Splitterwelt von angelneko ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Wie ein panisches Reh suchte ich nach einer Lücke im Gedränge. Die stickige Luft, das aufgesetzte Lachen, das geheuchelte Interesse... Ich hasste solche Empfänge. Doch mein Vater hatte nie ein Ohr dafür. Ich schob mich unauffällig zwischen den vielen Gästen hindurch. Endlich kam die Tür zum Balkon in mein Sichtfeld. Gleich! Nur noch am Buffettisch vorbei, ohne aufzufallen. Dann würde ich es geschafft haben - „Fräulein Lillja! Welch eine Überraschung!“ Die gekünstelte, flötende Stimme ließ mich zusammenzucken. Ich gab mir Mühe, mein freundliches Lächeln aufzusetzen, ehe ich mich ein wenig zu langsam umdrehte. Die Frau des Bürgermeisters und die Frau des Tuchhändlers standen vor mir. „Willkommen, die Freude ist ganz auf meiner Seite!“ Ich versuchte mein Bestes, keinen Ärger in meine Stimme einfließen zu lassen und deutete einen Knicks an. Meine verkrampfte Faust drückte ich in die Säume meines Kleides. „Es war wirklich sehr freundlich von Eurem Vater, uns einzuladen.“, heuchelte die Frau des Bürgermeisters weiter und fächelte sich mit ihrem kunstvoll verzierten Fächer etwas Luft zu. „Die Funde, die er uns heute präsentiert, sind wahrlich ungewöhnlich. Es ist beinahe, als würde man selbst in die entfernten Gegenden reisen, um solch faszinierende Abenteuer zu erleben!“, schwärmte sie. Als ob sie freiwillig auch nur einen Fuß vor die Stadttore setzen würde. „Ja, Vater ist länger unterwegs gewesen als üblich. Aber er hat dafür wirklich eine vielfältige Ausstellung vorbereitet.“, gab ich freundlich zurück. Hoffentlich würden sie mich schnell in Frieden lassen. Mein Blick huschte zur Balkontür. „Wart Ihr gerade auf dem Weg nach Draußen?“, fragte mich die Frau des Tuchhändlers, um das Thema zu wechseln. ...Oder hatte sie meine Blicke bemerkt? „Es ist ein wenig stickig hier drin, ich wollte kurz frische Luft schnappen.“ „Ihr solltet nicht allein hinausgehen, Kind!“ Die Frau des Tuchhändlers zog die Augenbrauen tadelnd hoch. „Wisst Ihr nicht, dass Piraten in der Stadt sein sollen?“ „Das sind sicher nur Geschichten. Außerdem haben unsere Diener ein Auge auf mich.“, gab ich beschwichtigend zurück, auch wenn das nicht stimmte. Frank und Wrone waren viel zu Beschäftigt, den Gästen hinterherzuräumen, als darauf zu achten, wohin ich ging. Die Frau des Bürgermeisters legte die Hand an ihre Wange und setzte einen besorgten Blick auf. „Passt auf Euch auf, Fräulein Lillja. Ihr seid so ein hübsches Kind. Es würde mich nicht wundern, wenn Diebe oder schmutzige Piraten versuchen würden, Euch zu bestehlen!“ „Vielen Dank für Eure Sorge, ich werde gleich wieder zurück sein!“ Ich knickste erneut, drehte mich um und ging zügig auf die Balkontür zu. Ein älterer Herr hatte sich den beiden Damen zugewandt und schien sich nett mit ihnen zu unterhalten. Piraten. So ein Unsinn. Ich nahm einen tiefen Atemzug der Abendluft und spürte sofort, das mein Korsett damit alles andere als Glücklich war. Hoffentlich würden die Gäste bald gehen, dann könnte ich dieses unbequeme Kleid mit samt dem ziependen Haarschmuck endlich ablegen. Ich legte die Arme verschränkt auf die Balkonbrüstung und stütze mich auf, was nicht sonderlich Damenhaft aussah. Doch die großen Säulen schützen mich vor Blicken von drinnen. Am Horizont konnte ich die zwei nächsten Inseln sehen. Die eine schwebte ein wenig höher als unsere, und ich betrachtete die Unterseite, die sich sanft wölbte. Die zweite Insel wirkte dort am Horizont so winzig, als könnte man sie mit der Hand umschließen. Ich konnte nicht sagen, ob sie höher oder tiefer lag als unsere. Irgendwo weit dort draußen war Vater unterwegs gewesen, um alte Kulturen zu erforschen und die Funde seiner Reisen bei uns zu präsentieren. Wie immer hatte ich ihn nicht begleiten dürfen. Das gehöre sich nicht für eine junge Dame. Das einzige, dass sich für eine junge Dame gehörte war, in ihrem Haus eingesperrt zu sein und zu warten, bis ein gutbetuchter Mann um ihre Hand anhielt. Hatte man das seltene Glück, einen Fuß vor die Tür setzen zu können, war man stets in Begleitung und wurde gemahnt die aristokratische Höflichkeit zu wahren, freundlich zu sein und zu lächeln. Immer dieses wächserne Lächeln... Ich hatte das Bedürfnis, mir die Augen zu reiben, doch das würde nur den Puder und die Farben in meinem Gesicht verschmieren, mit denen ich geschminkt war. Also seufzte ich, blinzelte mehrmals und starrte wieder auf den Horizont. Wie gerne ich von hier verschwinden würde. Die Welt erkunden. Andere Menschen treffen. Vielleicht ein Abenteuer erleben. Fernab von meinem Vater und unseren Dienern, die mir auf Schritt und Tritt folgten. Vielleicht würde ich sogar einen Mann finden, der mir wirklich gefiel. Nicht irgendeinen Idioten, den mein Vater für angemessen hielt. Ich erinnerte mich, dass mein Vater mir gesagt hatte, der Sohn des Tuchhändlers habe ein Auge auf mich geworfen. Es schüttelte mich bei diesem Gedanken. Wrendon würde wohlhabend sein, denn er sollte bald das Geschäft seines Vaters übernehmen. Er war freundlich und mir gegenüber stets sehr zuvorkommend gewesen. Und es gab sicher so manchen Jungen, der ihn um sein Aussehen beneidete... Aber er war plump. Traditionell. Er würde nie Verständnis haben, wenn ich mir ein anderes Leben wünschte, als es für gute Ehefrauen üblich war. Ein leises Rascheln ließ die Büsche unterhalb des Balkons erzittern. Neugierig wandte ich den Blick nach unten. „Lillja! Fräulein Lillja, seid Ihr hier draußen?!“, erklang Wrones Stimme von der Balkontür. Von dem Rufen aufgeschreckt flatterte ein Vogel aus dem Gebüsch und verschwand in der Dunkelheit. „Wrone! Ja ich bin hier...“, antwortete ich halbherzig und richtete mich wieder auf. Der schlaksige Mann stürzte um die Ecke. Er war völlig außer Atem und eine Strähne seines dunklen, angegrauten Haares hatte sich aus dem Zopf gelöst. Wahrscheinlich hatten er und Frank mich schon überall im Haus gesucht. Ein schelmisches Grinsen huschte über mein Gesicht. Ich hatte es schon als Kind geliebt, mich vor den beiden Dienern zu verstecken. Und ich hatte es stets genossen, wenn Sie den halben Tag nach mir suchten, ohne mich zu finden. Ich mochte die beiden sehr, deshalb war ich immer rechtzeitig wieder zum Vorschein gekommen, ehe mein Vater etwas bemerkte. Die beiden hätten sonst womöglich eine Menge Ärger bekommen. „Fräulein Lillja, es ist kühl hier draußen. Wollt Ihr nicht wieder zu den Gästen kommen?“ Wrone war sichtlich erleichtert, dass er mich gefunden hatte. Ich zog eine Augenbraue hoch. „Ich würde lieber hier draußen in einem Schneesturm erfrieren als da wieder rein zu gehen.“ „Ich weiß. Aber Lillja, es war Eurem Vater wichtig, dass Ihr heute dabei seid...“ „Natürlich war es das. Ich soll einen guten Eindruck bei der Familie des Tuchhändlers machen. Und am besten noch bei anderen Familien mit unverheirateten Söhnen, damit er eine größere Auswahl hat. Vielleicht hätte ich mich einfach benehmen sollen, wie ein Bauerntrampel, dann wäre ich sie alle längst los...“ Trotzig lehnte ich mich wieder auf die Brüstung, egal wie unangemessen es aussah, es war bequem. Wrone kannte mich gut genug, um sich nicht daran zu stören. Er wusste um meine Wünsche und Ängste. Und auch, dass sich diese wohl nie erfüllen würden. Er und Frank waren wohl die einzigen, die mich wirklich gut kannten. Wrone trat neben mich und legte mir die Hand auf die Schulter. „Seid nicht so hart zu Eurem Vater.“ „Wie soll ich das anstellen? Er interessiert sich nur für seine archäologischen Funde und seine Reisen. Was ich mir wünsche ist ihm egal. Er hört mir ja nicht einmal zu...“ Ich vergrub den Kopf in meinen Armen. „Seit drei Tagen ist er nun zurück und er hatte nur Augen und Ohren für die Ausstellung seiner Funde. Und dass, obwohl die ganzen Leute hier kein einziges Stück wirklich zu würdigen wissen.“ Wrone seufzte. Natürlich wusste er das alles. Frank und er mussten oft genug als Vermittler zwischen mir und meinem Vater herhalten. Unsere Beziehung war schon sehr lange angespannt. Schließlich setzte er ein schiefes Lächeln auf und gab sein Bestes, mich aufzumuntern. „Nun kommt schon. Die Gäste werden nicht mehr lange bleiben, es ist schon spät. Verabschiedet sie wenigstens...“ Mit genervter Miene sah ich ihn an. Wir wussten beide, dass die Gäste sicher noch ein oder zwei Stunden hierbleiben würden. Doch wieder einen Streit mit meinem Vater anzuzetteln machte auch keinen Sinn. Schließlich gab ich nach. Langsam, wie ein altes Weib richtete ich mich auf und ließ mich von Wrone zurück in den Saal führen. Die letzten Gäste waren vor einer halben Stunde gegangen. Mein Vater hatte mir tonlos eine gute Nacht gewünscht und mich dann im Saal stehen lassen. Er hatte gesehen, dass ich versucht hatte, mich vom Empfang zurückzuziehen. Das hatte er mir wieder einmal übel genommen. Doch das störte mich nicht. Ich hatte seinen bösen Blick genau so störrisch erwidert wie immer. Ob er mir nun auswich weil er wütend war oder weil er Wichtigeres zu tun hatte, machte ohnehin keinen Unterschied. Vielleicht würde er sich auch bis morgen beruhigt haben. Frank strich sich eine seiner widerspenstigen hellen Locken aus dem Gesicht. Er war deutlich jünger als Wrone – höchstens fünf oder sechs Jahre älter als ich - und war damals als Botenjunge bei uns eingestellt worden. Er hatte gerade die letzten Teller weggetragen. „Ist alles in Ordnung mit Euch, Fräulein Lillja? Ihr seht sehr erschöpft aus.“ Sanft legte er eine Hand auf meine Schulter. Ich lehnte mich kurz an ihn. „Nein, schon gut. Du kannst dich schlafen legen. Ich werde auch gleich auf mein Zimmer gehen!