Fünf Jahre von Juju ((K)eine Freundschaft für immer) ================================================================================ Kapitel 72: Die richtige Entscheidung ------------------------------------- drei Monate später   Es war bereits November und Kari konnte nicht sagen, was genau sie dazu gebracht hatte, ihre Meinung zu ändern. Wahrscheinlich war es eine Kombination aus allem gewesen. Sie hatte sich in New York auf dem Campus der Juilliard gut eingelebt. Zusammen mit einem Mädchen aus Chicago hatte sie sich ein Zimmer geteilt. Ihr Name war Jane und sie studierte ebenfalls Tanz. In den knapp drei Monaten ihres Zusammenlebens hatten sie sich immerhin schon ein wenig angefreundet, so gut es mit Karis mittelmäßigen Englischkünsten eben ging, und hatten sich gemeinsam New York angesehen. Auch mit ein paar anderen aus ihrem Jahrgang war Kari schon in Kontakt gekommen. Sie hatten sich zu gemeinsamen Mittagessen verabredet, waren ab und an abends zusammen ausgegangen, hatten Museen besucht oder andere kleine Ausflüge gemacht. Kari konnte also behaupten, sie hatte sich schon eine Art kleinen Freundeskreis aufgebaut. Auch mit dem Studium kam sie soweit ganz gut klar. Natürlich war es schwierig, die Anforderungen waren hoch, das Training dauerte manchmal bis nachts und es würden definitiv vier harte Jahre werden. Doch Kari war sich sicher, dass sie es mit viel Kraft und Disziplin hätte meistern können. Sie hätte es geschafft, dessen war sie sich sicher. Das Problem war jedoch, dass sie nicht mehr wusste, ob sie das überhaupt wollte. Für dieses Studium und ihre anschließende eventuelle Karriere als Tänzerin hatte sie alles, was ihr lieb und teuer war, hinter sich gelassen: ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde, ihren Freund. Sie war es gewohnt, in einer Großstadt zu leben, der alltägliche Trubel, die Wolkenkratzer, der Autolärm und die schlechte Luft machten ihr also nicht allzu viel aus. Es waren eher andere Dinge. New York war so ganz anders als Tokio. Sie konnte nicht genau benennen, was es war, doch hier herrschte einfach eine völlig andere Mentalität. Sie vermisste alles an Japan: die Natur, die vielen hübschen Gärten mit ihren Tempeln, das viel weniger fettige Essen, die freundlichen und höflichen Menschen – alles. Mit ihren Eltern hatte sie fast jeden Tag über das Internet telefoniert, doch es klappte leider nicht allzu gut, da der Zeitunterschied zwischen New York und Tokio fünfzehn Stunden betrug. Sie vermisste es so sehr, sie jeden Tag zu sehen, mit ihnen gemeinsam zu essen, ihnen von ihrem Tag zu erzählen oder sich einfach über das schlechte Essen ihrer Mutter zu beschweren. Mimi schickte ihr regelmäßig Fotos von dem kleinen Kaito, der sich mittlerweile an allen möglichen Möbelstücken hochzog und mit Hilfe sicher stehen konnte. Es würde nicht mehr lang dauern und er würde seine ersten Schritte gehen. Mit ihren Freunden chattete sie regelmäßig, doch das war bereits etwas weniger geworden. Zu sehr war einfach jeder in sein eigenes neues Leben vertieft. Doch sie vermisste es, mit Nana über den neuesten Klatsch und Tratsch zu reden und DVD-Abende mit Davis und Ken zu veranstalten. Und ganz besonders vermisste sie natürlich T.K. Er war der Einzige, zu dem sie bisher keinen Kontakt gehabt hatte. Sie hatten beide beschlossen, sich erst einmal eine Weile nicht beim jeweils Anderen zu melden, da sie glaubten, es würde die Trennungssituation noch schwieriger machen, wenn sie nicht zusammen sein konnten, aber ständig in Kontakt standen. Sie wollten sich Zeit lassen, über die Trennung hinwegzukommen. Es verging jedoch kein Tag, an dem Kari nicht an ihn dachte und ihn so sehr vermisste, dass es weh