Fünf Jahre von Juju ((K)eine Freundschaft für immer) ================================================================================ Kapitel 32: Tag X ----------------- „Kari, iss wenigstens ein bisschen“, sagte ihre Mutter und musterte sie besorgt über den Tisch hinweg. „Ich hab' aber keinen Hunger“, erwiderte Kari zum dritten Mal. Seit zehn Minuten stocherte sie in ihrem Mittagessen herum und konnte einfach nichts essen, was diesmal nicht daran lag, dass es scheußlich schmeckte. „Du musst was essen. Du brauchst doch Kraft für nachher“, warf Susumu ein. „Wie willst du dich denn sonst auf den Beinen halten?“ „Das geht auch so“, murmelte Kari, obwohl sie so langsam Zweifel daran bekam. Aber wenn sie jetzt etwas aß, würde sie es sofort wieder erbrechen, dessen war sie sich sicher. Sie hatte ein unangenehm flaues Gefühl im Magen, ihre Hände waren kalt, schwitzig und zitterten und sie musste ständig auf die Toilette. In der Nacht war sie immer wieder eingenickt und sofort wieder aufgeschreckt wegen eines schlechten Traums, in welchem doch kein Talentscout kam, sie für zu schlecht befand oder sie gar nicht tanzen konnte, sondern nur wie versteinert auf der Bühne stand. Immer wieder versuchte sie sich einzureden, dass es nicht schlimm war, wenn alles schief ging und sie nicht ins Ausland konnte. Das war doch kein Problem. Sie konnte auch andere Sachen mit ihrem Leben anfangen. Doch es half alles nichts gegen die Aufregung. Eine Stunde nach dem Mittagessen fuhren sie und ihre Eltern mit dem Auto los in den kleinen Theatersaal, in dem die Aufführung stattfand. Es handelte sich um eine Veranstaltung mit dem Namen „Summer Dance“, die jedes Jahr um diese Zeit stattfand und auf der verschiedene Tanzvereine von Schulen aus Tokio auftraten. Karis Verein hatte zwei Auftritte in dieser Veranstaltung und in einem davon hatte Kari sogar einen Solopart. Vor diesem fürchtete sie sich heute am allermeisten. Sie kamen am Theater an und Kari verabschiedete sich von ihren Eltern. „Viel Erfolg, Schatz“, sagte ihre Mutter und küsste sie auf die Wange. „Du kriegst das hin.“ „Nur Mut“, stimmte Susumu zu und lächelte zuversichtlich. „Du kannst das.“ Kari rang sich ein Lächeln ab und ging in das Theatergebäude. Ihre Beine fühlten sich viel schwerer an als sonst, als wären Bleigewichte daran befestigt. Das innen recht dunkle Gebäude wirkte bedrohlich und einschüchternd. Kari atmete tief durch und marschierte geradewegs in die Umkleidekabine. Sofort kamen einige der Mädchen auf sie zu. „Kari! Bist du bereit? Wie geht’s dir?“, fragte Masami aufgeregt und sah sie mit großen Augen an. „Du darfst dich nicht unterkriegen lassen. Du zeigst denen schon, was du kannst“, sagte Midori und stieß ihre Faust in die Luft. „Wir geben uns heute auch extra Mühe, damit nichts schief geht“, fügte Sakura zwinkernd hinzu. „Hey, lasst sie doch mal in Ruhe!“ Kari drehte sich zur Tür um und entdeckte Nana, die mit strengem Blick dort stand, die Hände in die Hüften gestemmt. „Wir machen ihr doch nur Mut“, erwiderte Midori schulterzuckend. „Bestimmt ist sie sehr aufgeregt.“ „Ihr solltet ihr lieber noch ein paar ruhige Minuten lassen“, meinte Nana überzeugt und suchte sich einen freien Platz auf einer der Bänke. Kari folgte ihr und setzte sich neben sie. „Hast du auch gestern diesen komischen Film im Fernsehen gesehen? Wie hieß er noch...“ Und während sie ihre Kostüme anzogen, redete Nana unbeirrt über belanglose Dinge und Kari war ihr dankbar. Es lenkte sie ein klein wenig ab, Nana zuzuhören. Auch während sie sich gegenseitig die Haare zurückbanden und sich schminkten, redete Nana weiter. Sie mussten sich dunkles Make-up ins Gesicht schmieren, um im Scheinwerferlicht nicht zu weiß auszusehen. Auch die Augen umrandeten sie sich schwarz und trugen Wimperntusche auf. Die Lippen zogen sie sich mit tiefrotem Lippenstift nach. Gerade, als sie das Bad verließen, kam Midori ihnen entgegen. „Kari, Besuch für dich“, verkündete sie. Kari ging zur Tür und entdeckte Tai und Mimi. Sie schlüpfte durch die offene Tür zu ihnen hinaus und schloss sie hinter sich. „Hallo“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Mein Gott, du siehst furchtbar aus“, sagte Tai und musterte sie mit schiefem Blick. „Ja, das Make-up ist viel zu dunkel“, kommentierte Mimi. „Seid ihr hergekommen, um mich zu beleidigen?