“, lächelte ich und gähnte demonstrativ. Frank sah mich besorgt an. Schließlich nickte er mir zu und ging. Nun war ich allein im Saal. Die Leuchter waren bereits gelöscht, nur das Licht des Mondes und der Sterne fiel zu den großen Fenstern herein. Ich betrachtete die Fundstücke, die mein Vater auf den Tischen rings um den Raum präsentiert hatte. Schmuckstücke mit handgeschliffenen Holzperlen waren darunter. Verzierte, ungewöhnlich geschwungene Dolche. Schnitzereien aus einem sehr hellen Material – vermutlich Knochen oder Horn. Auch ein paar Skulpturen waren dabei und Bögen aus ungleichmäßigem Papier, die mit seltsamen Zeichen beschrieben waren. Allesamt Zeugnisse anderer Kulturen, die auf den Inseln der äußeren Bereiche lebten. Mein Blick fiel auf ein dünnes Lederband, dessen Anhänger besonders schön gearbeitet war. Eine Feder, aus einem durchscheinenden Kristall geschliffen. Die Ränder waren so fein, dass sie völlig durchsichtig waren. Fasziniert streckte ich die Finger danach aus und strich vorsichtig darüber, um nichts abzubrechen. Ein warmer Lufthauch. Der Geruch des Waldes. Ich blinzelte. Was war das für ein Gefühl gewesen?! Als mein Blick auf das halb geöffnete Fenster hinten im Raum fiel, beruhigte sich mein Herzschlag wieder. Ein Windhauch. Vom Garten her. Vermutlich war ich einfach zu müde. Vorsichtig ließ ich die Kette wieder auf den Tisch zurückgleiten. Ihr Anblick ließ mich nicht los. Vielleicht sollte ich Vater morgen Fragen, ob er sie mir schenken würde? Dafür würden wir uns wieder ein wenig versöhnen müssen, doch ich hatte schon eine Idee, wie ich das bewerkstelligen konnte. Ich gähnte erneut, diesmal ernsthaft, und riss mich vom Anblick des filigranen Anhängers los. Mit leisen, schlurfenden Schritten ging ich zu meinem Zimmer. Das Korsett samt Kleid und den Schuhen ließ ich dort liegen, wo ich es abgestreift hatte. Ich würde morgen noch genug Zeit haben, alles aufzuräumen. Es gab ja sonst kaum etwas, das ich tun konnte. Ich trat vor den Spiegel und rieb die Stellen, an denen das Korsett mich eingeschnürt hatte. Mit einer knappen Bewegung löste ich den Haarschmuck und mein hellbraunes Haar fiel in sanften Wellen über meinen Rücken fast bis zur Hüfte. Besser. Viel besser. Nachdem ich mein Gesicht gewaschen hatte und in mein Nachthemd geschlüpft war, ließ ich mich aufs Bett fallen und löschte das Licht. Ich hatte den Vorhang nur halbherzig zugezogen, so dass nun ein Strahl Mondlicht auf die Decke fiel. Müde kuschelte ich mich in mein Kissen. Eine warme Brise weht durch den Wald. Sie nimmt mich mit sich. Unter mir fliegen Felder, Wiesen und Städte dahin. Sie trägt mich am Rande der Berge hinauf und in Schluchten hinab. Von einer fliegenden Insel zur nächsten. Wir landen auf einem der schwebenden Felsen, die eine grüne Insel umgeben. Alte Bäume und Kletterpflanzen recken sich in den Himmel. Plötzlich zieht sich eine Erschütterung durch die Idylle. Ein lautes Krachen. Es war gleich Zeit zu Frühstücken. Ich stand wieder vor dem Spiegel und betrachte genervt die Ringe unter meinen Augen. Ich hatte schlecht geschlafen. Ein seltsamer Traum hatte mich verfolgt, aber ich konnte mich nicht erinnern, wovon er gehandelt hatte. Sollte ich heute wirklich in die Stadt gehen, würde ich eine zusätzliche Schicht Puder benötigen. Ich ließ davon ab, mein Gesicht mit den Händen zu Grimassen zu verziehen und griff zu einem einfachen, bequemen Kleid, wie ich es üblicherweise zu Hause trug. Beim Frühstück erwartete mich mein Vater bereits. Seine Stimmung hatte sich wieder gehoben. „Guten Morgen Lillja!“ „Guten Morgen Vater. Ich wollte dir gestern keinen Ärger bereiten.“ Vater musste wissen, dass ich log, denn er sah mich grimmig an. Dennoch winkte er ab. „Schon gut.“ Nach einigem Schweigen überlegte ich, ihn auf den Anhänger anzusprechen. „Du bist diesmal sehr lange unterwegs gewesen, Vater.“ „Das mag sein. Es kam mir vor, als hätten die Reisen zwischen den Inseln eine Ewigkeit gedauert. Die Flugmaschinen und Luftschiffe werden wohl einfach alt und taugen nichts mehr.“ „Allerdings hast du diesmal einige sehr schöne Stücke mitgebracht!“ „In der Tat. Das Volk der Mouq‘wee ist sehr kunstfertig. Auch ihre Göttergeschichten sind äußerst interessant. Vielleicht kann ich die eine oder andere noch übersetzen.“ Mein Vater musterte mich abschätzend. Wieder einmal war seine Antwort sehr knapp ausgefallen. Ich nickte nur und nippte an meiner Tasse. „Eine der Halsketten hat mir sehr gut gefallen. Würdest du sie mir überlassen?“ Er zog die Augenbrauen hoch, aber sagte nichts. Ich hatte mir schon gedacht, dass es nicht so einfach werden würde. Ich gab mein Bestes beiläufig zu klingen. „Ich dachte mir, sie würde sich sicher gut an mir machen, wenn ich heute in die Stadt gehe um mir die neuen Stoffe anzusehen. Ich brauche unbedingt ein luftigeres Kleid für den Sommer.“ Mein Vater biss an. Ich konnte es an dem Aufblitzen in seinen Augen sehen. Wenn ich den Sohn des Tuchhändlers treffen würde, war ihm alles recht. „Natürlich, mein Kind. Natürlich! Nimm, was dir gefällt. Frank wird dich sicher begleiten, ich habe ihn gebeten ein paar Besorgungen zu machen.“ „Danke Vater!“ Ich lächelte meinen Vater an und widmete mich dann meinem Frühstück. So sehr ich es auch verabscheute, das falsche Lächeln war mir schon in Fleisch und Blut übergegangen. Ich war sicher, dass Frank noch nichts von diesen Besorgungen wusste, aber Vater würde sich noch etwas einfallen lassen, wonach er ihn ausschicken konnte. Ich genoss die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Nachdem mich Frank zum fünften Mal gebeten hatte, meinen Sonnenschirm aufzuspannen, hatte er es aufgegeben. Vornehme Blässe mochte in der Mode sein, doch die Sonne war einfach viel zu angenehm. Die Kette, mit dem Federanhänger lag leicht um meinen Hals und ich konnte sie auf meiner Haut spüren. Kühl und beruhigend. Wirklich ein schönes Schmuckstück. Gemächlich schlenderten wir durch die Gassen, an deren Rand sich die vielen Geschäfte, mit ihren alten, gemauerten Fassaden befanden. Der Duft von fremden Gewürzen mischte sich mit dem geräucherter Fische, die eine alte Frau am Gassenrand feil bot und dem Geruch des Schuhleders, dass der Stiefelmacher hinter offener Ladentür zuschnitt. Das laute Treiben in den Gassen war Balsam für meine Seele. „Es freut mich, Euch wieder glücklicher zu sehen.“, sagte Frank und lächelte mir zu. „In all dem Trubel hier ist wenig Platz für Sorgen. Fernab von unseren schweren Mauern fühle ich mich einfach besser.“ Frank zögerte. Schließlich sagte er leise: „Und unser Ziel? Freut Ihr Euch schon darauf, den Stoffhändler zu besuchen?“ Mein Gesichtsausdruck wurde schlagartig angespannt. „Nein, sicher nicht. Frank, du weißt, dass ich ihn nicht heiraten will.“ Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie sich Frank entspannte. Er wirkte erleichtert. Ich hatte mich bei ihm eingehakt und er legte vorsichtig seine Hand auf meine. Wir gingen ein Stück schweigend weiter. „Wisst Ihr, ich würde alles dafür tun, Euch Glücklich zu sehen.“ Seine Stimme war leise, doch sie bereitete mir Unbehagen. Ich löste mich von ihm und blieb stehen. „Frank. Du weißt, das geht nicht. Ich bin sicher, dass du immer Verständnis für mich hättest und gut für mich sorgen würdest. Aber unser Stand ist zu unterschiedlich. Außerdem bist du so etwas wie ein Bruder und guter Freund für mich.“, ich lächelte ihm tröstend zu. Natürlich hatte ich schon öfter bemerkt, wie Frank mich ansah, aber es war ihm auch klar, dass so etwas für ihn nur ein Wunschtraum bleiben konnte. Selbst wenn unser Stand nicht dagegen spräche, könnte ich ihn doch nie heiraten. Er war von klein auf für mich dagewesen. Ich liebte ihn wie einen Bruder. Für andere Gefühle war dort kein Platz. Frank lächelte ebenfalls wieder, doch ich konnte auch die Enttäuschung in seinen Augen sehen. Die Augenblicke, in denen einem klar wurde, dass Träume immer Träume bleiben würden, waren nie besonders schön. „Was musst du noch für meinen Vater besorgen?“, fragte ich Frank schließlich um das Thema zu wechseln. „Ich habe hier eine ganze Liste an Kleinigkeiten. Als Wrone die letzten Botengänge erledigt hat, hatte der Krämerladen noch keinen Nachschub erhalten. Dabei war der Nachschub schon zwei Tage überfällig gewesen. Wirklich eigenartig.“ „Aha.“, machte ich knapp. Vielleicht hatte ich mich doch getäuscht und Vater hatte tatsächlich einen Grund, Frank loszuschicken. Wir waren nicht weit gekommen, als ich an einem Obststand inne hielt. Ein älterer Herr mit grauen Haaren, gepflegtem Vollbart und schelmischen Augen sprach mich an. „Gefallen euch meine Früchte, Mylady?“ „Sie sehen ungewöhnlich aus. Woher stammen sie?“ „Aus den äußeren Bezirken.“, sagte er lächelnd und deutete auf einen seiner Körbe. „Möchtet ihr vielleicht eine kosten?“ Ich beugte mich nach vorn und der Anhänger um meinen Hals klimperte leise. „Gerne!“ Der ältere Herr nahm eine Frucht aus dem Korb und schnitt sie in Stücke. Der Mann kam mir ein wenig bekannt vor. War er auf Vaters Empfang gewesen? Nein, sicher nicht. Einen Obsthändler würde mein Vater sicher nicht einladen. Der Herr legte die Stücke auf ein hölzernes Brettchen und reichte sie mir. Frank wurde ungeduldig. „Fräulein Lillja, Ihr wisst, dass wir noch etwas zu tun haben.“ „Oh ja, aber ich habe es damit nicht eilig.“, antwortete ich zwischen zwei Bissen. Ich kaufte dem freundlichen Mann noch zwei weitere Früchte ab, ehe ich mich von Frank weiterschieben ließ. Als ich mich umsah und bemerkte, wie weit mich meine Füße bereits getragen hatten, verlangsamte ich meinen Schritt wieder, doch Frank zog mich sanft weiter. „Kommt schon. Wir beide wissen, dass es nicht anders geht.“ Vor uns war die Tür zum Geschäft des Tuchhändlers. Der Rahmen war erst kürzlich frisch gestrichen worden und das große Schaufenster, dass die Familie nachträglich hatte einbauen lassen, bot einen großzügigen blick auf viele leuchtende bunte Stoffbahnen. Als Frank die Tür aufzog, streifte sie eine Glocke, die mit einem hellen Klang Kundschaft ankündigte. Wrendon, der gerade seinem Vater geholfen hatte eine Stoffbahn aufzuwickeln, ließ von dem Ballen ab und kam auf uns zu. „Seid gegrüßt, Fräulein Lillja! Welch eine Freude, dass Ihr uns besucht!“ Er lächelte breit und verbeugte sich. „Es ist uns eine Ehre.“, nickte auch der alte Tuchhändler zu uns herüber. „Was kann ich für Euch tun?“, fragte Wrendon eifrig. Er gab sich Mühe, mir zu gefallen. Zumindest würde er mich als Ehefrau schätzen, dachte ich schicksalsergeben. Wenn es doch nur einen Ausweg gäbe... Ich trug dem jungen Mann vor, wonach ich suchte und Wrendon eilte ins Lager, um uns passende Stoffe vorzustellen. Währenddessen betraten zwei weitere Frauen das Geschäft. Ich lauschte ihrem Gespräch ein wenig und wartete darauf, dass Wrendon mit den Stoffen zurückkehrte. „Diesmal waren es schon drei Tage Verspätung!“ „Ihr solltet Preisnachlass von diesen Händlern verlangen, wenn sie ihre Waren nicht rechtzeitig besorgen.“ „Er hat es auf die Lieferanten geschoben. Er könne nichts dafür, hat er gesagt.“ „Dann muss er eben zusehen, dass er seine Lieferanten in den Griff bekommt. Wenn ihr nur die Hälfte bezahlt, trefft ihr ihn dort, wo es besonders schmerzt.“ „Ja vielleicht hast du recht...“ Die beiden Frauen lachten. „Übrigens ist mir zu Ohren gekommen, dass dieser Wissenschaftler, verschwunden sein soll. Du weißt schon, der der vor ein paar Monaten behauptete einen neuen Antrieb für Flugschiffe erfunden zu haben.“ In diesem Moment polterte auch Wrendon wieder herein, mit drei verschiedenen, weichen Stoffballen beladen. Ich gab mich erfreut und wählte den aus, der am feinsten gewoben war. Die Verhandlungen des Preises überließ ich Frank. Wie schon die letzten Male genügte meine bloße Anwesenheit, um ein günstiges Angebot zu bekommen. So machten wir – trotz der Unannehmlichkeiten, die mir dieser Besuch bescherte - ein gutes Geschäft. „Ich hoffe, Ihr beehrt uns bald wieder?“, fragte Wrendon zum Abschied und legte mehr Leidenschaft und Hoffnung in die Frage als mir lieb war. „Natürlich.“, antwortete ich freundlich, was ihn noch breiter strahlen ließ. Als wir das Geschäft verließen, fühlte ich mich grauenhaft. Ich seufzte und Frank sah mich mitfühlend an, aber er sagte nichts. Ich versuchte das gute Gefühl der Sonne in meinem Gesicht und des lauten Treibens um uns herum wieder zurückzuholen, doch es gelang mir nicht. Frustriert griff ich nach einer Frucht vom Obststand des netten alten Herrn und überlegte, noch weitere zu kaufen. Doch von dem Stand war weit und breit nichts mehr zu sehen. Als Vater gehört hatte, dass ich bei der Schneiderin gleich ein Kleid für den Stoff in Auftrag gegeben hatte, war er sehr erfreut gewesen. Das kam selten vor. Vermutlich glaubte er nun, ich würde mich endlich meinem Schicksal fügen. Wahrscheinlich tat ich das auch. Was konnte ich schon anderes tun, als auf diesen Abgrund zuzugehen, bis er mich irgendwann verschlang? Mir blieb nichts als ein paar Wunschträume. Unerreichbar. Unerfüllbar. So kniete ich auch an diesem Abend wieder im Nachthemd vor einem Pergament, auf dem ein großer Teil der schwebenden Landmassen kartografiert worden war. Viele ungleichmäßige Flecken, die die Inseln darstellten, waren über die ganze Karte verteilt. Nach außen hin wurden es immer weniger. Es gab nicht viele, die so weit reisten, um die Inseln zu kartografieren. An ein paar Stellen hatte mein Vater selbst Inseln hinzugefügt, die er einmal besucht hatte. Große Zahlen gaben an, ob sich die Inseln oberhalb oder unterhalb der Flughöhe jener Insel befanden, auf der die Hauptstadt Mescalone erbaut worden war. Die Insel auf der ich lebte befand sich nicht weit entfernt, und leicht oberhalb. Wrone betrat den Raum mit einem Glas Wasser und stellte es auf meinen Nachttisch. Er seufzte hörbar und blickte auf mich herunter. „Ihr tut Euch damit keinen Gefallen, Fräulein Lillja.