Arms von Lady_Emily ================================================================================ Kapitel 1: I Never Thought That You ----------------------------------- Mein Name ist Ken Takaheshi. An meiner Schule bin ich eher sowas wie ein Außenseiter. Unsportlich, unscheinbar, unbekannt. Zumindest denke ich das. Wenn ich Mr. Kon über Ionen und Moleküle reden höre, muss ich immer darüber nachdenken, ob er früher beliebt war. Er wirkt auf jeden Fall sehr selbstbewusst. Und nett. Wenn er einen Schüler etwas fragt, tut er das immer mit einem Lächeln. Ab und an mit einem Stirnrunzeln, wenn jemand zum wiederholten Male immer noch nicht antwortet. Er ist sympathisch. Und sieht gut aus. Ich mag ihn. Wahrscheinlich bin ich schwul. Ich hab versucht mit meinem besten Freund Tomida darüber zu reden, aber der hat nur gelacht und mich als 'verrückt' bezeichnet. Bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte, klingelte es zur Pause. Bingo. Schnell packte ich alle meine Sachen in meine Tasche und machte mich eiligen Schrittes raus aus dem Raum. Tomida und mein Ceasar Salad warteten in der Cafeteria auf mich. Da ich gleich danach zum Sportunterricht flitzen musste, ging ich noch schnell zu meinen Spind und holte meine Sporttasche. Gerade als ich einen Teil meiner Bücher weg legen wollte, wurde ich angerempelt. Meine Sachen fielen auf den Boden und ich wurde unsanft gegen andere Spinde gestoßen. „Ups“, höhnte eine mir bekannte Stimme. „Sehr witzig, Yamata.“ „Hat der kleine Junge sich weh getan?“, spottete mein blonder Gegenüber. Yamata Matidoto war DER Typ an der Schule. Sportler, Musterschüler, Mädchenschwarm. Arschloch. „Halt die Klappe und geh weiter“, war meine einzige Erwiderung, während ich mich nieder kniete und versuchte, meine Unterlagen wieder einzusammeln ohne einen ignoranten Fußabdruck auf meinen japanisch Aufsatz zu bekommen. „Aber ich sehe dich so gerne vor mir auf dem Boden kriechen.“ Aus einem mir unerfindlichen Grund scheint dieser Typ ein besonderes (und für mich ausgesprochen ungesundes) Interesse an mir entwickelt zu haben. „Such dir ein Hobby“, kommentierte ich und stopfte so viel wie möglich in mein Schließfach. Obwohl ich ihm den Rücken zugewandt hatte, konnte ich spüren, wie er mich immer noch anstarrte. Was ist das nur mit den großen Sportlern, dass sie immer jemanden brauchen, auf den sie herumhacken können? Ist das nicht viel zu viel Klischeé? „Ich hab doch schon ein Hobby: zu sehen wie du Hurensohn einer Prostituierten dich durchs Leben schleichst.“ Und genau da liegt das Problem. Mein wunder Punkt. Meine Mutter. Ich liebe meine Mutter. Wer tut das bitte nicht?! Dadurch ergab sich für mich nur eine logische Konsequenz: ich verpasste Yamata einen gepflegten, rechten Haken. Und da Yamata ein beliebter, sportlicher Mädchenschwarm war, ergab sich für ihn auch nur eine logische Konsequenz: zurückschlagen. Als mein Kopf zum ersten Mal auf den Boden aufschlug, bereute ich meine Entscheidung. Dann hörte ich die Stimme eines Engels. Sozusagen. Ein ziemlich wütender Engel, um genau zu sein. Ich öffnete meine Augen und sah Mr. Kon. Keine schlechte Aussicht, wenn ich das noch hinzufügen darf. „Steh auf“, sagte er und zog mich am Arm hoch. „Dich seh ich nachher beim Nachsitzen“, setzte er noch hinzu und zeigte auf Yamata. „Und du“, er sah zu mir, seine Hand immer noch auf meinem Arm, „so sehr man auch getriezt wird, man schlägt niemanden.“ Er sah mich nachdenklich an. Anscheinend überlegte er, ob er mir ebenfalls Nachsitzen aufdrücken sollte. Dann seufzte er und ließ mich los. „Geh zum Konrektor.