“, murrte Kari und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein, wir wollten dir nur alles Gute wünschen“, antwortete Tai grinsend und Mimi warf die Arme um ihren Hals. „Du schaffst das, meine Lieblingsschwägerin“, murmelte sie und ließ sie wieder los. „Glaub an dich. Wir feuern dich an.“ Auch Tai umarmte sie. „Zeig's ihnen, Tiger.“ Mimi lachte und Kari grinste leicht. Verlegen kratzte sie sich am Kopf. „Ich versuch's.“ „Und hey, selbst, wenn es schief geht, wir lieben dich trotzdem“, sagte Tai. „Wie großzügig“, erwiderte Kari sarkastisch. Dann verabschiedeten sich die beiden und gingen zurück in den Saal, während Kari sich wieder in die Umkleide zu Nana verzog. „War das dein Bruder? Der ist ja schnuckelig“, fragte Midori neugierig. „Ja und bald verheiratet“, antwortete Kari trocken. Midori kicherte. „Deswegen darf er ja trotzdem gut aussehen.“ Nana verwickelte sie erneut in ein Gespräch über Belanglosigkeiten. Es blieben noch zehn Minuten bis zum Beginn der Show und Kari wurde immer hibbeliger. Unaufhörlich spielte sie mir ihren Fingern und trat von einem Fuß auf den anderen, kontrollierte ihre Haare oder ihr Make-up, während Nana über das Wetter plauderte und die kommenden Schultage, denn in der nächsten Woche ging die Schule wieder los. „Kari, schon wieder Besuch für dich“, rief Masami zu ihr herüber und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Kari seufzte und ging zur Tür, wo ihr Nobuko entgegenkam. „Nun aber schnell“, sagte sie streng und Kari schlüpfte erneut durch die Tür in der Erwartung, erneut Tai und Mimi zu sehen. Doch es war T.K., der dort auf sie wartete. „Oh, hi“, begrüßte sie ihn und schloss schnell die Tür hinter sich, um den neugierigen Blicken ihrer Mitstreiterinnen zu entgehen. „Hey“, erwiderte er lächelnd. „Ich wollte dir nur schnell noch viel Erfolg wünschen.“ „Danke, den wünsche ich mir auch“, seufzte Kari und sah ihn hilflos an. „Mach dir keinen Kopf. Wenn es schief geht, dann ist es eben so“, meinte er lässig und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, aber... ich glaube, mein Körper weiß das noch nicht so richtig“, antwortete sie schief lächelnd und hob ihre zitternden Hände zum Beweis. T.K. musterte sie einen Augenblick lang nachdenklich und Kari würde gern wissen, was er dachte. „Vielleicht hilft dir das ja“, sagte er und Kari wollte schon „Was?“ fragen, als er sich plötzlich zu ihr herunter beugte und sie auf die Wange küsste. Dabei ließ er seine Lippen einen Augenblick lang auf ihrer Wange ruhen, bevor er sich wieder von ihr löste. Mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund starrte sie ihn an. T.K. fuhr sich etwas beschämt durch die Haare und lächelte unsicher. „Also... wir sehen uns nach der Show.“ Und damit drehte er sich um und ging und Kari starrte ihm noch einige Sekunden nach, bevor sie zurück in die Umkleidekabine taumelte. „Was ist denn mit dir passiert? Hast du ein Gespenst gesehen?“, fragte Nana skeptisch. Kari konnte nicht antworten, sondern schüttelte nur den Kopf. Sie war gerade nicht in der Lage, ihre Gedanken zu ordnen, womit T.K. erreicht hatte, was er auch bezweckt hatte. Er hatte sie von ihrer Nervosität abgelenkt. „Also, Mädels“, lenkte Nobuko nun die Aufmerksamkeit auf sich. „Wie ihr wisst, ist heute ein wichtiger Tag. Ich erwarte, dass ihr euch alle besonders anstrengt und euer Bestes gebt. Für Kari steht heute einiges auf dem Spiel und wir werden sie alle unterstützen.