“ Trotzig sah ich zu ihm hoch. „Wenn ich das Träumen auch noch aufgebe, verliere ich auch das Letzte, was mir lieb und heilig ist. Wahrscheinlich stehe ich schon bald genug vor dem Scherbenhaufen in meinem Leben und stürzte in einen tiefen Abgrund, ohne Hoffnung, dass mich jemand auffangen wird. Lass mich die Zeit nutzen, die mir noch bleibt.“ Wrone kniete neben mir nieder. „Ihr werdet auch in Eurem neuen Leben Glück finden. Lasst es zu. Ihr werdet es schaffen.“ Ich sah ihn nur kurz an und ging nicht weiter auf seine Worte ein. Schwerfällig erhob er sich wieder, schüttelte den Kopf und wünschte mir eine gute Nacht. Dann verließ er das Zimmer. Auf der Karte verfolgte ich die Reiseroute meines Vaters anhand der Orte, die er diesmal beiläufig erwähnt hatte. Seit er begriffen hatte, dass es mich in die Ferne zog, hielt er sich mit den Erzählungen sehr zurück. Er wollte mich nicht verderben, wie er einmal erwähnt hatte. Sich von mir abzuwenden war jedoch kein Stück besser und hatte ihm genau so wenig Erfolg gebracht. Bei einer der Inseln, die mein Vater erst kürzlich nachgetragen hatte, hielt ich inne. Mouq-co‘on war als Name angegeben. Ich griff in meinen Nacken und nahm den Anhänger ab. Die Mouq‘wee seien sehr Kunstfertig, hatte Vater erzählt. Dies musste ihre Insel sein. Dort stammte die schöne Kette also her. Ich schätzte den Abstand zu unserer Stadt. Es würde viele Tagesreisen mit den Luftschiffen brauchen, um dort hin zu gelangen. Enttäuscht packte ich die Karte wieder weg. Von oben fällt mein Blick auf die grüne, verwachsene Insel. Ein friedlicher Anblick. Die Sonne wärmt mich. Der Wind streicht sanft über meine Haut. Langsam ebbt er ab. Mein Blick wird aufmerksamer. Der Wald erbebt. Bäume brechen. Felsen knirschen. Die Sonne verschwindet und lässt nichts als Dunkelheit zurück. Mit einem lauten Krachen reißt der Boden auf. Lange Spalten teilen den Untergrund. Die Insel zerbricht vor meinen Augen. Felsen und Geröll stürzen in die wolkenverhangene Tiefe. „Aaah!“ Ich riss entsetzt die Augen auf. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein ganzer Körper zitterte. Ich sah mich hektisch um, doch ich befand mich in meinem Zimmer und es war noch immer Nacht. Ich versuchte mich zu beruhigen und rutschte langsam an den Bettrand um aufzustehen. Ich war erleichtert, als ich feststellte, dass meine Beine mich trugen. Vorsichtig ging ich zum Tisch hinüber und goss mir ein Glas Wasser ein. Die kühle Flüssigkeit tat gut. Langsam schien mein Körper wieder ruhiger zu werden. Ich starrte das Glas an. Was war nur los mit mir? Wieso verfolgten mich solche Träume? War das ein Aufschrei meiner Seele, weil mein Vater mich bald zu einer Heirat drängen würde, die ich nicht wollte? Ein Leben das ich nicht wollte? Ich wusste nicht, wie lange ich so dagestanden hatte, doch ein knirschendes Geräusch an meinem Fenster riss mich aus meinen Gedanken und brachte mich ins hier uns jetzt zurück. Erschrocken drehte ich mich um. Das Glas glitt mir aus der Hand und zersprang in viele Scherben, als unerwartet das Fenster aufgerissen wurde und eine dunkle Gestalt in mein Zimmer sprang. Ich wollte aufschreien, doch eine mit Lederhandschuhen bekleidete Hand wurde auf meinen Mund gepresst, so dass ich kaum ein Geräusch von mir geben konnte. Ich war zu geschockt, um mich ernsthaft zu wehren. Die Gestalt stopfte mir einen Lappen in den Mund und stülpte eine Kapuze über meinen Kopf, so dass alles um mich dunkel wurde. Ich vermutete noch, dass sie mich zum Fenster zerrte, doch in welche Richtung ich dann geschleppt wurde, konnte ich nicht sagen. Was, wenn Frank und Wrone nichts gehört hatten und mir nicht zur Hilfe kommen würden?! Panisch versuchte ich mich gegen die Umklammerung zu wehren. Daraufhin fluchte mein Entführer. Wenige Augenblicke später setzte er mich ab und fesselte mich. Um mich herum war es kalt. Ich spürte Wind auf meiner Haut, der durch den Stoff meines Nachthemds drang. Der Angstschweiß machte die Kälte noch schlimmer. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, ehe mir jemand die Kapuze wieder vom Kopf zog. Mit tränennassen Augen versuchte ich durch meine wirren Haarsträhnen etwas zu erkennen. Ich befand mich auf einem Schiff. Ich saß auf dem Boden und war mit dem Oberkörper an eine Art Mast gefesselt worden, der den Schwebeballon in der Mitte am Schiff hielt. Der Mann, der mir die Kapuze abgenommen hatte, beuge sich zu mir herunter. Er hatte schulterlanges, dunkles Haar und ein paar Bartstoppeln zierten sein Kinn. Er war jung, wohl nur wenig älter als ich. Seine Augen waren dunkel umrandet und in eine seiner Haarsträhnen waren Perlen eingeflochten worden. Sein Gesicht hätte schön gewirkt, wenn es nicht zu einer wütenden Grimasse verzogen gewesen wäre. „Miststück! Kannst du nicht still halten und wimmern wie es sich gehört?!“, knurrte er mich an. Was fiel diesem dreckigen Kerl ein?! Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt, doch der Knebel in meinem Mund verhinderte das bedauerlicher Weise. Also schwang ich mein Bein nach oben und trat im so fest wie möglich in den Bauch. Ich verzog mein Gesicht so gut es ging zu einer Grimasse der Befriedigung, als er keuchend und fluchend auf die Knie sackte. Zumindest dafür war der Tanzunterricht gut gewesen. „Lokan! Was soll das? So kannst du doch keine Lady behandeln!“, scholt eine Stimme hinter uns. Einen Augenblick später trat ein älterer Herr in mein Blickfeld. Sein kürzeres graues Haar und der gepflegte Vollbart passten gut zu den schelmischen Augen, die sich hinter einer schmalen Brille verbargen. Er hatte ein Tuch um den Kopf gebunden und das weite Hemd unter seiner dunklen Weste blähte sich im Wind. Der Mann vom Obststand! Der Jüngere richtete sich mit düsterem Gesichtsausdruck wieder auf und zupfte seinen dunkelroten Mantel mit den goldenen Stickereien zurecht. Mit dem schwarzen Hemd und der dunkelgrauen weiten Hose sah er edel aus. Doch die Palette an Flüchen, die er von sich gab, zerstörten diesen Eindruck umgehend. Der ältere Herr setzte seine Standpauke fort. „Du kannst eine Lady doch nicht einfach im Nachthemd entführen und an den Mast binden. Du brauchst dich nicht zu wundern, dass sie davon wenig begeistert ist.“ „Verdammt, Ravio!“, schimpfte der ungehobelte junge Mann weiter, doch sein Gesprächspartner drehte sich zu mir um und würgte damit eine erneute Schimpftriade ab. „Entschuldigt ihn, Mylady. Er ist jung und ungestüm.“ Ravios breites Grinsen beunruhigte mich ein wenig. Er machte sich daran die Fesseln zu lösen, während Lokan ihn wütend beobachtete. „Lass die Prinzessin lieber angebunden, sonst fallen ihr nur noch mehr Dummheiten ein.“, murmelte der jüngere Mann leise. Kurz bevor er die Fesseln locker ließ, sprach der Ältere weiter: „Ihr braucht nicht wegzulaufen oder loszuschreien. Es würde Euch nichts bringen. Wir befinden uns bereits zu weit von Eurer Stadt entfernt. Bestenfalls fallt Ihr über die Reling in die Tiefe.“ Ich deutete ein Nicken an. Sollte er doch denken, dass ich das Spielchen mitspiele. Er ließ die Fesseln locker und entfernte den Knebel. Als ich anschließend aufsprang und auf die Reling zurannte bedachte er mich nur mit einem schiefem Grinsen. Doch als ich über die Brüstung blickte erstarrte ich. „Ihr dürft mir ruhig glauben.“, rief Ravio mir nach. Vor mir erstreckte sich nichts als Wolken und Leere. In der Ferne sah ich meine Heimatinsel immer kleiner werden. Auch die beiden anderen Inseln, die sich nahe bei uns befanden, hatten wir bereits überquert. Meine Hoffnung, fliehen zu können, brach in sich zusammen. Verängstigt drückte ich mich an die Reling und drehte mich zu den beiden Männern um. „Ihr habt mich in den letzten Tagen verfolgt, nicht wahr? Ihr wart sogar auf dem Empfang meines Vaters und habt mit der Frau des Bürgermeisters gesprochen! Was wollt ihr?“, fragte ich und konnte dabei das Zittern in meiner Stimme nicht verbergen. „Wir möchten, dass Ihr uns einige Zeit begleitet.“ „Und dafür entführt ihr mich? Ihr hättet mich auch freundlich fragen können.“, gab ich argwöhnisch zurück. „Wenn deine Familie ein kleines Lösegeld bezahlt hat, darfst du wieder in dein Schloss zurück, Prinzessin.“, warf der jüngere erneut ein. Angesichts meines ängstlichen Verhaltens grinste er nun. Ravio lächelte wieder: „Wie Ihr seht, hatten wir unsere Gründe anzunehmen, dass Ihr uns nicht freiwillig begleiten werdet. Aber habt keine Angst, wir werden Euch nichts zuleide tun. Und wenn Eure Familie das Lösegeld schnell beschafft, seid Ihr in kurzer Zeit wieder zu Hause.“ Das klang alles andere als Aufbauend. Noch immer suchten meine Blicke hektisch einen Ausweg aus dieser Situation. Doch so lange ich keine Möglichkeit fand zu fliehen, wäre es wohl das Beste, möglichst viel über meine Entführung herauszufinden. „Wer seid ihr? Und warum entführt ihr ausgerechnet mich?!“ Diesmal schaltete sich der junge Mann wieder ein: „Du sahst ausreichend wohlhabend aus, um uns ein hübsches Sümmchen zu bringen. Auch Luftpiraten möchten ein schönes Leben führen.“ Er grinste. Ich war an Piraten geraten geraten. Grausame Piraten, die mich verfolgt und entführt hatten. Was hatten sie wirklich mit mir vor?! Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie mich tatsächlich einfach gehen lassen würden, sobald sie von meinem Vater Lösegeld erpresst hatten. Noch weniger traute ich der Aussage, Sie würden mir nichts antun. Verunsichert stand ich da und starrte zu den beiden Männern hinüber. Meine Hände krallten sich noch immer in das Holz der Reling. Ein Luftstoß ließ mein Nachthemd flattern und machte mir die nächtliche Kälte wieder bewusst. Der Jüngere wurde schließlich des Schweigens überdrüssig und ging auf mich zu. „Drinnen gibt es eine warme Kabine für dich. Zwar kannst du auch hier an Deck nicht fliehen, aber erfroren bringst du uns kaum einen Gewinn, Prinzessin.“ Er streckte die Hand aus, um meinen Arm zu ergreifen, doch ich schlug seine Hand weg und fauchte ihn an. „Lasst Eure schmutzigen Finger von mir.“ Für einige Augenblicke lieferten wir uns ein wortloses, giftiges Blickgefecht. Langsam begann ich vor Kälte zu zittern, deshalb knurrte ich schließlich: „Bringt mich zu der Kabine. Aber wehe Ihr versucht noch einmal, Euch an mir zu vergreifen!