“ Mit einer letzten Handbewegung verscheuchte er die Menge und verschwand dann wieder in seinen Klassenraum. Scheiße. Ich schloss noch einmal kurz meine Augen, um mich zu sammeln. Scheiße. Der Konrektor unserer Schule ist berüchtigt und gefürchtet. Undzwar nicht gerade für seine blumigen Grüße. Seufzend nahm ich meine Tasche und machte mich langsam auf den Weg. Die Verwaltungsbüros liegen alle im Südteil der Schule und damit irgendwie etwas abgeschirmt vom normalen Schulbetrieb. Wahrscheinlich damit sich niemand direkt vor der Tür des Direktors prügelt und er den Schüler dann sofort rausschmeißen müsste. Um jetzt rausgeschmissen zu werden, muss man erst durch das Büro des Konrektors. Die Pforte zur Hölle sozusagen. Ich musste schwer schlucken, als ich letztendlich vor der Bürotür stand. 'Kai Hiwatari – Konrektor' Furchteinflössend. Ich klopfte nervös. „Komm rein“, tönte eine dunkle Stimme von drin. „Hallo Mr. Hiwatari“, sagte ich lediglich, als ich den Raum betrat und mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch gleiten ließ. Der Konrektor sah nicht einmal auf. Seit einiger Zeit trägt er eine Brille, die ihm nun schief auf der Nase saß, während er ein Formular ausfüllte. „Habe ich dir erlaubt dich hinzusetzen?“ „Oh“, mir wurde mulmig. „Nein, tut mir leid. Soll ich noch einmal aufstehen?“ Ein strafender Blick traf mich. Dann wandte er sich wieder seinem Papier zu. „Also, was ist da zwischen dir und Yamata Matidoto passiert?“ Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Woher zum Teufel wusste er das schon?! Gab es irgendwo eine kleine Eule wie bei Harry Potter, die dem Direktorat immer kleine Nachrichten darüber bringt, was in der Schule vor sich geht? Vielleicht sollte ich mir als Ziel setzen, bis zu meinem Abschluss herauszufinden, wie die Lehrer Nachrichten an die Verwaltung überbringen. „Ich warte“, riss mich Mr. Hiwatari aus meinem Gedanken. Er sah immer noch nicht auf. „Er hat meine Mutter beleidigt.“ „Ist dir das Wort 'Selbstbeherrschung' ein Begriff?“ „Durchaus.“ „Dann solltest du dir etwas mehr davon zulegen.“ Er setzte schwungvoll seine Unterschrift auf das Ende des Blattes und sah zum ersten Mal mit voller Aufmerksamkeit auf. „Bekomm ich Nachsitzen?“ Nachdenklich nahm Mr. Hiwatari seine Brille ab und sah mich an. „Beim nächsten Mal“, sagte er schließlich knapp und nahm sich einen Notizzettel. Er schrieb kurz etwas daauf und gab mir das neongrüne Stück Papier. „Melde dich beim Beratungslehrer.“ Na toll. Ich werd rumgereicht. Seufzend nahm ich den Zettel entgegen, stand auf und ging. „Immer schön sauber bleiben“, rief er mir noch hinterher. Als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, sah ich schnell auf den Zettel. 'B4 – 2616' Was sollte das bitteschön heißen? Kopfschüttelnd ging ich drei Türen weiter und klopfte. „Immer herein“, erscholl eine Stimme von drinnen. Ich öffnete die Tür und war mir ziemlich sicher, dass ich diesmal nicht fragen musste, ob ich mich setzen darf. „Hallo Ken“, sagte Mr. Mizuhara und lächelte mich an. Hier war alles gleich viel freundlicher als nebenan. Wäre auch blöd, wenn nicht, immerhin ist das hier das Beratungsbüro. Außerdem mag ich Mr. Mizuhara. Er ist genauso nett wie Mr. Kon. Ab und an kann man die beiden beobachten, wie sie sich auf der anderen Seite der Straße eine Zigarette teilen. Sehr menschlich, wie ich finde. Schade, dass er kein reuglärer Lehrer ist. Manchmal übernimmt er zwar Vertretungsstunden, aber eigentlich ist er nur als Vertrauenslehrer angestellt. Wir haben noch eine andere Beratungslehrerin, Mrs. Kahihama, aber die ist ausgesprochen unbeliebt, weil sie sich vor dem fünften Kaffee für keinen ihrer Schüler erwärmen kann. Es geht das Gerücht um, dass sie mal einen Schüler ihrem geliebten Kaffee über den Kopf geschüttet hat, als er morgens zu ihr kam und sich über seine Liebesprobleme auslassen wollte. „Hallo Ken“, grüßte ich meinen dreijährigen Namensvetter, der auf dem Boden neben dem Schreibtisch