“ Zustimmendes Nicken und Gemurmel. „Danke“, sagte Kari gerührt. „Das bedeutet mir wirklich viel.“ Nobuko redete noch weitere fünf Minuten über den kommenden Auftritt, wodurch Karis Nervosität sich erneut steigerte. Dann verschwand sie wieder aus der Umkleidekabine und überließ ihre Gruppe sich selbst mit dem Hinweis, dass sie in einigen Minuten dran wären. „Was ist denn nun los?“, fragte Nana noch einmal und musterte Kari durchdringend. „Das war doch Takeru vorhin. Warum hast du so geguckt, als du wieder rein gekommen bist?“ Kari sah sich kurz nach allen Seiten um, dass auch niemand zuhörte. „Er hat mich geküsst“, flüsterte sie. „Nein!“, rief Nana und schlug sich eine Hand vor den Mund. „Echt? Dann stimmt es also doch, was alle sagen.“ „Was sagen denn alle?“, fragte Kari verdutzt. „Na dass er total auf dich steht“, antwortete Nana, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Ach was“, erwiderte Kari abwinkend und spürte, dass sie rot anlief. „Wir sind nur befreundet. Und früher waren wir fast wie Geschwister. Das ist alles rein freundschaftlich.“ „Jaja, rede dir das ruhig ein“, meinte Nana großspurig. In diesem Augenblick erschien Nobuko wieder und winkte die Gruppe heran. Ihr erster Auftritt stand kurz bevor. Gemeinsam gingen sie einen Gang entlang, der sie direkt an die Seiten der Bühne führte. Sie drängten sich alle zusammen in die Dunkelheit des Bühnenrandes und beobachteten die gerade tanzende Gruppe. Kari versuchte, jemanden im Publikum zu erkennen, doch das war kaum möglich, da der Zuschauerraum natürlich viel dunkler war als die Bühne. Aufgewirbelter Staub kitzelte Kari in der Nase und sie musste niesen. Die Gruppe machte ihre Sache gut. Sie waren nicht ganz synchron, aber immerhin machte niemand einen Fehler und Unfälle passierten auch keine. Dann gingen sie in ihre Abschlusspose, ernteten den Beifall und liefen von der Bühne. Kari atmete tief ein und aus. Sie spürte einen kurzen Händedruck von Nana, bevor ihre Tanzgruppe begleitet von den ersten Klängen ihres Liedes die Bühne betrat. Und dann ging der Tanz auch schon direkt los. Hochkonzentriert versuchte Kari, auf all ihre Körperteile zu achten und ja keine Einsätze zu verpassen. Sie versuchte einfach, das Publikum auszublenden und nicht daran zu denken, wer dort alles saß und sie genauestens beobachtete. Wie automatisch führte sie die Bewegungen aus, die sie in den letzten Wochen so oft geübt hatte. Sie stand ganz vorn und konnte sich daher meist nicht an den anderen Mädchen orientieren, doch das machte ihr nichts. Der Tanz war fest in ihrem Kopf. Alles lief glatt, außer dass erneut Staub sie in der Nase kitzelte. Es gelang ihr gerade so, ein weiteres Niesen zu unterdrücken und sie schaffte es, sich nichts anmerken zu lassen. Nach wenigen Minuten war der Tanz vorbei und die Gruppe ging in die Abschlusspose. Kari lächelte gezwungen, bevor sie gemeinsam mit den anderen die Bühne verließ. „Das war super!“, jubelte Nobuko und hüpfte auf und ab. „Alles war perfekt, wirklich! Ich bin stolz auf euch. Die Hälfte habt ihr schon geschafft.“ Die Mädchen gingen zurück in die Umkleidekabine und ließen sich auf die Bänke fallen. Den zweiten Tanz hatten sie erst in einer halben Stunde. Kari schaffte es, sich ein wenig zu entspannen. „Siehst du? Das war doch okay. Nachher läuft es bestimmt noch mal genauso gut“, sagte Nana aufmunternd und klopfte ihr auf die Schulter. „Soll ich Takeru noch mal holen, damit er dir wieder die Nervosität vertreiben kann?“ „Nein!“, rief Kari entsetzt. „Lass das!“ Nana lachte. „War doch nur ein Witz. Aber es hat Glück gebracht, das kannst du nicht bestreiten.