tat. In den ersten Wochen hatte sie sogar jeden Tag geheult. Alles an ihm fehlte ihr unglaublich: jedes einzelne Haar, jeder Quadratzentimeter Haut, sein Lächeln, seine Berührungen, ihre gemeinsamen Gespräche über Gott und die Welt, die gemeinsam verbrachte Zeit, nachts nebeneinander einzuschlafen. Wie oft hatte sie sich im Schlaf eingebildet, er würde neben ihr liegen? Sie fragte sich, ob es ihm wohl genauso ging. Und dann fiel ihr auf, dass alles genauso gelaufen war wie bei Matt und Sora. Auch die beiden hatten sich getrennt, obwohl sie sich liebten. Weil Sora ins Ausland gegangen war. Auch sie hatten beschlossen, erst einmal keinen Kontakt miteinander zu haben. Sora hatte sogar jemand Neues kennen gelernt. Doch anscheinend waren beide nie ganz über die Trennung von dem jeweils Anderen hinweggekommen. Andernfalls hätten sie wohl kaum in der Nacht der Hochzeit miteinander geschlafen. Und wohin hatte sie diese Entscheidung nach der Schule gebracht? Beide konnten im Moment kaum unglücklicher sein. Dann kam der Tag, an dem Kari beschlossen hatte, dass ihr all das ihr neues Leben nicht wert war. Sie wusste nicht einmal, ob es überhaupt noch ihr Wunsch war, Tänzerin zu werden. Es war ein Traum, den sie in einer Zeit gehabt hatte, in der sie von allem genervt war und einfach nur weg wollte. Doch die alte Kari, die, zu der sie seit T.K.s Rückkehr allmählich wieder geworden war, hatte immer den Traum gehabt, etwas mit Kindern zu machen, Grundschullehrerin zu werden, selbst mal Kinder zu haben. Und was brachte es schon, als Tänzerin die Welt zu bereisen und ein Leben zu führen, für das andere über Leichen gehen würden, wenn man doch eigentlich etwas ganz Anderes wollte? Nervös kaute sie auf der Unterlippe herum und sah aus dem Fenster. Gerade hatten sie mit dem Landeanflug auf Tokio begonnen. Ihre schwitzenden Finger rupften angespannt an einem Stück Papier herum, während ihr Lächeln immer breiter wurde, je mehr sie sich dem Boden näherten. Kari hatte niemandem in Japan erzählt, dass sie zurückkehren würde, aus Angst, jemand würde versuchen, sie doch wieder umzustimmen, obwohl sie für sich schon entschieden hatte, dass sie in New York nicht glücklich werden würde. Deshalb konnte sie es kaum erwarten, die Gesichter zu sehen, wenn sie plötzlich vor der Tür stand. Jane und auch den anderen, mit denen sie sich angefreundet hatte, hatte sie natürlich von ihrem Vorhaben erzählt. Fast alle hatten versucht, sie zu überreden, es wenigstens noch ein paar Wochen länger zu versuchen, doch verstanden hatten sie ihre Gefühle am Ende trotzdem. Als Kari eine halbe Stunde später das Flugzeug verließ, streckte sie ihre von dem langen Flug steifen Glieder und atmete tief ein. Sie konnte es kaum glauben; sie war wieder zu Hause. Beschwingt lief sie mit ihrer Handtasche durch das Flughafengebäude zur Gepäckausgabe, wartete ungeduldig auf ihren riesigen Koffer und verließ das Gebäude. Ungeduldig schnappte sie sich das nächstbeste Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse ihrer Eltern. Voller Vorfreude blickte sie aus dem Fenster und bewunderte die Stadt, die sie so sehr vermisst hatte. Schon jetzt wusste sie, dass es definitiv die richtige Entscheidung gewesen war. Die Fahrt konnte ihr jedoch trotzdem nicht schnell genug vorbeigehen. Sie war einfach zu aufgeregt, um sich noch länger zu gedulden. Endlich kam sie vor dem ihr so vertrauten Wohnblock an. Sie bezahlte den Fahrer, sprang aus dem Taxi, schnappte sich ihr Gepäck und ging ins Haus. Oben vor der Wohnungstür atmete sie tief durch, bevor sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Glück gehabt, er passte noch. Ihre Eltern hatten also nicht das Schloss austauschen lassen, seit sie weg war. Langsam betrat sie die Wohnung. Alles wirkte ruhig. „Mama?