hockte und mich mit großen Augen ansah, die obligatorische Ketchup Flasche in der Hand. Dieses Kind ist wohl das größte Rätsel an unserer Schule. Immer mal wieder ist er in Mr. Mizuharas Büro, wahrscheinlich damit dieser auf ihn aufpassen kann. Aber ob es sein eigener Sohn ist? Wie immer sah ich ihn prüfend an. Es ist auf jeden Fall kein komplett japanisches Kind, irgendjemand mit westlichen Genen hat da mitgemischt. Könnte eigentlich also schon sein, dass es zu Mr. Mizuhara gehört. Aber irgendwie hatte ich immer die Vorstellung, dass Mr. Mizuharas Kinder strohblond, sommersprossig und mit einem breitem Lächeln und nicht mit einer Ketchup Flasche durch die Gegen laufen würden. Aus einem mir unerfindlichen Grund gibt es übrigens das ungeschrieben Gesetz an unserer Schule, dass niemand fragt, was es mit dem kleinen Ken auf sich hat. Absolut niemand. „Also Ken“, fing Mr. Mizuhara an, bekam damit wieder meine Aufmerksamkeit und streckte seine Hand aus. Wortlos reichte ich ihm den neongrünen Notizzettel. Er nahm ihn ebenfalls kommentarlos und warf einen kurzen Blick darauf. „Prügelei auf dem Schulflur mit Yamata Matidoto“, stellte er fest, packte den Zettel weg und sah mich an. Wie zur Hölle?! Ich machte mir gedanklich eine Notiz, wirklich das System der Informationsübertragung dieser Schule zu überprüfen. „Hast du dir sehr weh getan? Das gibt bald ein schönes blaues Auge.“ Und dafür liebe ich Mr. Mizuhara. Keine Anschuldigungen, keine Bestrafungen, nur eine besorgte Frage, wie es einem so geht. „Geht schon.“ „Geh zur Schulkrankenschwester wenn es schlimmer wird.“ „Ist gut.“ Es herrschte einen Moment Stille. „Möchtest du darüber reden?“ „Es gibt nicht viel zu reden. Yamata hat mich geschubst und meine Mutter beleidigt. Dann hab ich zugeschlagen.“ „Nicht gerade die ideale Lösung.“ „Hab ich nie behauptet.“ „Wir machen uns Sorgen um dich.“ Ich zog eine Augenbraue hoch. „Wer ist wir?“ „Das Rekorat. Deine Lehrer. Ich.“ Während er das sagte, drehte er sich einmal in seinen Schreibtischstuhl und suchte in dem Aktenschrank hinter sich nach meiner Akte. „Das wirkte bisher nicht so.“ „Was denkst du warum Mr. Hiwatari dich hierher geschickt hat?“ Diesmal zog er die Augenbraue hoch. „Er wirkte nicht besonders besorgt.“ Seufzend legte Mr. Mizuhara meine Akte auf den Tisch, öffnete sie jedoch nicht. „Wie geht es deiner Mutter?“ Ich versteifte mich kurz. Keine Ahnung wieso. Immerhin war ich eine zeit lang regelmäßig bei Mr. Mizuhara, um über meine Mutter und mein zu Hause zu reden. Nicht wie ne Therapie oder so. Einfach nur um mal darüber zu reden. Dampf ablassen und so. „Gut“, antwortete ich schließlich. Er sah mich weiter nachdenklich an. „Ich muss das in deine Akte schreiben.“ „Ok.“ „Kann ich noch irgendetwas für dich tun?“ Ich überlegte. „Nee, danke, passt schon.“ „In Ordnung“, sagte er und schlug letztendlich doch noch meine Akte auf. „Melde dich morgen früh nochmal bei mir.“ Schwermütig stand ich auf. „Muss ich?“ „Ich würde mich freuen. Und jetzt ab zu deinem Sportunterricht.“ „Na gut. Tschüß little Ken“, ich winkte meinem kleinen Namensvetter zu und er winkte mit seiner leeren Ketchup Flasche zurück. Merkwürdiges Kind. Als ich draußen war, warf ich einen Blick auf die Uhr. Mistekiste, wenn ich mich nicht beeilte, würde ich zu spät kommen. Mit schnellen Schritten machte ich mich auf den Weg zur Turnhalle. Tomida wartete vor der Tür auf mich. „Alter, du machst Sachen“, war seine schlichte Begrüßung. „Nettes Veilchen“, schob er dann noch hinterher. „Danke man“, erwiderte ich nur und zusammen betraten wir die Umkleidekabine. Wir waren eine der letzten und beeilten und dementsprechend. Gerade noch rechtzeitig nahmen wir in der Turnhalle aufstellung. „Guten Morgen!