“ Was sollte ich auch sonst tun? Meine Situation hier an Deck dieses Schiffes war wahrhaftig aussichtslos. Ich konnte mich bestenfalls in die Tiefe stürzen oder hier sitzen bleiben und hoffen, dass ich nicht erfror. Es war wohl das beste, fürs Erste folge zu leisten. Vielleicht ergab sich ja irgendwann eine Fluchtmöglichkeit? Der junge Mann schnaubte kurz, dann rief er seinem älteren Kumpanen zu, er solle vorangehen. Immer wieder warf ich misstrauische Blicke nach hinten, während ich dem älteren Herrn folgte. Der Jüngere verriegelte umgehend die Tür zum Deck, als wir den Bug betraten. Die beiden Männer öffneten eine der vielen Türen, die vom Gang abzweigten und geboten mir, in den Raum zu gehen. Kaum hatte ich die Kammer betreten, verriegelten die Männer die Tür hinter mir. Ich seufzte und sah mich im Raum um. Neben einem Bett und einer spärlichen Möblierung hatte ich zumindest eine Truhe mit Kleidungsstücken entdeckt. Ich zog eine weite Bluse und abgetragene Lederkleidung hervor und streifte sie über. Auch wenn es noch so schäbig aussah, alles war besser und wärmer, als im Nachthemd herumzulaufen. Ich wühlte noch weiter in der Kiste, fand aber nichts, was mir geholfen hätte geschweige denn etwas, das ich als Waffe hätte benutzen können. Die Tür ging nach innen auf, also verbarrikadierte ich den Eingang mit einem kleinen Schrank und einem Tisch. Falls diese Kerle vorhatten, in der Nacht über mich herzufallen, würde das einen Strich durch ihre Rechnung machen. Schließlich setzte ich mich aufs Bett, zog die Beine nah an meinen Körper und behielt die Tür im Blick. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen. Die beiden Halunken waren mir seltsam vorgekommen. Der Jüngere hatte sich vom Älteren einiges gefallen lassen. Trotzdem folgte der ältere Herr den Anweisungen des jungen Widerlings. Ob einer von Ihnen wohl der Anführer der Truppe war? Sicher waren die beiden nicht die einzigen auf diesem großen Luftschiff. Wie viele Männer mochten noch zur Besatzung gehören? Ob ich wohl irgendwann würde fliehen können? Wenn sie Lösegeld für mich verlangen wollten, mussten sie meiner Familie eine Nachricht schicken. Und dafür mussten sie auf einer der Inseln anlegen. Wenn sich eine Chance ergab, würde ich diese unbedingt ergreifen müssen. Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- Eigentlich hatte der alte Jacob seine Arbeit immer geliebt. Es war nicht leicht, mit den schweren Metallstücken und der Hitze einer Schmiede umzugehen. Dennoch, er hatte es nie bereut, dieses Handwerk ergriffen zu haben. Leider hatte sich vieles verändert. Zumindest waren seine Frau und seine Tochter in Sicherheit. Weit, weit weg von hier. Wenn er sie wenigstens einmal wieder sehen könnte! Doch das würde sie nur unnötig in Gefahr bringen. Das Geld, dass er ihnen schickte, musste ausreichen. Es war schon schlimm genug, dass er seinen armen Jungen mit hineingezogen hatte. Mit trauriger Miene beobachtete der alte Jacob seinen Sohn, der Wasserkübel und Metallschrott heranschleppte um dann wieder das Feuer der Schmiede zu kontrollieren. Seine Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Wann hatten sie beide zum letzten Mal die Sonne gesehen? Den Wind gespürt? Es hätte ein ganz normaler Auftrag werden sollen. Nichts besonderes. Eine Metallarbeit nach vorgegebenen Maßen mit abgerundeten Kanten und vorgegebenen Wölbungen. Sie hätte ein Zierelement sein können oder zu einer größeren Gerätschaft gehören können. Wie im Handwerk üblich, hatte Jacob die letzten Anpassungen direkt vornehmen wollten, um sicherzustellen, dass wirklich alles richtig saß. Normalerweise wäre sein Auftraggeber zu ihm gekommen, doch er hatte mitteilen lassen, dass dies nicht möglich sei. Also hatte sich der alte Jacob auf die Reise begeben. All dies hatte er schrecklich bereut, als er nach seiner Ankunft sein eigenes Schiff hatte in Flammen aufgehen sehen. Jacobs Hand, die den Schmiedehammer hielt, zitterte. Dabei war er selbst sogar noch gut davongekommen, ganz im Gegensatz zum Rest der Besatzung des Schiffes, mit dem er hier hergekommen war. Diejenigen, die nicht mit den flammenden Trümmern in die endlosen Tiefen gestürzt waren, waren zu armen Arbeitern mit ausgezehrten, schmutzigen Körpern und leeren Gesichtern geworden. Dieses Höllenloch hatte sie alle verschlungen. „Großartige Arbeit. Einfach großartig!“, schnarrte die Stimme des Doktors zu ihm herüber, „Alles, was du anfertigst, sitzt perfekt!“ Doktor Isath nickte dem alten Jacob zu. Jacob bekam noch immer eine Gänsehaut, wenn er dem Doktor direkt ins Gesicht sah. Die rechte Hälfte seines Gesichts war ganz gewöhnlich, wenn auch ein seltsames Brillengestell mit einem farbigen Brillenglas hineinragte. Die linke Hälfte Jedoch bestand von der Stirn bis zum Wangenknochen aus Metall. Zwei kleine Schläuche wanden sich von einer Kapsel hinter seinem Ohr zu einer eingefassten Linse, die Dort saß, wo das Auge hätte sein sollen. Eine Kette aus beweglichen Metallplättchen an kleinen Kolben imitierte die Stellung der Augenbraue der gesunden Gesichtshälfte. Dies gab dem Gesicht eine verzerrte Vertrautheit. Wann immer der Mann sein Gesicht verzog, begleitete das leise Surren und Rattern der Bauteile die Änderungen seiner Miene. „Danke, Herr...“, flüsterte Jacob, und wandte sich schnell wieder ab. Der lange, seitlich geknöpfte Kittel des Wissenschaftlers raschelte, als er sich wieder seinem Patienten zuwandte. Der Mann auf der Liege knurrte und wand sich. Er war mit mehreren Ledergurten festgebunden und versuchte sich loszureißen. Große Teile seines Körpers waren mit Narben übersät. Sicher stammte vieles davon von Verbrennungen, wenn auch einige Narben von Kämpfen herrühren mussten. Einige dieser vernarbten Flächen waren bereits mit Metallplatten bedeckt. „Ich dachte, du willst Rache nehmen!“, schimpfte der Wissenschaftler mit dem Mann, wie mit einem ungezogenen Kind, „Glaubst du etwa, dass du in diesem Zustand irgendetwas erreichen könntest?!“ Der Mann auf der Liege war so in Rage, dass er die Worte nicht wahrzunehmen schien. Der Doktor verzog das Gesicht. Das leise Surren jagte dem alten Jacob einen Schauer über den Rücken. „Mir wäre lieber, ich müsste nicht zu solchen Mitteln greifen, mein Lieber...“, seufzte Doktor Isath und schritt hinüber an einer der Maschinen. Er legte einen der Hebel um, was ihn große Kraft zu kosten schien. Ein Summen ertönte und der Mann auf der Liege jaulte auf. Kleine Blitze zuckten über die Metallplatten an seinem Körper. Der alte Jacob krümmte sich unter den Geräuschen zusammen und aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie sein Sohn aus der Halle floh. Er schickte ein Stoßgebet zu den alten Göttern, auf dass sie seine Frau und Tochter beschützen mochten. Nach wenigen Augenblicken drückte der Wissenschaftler den Hebel wieder in die Ausgangsposition zurück. Die Schreie erstarben. Der Mann auf der Liege atmete heftig. „Habe ich nun deine volle Aufmerksamkeit?“, frage der Doktor und schien zufrieden zu sein, als sich die Augen des Mannes starr auf ihn richteten. „Du wirst deine Rache bekommen, keine Angst. Aber in diesem Zustand würdest du es nicht einmal schaffen über eine Reling auf ein Schiff zu klettern. Du musst mir Zeit geben, meine Arbeit und meine Forschung abzuschließen. Wie ich dir schon einmal gesagt habe, ist dieses Metall nahezu Kugelsicher und wird dich um ein vielfaches stärker machen, als du es je warst. Stell dir nur vor, was du damit alles erreichen könntest!“ Der Atem des Mannes wurde ruhiger. „Alles was du tun musst, ist, dich um ein paar meiner Aufträge zu kümmern und vor allem musst du mich meine Arbeit hier abschließen lassen.“ Der Wissenschaftler blickte den Mann auf der Liege streng an. Schließlich nickte dieser langsam und gab ein grunzendes Geräusch von sich. Doktor Isath schnaubte und machte sich wieder an die Arbeit. Mit sorgenvoll verzerrtem Gesicht griff der alte Jakob nach der nächsten Metallplatte und hielt sie mit einer Zange in die Flammen. Die Jägerin stand am Bug eines Schiffes. Ihre Augen waren geschlossen, doch ihr Geist war wach, wie immer. Sie beruhigte ihren Atem. Sie benötigte ihre vollste Konzentration. Dann war es soweit. Ein Windhauch umwirbelte sie. Sie riss die Augen auf und sah einer kleinen Feder nach, die vom Wind davongeblasen wurde. Der Kaufmann, dem das Schiff gehörte, stand verunsichert hinter ihr. Er schrak zusammen, als die dürre Frau mit erstaunlicher Schnelligkeit herumfuhr und ihn am Hemd packte. Die Klinge ihrer Hellebarde lag kalt und unheilvoll an seinem Hals. „Fliegen nach dort.“, zischte die Jägerin und wies mit ihrer Waffe in die Richtung, in der die Feder verschwunden war. Der Kaufmann hob die Hände und nickte schnell. Wie konnte er nur in dieses Dilemma geraten? Als die Frau von ihm abließ, keuchte er und rannte dann zu seiner Besatzung zurück, um die entsprechenden Befehle zu geben. Hoffentlich würde diese Frau sein Schiff verlassen, ohne sie alle umzubringen! Mit klopfendem Herzen floh der Kaufmann ins Innere des Schiffes und warf die Tür hinter sich zu. Als er noch einmal verstohlen durch das kleine Bullauge in der Tür zu der seltsamen Frau am Bug des Schiffes blickte, hatte diese sich bereits wieder abgewandt. Mit kalten Augen starrte sie über die Reling in die Ferne und nur die alten Götter mochten wissen, was in ihr vorging. Kapitel 3: Kapitel 3 -------------------- Ich stehe auf einer Wiese. Der Himmel ist blau. Die Vögel zwitschern. Sanfte Sonnenstrahlen wärmen meinen Körper. In einem nahen Teich plätschert Wasser. Das Plätschern wirkt beruhigend. Ich entspanne mich. Plötzlich bebt der Boden. Risse ziehen sich zwischen Bäumen und Blumen entlang. Mit einem grässlichen Knirschen bricht der Boden auf. Ich habe Angst. Ich klammere mich panisch an den Erdbrocken, auf dem ich eben noch stand, doch ich kann mich nicht halten. Ich stürze ab. Unter mir sind Wolken und Nebelschleier. Im Fallen kann ich sehen, wie der Boden über mir mehr und mehr zerbröckelt. Erde und Geröll umgeben mein Fallen. Die Sonne wird undeutlich und verschwindet in den Nebelschwaden. Ich will schreien, doch kein Geräusch kommt über meine Lippen. Ein Wind umwirbelt mich im Sturz. Er fühlt sich warm an. „Hilf mir!“, flüstert eine Stimme. Ich war nicht sicher, ob es das unsanfte Klopfen an der Tür war, das mich geweckt hatte, oder ob ich zuerst aus dem seltsamen Traum hochgeschreckt war. Ich rieb mit beiden Händen über mein Gesicht. Ich war wohl doch noch eingenickt. Durch das kleine Bullauge drang Tageslicht in die Kabine. Scheinbar war es wieder hell. Es klopfte erneut. Heftiger. Dann stemmte sich jemand gegen die Tür. „Was fällt dir ein, die Tür zu versperren?!“, knurrte die Stimme des unverschämten jungen Kerls. „Verschwindet!“, fauchte ich zurück. Ich konnte noch immer spüren, wo der Pirat mich gepackt und gezerrt hatte. Sicher war ich voller blauer Flecken. „Elendes Miststück! Dann verhungere eben da drin!