“, rief sie und lauschte. Keine Antwort. Sie zerrte ihr Gepäck in die Wohnung und ließ es einfach im Flur stehen, bevor sie sich umsah. Alles war noch genauso wie an dem Tag, an dem sie diese Wohnung verlassen hatte. Nichts hatte sich verändert. Mit leuchtenden Augen und sich um sich selbst drehend sah sie sich um. Ihr Zuhause. Sie lief in ihr Zimmer. Auch hier hatte sich nichts verändert. Mit einem Freudenschrei ließ sie sich auf ihr Bett fallen, das sogar noch genau so bezogen war wie am Tag ihrer Abreise, und schlang die Arme um das Kissen. Es war fast so, als wäre sie nie weg gewesen. Einige Minuten lag sie dort in ihrem Bett, atmete den Geruch ihres Zimmers ein und versuchte, zu realisieren, dass sie wieder zu Hause war, bevor sie sich jedoch wieder aus dem Bett schwang. Sie wollte jetzt unbedingt jemanden sehen, denn ihre Mutter war ja offensichtlich nicht zu Hause. Erneut verließ sie die Wohnung und rannte den Weg zu T.K. fast schon. Völlig außer Atem kam sie dort an, ging ins Haus und lief mit klopfendem Herzen die Treppen hinauf. Als sie vor der Tür stand und die Hand zum Klingeln hob, hielt sie jedoch inne. Was war, falls T.K. schon eine Neue hatte? Vielleicht sogar Aya. Was würde dann passieren? Vielleicht war er gerade mit seiner neuen Freundin zu Gange und konnte überhaupt nichts mit ihr und ihrer Rückkehr anfangen, würde sich nur verlegen am Kopf kratzen und eine Entschuldigung murmeln. Ein kalter Schauer lief Kari den Rücken hinunter. Es war das erste Mal, dass sie über diese Möglichkeit nachdachte. Sie könnte es ihm nicht verübeln, doch allein der Gedanke daran brach ihr fast das Herz. Doch schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und drückte auf den Klingelknopf. Angespannte Sekunden des Wartens folgten. Unruhig tippelte Kari mit den Füßen, sah auf ihre Armbanduhr und fuhr sich durch die Haare. Niemand öffnete die Tür. Sie klingelte noch einmal, wieder vergingen einige Sekunden und wieder folgte keine Reaktion. Anscheinend war auch hier keiner zu Hause. Enttäuscht seufzte Kari und drehte sich um. Langsam ging sie die Treppe hinunter und überlegte, was sie nun machen sollte. In T.K.s Uni fahren? Nein, das würde nichts bringen, da würde sie ewig nach ihm suchen müssen. Sich hier hin setzen und warten? Irgendwann musste er ja wieder nach Hause kommen. Aber vielleicht schlief er auch gerade heute auswärts. Schweren Herzens entschloss sie sich, erst einmal wieder nach Hause zu gehen. Dann würde sie eben doch demnächst hoffentlich ihre Mutter wiedersehen. Doch gerade, als sie das Gebäude verließ und nach links abbog, hielt sie jemand auf. „Entschuldigung?“ Sie drehte sich mit fragendem Blick um und dort stand er. Seine Stimme hatte sie sofort erkannt. Etwa fünf Meter standen sie voneinander entfernt und starrten einander an. Er war es wirklich, dort stand T.K. Sein Haar war wesentlich kürzer als noch vor drei Monaten, die Jacke, die er trug, kannte sie noch nicht, doch sie hätte ihn trotzdem unter tausend anderen erkannt. Er sah noch genauso gut aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sein Blick war fassungslos, seine blauen Augen auf sie gerichtet, sein Mund leicht geöffnet, als wollte er etwas sagen, doch es dauerte eine Weile, bis er seine Sprache wiederfand. „Kari?“, fragte er kaum hörbar. „T.K.“, sagte sie mit genauso leiser Stimme. Dann löste sich ihre Starre. Sie rannte auf ihn zu, er ließ seine Sporttasche achtlos fallen und fing sie auf. Sie tauschten einen flüchtigen Kuss, doch dann presste sie das Gesicht in seine Jacke und fing an zu schluchzen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)