“, rief unser Lehrer fröhlich. „Guten Morgen Mr. Kinomiya“, erscholl unsere Antwort. Kapitel 2: Would Be The One To Hold My Heart -------------------------------------------- Mein Name ist Ai Yakimaya. Und heute ist ein guter Tag. Meine beste Freundin Ayame hat mir endlich diesen neuen Lipgloss aus der Boutique ihrer Mutter besorgt und Mr. Hakimoyo hat mir eine Eins in Englisch gegeben. Wohlverdient wie ich denke, immerhin war ich den Sommer über in Amerika, um die Sprache fleißig zu üben. „Pass auf, dass du nicht zu spät zum Unterricht kommst.“ Erschrocken drehte ich mich um und sah Mr. Kon, meinen Chemielehrer, vor mir stehen. Reflexartig ließ ich meine Zigarette fallen und trat sie schnell aus. „Lass dich nicht erwischen“, erwiderte er nur grinsend und wandte sich zum Parkplatz um zu seinem Auto zu gehen. Ich stieß die angehaltene Luft aus und legte mir eine Hand auf mein pochendes Herz. Junge, das war knapp. Gott sei Dank ist Mr. Kon sehr liberal. Und nett. Wenn in meine Akte einen Vermerk auf Rauchen außerhalb des Schulgeländes stehen würde, könnte ich mich nie wieder zu Hause blicken lassen. Mein Vater würde mich einbetonieren. Buchstäblich. Nach einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass ich wirklich langsam mal los sollte. Sport gehörte bei weitem nicht zu meinen favorisierten Fächern, aber ich werde mich hüten, etwas an unserer Schule auszusetzen. Mein Vater gehört zu den größten Förderern und Sponsoren, hauptsächlich weil er selbst hier zu Schule ging. Und diese Schule abgöttisch liebt. Als ich in die Turnhalle kam, war ich fast die Letzte. Nur zwei andere Jungen kamen noch später als ich, was mir ganz recht war, dann fiel meine eigene Trödelei nicht all zu sehr auf. „Na meine Schöne, was machen wir heute Nachmittag Schönes?“ Mein Freund Yamata stand mit einem breiten Lächeln vor mir. „Ab 16 Uhr hab ich Klavierunterricht, aber davor könnten wir noch ein Eis essen gehen“, antwortete ich zufrieden und zupfte an seinem T-Shirt. „Oh je, ich fürchte da kann ich noch nicht.“ „Huh, was musst du denn machen?“ „Nachsitzen.“ Ich seufzte. „Was hast du angestellt?“ „Nichts“, sagte er mit einem brüstton an Überzeugung, als wäre er für etwas völlig falsches angeklagt worden und müsste eine Strafe absitzen, die er absolut nicht verdient hatte. Meistens war dem nicht so, aber Yamata zu widersprechen war immer so ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn er wollte, konnte er sich aufführen wie ein Dreijähriger. „Ai und Yamata, ich fände es ganz wunderbar, wenn ich eure Aufmerksamkeit bekommen könnte.“ Mein Lehrer sah von der anderen Seite der Turnhalle zu uns herüber, wo sich bereits unsere gesamte Klasse versammelt hatte. „Klar, kein Ding“, erwiderte Yamata nur frech. Ich rollte mit den Augen und machte mich stillschweigend auf den Weg. „Großzügig von euch“, kommentierte mein Lehrer gelassen. „Also Leute, heute ist der große Lauftest angesetzt, auf den wir uns die ganze Zeit schon vorbereitet haben.“ Mr. Kinomiya sah in unsere unmotivierten Gesichter. Eine Hand schoss nach oben. „Ja Akita, du musst mitlaufen, auch wenn du Asthma hast.“ Ohne sich weiter um den armen Akita zu kümmern, drehte er sich um und wir verließen die Halle durch den Seiteneingang, wo wir direkt auf die 400m Bahn kamen. „Wollt ihr euch aufwärmen?“, fragend sah der Lehrer in die Runde. Weiterhin unmotivierte Gesichter antworteten ihm. „Dann eben nicht“, murmelte er, holte sein Klemmbrett und seine Stoppuhr hervor und befahl uns, Aufstellung an der Startlinie zu beziehen. „12 Minuten und jeder läuft so viel er kann. Ja, Akita, auch du“, sagte er, noch bevor Akita seine Hand ganz oben hatte. „12 Minuten sterben“, murmelte Ayama neben mir und brachte mich damit zum grinsen. „Fertig?