“, fluchte der Mann vor meiner Tür wieder und ich konnte hören, wie sich wütende Schritte entfernten. Zum Glück hatte meine Barrikade gehalten! Mühsam erhob ich mich vom Bett und streckte mich. Mein Rücken und meine Schultern ließen ein unangenehmes Knacken ertönen. In dieser Position zu schlafen war alles andere als bequem gewesen. Ein Blick durch das Bullauge sagte mir, dass wir noch immer in der Luft waren. Weit und breit nur Wolken und trüber Himmel. Keine Landmasse, an der ich unsere Position hätte festmachen können. Mit den Händen versuchte ich mein Haar zu entwirren. Irgendwann gab ich auch dies auf. Mein knurrender Magen erinnerte mich schließlich daran, dass ich noch nichts gegessen hatte. Verhungere eben, hatte der unverschämte Kerl gerufen. Das konnte er nicht ernst meinen. Oder doch? Wäre ich in abgehärmtem Zustand noch ein Lösegeld wert? ...und würde Vater sich überhaupt die Mühe machen, für seine unfolgsame, ungeliebte, anstrengende Tochter zu bezahlen? Hatte er überhaupt schon gemerkt, dass ich verschwunden war? In meinem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Meine Finger verkrampften. Um mich auf andere Gedanken zu bringen, untersuchte ich die Kammer, in der ich untergebracht war. Das kleine Bullauge war fest vernietet. Ohne Werkzeug würde es sich nicht öffnen oder herausnehmen lassen. Die Decke war niedrig, so dass ich sie leicht mit den Händen abtasten konnte. Doch wie an den Wänden, waren die Holzplanken sehr ordentlich verarbeitet und boten weder Halt für meine Finger, noch gaben die gelegentlichen winzigen Schlitze mehr als das dämmrige Dunkel der umliegenden Räume preis. Auch der Boden gab sich auf den ersten Blick fest und unnachgiebig. Doch beim verzweifelten Umherkriechen auf den Knien, hörte ich plötzlich ein Knarzen von einer der Bodendielen. Ein Nagel, der sie an ihrem Platz halten sollte, hatte sich ein wenig gelockert. Nur so viel, dass ich meine Fingernägel darunterschieben konnte. Ich begann ein wenig zu zupfen und zu puhlen. Sehr schnell wurde mir aber klar, dass es wohl einfacher wäre, ein Loch durch das Holz zu kratzen, als den Nagel mit bloßen Fingern herauszuziehen. Enttäuscht lehnte ich mich an den Bettpfosten. Ich dachte darüber nach, ob Frank und Wrone wohl schon verzweifelt nach mir suchten, als es erneut Klopfte. Diesmal jedoch leise und vorsichtig. „Was wollt Ihr?!“, rief ich barsch. „Möchtest du nicht doch etwas essen?“, rief eine Stimme durch die Tür, die viel viel jünger klang, als ich erwartet hatte. Beinahe kindlich. Überrascht trat ich an meine Barrikade und schob mühsam die Möbel so weit zur Seite, dass ich die Tür einen Spalt weit hätte öffnen können. Doch die Tür war noch immer verriegelt. Ich konnte hören, wie der Schlüssel leise quietschend im Schloss gedreht wurde. Dann blickten mir helle, violette Augen zwischen strubbeligem, weißblondem Haar entgegen, welches jemand schräg nach hinten zu zwei Zöpfen gebändigt hatte. Das Mädchen war einen Kopf kleiner als ich und vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt. „Hallo!“, grinste sie. Schnell rückte ich die Möbel weiter beiseite und zog das Mädchen am Arm in meine Kabine. Ich schlug die Tür zu und lehnte mich von innen dagegen. Hoffentlich hatte keiner der Piraten das Kind gesehen. „Mädchen! Bei den bodenlosen Tiefen der Abgründe, wie kann sich ein Kind nur auf ein Piratenschiff schleichen! Das ist gefährlich!“, schimpfte ich entsetzt. Die kleine Lachte laut auf. Dann studierte sie meine Gesichtszüge. „Du bist wirklich hübsch. Kommst du aus einer sehr reichen Familie?“ „Das tut jetzt nichts zur Sache. Winde! Was hast du auf diesem Schiff zu suchen?!“ Das Mädchen schnaubte. „Irgendwer muss doch die Maschinen am Laufen halten.“ Während sie das aussprach, deutete sie auf einiges Werkzeug, das am Gürtel ihrer ölfleckigen Hose baumelte. Als ich sie weiter entgeistert ansah, fügte sie stolz hinzu: „Ich mag jung sein, aber ich bin eine weltklasse Mechanikerin.“ Sie setzte sich rittlings auf die umgekippte Kommode, die ich als Barrikade verwendet hatte. „Ich hab‘ dir etwas mitgebracht.“, sie nestelte ein Päckchen hervor und öffnete es. Zwei Scheiben Brot und ein Stück Käse kamen zum Vorschein. „Lokan wollte dich am liebsten zwei Tage hungern lassen.“, erklärte sie während des Auspackens, „Aber Ravio meinte, das sei unanständig und ich finde auch, dass hungrig sein eine blöde Sache ist.“ Schließlich streckte sie mir das Essen entgegen. „Mein Name ist übrigens Kishna. Und wie heißt du?“ „Mein Name ist Lillja...“, antwortete ich langsam. „Ein schöner Name.“, lächelte das Mädchen. Dann sprang die Kleine auf und schickte sich an, den Raum wieder zu verlassen. Ich hielt sie am Arm fest, ehe sie hinaus auf den Flur schlüpfen konnte. „Wo willst du hin?!“, fragte ich energisch. Ein kleines Mädchen, das sich auf einem Piratenschiff herumtrieb. Allein der Gedanke, was dem Kind zustoßen konnte, ließ mir den Appetit sofort vergehen. Mechanikerin. Sicher hatte sie sich zum spielen hier herein geschlichen, als das Schiff irgendwo angelegt hatte. Was wenn die Piraten sie entdeckten und einsperrten? Wenn sie sie schlugen? So ein hübsches Mädchen... womöglich würden sie sie... Ich musste das Kind vor solchen Dingen bewahren! „Lokan mag nicht, wenn ich zu viel mit unseren Gefangenen spreche... ich muss wieder in den Maschinenraum!“, antwortete das Kind verunsichert, „Tut mir wirklich leid, aber ich darf dich nicht rauslassen.“, fügte sie mitleidig hinzu. Ich wollte gerade etwas erwidern, als ich nahe der Tür Schritte vernahm. Ehe ich mich versah, wurde die Tür aufgedrückt. Der junge, unverschämte Pirat packte das Mädchen und zog es unsanft hinaus auf den Flur. „Kishna, was habe ich dir gesagt?!“ „Lokan!“, stammelte sie kleinlaut. Wutentbrannt zerrte ich die Möbelstücke von der Tür weg und drückte mich selbst durch den Türspalt, ehe der Pirat etwas dagegen unternehmen konnte. Ich warf mich zwischen den überraschten Mann und das Mädchen und versuchte ihn weg zu stoßen. Ehe ich mich nochmals gegen den Kerl werfen konnte, erschien der ältere Herr im Flur und hielt mich fest. Verzweifelt wehrte ich mich gegen seinen Griff, während das Mädchen überrascht in die Runde blickte. „Lasst das Kind in Frieden!“, fauchte ich die Männer an. Der ältere Lachte laut und lockerte seinen Griff ein wenig. Zwar schmerzte sein Griff nun nicht mehr, jedoch war ich noch immer nicht in der Lage, mich daraus zu befreien. „Wir werden uns hüten, unserer Mechanikerin etwas anzutun.“, lächelte er schließlich, „Ohne sie wäre die Dämmerschwinge ein absturzgefährdeter Schrotthaufen.“ Auch der jüngere Mann rappelte sich nun langsam hoch und rieb sich die schmerzenden Rippen. Dann reichte er dem mittlerweile wieder grinsenden Mädchen die Hand und half ihm hoch. „Lokan, ich denke es ist nicht gut, wenn wir dieses Energiebündel von einer jungen Dame die ganze Fahrt über einschließen. Es wäre sicher besser für uns alle, wenn jemand ein Auge auf sie hat.“ Der junge Mann, Lokan, musterte mich eine Weile grimmig. Dann schnaubte er und machte auf dem Absatz kehrt. „Mach, was du willst, alter Mann! Aber lass sie keinen Unsinn anstellen!“, rief er seinem Kumpanen zu, ehe er den Flur verließ. Der Alte ließ von mir ab und ich rieb mir die Schulter, während ich ihn misstrauisch musterte. „Du musst keine Angst vor Ravio haben, Lillja.“, ermunterte mich das Mädchen, „Er macht nur Damen in seinem Alter den Hof. Und für alle anderen ist er wie ein Opa der die tollsten Märchen und Geschichten erzählen kann, die du dir vorstellen kannst.“ „Kishna, bitte!“, schimpfte der Mann. Dann verbeugte er sich. „Ravio Danetti, zu Euren Diensten.“ Als ich noch immer nicht reagierte, richtete er sich wieder auf. Er trug wieder das schelmische Lächeln auf dem Gesicht. Genau so wie am Vortag, als er mir als Obsthändler Früchte angeboten hatte. Mit einer Handbewegung deutete er zur Treppe die an Deck führte. „Würdet Ihr mir heute Gesellschaft leisten, Fräulein Lillja? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr den ganzen Tag in Eurer Kabine sitzen wollt.“, da meine Miene noch immer Misstrauen zeigte, fügte er hinzu: „Wir mögen Piraten sein, wir sind jedoch weder Barbaren noch Unholde. Auch Gesetzesbrecher schätzen manchmal Stil.“, er zwinkerte mir zu und Kishna kicherte. Ich brauchte nicht lange abzuwägen. In meiner Kabine würde sich keine Fluchtmöglichkeit auftun. Und vielleicht konnte ich mehr über diese Piraten in Erfahrung bringen. Tatsächlich jagte mir der alte Herr kaum Angst ein. Sollte mich das beunruhigen? Ich willigte ein und ließ mich von den beiden hinaus aufs Deck führen. Nach dem ich schon Stunden im Zwielicht des Schiffrumpfes verbracht hatte, blendete mich die Helligkeit des Tageslichts und ich hob den Arm vor mein Gesicht. Ein Luftzug ließ mich frösteln. Es roch nach Regen. Unter meinem Arm hindurch schielte ich zu den Planken am Boden und stellte fest, dass sie nass waren. Teilweise standen noch kleine Pfützen auf dem Holz. Der Regen konnte noch nicht lange aufgehört haben. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die Lichtverhältnisse. Noch immer bedeckten graue, schwere Wolken den Himmel über uns. Weit in der Ferne zeichnete sich die matte Silhouette einer Insel ab. Gebannt betrachtete ich das Schauspiel der Wolken, die zu unserer Rechten in einiger Entfernung noch immer die Welt hinter Regenschleiern verschwinden ließen. Zu unserer Linken brach die Wolkenmasse hingegen an einigen wenigen Stellen auf und sanfte Sonnenstrahlen schoben sich durch die grauen Massen. Meine Augen glänzten bei diesem wundervollen Anblick. „Ihr scheint nicht oft solchen Naturschauspielen beiwohnen zu dürfen.“, lächelte der Mann, der sich als Ravio vorgestellt hatte und riss mich damit aus meinen Gedanken. Ich fühlte mich ertappt. „Ich möchte Euch meine Steuerkabine zeigen. Dort kann ich ein Auge auf Euch haben. Wenn Ihr bitte vorgehen würdet, Fräulein Lillja?“ Ich war noch immer die Gefangene dieser Piraten. Dennoch gab sich Ravio alle Mühe, mich wie einen Gast zu behandeln. Ich stieg die Stufen nach oben, auf die er gewiesen hatte und er hielt mir die Tür zu einem kleinen Aufbau am Heck des Schiffes offen. Ich trat ein und hörte noch wie Kishna sich verabschiedete und etwas von Öfen murmelte. Der Raum wirkte von Innen größer als ich erwartet hatte. Durch die großen Fenster ringsherum konnte man alles um das Luftschiff herum beobachten. In der Mitte des Raumes befanden sich ein Steuerrad und allerhand Hebel. Zum Deck hin ausgerichtet stand ein Tisch auf dem einige Karten ausgebreitet waren sowie eine schmale Bank. Auf Ravios Bitte hin ließ ich mich auf der Bank nieder. Ich betrachtete die Karten, die vor mir lagen. Zunächst glaubte ich, es handle sich um ferne Orte, die ich nicht kannte. Dann aber las ich den Namen einer der Inseln und stellte fest, dass diese nur in einem völlig anderen Maßstab gezeichnet waren, als die Karte von Vater, die ich mir heimlich genommen hatte. „Wir legen bald in Trendon an.“, sagte Ravio unvermittelt. Ich zuckte zusammen. Ich hatte nicht erwartet, dass er meine Blicke bemerkt hatte. „Wir werden dort unsere Lösegeldforderung stellen. Danach werden wir noch zwei Tage weiterreisen bis zum Übergabeort. Bei diesen Wetterverhältnissen könnten es aber auch drei werden. Wenn alles so läuft wie geplant, werdet Ihr bald wieder zu Hause sein.“ „Ist es eine gute Idee, mir all das zu verraten?“, gab ich zurück, „Was, wenn ich mit diesem Wissen an die Garde herantrete und man Jagd auf euch macht?“ „Ich würde Euch solche Dinge sicher nicht sagen, wenn wir Angst vor der Garde haben müssten. Das alte Mädchen hier ist noch jedem entkommen.“, der alte Mann lächelte und tätschelte sanft das Steuerrad. „Wieviele Piraten sind noch hier an Bord? Außer euch dreien bin ich noch niemandem begegnet und auch sonst hört man keine Menschen hier...“ „Wohl deshalb, weil sonst niemand hier ist.