“ „Noch sind wir nicht durch“, erwiderte Kari und trommelte mit den Fingern auf der Bank herum. „Ja, aber das Schlimmste ist geschafft“, erwiderte Nana abwinkend. „Ich habe aber nachher noch den Solopart“, erinnerte Kari sie mit banger Stimme. „Ach, das wird schon. Den hast du bisher immer super hinbekommen. Deswegen hast du ihn ja auch“, sagte Nana unbekümmert. Sie nutzten die Pause alle, um etwas zu trinken und sich kurz zu entspannen, dann nahm Nobuko eine kurze Auswertung des Tanzes vor und gab Tipps für den nächsten und schon ging es zurück zur Bühne. Glücklicherweise hatte Karis Aufregung sich etwas gelegt, nachdem der erste Tanz so gut gelaufen war. So konnte sie nun ein wenig zuversichtlicher starten. Die Mädchengruppe betrat die Bühne und jede ging auf ihre Position. Erneut versuchte Kari, nicht daran zu denken, wie viele Augenpaare gerade nur auf sie gerichtet waren. In ihrer Vorstellung war sie allein vor ihrem Spiegel in ihrem Zimmer. Dann ging der Tanz los. Wieder hatte Kari keine Schwierigkeiten, sich an die Bewegungsabläufe zu erinnern. Es war, als hätten sie sich in ihren Körper gebrannt und als könnte sie ihr Gehirn ausschalten. Ihr Körper machte alles von ganz allein. Dann kam der Solopart. Die restlichen Mädchen ließen sich auf den Boden in geduckte Haltungen sinken und Kari tänzelte allein über die Bühne um die anderen herum. Sie wusste, dass dies der wichtigste Teil von allen für sie war. Gekonnt führte sie ihre Sprünge und Drehungen, ihre Schritte und Schwungbewegungen aus und es fühlte sich fast so an, als würde sie schweben. Bläuliches Scheinwerferlicht verfolgte sie und ließ sie allmählich schwitzen. Sie versuchte, den kitzelnden Staub in ihrer Nase zu ignorieren. Dann war der Solopart auch schon vorbei und die anderen Mädchen erhoben sich wieder und stiegen in den Tanz ein. Nun galt es nur noch, etwa eine halbe Minute zu überstehen. Innerlich atmete Kari schon auf, doch dann passierte es. Wie schon beim ersten Tanz musste sie ein Niesen unterdrücken und war dadurch bei einem Sprung kurz abgelenkt. Sie sprang weniger kräftig als sonst ab, schaffte es jedoch, sich nichts anmerken zu lassen und auch der Spagat in der Luft gelang ihr. Bei der Landung jedoch passierte es. Ihr Fuß knickte weg, sie konnte sich nicht mehr abfangen und stolperte, wodurch sie einen wenig eleganten Zwischenschritt einschieben musste. Es kostete sie Mühe, nicht zu fluchen und noch mehr Mühe, ihr Gesicht nicht zu verziehen, obwohl jeder gesehen haben musste, dass etwas schief gegangen war. Der Rest des Tanzes verlief reibungslos und auch die Abschlusspose klappte und Kari schaffte es sogar, zu lächeln. Sie wartete, bis der Applaus verklungen war – sie war sich ganz sicher, Tai laut jubeln zu hören – und ging mit den anderen Mädchen von der Bühne. „Kari, was war los?“, fragte Nana sofort, als sie in der Umkleidekabine ankamen. „Keine Ahnung“, antwortete Kari aufgelöst. „Ich musste niesen und dann war ich abgelenkt und bin umgeknickt.“ „Du... musstest niesen?“ Nana sah sie schräg an, dann lachte sie. „Entschuldige, aber das ist irgendwie... witzig.“ Kari klappte der Mund auf. Sie war sprachlos und konnte Nana nur gekränkt anstarren. Diese knuffte sie nur mit dem Ellbogen in die Seite. „Komm schon, Kari. Das war doch nicht so schlimm. Denkst du etwa, jetzt nehmen die dich nicht mehr?“ „Ähm... ja?“, erwiderte Kari. „Weißt du, was für Leute sich an der Juilliard bewerben? Da reicht ein winziger Fehler und schon bin ich raus.“ Sie ließ sich auf die Bank sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. „So ein Quatsch. Du warst doch super. So ein kleiner Patzer kann jedem passieren“, meinte Nana abwinkend und tätschelte Kari die Schulter. „Verstehst du das denn nicht? Da bewerben sich genug, die viel besser sind als ich“, seufzte Kari resigniert. „Naja, wenn das stimmt, dann ist es doch egal, ob du einen Fehler gemacht hast oder nicht“, antwortete Nana schulterzuckend. „Jetzt mach dir keine Sorgen. Warte doch erst einmal die Entscheidung ab.“ „Was anderes bleibt mir eh nicht übrig“, murrte Kari. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)