“ Und dann ertönte der Pfiff. Ich bin immer wieder erstaunt, wie lächerlich sich meine Klassenkameraden machen können. Der Großteil der Leute stürmte erst einmal los. Ich bin mir immer nicht sicher, ob diese Taktik bedeutet, dass sie noch so viele Meter wie möglich machen wollen, bevor sie wie gestrandete Wale am Rand liegen bleiben oder ob sie wirklich glauben, dass sie dieses Tempo durchhalten können? Seufzend machte ich mich ebenfalls auf den Weg. „Akita, auch mit Asthma kann man laufen!“, hörte ich Mr. Kinomiya übers Feld brüllen. Junge, unser Lehrer hats auch nicht leicht. Ich sah auf die Uhr. Zwei Minuten waren schon vorbei und für eine Eins müsste ich mein Tempo etwas anziehen. Schweren Herzens machte ich größere Schritte und beschleunigte meine Geschwindigkeit um ein Minimum. Als ich das nächste Mal an unserem Lehrer vorbei lief (diesmal schon etwas außer Atem), stand Mr. Mizuhara, der Beratungslehrer neben ihm und hielt das Klemmbrett. Anscheinend war er zum Runden zählen abgestellt worden. Und hielt dabei nicht besonders vorbildlich eine Zigarette in der Hand. Bei der nächsten Runde gab Mr. Kinomiya mir zu verstehen, dass ich vom Tempo her genau richtig bin. Ehrlich gesagt, wird es langsam wirklich hart und ich muss mich darauf konzentrieren gleichmäßig und regelmäßig zu atmen. Außer mir scheinen die beiden Lehrer niemanden groß zu beachten und unterhalten sich intensiv. In den letzten beiden Minuten, die ich noch laufen musste, sah Mr. Kinomiya verärgert aus. Endlich kam der erlösende Pfiff! Ich musste mich zusammen reißen, dass ich nicht zu Boden glitt, sondern mit langsamen Schritten zurück zum Sammelpunkt ging. Wow, das war wirklich mal anstrengend. „Das war...ganz großartig“, sagte Mr. Kinomiya lahm und ehrlich gesagt, wenig überzeugt. Ich kann es ihm nicht verübeln. Der größte Teil der Klasse hat nicht einmal annähernd eine gute Note erlaufen. Vielleicht sollte mal wieder eine Lehrplanänderung her, mit wesentlich mehr Sportunterricht. „Können wir gehen?“, fragte Akita mit knallrotem Gesicht. „Ja bitte, tut mir den Gefallen.“ Mr. Kinomiya steckte seine Stoppuhr in seine Jackentasche und schickte uns mit einer wegwerfenden Handbewegung weg. Irgendwie tut er mir leid. Normalerweise ist er total motiviert und versucht jeden Tag mit voller Energie uns für etwas zu begeistern. Wir danken es ihm grundsätzlich mit griesgrämigen Blicken und lustlosen Gesten. „Ai, hast du noch eine Sekunde?“ Überrascht wandte ich mich zu Mr. Kinomiya um. Der Beratungslehrer stand immer noch neben ihm. Ich wusste nicht viel über ihn. Bisher hatte ich es nicht nötig bei ihm aufzukreuzen. Jetzt lächelte er mich an. Was auch immer vorhin zwischen den beiden für Unstimmigkeiten gesorgt hatte, war nun beseitigt. „Sicher“, sagte ich und ging noch einmal zu den beiden. „Wie läuft's für dich so in der Schule?“ Verwirrt sah ich Mr. Kinomiya an. „Gut?“, antwortete ich unsicher. Worauf wollte er hinaus. „Du warst doch mal im Leihathletik Club, oder? Läufst du denn immer noch gerne?“, fragte mich Mr. Mizuhara. „Worauf wollen Sie hinaus?“ „Wusstest du, dass wir Partnerschaften zu zwei Universitäten in Amerika haben? Diese vergeben Stipendien für Schüler dieser Schule.“ Mr. Kinomiya erzählte weiter. „Das Rektorat hat dich für ein Sportstipendium vorgeschlagen.“ Ich starrte ihn mit offenen Mund an. Mr. Mizuhara musste bei meinem Anblick anscheinend schmunzeln. Er reichte mir einen Stapel Papiere. „Hier sind ein paar Unterlagen über das Programm und Broschüren über die Universität. Schau es dir in Ruhe an und denk darüber nach. Wenn du mehr wissen willst, melde dich einfach bei mir.“ Ungläubig sah ich auf das mir gereichte. „Danke.