“, Ravio lächelte wissend. „Drei Piraten? Auf einem solch großen Schiff? Wollt Ihr mich aufziehen? Eure Welt mag mir fremd sein, aber dass ein solches Schiff von vielen Personen gewartet und gesteuert werden muss ist selbst mir geläufig.“ „Oh, unsere kleine Kishna ist ein Genie, was das Automatisieren von Dingen angeht. Hier muss kaum etwas mit Muskelkraft gesteuert werden. Außerdem ist es kaum möglich, sich mit einer Horde Männern irgendwo einzuschleichen oder heimliche... Geschäfte... zu machen. Und genau damit verdienen wir unseren Lebensunterhalt. Wir führen soetwas wie ein Nischendasein.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Im übrigen war die alte Mannschaft letztlich nicht mehr so gut auf uns zu sprechen...“ Seine Worte hatten mich verwirrt und machten mich neugierig, doch Ravio blockte meine folgenden Fragen geschickt ab. Ich sah mir nocheinmal die Karten an und entdeckte zwischen den Pergamenten eine Füllfeder, die jemand achtlos hatte liegen lassen. Als Ravio sich an den Hebeln zu schaffen machte, schob ich die Feder unbemerkt in meinen Ärmel. Möglicherweise konnte mir dieses kleine Werkzeug zurück in die Freiheit verhelfen, wenn ich lange genug unbeobachtet war. Ich fand nichts weiter auf den Karten, was mir bekannt war, also konzentrierte ich mich auf die vorbeiziehenden Wolkenformationen. Ich lag wieder in meiner Kabine auf dem Bett und rieb mir müde die Augen. Auch in dieser Nacht hatten mich die Piraten in der Kammer eingeschlossen, damit ich nichts Dummes tat. Den Tag über ließen sie mich auf dem Schiff umherwandern, doch war ich immer in Begleitung von Kishna oder Ravio. Der dritte Pirat, Lokan, ging mir aus dem Weg. Von den anderen hatte ich erfahren, dass er Kapitän dieses Schiffes war. Dieser Gedanke ließ sich kaum mit dem Bild vereinen, dass ich von dem ungehobelten Mann hatte. Auf der anderen Seite hatte ich die Reaktionen von Kishna und Ravio beobachtet, wenn Lokan ihnen Befehle gab. Es war sehr eindeutig, wer im Zweifelsfall das letzte Wort hatte. Wie konnte es aber sein, dass ausgerechnet er Kapitän wurde, wo Ravio doch so viel älter und erfahrener war? Durch das kleine Bullauge fiel nur wenig Licht. Ich konnte erkennen, dass der Mond noch immer hinter Wolkenschleiern verborgen war. Nach Ravios Aussage würden wir morgen die Insel Trendon erreichen und dort anlegen. Sobald wir am Boden waren, würden sie mich wieder hier einschließen. Ich tastete nach der Füllfeder, die ich zwischen Ravios Karten entdeckt und heimlich eingesteckt hatte. Vielleicht würde ich damit das Schloss von innen öffnen können? Sie waren nur zu dritt. Die Chancen standen gut, dass ich mich auf der Insel davonstehlen konnte, ehe sie mich entdeckten. Ich müsste nur bis zum Quartier der Garde kommen, dann wäre ich in Sicherheit. Vielleicht würden die Soldaten sogar meine Heimreise organisieren? Dann wäre ich in wenigen Tagen wieder zu Hause... Ich hielt inne. Ein quälender Gedanke formte sich und ich vergrub den Kopf in meinem Kissen. Wollte ich denn zurück? Es war verrückt so etwas zu denken, doch hatte ich in den wenigen Tagen auf diesem Piratenschiff so viel mehr entdeckt und erlebt, als in den ganzen letzten Jahren. Es war beinahe, als hätte ich für einen Augenblick die Freiheit durch die Nebelschwaden meines Lebens schimmern sehen. Die Erinnerungen überfielen mich. Wrendon, der Sohn des Tuchhändlers. Die festen, schweren Mauern unseres Anwesens. Die strengen Blicke meines Vaters. All die Zwänge. All das Lächeln... immer dieses falsche Lächeln... Ich versuchte wieder zur Vernunft zu kommen. Ich war hier nichts als eine Gefangene. Die Piraten wollten nur Lösegeld und mich dann umgehend loswerden. Was stellte ich mir denn vor? Dass ich auf ihrem Schiff anheuern wollte? Das war mehr als lächerlich. Ich war eine junge Frau von Stand. Keine schmutzige Gesetzesbrecherin. Auf einem solchen Schiff hatte ich nichts verloren. Und wie kam ich auf die Idee, dass die Piraten mich überhaupt haben wollten? Welch ein Unfug. Während ich mir Mühe gab, mich zu beruhigen und endlich einzuschlafen formte sich ein letzter Gedanke, dessen schaler Nachgeschmack mich bis in die Träume begleitete: Ob nun zu Hause oder hier auf diesem Schiff, eine Gefangene war ich auf beiden Seiten. Es ist eng. Ich fühle mich eingesperrt. Um mich herum ist Glas. Ich kann mich kaum bewegen. Selbst das Atmen ist schwer. Eine dicke Flüssigkeit umgibt mich und die wenige Luft, die durch einen Maske auf meinem Gesicht dringt, riecht nach Öl. Nach Qualm. Sie kratzt in meiner Kehle. Meine Umgebung wird dunkel. Ich spüre einen Lufthauch. Kühl. Klar. Lindernd. Langsam umspielt er mich. Als er mein Ohr erreicht, vernehme ich eine leise Stimme: „Hilf mir!“ „Wer bist du?“, rufe ich der Stimme zu. Heiser. Hustend. „Hilf mir!“, erwidert diese nur. Ich spüre die Verzweiflung in der Stimme. Die Not. Das Grauen. Ich möchte helfen. Aber ich kann mich selbst nicht befreien. Die Stimme wird leiser. Der Lufthauch flaut ab. „Warte!“ rufe ich. Nach und nach blieb mehr von diesen eigenartigen Träumen in meiner Erinnerung hängen. Ich hatte früher nie solch seltsame Dinge geträumt. Insgeheim wünschte ich mir, endlich wieder ruhig schlafen zu können. Doch das schien mir vorerst nicht vergönnt zu sein. Ravio hatte mich gerade wieder in meine Kabine gebracht, da die Insel Trendon in Sicht gekommen war. Die Insel zu erreichen hatte länger gedauert, als er berechnet hatte. Durch das kleine Bullauge konnte ich beobachten, wie die Landmassen langsam näher kamen. Am Himmel bäumten sich noch immer die Wolken auf. Schwarz und dunkel. Unheilverkündend. Die Piraten landeten das Luftschiff weit außerhalb. Vermutlich war es so gut genug versteckt um kein Aufsehen zu erregen. Erneut brach Regen aus den dicken Wolken hervor. Ich konnte die Stimmen der drei Piraten undeutlich hören. Vermutlich sprachen Sie gerade darüber, wer sich in der Stadt um die Forderung kümmern würde. Dann wurden ihre Stimmen von den heulenden Windböen verschluckt, die das Schiff langsam zum schwanken brachten. Regen trommelte gegen die Außenhülle, genau so wie gegen mein kleines Fenster. Ein Blitz erhellte das Innere der Kabine für einen Moment. Wenig später erschütterte Donnergrollen den Rumpf des Schiffes. Ich saß zusammengesunken auf den Holzplanken am Boden, verunsichert was ich tun sollte. Die dünne Bettdecke hatte ich um meine Schultern gezogen. Die Füllfeder – mein Schlüssel zur Freiheit – lag auf der Bettkante. Die Stimmen waren nun schon eine ganze Weile verklungen. Sollte ich den Versuch wagen, das Schloss der Tür zu öffnen? Einfach fliehen? Nach Hause zurückkehren? Meine Hände wanderten zu der Halskette mit dem filigranen Anhänger, die noch immer um meinen Hals hing. Ich hielt die kristalline Feder vor mein Gesicht und betrachtete ihr feines Muster. Was war das Richtige? Noch ehe ich mich entschieden hatte, hörte ich ein Geräusch. Es kam jedoch nicht vom Flur. Es kam von Draußen. Die Piraten konnten noch nicht wieder hier sein. Dafür war zu wenig Zeit verstrichen. Verwundert drehte ich mich um und sah den Umriss einer Gestalt, die durch das Bullauge in meine Kabine blickte. Ein Blitz verzerrte den Schatten. Ehe ich etwas hätte erkennen können, war die Gestalt verschwunden. Der Wind heulte erneut auf. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Was war das gewesen? Ich huschte zum Bullauge und blickte hinaus. Vielleicht hatte der Wind nur den Ast eines Baumes vor das kleine Fenster gedrückt? Nein. Die Bäume waren viel zu weit weg, als dass ein Ast bis hier heran reichen könnte. Hatte ich mir den Schatten vielleicht nur eingebildet? Aber er hatte so wirklich ausgehen... Ich griff nach der Füllfeder und wandte mich wieder der Tür zu. Was es auch gewesen war, ich wollte lieber nicht hier sein, wenn es zurückkam. Nervös begann ich, mit der schmalen Metallspitze im Türschloss herumzustochern. Ich hatte noch nie versucht ein Schloss zu öffnen und bereute, dass ich in den Nächten zuvor keinen Testlauf unternommen hatte. Zwar hörte ich den Schlüssel auf der anderen Seite zu Boden fallen, jedoch wollte der Riegel nicht so leicht nachgeben. Gerade als ich glaubte, endlich einen der Bolzen erwischt zu haben, wurde die Tür heftig erschüttert. Beinahe als hätte jemand dagegen geschlagen. Ich hatte aber keine Schritte gehört. Panisch ließ ich die Füllfeder fallen und rutschte rittlings zum Bett. Eine tiefe, raue Stimme mit starkem Akzent erklang vom Flur. „Gehen weg.“, sagte sie knapp. Ich drückte mich noch fester gegen das Bett. Mein Herz schlug heftig und ich hielt den Atem an. Mit weit aufgerissenen Augen fixierte ich die Tür. Einen Augenblick später ertönte erneut ein Schlagen oder Treten und die Tür splitterte um das Schloss herum. Ein weiteres Mal und das Schloss brach aus dem Holz, als die Tür aufschwang und an die Wand knallte. Ich schrie entsetzt auf. Im Türrahmen stand eine Gestalt mit dunkler Haut. Ich brauchte einige Augenblicke um zu erkennen, dass es sich um eine Frau handelte. Sie war groß und sah regelrecht abgemagert aus. Ihr Kopf wurde zur Hälfte von einem dunklen, halblangen Haarschopf bedeckt, dessen spitzen rot gefärbt waren. Zwei längere Haarsträhnen waren mit Bändern umwickelt und schwangen sich bis zu ihrer Hüfte. Die andere Hälfte ihres Kopfes war kahlrasiert. Nur drei dunkle, zackige Linien verliefen dort über ihren Schädel. Beinahe wie Narben. Auch ihr Gesicht war mit dunklen Tätowierungen an Mund und Augen versehen. Kühl blickte sie zu mir herab, und die Tücher, die Sie um ihren Körper gewickelt hatte, waren durchnässt vom Regen und hinterließen kleine Pfützen auf den Planken. Meine Finger krallen sich in das Holz des Bodens. Dann richtete die Frau eine Waffe auf mich, die einer Hellebarde ähnelte. Jedoch war der Griff mit allerhand Bändern und Fellstücken verziert und die Klinge seltsam geschwungen. „Kommen mit.“, knurrte die Frau leise. Erst einen Augenblick später wurde mir klar, dass sie unsere Sprache nur gebrochen beherrschte und wollte, dass ich mit ihr kam. Ich schüttelte panisch den Kopf und versuchte mich in die Ecke neben dem Bett zu zwängen. Alles nur das nicht! Unsanft riss sie mich am Arm hoch und verdrehte mir die Schulter, so dass ich aufkeuchte. „Hören, was ich sagen!“, fuhr sie mich an. Ich begann um Hilfe zu kreischen, doch eine knochige Hand presste sich mir auf Mund und Nase, so dass ich kaum Luft bekam. „Sein ruhig und folgen. Dann dir werden nichts passieren.“, zischte sie mich an und zerrte mich aus dem Raum und aufs Deck. Der Regen prasselte wütend auf uns herab und immer wieder erhellten Blitze die Wolkendecke. Wind umpeitschte mich, so dass meine Augen tränten. Ich versuchte mich noch ein paar mal aus dem Griff der Frau zu winden, doch trotz ihres ausgemergelten Aussehens schien sie sehr viel Kraft zu besitzen. Sie zerrte mich die Treppe hoch und kauerte sich mit mir neben der Steuerkabine nieder. Dann beobachtete sie die Umgebung. Lautlos, schoss es mir durch den Kopf. Lautlos wie ein Raubtier. Eine Jägerin, die auf ihre Beute wartet. Ich zitterte. Vor Angst. Vor Kälte. Vor Nässe. Tränen mischten sich mit dem Regenwasser, das über mein Gesicht lief. