es ihm seine Stimme erlaubte: „Ich will Euch bitten, eine Person zu begnadigen!“

Will hatte es in der Ausbildung gelernt. Man bekam Aufträge, Menschen zu töten. War man damit absolut nicht einverstanden, konnte man den Gott des Todes um Begnadigung bitten: Man musste sich selbst auf seine Todesliste setzen, dann konnte man mit dem Gott des Todes sprechen. War dieser jedoch unwillig, konnte es auch sein, dass Will starb, wenn der Gott kein Erbarmen hatte.

„Ha ha. Nun gut, um welche Person handelt es sich denn?“

„Sie... hat keinen Namen.“

„Welcher Name steht in deiner Liste?“

„Cherina Reary.“

„Hm... Hmmm.... Ach, so ist das... Da kann ich dir leider nicht helfen, Bürschchen! Ahaha, du kannst dich nicht dem Willen zweier Götter widersetzen!“

Will verstand. Der Gott im Himmel hatte die Entscheidung ja erst getroffen.

„Bitte, ich bitte Euch, ich würde alles dafür geben!“

„Nun denn... Was bietest du mir?“

„Ich biete euch...“ ,Will schluckte schwer, „... meine Seele!“

Stille.

„Du bist dir sicher?“

„Ja.“

„Dein Wunsch soll dir gewährt sein! Unter einer Bedingung... die Person darf keine Erinnerungen mehr an dich haben.“
 

Will keuchte und spuckte Blut. Er hatte seine Seele an den Gott desTodes verkauft.

Er war noch immer hier. Ihr lebloser Körper lag immer noch da, wo er vorher gewesen war, Chris stand daneben und keuchte wütend. „Was... hast du getan?“ Seine Stimme triefte vor Zorn.

„Ich... habe meine Seele verkauft...“, brachte Will mit Mühe hervor. „Sie... wird... leben...“

Chris starrte ihn an. „Du Idiot!!!“, brüllte er plötzlich und fiel auf die Knie. „Meine einzige Chance, in den Himmel zurückzukommen! DU hast sie ruiniert!“

Will starrte ihn mit leeren Augen an. Was hatte das zu bedeuten?

„Wenn sie gestorben wäre“, sagte Chris bitter, „hätte sich das Portal... zu Himmel und Hölle geöffnet... Es war von Anfang an mein Plan... Und wenn ich das Wichtigste auf der ganzen Welt opfern müsste...ich hätte wieder in den Himmel gehen können...“ Verzweifelt begann er zu schluchzen. „Dort hätten wir beide für immer zusammen sein können... Du hast alles ruiniert! Ich hasse dich!!“, brüllte er so laut, das die Wände erzitterten und einige Fenster Sprünge bekamen. „Will... Ich dachte immer... wir wären Freunde...“

Was jetzt aus seinen Augen rann, waren keine Tränen. Es war schiere Verzweiflung.Schließlich schrie Chris mit gequälter Stimme:

„Ich hätte glücklich sein können!“

Nach jener Nacht hatte Will weder Chris noch sie wieder gesehen.

Er vermisste sie beide irgendwie, aber das Gefühl war sehr weit entfernt, so sehr, dass es nur im Tiefsten seiner beschmutzten Seele schlummerte, ohne dass er es je spürte.

Seit seiner Abschlussprüfung waren einige Jahre vergangen, jedoch war es nicht so, dass er sich so sehr verändert hatte, dass er freiwillig hierher gekommen wäre.

„Du wirst es nicht bereuen“, kicherte der Undertaker in seiner krächzenden Stimme und zog ihn am Arm in den Park.

Die sonnenbeschienene Wiese war feucht vom Tau, am Himmel zogen Wolken dahin wie der Dampf, der von heißem Tee ausging. Will erkannte den Earl Phantomhive, gefolgt von seiner Verlobten, und sein Butler stand lächelnd neben ihnen, Grell, der ihn anschmachtete, ignorierend. „Sebas-chan, Sebas-chan! Weißt du, ich finde Hochzeiten ja schon romantisch, aber eine mit dir zu erleben, ist noch einmal eine ganz andere Erkenntnis...“

„Ciel, du musst dich doch nicht so schämen! Ich weiß doch, dass du mich liebst!“ „Lizzy, lass das! Ich kann... nicht... atmen!“

„Na, Will? Keks gefällig?“, fragte der Undertaker grinsend. Will lehnte dankend ab.

„Lange nicht mehr gesehen, Will“, sagte eine bekannte Stimme und jemand legte ihm von hinten eine Hand auf die Schulter. Langsam drehte Will sich um und begegnete einem Augenpaar, das ihm einen Stich ins Herz versetzte.

Chris stand in einem weißen Anzug vor ihm und grinste wie immer ein perlmuttfarbenes Grinsen.

„Corner.“ Er stieß hörbar den Atem aus.

„Du nennst mich immer noch so?“ Er lachte und setzte sich auf eine Bank. „Gewöhn dir diese Höflichkeit ab, Will. Das kommt nicht gut an.“ Nachdem er einige Augenblicke lang geschwiegen hatte, grinste er: „Wir haben einen Sohn.“

„Wie heißt er?“, fragte Will und plötzlich fiel ihm Thomas Wallis‘ Roman ein. Konnte es sein...?

„Will“, lächelt Chris. Tatsächlich.

Will setzte sich neben ihn. „Sie hassen mich, korrekt? Warum dann dieser Name? Und warum haben Sie mich überhaupt eingeladen? “

„Ich bereue es“, murmelte Chris. „Alles, was ich bisher getan habe, war falsch.“ Mit traurigem Blick ließ er seine Augen durch die Gegend schweifen.

„Möglicherweise wird ihnen vergeben“, sagte Will.

„Mir?“ Er lachte bitter. „Ganz sicher.“

„Wenn Sie es wirklich bereuen“, sagte Will bestimmt, „wird Ihnen vergeben.“

Chris sah ihn für einen Moment nachdenklich an. „Vielleicht hast du Recht“, meinte er schließlich.

Eine Weile saßen sie nur da und sahen den anderen Leuten zu. Hier herrschte eine ungemein festliche Atmosphäre. Will hing seinen Gedanken nach; dieser Park barg schmerzhafte Erinnerungen. Hier war er mit ihr gesessen und sie hatten den Stern-Shinigami entdeckt.

Wann würde die Braut endlich eintreffen?

Genau in diesem Moment hörten sie Schritte und alle wurden plötzlich still.

Sie kam zu ihnen und sah genauso aus wie damals. Die weiße Seide ihres bodenlangen Kleides schmiegte sich um ihren Körper, als wäre es eine Hülle. Sie war so schön, obwohl ihr Kleid ganz simpel war und sie außer dem Schleier keinen Schmuck trug.

Wills Augen füllten sich mit Tränen. Hier stand sie, die Person, die er liebte, ohne jegliche Erinnerungen an ihn. Als ihre Blicke sich trafen, veränderten sich ihre Augen. Sie sah ihn an, als erinnerte sie sich an etwas wunderschönes. Will fühlte sich mit einem Mal, als hätte jemand seine Seele mit wärmendem Fell umhüllt.

Egal, wie sehr sie ihn vergessen hatte, die innige Liebe war doch tief in ihrem Herzen verankert und wüde niemals verblassen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Deidei97
2013-03-26T18:48:29+00:00 26.03.2013 19:48
und wieder ein tolles kapi ^.^
Antwort von:  undyne
27.03.2013 13:16
Freut mich, dass es dir so gefällt \(^o^)/


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