“ Ohne noch etwas zu sagen, drehte ich mich um und ging. Den Rest des Tages nahm ich mir selbst frei. Mehr oder weniger. Ich verließ nicht das Schulgelände. Auf dem Dach der Schule rauchte ich meine allerletzte Zigarette. Vielleicht sollte ich das Rauchen aufgeben, wenn ich Sportlerin werden will. Bei dem Gedanken, dass ich vielleicht bald ganz lässig in einer Jogginghose und einem Kaffeebecher in der Hand über einen grünen, amerikanischen Campus zur Vorlesung schlendern könnte, musste ich grinsen. Raus aus meinem eingezwängten Leben, weg von meinem Vater. Ob er das zu lassen würde? Als die Schulglocke das Ende des Unterrichts einläutete, ignorierte ich das. Yamata musste sowieso nachsitzen und vor um 4 Uhr musste ich mich nicht zu Hause blicken lassen. Erst als ich unten vor der Schule eine bestimmte Gestalt ausmachen konnte, erhob ich mich schnell. Ich eilte die Stufen hinunter und rannte zum Parkplatz, in der Hoffnung ihn noch zu erwischen. „Mr. Mizuhara!“ Schwer atmend stand ich in der Eingangstür. Überrascht drehte sich der blonde Lehrer um. Auf dem Arm hatte er einen kleinen Jungen, der mich noch überraschter ansah. „Hallo Ai“, sagte Mr. Mizuhara und lächelte mich an. „Das Stipendium. Ich habe darüber nachgedacht. Und ich möchte darüber reden.“ „Das freut mich“, antwortete er mir und setzte sich den Jungen auf die andere Seite seiner Hüfte. „Passt es Ihnen jetzt noch?“ Unsicher sah ich zu dem Kind, dass mich immer noch mit großen Augen anstarrte. Mr. Mizuhara zögerte kurz, was ich ihm nicht übel nahm. Er hatte wahrscheinlich einen langen Tag hinter sich und anscheinend auch ein Kind, um das es sich kümmern musste und das ist ja bekanntlich nie leicht. Umso höher rechnete ich es ihm an, als er schließlich „Ja“ sagte. „Wollen wir in mein Büro gehen?“ Er lächelte mich wieder an. „Gerne.“ „Möchtest du noch einen Kaffee oder so?“, fragte er mich, als wir uns bereits auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude befanden. „Ist Koffein für uns jungen Leute nicht ungesund?“ „Als ich in deinem Alter war, habe ich Tonnen an Kaffee getrunken.“ „Und jetzt?“ „Jetzt ist es nur noch schlimmer.“ Ich musste kurz auflachen. Als wir vor seiner Bürotür standen, fing er umständlich an in seiner Tasche nach seinem Schlüssel zu suchen. „Soll ich Ihnen etwas abnehmen?“ „Es geht schon“, antwortete er schließlich grinsend, als er endlich seinen Schlüssel gefunden hatte und ihn triumphierend hoch hielt. „Ich vergesse nur ab und an, dass Ken älter und damit auch schwerer wird.“ Ken. Das ominöse Kind hat also einen Namen. Sanft setzte Mr. Mizuhara ihn auf den Boden ab, wo bereits eine bunte Flickendecke lag, die ziemlich danach aussah, als wenn sie eigens für den kleinen Ken und etwaige Notfälle parat lag. „Also, wie sieht es aus mit dem Kaffee? Ich kann noch welchen aus dem Rektorat mopsen.“ „Wenn sie mich so fragen: gerne.“ „Hast du kurz ein Auge auf den Jungen?“ „Klar.“ Mit einem Lächeln verschwand er aus der Tür. Ich beschloss für mich, dass ich Mr. Mizuhara sympathisch fand. Neugierig sah ich mich in dem Büro um. Es sah wie ein typisches Beratungsbüro aus. Prospekte von Colleges und Entzugsprogrammen lagen herum, genauso wie Stapel an Akten, wahrscheinlich von Schülern, die mit Messern durch die Flure liefen. Nicht, dass so etwas an unserer Schule je vorgekommen wäre, aber ehrlich gesagt sind das für mich die Typen an Schülern, die zum Beratungslehrer müssen. Nach einem zweiten Blick fiel mir auf, dass es keine persönlichen Fotos von Mr. Mizuhara oder etwaige Abschlussdiplome an den Wänden gab. Komisch, dabei finde ich, dass er genau der Typ Mensch ist, der Fotos von seinen Kindern, Nichten, Neffen, Cousins, dessen Kinder, seine Eltern und am besten noch von seinen Schwiegereltern aufhängt. Der kleine Ken weckte meine Aufmerksamkeit, als er aufstand und sich neben meinem Stuhl stellte. „Na kleiner Mann“, versuchte ich so freundlich und so wenig furchteinflößend wie möglich zu sagen. Er sah mich nur aus großen Augen an und reichte mir eine leere Plastik Ketchupflasche. In einer seiner kleinen Patschehändchen hielt er noch eine, diese war jedoch halb gefüllt. „Da..nke?