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, ehe ich wieder eine Reaktion von der Frau vernahm. Sie zuckte mit dem Kopf und fixierte eine Stelle zwischen den Bäumen und Felsen um uns herum. Es dauerte noch einige Augenblicke, bis mir klar wurde, weshalb. Ich konnte die Stimmen nun auch hören. Das Aufquietschen eines jungen Mädchens während eines Windstoßes, gefolgt vom Lachen zweier Männer. Die Piraten. Still lauerte die seltsame Frau, mich noch immer fest in ihrem Griff haltend. Ich konnte sehen, wie die drei Piraten langsam näher kamen. Kishna versuchte verzweifelt ein Päckchen unter ihrem Cape vor dem Regen zu schützen, während Lokan sie langsam vorwärts schob. Regentropfen rannen in meine Augen. Ich blinzelte sie weg. Über eine Strickleiter kletterten die drei Piraten nacheinander an Deck. Kaum waren sie zwei Schritte über die Planken gelaufen, sprang die Frau aus ihrem Versteck und zerrte mich mit sich. Sie wuchtete mich gegen das Geländer des oberen Deckabschnitts, so dass ich zu Husten begann. Zwar hatte sie endlich die Hand von meinem Gesicht genommen, meine Schulter hielt sie jedoch noch immer eisern fest. Sie selbst war auf dem Geländer in die Hocke gegangen. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie sie ihre Hellebarde auf die kleine Gruppe auf dem Deck unter uns richtete. „Fliegen Mouq co‘on. Sofort.“, knurrte sie mit ihrem starken Akzent. Ravio stellte sich umgehend vor Kishna und Lokan schob seinen Mantelsaum beiseite und legte eine Hand auf den Griff der Schusswaffe an seinem Gürtel. „Wer bist du?“ „Nicht wichtig. Aufbrechen. Sofort.“ Die Frau duckte sich ein wenig tiefer und blitzte Lokan mit ihren kalten Augen an. „Lass unsere Geisel in Ruhe! Und verschwinde von unserem Schiff!“, knurrte Lokan zurück. Er hatte die Waffe mittlerweile auf die Jägerin gerichtet. Auf dem tätowierten Gesicht bildete sich ein grausiges Grinsen. Unerwartet stieß die knochige Hand mich zur Seite. Ich stolperte auf die Treppe zu und stürzte einige Stufen hinab, ehe ich zum liegen kam. Ich rappelte mich hoch, so gut ich konnte und sah gerade noch, wie die Jägerin behände Lokans Kugel auswich und sich auf ihn stürzte. Lokan ging rittlings zu Boden und die Frau rammte ihre Hellebarde dicht neben seinem Kopf in die Planken. Regenwasser spritzte auf. Kishna kreischte. Das Päckchen fiel ihr aus der Hand und allerhand Backwaren rollten über die Planken. Zuckerguss zerlief in den Regenpfützen. Ravio wollte seinem Gefährten zur Hilfe eilen, doch die Frau hob die Hand und gebot ihm mit ihrer Geste und ihrem kalten Blick, stehen zu bleiben. Dann wandte sie sich wieder Lokan zu. „Aufbrechen. Jetzt. Du verstanden?“ Die Schusswaffe war Lokan aus der Hand gerutscht und lag außerhalb seiner Reichweite. Zu dem fixierte die Jägerin seine Arme am Boden. Das Metall der Klinge glänzte neben seinem Gesicht auf, erhellt von den Blitzen des Sturms. Der Regen bildete Tropfen an der Klinge, aus denen Lokan sein eigenes Spiegelbild erschüttert entgegenstarrte. Er richtete seinen Blick wieder auf das Gesicht der Jägerin. Auf die kalten, grimmigen Augen. „Ravio.“, flüsterte Lokan mir rauer Stimme, „Nimm Kurs auf die äußeren Bezirke. Kishna, mach die Maschinen startklar.“ Die beiden zuckten zusammen, als der Kapitän das Wort an sie richtete. „Los!“, schrie Lokan heiser und riss die beiden damit aus ihrer Starre. Daraufhin eilte Ravio zu seinem Posten. Kishna kam mit Tränen in den Augen zu mir gelaufen. Ich drückte sie kurz, dann schob ich sie zu der Tür, die zum Maschinenraum führte. Dieser Kampf war offensichtlich verloren und es war besser zu tun, was die Jägerin verlangte. Nicht einmal eine Kugel hatte sie treffen können. Bevor ich mit dem Mädchen zwischen den dampfenden und zischenden Rohren hinabstieg, warf ich noch einen Blick auf Lokan, der sich langsam aufsetzte und sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. Zermürbt erhob er sich, ohne die Jägerin dabei aus den Augen zu lassen. Die Jägerin fixierte ihrerseits weiterhin den Kapitän. Ich zog die Tür zu und schob Kishna nervös tiefer in den Bauch des Schiffes. Wenig später hob das Luftschiff ab und wurde von den gewittrigen Wolkenmassen verschluckt. Kapitel 4: Kapitel 4 -------------------- „Warum wollt Ihr das wiss'n?“, fragte Tarn und kratzte sich am Hinterkopf. Mehrere Gestalten standen vor ihm auf der Anhöhe und gegen die Sonne konnte er kaum etwas an ihnen erkennen. Er fragte sich, warum diese komischen Männer ihre Mäntel nicht ablegten. Das letzte Unwetter war schon zwei Tage her und so bald würde es nicht wieder auf Trendon zu regnen beginnen. Verunsichert rieb sich Tarn über den Ärmel seiner zerschlissenen Arbeitsjacke. Der hühnenhafte Anführer der Gruppe griff unter sein Cape. „Vielleicht lockert das ja deine Zunge, kleiner Mann.“ Eine Münze fiel vor Tarn in den Staub. Gierig bückte er sich, um das Geldstück aufzusammeln. Er grinste breit. Die Münze würde ihm heute Abend im Gasthaus mindestens zwei zusätzliche Krüge Bier einbringen. Wenn er der Schankfrau schöne Augen machte, vielleicht sogar drei. „Nuja, da war'n tatsächlich zwei Kerle, zu denen Eure Beschreibung passt. Die hatten noch 'n kleines Mädchen bei sich. Ham' nach dem Kurier gefragt und sin' noch 'n bisschen durch die Stadt gegangen. Wollt'n mich für den nächsten Tag anheuern, ham' sie gesagt. Sollte helfen, Vorräte zu verladen. Hatten ihr Schiff irgendwo außerhalb. Ham' es sich aber doch anders überlegt. Hab 'se nämlich kurz darauf davonfliegen sehen.“ „Wann waren sie hier?“, knurrte die Stimme des Hühnen wieder zu ihm herunter. Tarn beschattete seine Augen mit der Hand. „Hm, das muss gewesen sein, als das große Unwetter war. Is' nu' schon zwei Tage her, das ganze.“ „Und in welche Richtung sind sie aufgebrochen?“ Tarn blickte sich um, als wolle er sich bewusst werden, wo genau er sich befand. „Ähm, das war... äh...“ Der große Mann knurrte unheilvoll: „Strapaziere meine Geduld nicht!“ „A-ach ja! Die sin' entgegengesetzt zur Landestelle weggeflogen, von hier aus wäre das, äh, da lang.“, Tarn zeigte mit dem Finger nach Nord-Osten. „Hm.“, antwortete der Anführer der Gruppe knapp. Als er nichts weiter sagte, beschloss Tarn, sich wieder seiner Arbeit zu widmen. Er drehte sich um und stapfte den staubigen Weg entlang zur Stadt zurück. Dabei schnippte er die Münze hoch, fing sie wieder auf und pfiff leise vor sich hin. Das war wirklich leicht verdientes Gold gewesen! Der große Mann und seine Begleiter blickten dem abgerissenen Arbeiter nach. „Schade, dass der Kerl nicht lange Freude an seinem neuen Reichtum haben wird...“, grinste der Anführer grimmig. Er hob den Arm und gab zwei seiner Männer ein Zeichen. Die beiden huschten die Anhöhe hinab. Ein weiteres Mal schnippte der Arbeiter seine Münze in die Luft. Doch diesmal wurde sie nicht wieder aufgefangen. Der Arbeiter fiel neben der Münze zu Boden. Zwei Blutspritzer bedeckten das Gold und schimmerten unheilvoll im Sonnenlicht. Ein Schatten legte sich über die grausige Szene und hünenhafte Finger griffen nach der Münze. Kapitel 5: Kapitel 5 -------------------- Als es dunkel wurde, stand die Jägerin schweigend am Bug des Schiffes und starrte in die Ferne. Ich war noch immer bei Kishna im Maschinenraum. Nachdem sie mit zitternden Händen die Geräte zum Laufen gebracht und an dem einen oder anderen Ventil den Druck geregelt hatte, war sie mitgenommen auf die Knie gesunken. Ich wusste, dass ich ihr bei der Arbeit nur bedingt helfen konnte, aber zumindest konnte ich das Mädchen trösten. „Lillja! Bei allen guten Winden! Ich dachte, sie bringt Lokan um...“, flüsterte Kishna leise. Ich nahm das verstörte Mädchen in den Arm und hielt es fest, während es immer wieder unkontrolliert zitterte. So saßen wir noch, als Lokan schließlich in den Maschinenraum trat. Er sah verbittert und erschöpft aus. Sein Haar und seine Kleidung waren durchnässt und hinterließen kleine Pfützen auf dem Boden. Sein Atem ging schwer. Dort, wo die Jägerin ihre Klinge neben seinem Kopf in den Boden gerammt hatte, befand sich ein kleiner Schnitt an seiner Wange. Ich schluckte. Die Klinge war ihm näher gewesen, als ich gedacht hatte. Für einen Moment nahm der Kapitän missbilligend zur Kenntnis, dass das Mädchen sich an mich drückte. Dann seufzte er, was Kishna aufhorchen ließ. Sie sah Lokan an, sprang auf und klammerte sich an seinen nassen Mantel. Der Kapitän zögerte kurz, dann legte er die Hand auf die Schulter der jungen Mechanikerin und sah mich wieder an. „Wir werden diesen ungebetenen Gast vermutlich nicht einfach los. Ravio und ich würden auch zu zweit nicht gegen diese Frau ankommen und euch beiden will ich keinen Kampf zumuten.“ Überraschender Weise schloss er mich mit ein. Hoffte er auch unter diesen Umständen noch darauf, Lösegeld für mich zu bekommen? „Wenn ich mich in aussichtslose Kämpfe stürzen würde, hätte unsere Gruppe nicht so lange überlebt. Ich erkenne, ob ich eine Chance habe oder nicht.“ Schließlich wurde seine Stimme wieder härter und er schob auch Kishna von sich. „Vorerst wirst du uns keinen Gewinn bringen, Prinzessin. Und weg von hier kommst du ebenfalls nicht. Ich kann dich aber nicht einmal mehr wegsperren, solange die Tür deiner Kabine kaputt ist. Jede andere Kabine lässt sich auch von innen entriegeln. Du wirst ab sofort etwas für dein Essen tun, verstanden? Für Faulpelze ist hier kein Platz.“ Ich beobachtete den Kapitän schweigend mit zusammengekniffenen Augen. „Eines der Rohre im unteren Flur leckt. Kishna wird sich morgen darum kümmern. Du wirst ihr helfen und den Flur hinterher sauber machen. Und ich will kein Jammern hören, weil du deine zarten Fingerchen schmutzig gemacht hast.“ „Gut.“, gab ich knapp zurück. Ich musste mich wohl fürs erste von meiner passiven Rolle trennen. Doch ich würde diesem ungehobelten Kerl zeigen, dass ich mehr leisten konnte. Es war keine einfache Sache, die ölige Masse, die aus der leckenden Leitung ausgetreten war, von Wänden und Boden zu schrubben. Schweiß stand mir auf der Stirn und meine Schultern und Hände schmerzten bereits. Obwohl ich mein Haar mit einem Tuch zusammengebunden hatte, war es wirr und immer wieder spuckten die Rohre und Ventile Dampfwölkchen aus, die den ganzen Flur für kurze Zeit in Nebel hüllten. Als ich meinen schmerzenden Rücken streckte, bemerkte ich Lokan, der gerade um die Ecke bog. Schnell widmete ich mich wieder den Flecken auf dem Holz. Ich würde ihm keine Angriffsfläche bieten. Wenn es nötig war, würde ich meinen Teil beitragen ohne zu murren. Er würde sich noch umsehen, was seine Prinzessin zu leisten vermochte. Doch wider Erwarten stapfte der Kapitän einfach an mir vorbei. Dabei hatte er sich noch nie eine Gelegenheit entgehen lassen, auf mir herumzuhacken! Ich drehte mich um und sah ihm nach. Wenige Augenblicke später stürzte Kishna in den Flur. Sie war gegangen, nachdem sie das Leck repariert hatte, da noch andere Geräte zu warten waren. „Lillja! Komm schnell!“ „Was ist denn los?“, antwortete ich überrascht, doch Kishna rannte bereits wieder nach draußen. „Beeil dich!“, rief sie mir noch zu. Ich ließ die Bürste fallen und rieb die Hände an meinem Rock trocken. Dann folgte ich dem Mädchen. An Deck bot sich mir ein unerwartetes Schauspiel. „Ihr Euch nicht halten an Kurs.“, knurrte die Jägerin Lokan an. Sie griff nach dem Kragen seines Mantels und zog ihn zu sich heran. „Wir werden noch eine Zwischenstation auf der Insel Bejel einlegen.“, erklärte Lokan darauf hin hart und erwiderte ihren Blick kühl. „Nein. Fliegen Mouq co‘on.