“ „Sieh mal, was ich erbeutet habe.“ Mr. Mizuhara kam mit einer Kaffeekanne und zwei Bechern wieder in den Raum geschneit. „Oh nein, hat er dir eine Flasche gegeben?“ Fragend hob ich die Ketchupflasche hoch. „Ken, nimmt bitte die Flasche von Ai zurück und leg sie in die Kiste.“ Mit freundlicher Strenge sah er den Jungen an. „Will nicht.“ „Das heißt: 'Ich will das nicht'. Bitte tu mir den Gefallen.“ Ich war etwas überrascht, von der Art wie Mr. Mizuhara mit Ken redete. Es kam mir etwas...merkwürdig vor. Der Lehrer setzte sich wieder hin, sah aber weiterhin zu dem brünetten Jungen. Ich hielt ihm die Flasche hin und er ergriff sie langsam. Nachdem er sie wieder in seinen Händen hielt, sah er zu Mr. Mizuhara. Der deutet auf eine Ecke. „Bitte pack sie wieder in die Kiste, wo du sie her hast.“ Ken sah so aus, als ob er es in Erwägung ziehen würde, einen gepflegten Schreikrampf zu bekommen. Gott sei Dank, entschied er sich dagegen. Er trottete mit schlurfenden Schritten zu einer Kiste in einer Ecke und legte langsam zu erst die Eine, dann die andere Flasche hinein. Als er sich wieder umdrehte, sah er plötzlich unheimlich verletzlich aus. „So ist es gut“, lobte Mr. Mizuhara. Ich kam mir schrecklich fehl am Platz vor. Das gerade kam mir wie ein unheimlich intimer Moment vor, in dem ich absolut nichts zu suchen hatte. Als wäre ich ein Eindringling in Kens kleiner Welt. „Ich...ich wollte sie nicht davon abhalten Ken nach Hause zu bringen.“ Mich plagte ein schlechtes Gewissen. Überrascht wandte sich der blonde Lehrer wieder an mich. „Sei unbesorgt. Wenn ich keine Zeit gehabt hätte, wäre ich nicht hier.“ Dann stand er auf und suchte in einem Schrank auf der linken Seite nach meiner Akte. „Also Ai“, fing er an und schlug die Akte auf. Obwohl ich wusste, das nichts verfängliches drin stand, rutschte ich kurz unruhig auf meinem Stuhl hin und her. „Was hältst du von der Idee in Amerika zu studieren?“ „Klingt gut.“ „Das hat mich gerade nicht besonders überzeugt“, verschmitzt grinsend sah mein Gegenüber mich an. „Ich kann mir gut vorstellen in den Staaten zu studieren“, fing ich noch einmal an. „Das stelle ich mir interessant vor?“ Er sah mich prüfend an. Man, bei dem weiß man auch, warum er Beratungslehrer geworden ist. „Was glaubst du, werden deine Eltern davon halten?“ „Ist das wichtig?“, erwiderte ich die Frage. „Bis dahin bin ich doch volljährig.“ „Es ist doch aber trotzdem schön, wenn man Unterstützung von zu Hause bekommt und man weiß, dass die eigene Familie hinter der Entscheidung steht.“ Ich zögerte kurz. „Wirkt sich das auf meine Bewerbung aus?“ „Natürlich nicht“, antwortete Mr. Mizuhara fast erschrocken, „Es interessiert mich nur. Als Beratungslehrer ist es meine Aufgabe, dich zu beraten. Das bedeutet, ich muss schauen, was für dich das Beste ist und wie wir deine Wünsche und Erwartungen mit deinen Leistungen in Einklang bringen.“ Klang logisch. „Glauben Sie den, ich habe das Zeug dazu, in Amerika zu studieren?“ „Sonst wärst du nicht vorgeschlagen worden.“ Ich suchte in seinem Gesicht nach Zweifeln oder Anzeichen einer kleinen Lüge, fand aber keine. „Deine Noten sind sehr gut und sportlich hättest du es allemal drauf, ein Stipendium zu bekommen. Die Frage ist also nur, ob du es willst. Und wenn ja, ob du dich mit der Entscheidung dauerhaft wohl fühlst.“ Ich lehnte mich im Stuhl zurück. „Das ist nichts was man beim Mittagessen entscheidet. Wäge gut ab, was du von deinem Leben erwartest und was du bereit bist, dafür zu tun.“ Mein Blick blieb an einer kleinen Holzfigur auf dem Schreibtisch hängen, die mir vorher gar nicht aufgefallen war. Es war anscheinend das einzige, wirklich persönliche in dem Raum und hatte die Form einer kleinen Schildkröte. Aus einer Schublade kramte Mr. Mizuhara einen weiteren Bogen von Papier hervor. „Das hier sind die Bewerbungsunterlagen. Dir bleibt noch etwas Zeit bis zum Bewerbungsschluss.“ „Was benötige ich alles?“ „Natürlich dein letztes Zeugnis. Dann Empfehlungsschreiben von zwei Lehrern und dem Direktorat. Beides dürfte für dich kein Problem sein,“ er zwinkerte mir zu, „Dann noch eine Bescheinigung von deinem Sportlehrer bzw. deinem ehemaligen Leichathletiktrainer. Das kannst du selbst entscheiden. Wie sieht es mit deinem Englisch aus?“ „Ganz passabel.“ „Du müsstest einen TOEFL Test machen. Du kannst gerne die Demo Version im Internet probieren. Falls du merkst, dass du noch Defizite hast, wende dich an deinen Englischlehrer oder an mich. Wir können dir Nachhilfe geben.“ „An Sie?“, fragte ich überrascht. Er zog amüsiert eine Augenbraue hoch. „Ja, an mich. Ich bin zur Hälfte Amerikaner und größten Teils drüben aufgewachsen. Ein bisschen Englisch kriege ich durchaus noch hin“ Ich wurde ein wenig rot. Wie peinlich. Natürlich war mir klar, dass Mr. Mizuhara nicht komplett japanisch sein konnte, aber ich war immer davon ausgegangen, dass er irgendwo aus Europa kam. Bevor ich noch etwas antworten konnte, klopfte es an der Tür. Noch bevor Mr. Mizuhara antworten konnte, wurde die Tür auch schon geöffnet. „Du bist ja noch da. Oh und du bist mitten in einem Gespräch. Entschuldige.“ Mr. Kon, der Chemielehrer, stand etwas Schuldbewusst im Türrahmen. „Wir waren sowieso gerade fertig“, sagte ich schnell. Ich wandte mich wieder zu dem Beratungslehrer um, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. „Melde dich, wenn du etwas brauchst“, sagte er schließlich nur. „Vielen Dank.“ Und mit diesen Worten verschwand ich aus der Tür und schloss sie hinter mir. Was dann kam ist mir ein wenig peinlich. Ich machte ein paar Trappelgeräusche mit meinen Schuhen, blieb aber vor der Tür stehen. Und lauschte. Wie Mr. Kon gerade in das Zimmer kam und mit dem blonden Lehrer sprach, kam mir einfach viel zu vertraut vor. „Wolltest du nicht schon zu Hause sein? Kai hat mir gerade erzählt, dass du spontan Überstunden macht“, ertönte die Stimme des Chinesen von drinnen. Wer war Kai? „Ach, du weißt ja wie das ist“, sagte Mr. Mizuhara lediglich fröhlich. Noch mehr Punkte auf der Sympathieskala! „Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob ich dir mit Ken heute helfen kann?“ Ich konnte hören, wie drinnen herumgekramt und Taschen gepackt wurden. „Nein, danke es geht schon.“ „Wolltest du nicht heute deine Mutter vom Flughafen abholen?“ „Sie kommt doch nicht.“ Bei dieser Antworte wurde Mr. Mizuharas Stimme etwas tiefer. „Oh je“, war Mr. Kons einziger Kommentar dazu. „Aber danke für das Angebot. Gerade wo du und Mariah doch selbst so viel zu tun habt.“ Mit einem 'zap' schlossen sich die Jacken von den Lehrern. Wirklich Zeit für mich zu verschwinden, aber ich hatte das Gefühl jetzt würde es erst richtig spannend werden. „Suchst du etwas, Ai?“ Mein Herz setzte kurz aus. Mit vor Schreck aufgerissen Augen sah ich zu unserem Konrektor, Mr. Hiwatari. Er schien auf eine Antwort zu warten, bei der er von vornherein wusste, dass es sich nur um eine glatte Lüge handeln konnte. „Ich...“, fing ich stockend an, ließ es dann aber. „Ich geh lieber.“ „Das halte ich für das Beste,“ sagte Mr. Hiwatari und Junge, ich wusste nun warum niemand an unserer Schule ihm widerspricht. Mit eiligen Schritten verließ ich das Gebäude. Ich stieß ein 'Uff' aus, als ich endlich draußen war. Nach einem Blick auf die Uhr stöhnte ich genervt auf. 15:56. Scheiße. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)