“ „Bis wir dort ankommen, werden wir verhungert sein, wenn wir keinen Stopp mehr einlegen.“, spie Lokan ihr entgegen und schlug ihre Hand weg. Die Jägerin musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Wir wollten auf der Insel Trendon noch Vorräte besorgen, ehe du Miststück uns überfallen hast. Selbst wenn wir die Reste in kleine Rationen teilen, wird es nicht für die ganze Strecke reichen.“ Die beiden starrten sich eine ganze Weile grimmig an. Lokan schnaubte schließlich und schmetterte eine verschimmelte Kartoffel vor der Jägerin auf die Planken. „Willst du etwa, dass wir alle draufgehen, weil wir jämmerlich verhungern?!“, schrie er ungehalten. Die Jägerin fixierte die Kartoffel für einen Moment. Dann blickte sie wieder in Lokans grimmiges, ernstes Gesicht. Sie zögerte kurz. Letztlich nickte sie. „Gut. Wir dort halten.“ Zischend atmete der Kapitän aus und versuchte, seine Fassung wieder zu gewinnen. Dann veränderte sich Lokans Miene und er warf mir und Kishna einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. „Die Frau und das Mädchen werden wir dort absetzen. Wir können dich auch zu zweit nach Mouq co‘on bringen.“ Unerwartet wirbelte die Jägerin ihre Hellebarde herum und drohte Lokan mit der Klinge. „Nein. Mädchen egal aber Frau bleiben hier.“ „Sie ist nur eine Belastung. Sie gehört nicht einmal zur Mannschaft. Warum sollten wir sie auf dem Schiff behalten?“ „Weil sie sein Grund für Reise.“ Verwundert starrte ich die Jägerin an und auch der Kapitän zuckte überrascht zusammen: „Was?“ Die dunklen Augen musterten mich. „Du von Yeshna berührt. Ich spüren. Ich dich bringen zu Schamanin.“ „Yeshna? Schamanin? Wovon redet Ihr?“, fragte ich verwirrt. Mir war nicht wohl dabei. Die raubtierartige Frau ließ mich nicht aus den Augen. Dann schnellte sie plötzlich auf mich zu. Vor Schreck kniff ich die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffnete, bemerkte ich Lokan, der direkt vor mir stand. Seine Haarspitzen, vom Wind aufgewirbelt, kitzelten mein Gesicht. Beinahe konnte ich seine Körperwärme spüren. Er hielt der Jägerin seine Pistole an die Stirn. Die Frau blickte ihn abfällig an und griff dann über seine Schulter hinweg an meinen Hals. Ein erstickter Schrei entwich mir, doch ich stellte fest, dass die Frau nur nach meiner Halskette gegriffen hatte. Sie ließ den fein gearbeiteten Anhänger vor meinen Augen baumeln. „Zeichen der Yeshna. Sie dich gewählt.“ Sie ließ die Kette wieder los und trat zwei Schritte zurück. Lokan senkte langsam die Waffe aber er fixierte die Jägerin noch immer. „Wer, bei der bodenlosen Tiefe der Abgründe, bist du? Und was hast du mit uns vor?“, fragte er angespannt. Die Jägerin sah ihn an. Augenblicke vergingen. „SPRICH ENDLICH!“, herrschte Lokan die Frau an. Ihre Augen wurden schmal und ihr Mundwinkel zuckte nach oben. „Mein Name sein Zachnavhras‘ee. Das sein Wort für Rauch in meine Sprache. Wenn ihr nicht könnt aussprechen, es einfacher wenn ihr mich nennen Haze. Meine Aufgabe sein, dem Amulett folgen und bringen zurück den, den die Yeshna auswählen.“ „Und was wollt Ihr von mir?!“, fragte ich erneut. Ich fühlte mich, als sei ich vom Regen in der Traufe gelandet. Erst wurde ich von Piraten entführt, dann entführte eine seltsame Kriegerin das gesamte Piratenschiff. Und auch dabei schien es nur um mich zu gehen. „Du uns führen zur Yeshna. Die Schamanin werden dir erklären.“, mit diesen Worten wandte sich Haze wieder dem Horizont zu. Ich fühlte mich schrecklich in dieser Nacht. Dass meine Finger und mein Rücken von der Arbeit schmerzten, war dabei das kleinste Problem. Haze hatte keine Anstalten gemacht, meine drängenden Fragen zu beantworten. An Bord eines Piratenschiffes steuerte ich nun auf die Insel Bejel zu und würde von dort aus direkt weiter nach Mouq co‘on gebracht werden. Mein Magen krampfte sich zusammen. Was wollte diese Schamanin von mir? Und wer um alles in der Welt war die Yeshna? Ich drückte mein Kissen fest an mich. Wenn Wrone doch nur hier wäre und mir mit seiner väterlichen Art Mut zusprechen könnte. Oder Frank, der immer für mich da wäre und mich beschützen würde, auch wenn er wusste, dass wir nie ein Paar sein würden. Selbst an der Seite von Wrendon, dem Sohn des Tuchhändlers, hätte ich mich in diesem Moment besser gefühlt. Das alles wirkte so unwirklich. Der Federanhänger berührte kühl meine Brust. Wie ein Lufthauch, der meine Haut küsste. Sanft ertastete ich den filigranen Kristall und strich über die Maserung. Tränen liefen über meine Wangen. Ich weinte, weil ich mein zu Hause vermisste. Mein Leben. Und wegen all der Unsicherheit, die mir bevorstand. Wie konnte ich nur in so etwas hineingeraten? Ich zog die Decke fester um mich und krümmte mich unter den Ängsten, die mich verfolgten. Viel später erst wiegte das sanfte Schaukeln des Luftschiffs mich in den Schlaf. Es ist dunkel. Eng. Ich bin gefangen und kann mich kaum rühren. Es ist kalt um mich herum. So kalt. Ein Luftzug berührt mich. Ich höre eine Stimme. „Hilf mir!“ „Wo bist du?“, flüstere ich erstickt. Die Worte aus meinem Mund klingen rau. Kratzig. „Komm zu mir!“, erhalte ich zur Antwort. „Wie?“, frage ich erneut. „Folge dem Wind.“ Wieder wird die Stimme schwächer. Sie lässt mich mit meiner Angst allein in der Dunkelheit. Langsam lernte ich die Piraten besser kennen. Ravio hatte aus seinem Leben allerhand Geschichten zu erzählen, denen ich gerne lauschte, während ich meinen Aufgaben nachging. Wenn all diese Geschichten der Wirklichkeit entsprachen, musste er in jungen Jahren wahrlich ein Schwerenöter gewesen sein, dem die Damen Reihenweise erlegen waren. Ein wenig konnte ich es nachvollziehen, denn bis jetzt hatte er sich seine charmante Art bewahrt. Was ihr bisheriges Leben anging, war Kishna sehr verschlossen, sonst aber stets offen und herzlich. Sie zeigte mir die Geräte, mit denen sie arbeitete und einige Maschinen, die sie erfunden hatte. Schrauben, Federn, Öl und Dampf waren ihre Welt. Dennoch schien sie sich auch für das normale Leben in den Städten zu interessieren. Sie wollte von mir wissen, wie ich in meiner Heimatstadt lebte und was ich dort zu tun hatte. Sie verstand nicht, warum eine Frau keine Abenteuer erleben durfte und sich statt dessen früh einen Ehemann suchen musste. Als ich ihr aber von den großen Veranstaltungen erzählte, zu denen ich bisweilen eingeladen war, war sie entzückt. „Ich würde auch gerne einmal in einem schönen Ballkleid auf ein Fest gehen!“, gestand sie mir. Wie ich mit Lokan umgehen sollte, wusste ich nicht. Er war schweigsam, wie so oft, und brütete meist nur über seinen Karten. Hatte er sich tatsächlich vor mich geworfen, als Haze auf mich zugestürzt war? Oder hatte er sich nur eingemischt, weil Kishna in meiner Nähe gestanden hatte? Ich glitt mit dem Messer ab und schnitt mir in den Finger. Verärgert legte ich die Kartoffel weg, die ich gerade geschält hatte und suchte in der Kombüse etwas, was ich um die Wunde wickeln konnte. Ich sollte mich wohl besser auf die Arbeit konzentrieren. Auf meiner Suche warf ich auch einen Blick in die Vorratskammer. Lokan hatte wirklich recht gehabt. Hätten wir die Nahrungsmittel nicht in Rationen eingeteilt, wären wir wohl nicht einmal bis Bejel gekommen. Schon jetzt hatte ich täglich Vergammeltes von Essbarem trennen und die Rationen neu Ordnen müssen. Je weiter wir uns Bejel genährt hatten, desto wärmer war das Klima geworden und umso schneller war das Essen verdorben. Wir hatten uns darauf eingestellt, möglicherweise länger zu brauchen, ehe wir bei der Insel ankamen. Und tatsächlich waren wir nun schon drei Tage länger unterwegs, als geplant gewesen war. Nicht einmal Ravio konnte sich erklären, warum sich unsere Reise so sehr verzögert hatte. Doch vor einer Stunde war Bejel endlich in Sicht gekommen und wir würden bald anlegen können. Wenig später erschien Haze und wies mich an, zusammen mit Ravio und Kishna die Kapitänskajüte aufzusuchen. „Du allein gehen. Andere bleiben hier bei mir. So nicht auf dumme Ideen kommen.“, wies sie Lokan in abgehackten Worten an. Erst als Ravio versicherte, dass er auf sich und auf uns aufpassen konnte, gab der Kapitän widerwillig nach. Erneut hatten wir weit außerhalb einer Ortschaft angelegt, verborgen von Felsen und hohen Palmen. Die schwülwarme Hitze war drückend. Kein Lufthauch war zu spüren. Es würde sicher einige Stunden dauern, ehe Lokan mit den Vorräten zurückkehrte. Da Haze es nicht zuließ, dass wir den Raum verließen, hatte ich zusammen mit Kishna auf dem Bett des Kapitäns platzgenommen. Ich krempelte meine weiten Ärmel nach oben und öffnete einen Knopf meiner Bluse. Die Hitze war kaum ertragbar. Ravio hatte sich unterdessen auf den Stuhl am Arbeitstisch gesetzt und vermaß Routen auf den Karten. Die Jägerin saß neben der Tür auf dem Boden, die Beine übereinandergeschlagen. Die Augen hatte sie geschlossen, als würde sie schlafen. Die Stimmung war angespannt. Wir schwiegen. Neugierig beobachtete Kishna die Frau eine Weile. „Was tust du da?“, fragte sie schließlich. Die Augen der Jägerin öffneten sich sofort und fixierten Kishna, die überrascht zusammenzuckte. „Meditation. Machen Geist ruhig und Körper schnell.“ Kishna biss sich auf die Unterlippe. Die Jägerin hatte die Augen wieder geschlossen. Noch eine Weile betrachtete Kishna die Frau, dann schlug sie die Beine übereinander und versuchte die selbe Pose einzunehmen, wie die Jägerin. Ich stellte fest, dass die Frau das Mädchen aus dem Augenwinkel beobachtete und ihre Mundwinkel zuckten nach oben. „Dein Rücken müssen sein gerade. Dein Atem ruhig. Nicht anspannen Schultern. Locker lassen.“ Überrascht sah Kishna die Frau wieder an. Dann versuchte sie schnell ihre Pose zu korrigieren. Die Jägerin grinste. „Das du machen gut.“ Unter dem wachsamen Blick der Jägerin erhob ich mich und öffnete ein Fenster. Ich hoffte, dass ein wenig frischere Luft hereinziehen würde. Als Haze registrierte, dass ich nicht durch das Fenster fliehen würde, entspannte sie sich wieder. Ich ließ meinen Blick weiter durch den Raum streifen und entdeckte dabei schließlich eine mit Stoff überzogenen Fläche, an der jemand Fotos mit Nadeln fixiert hatte. Ich ging zu der Wand hinüber. Kishna blickte mir nach und ich spürte, dass auch die Augen der Jägerin auf mir ruhten. Ich betrachtete die Fotos, eines nach dem anderen. Auf dem ersten war ein Junge zu sehen, das halblange Haar wirkte ein wenig zerzaust. Er mochte ein oder zwei Jahre älter sein als Kishna. Ernst blickte er in die Kamera. Hinter ihm stand ein Mann mittleren Alters mit hellem Haar. Der Mann lächelte, anders als der Junge, munter zu dem Fotografen hinüber. „Der Junge... ist das Lokan?“, fragte ich überrascht. Ravio blickte von den Karten auf und lächelte. „Ja. Da hatte er gerade die Dämmerschwinge übernommen. Er war nur ein bisschen älter als Kishna es jetzt ist.“ „Und wer ist das bei ihm? Sein Vater?“ „Nein, nein.“, wehrte Ravio ab und grinste mich an. Es dauerte einen Augenblick, dann wurde es mir schlagartig bewusst. „Das seid Ihr!“ „Gut beobachtet.“ „Wie um alles in der Welt kam Lokan in diesem Alter zu einem Luftschiff?“ „Nun, man könnte fast sagen, er hat es vererbt bekommen.“, grinste der alte Steuermann. Es schien, als wolle er mehr erzählen, also ließ ich mich wieder auf der Bettkante nieder und lauschte seinen Worten... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)