Misfits: Herzkönig von Hushpuppy ({boyxboy}) ================================================================================ Kapitel 19: Alpträume und späte Weihnachtsgeschenke --------------------------------------------------- Ich träumte von Dad. Wir standen in unserem Garten in Nordrhein-Westfalen und lachten über etwas, er sagte Dinge, die er mir schon einmal gesagt hatte und klopfte mir auf die Schulter, wie er es immer getan hatte. Als er seine Hand dort liegen ließ, wurde sie eiskalt und stach wie tausend Messerstiche in meine Haut. Ich drehte mich zu ihm und seine Augen waren blass und tot, sein Gesicht grau und ausgemergelt. Ich schrie und wachte auf. Kerzengerade saß ich im Bett und Schweiß bedeckte meinen gesamten Körper. Schwer atmend blieb ich einige Sekunden sitzen, bis ich Geräusche im Flur hörte. Schritte und Schluchzen. Im ersten Moment dachte ich, Mum würde nun auch wegen Dad weinen und kurz ins Badezimmer wollen, dann stellte ich fest, dass die Stimme nicht zu ihr sondern zu Alex gehörte. Aber sie war bei Julian... Eilig schwang ich mich aus dem Bett. Noch mit zittrigen Händen und weichen Beinen öffnete ich meine Zimmertür und trat Alex im Flur entgegen. Im Dunkeln konnte ich nur ihre Silhouette erkennen, sie benutzte ihr Handy als einzige Lichtquelle und in dem Licht sah sie beinahe gespenstisch aus. Trotzdem konnte ich die Tränen auf ihren Wangen erkennen. Ihre herbstbraunen Haare waren ganz zerzaust und ihre Lippen zitterten. „Lukas“, würgte sie hervor. „Komm in mein Zimmer“, sagte ich und war selbst von der Stärke meiner Stimme überrascht. Sie gehorchte und ich schloss die Tür wieder hinter uns, dann schaltete ich das Licht an. Es blendete uns Beide, doch erkannten wir uns nun gegenseitig besser. Sie sah mich, schweißgebadet, die Haare auf der Stirn klebend und mit zitternden Händen und ich sah sie, durch gefroren, mit zerzausten Haaren und Tränen überzogenem Gesicht. Ihre verschmierten Eyeliner und Wimperntusche ließen sie aussehen wie einen Waschbären. „Was ist passiert?“, fragte ich ernst. „Hat er mit dir Schluss gemacht?“ „Nein“, brachte Alex hervor. „Ich habe mit ihm Schluss gemacht. Was ist mit dir passiert? Lukas, hast du etwa Alpträume?“ Das schien sie noch trauriger zu machen und neue Tränen in ihr aufkommen zu lassen. Noch nie hatte ich meine Schwester in einem solchen verstörten Zustand gesehen, doch ich fühlte mich seltsamerweise nicht überfordert. Sie war meine kleine Schwester und sie brauchte mich jetzt, das spürte ich. „Nein, nicht regelmäßig“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Nur heute hatte ich einen, aber das ist nicht so wichtig. Warum hast du mit ihm Schluss gemacht? Du scheinst das nicht gerade gewollt zu haben...“ Anstatt zu antworten, zog sie weinend ihre Jacke aus und meine Augen wurden riesengroß. Ihr Oberteil, eins das sie sich extra gekauft hatte um Julian zu gefallen, war von der linken Schulter bis zu ihrem Bauchnabel aufgerissen. Der Träger ihres Bhs war abgerissen und entblößte einen Teil ihrer linken Brust und die Haut war überzogen von vier deutlich roten Kratzspuren. Einen Augenblick lang konnte ich nichts spüren außer dem Schock, dann keimte in mir Wut auf. Ich ballte die Finger zu Fäusten zusammen, sie zitterten nicht mehr. „Was hat er dir angetan?“, brachte ich durch zusammengebissene Zähnen hervor. „Er wollte Sex, aber ich wollte keinen, schon die ganze Zeit lang“, erklärte Alex jammernd. „Ich hatte doch die ganze Zeit Angst davor. Heute wollten wir es ausprobieren, er hatte schon sein Oberteil aus, aber als er mich ausziehen wollte, hatte ich plötzlich wieder Angst bekommen. Ich sagte ihm, dass ich doch noch nicht will, dass ich vielleicht einfach noch zu jung dafür bin, da wurde er wütend und meinte er hätte lange genug gewartet. Er hat weiter gemacht und ich habe ihn weggestoßen und er hat trotzdem weitergemacht. Er hat mich auf das Bett gedrückt und wollte mit mir schlafen, obwohl ich nicht wollte. Ich konnte ihm entfliehen und als er mich festhalten wollte, hat er mein Oberteil und meinen BH kaputt gemacht und mich verletzt. Ich wollte weglaufen, aber meine Sachen waren noch da. Da meinte er zu mir entweder schlafe ich jetzt mit ihm oder ich gehe sofort heim und wir machen Schluss. Da habe ich ihm dann gesagt, dass auf jeden Fall zwischen uns Schluss ist und ich ihn nie wieder sehen will. Lukas, du hattest die ganze Zeit Recht gehabt! Die ganze Zeit! Und bitte sei jetzt nicht wütend, ich brauch jetzt nicht deine Wut, ich brauch meinen Bruder!“ Sie ging vor und ich nahm sie fest in die Arme, gab ihr einen Kuss auf die Haare, während sie sich in meiner Umarmung schüttelte. Geladen malmte ich mit den Zähnen, doch versuchte so gut wie möglich meine Wut unter Kontrolle zu halten und zu verbergen. Ich wollte diese Nacht für Alex so da sein, wie sie es brauchte, morgen hätte ich noch Zeit mich mit Julian zu unterhalten... In dieser Nacht schlief Alex mit in meinem Bett. Ich hielt sie die ganze Zeit über in den Armen und am Morgen bedankte sie sich und verlangte von mir zu versprechen Julian nicht aufzusuchen und ihn in Ruhe zu lassen. Nach ewigem Betteln gab ich schließlich nach. „Na gut, aber sollte er mir irgendwann über den Weg laufen, kann ich nichts versprechen.“ „Damit kann ich leben“, sagte Alex. Danach standen wir auf und taten vor Mum so als wäre nichts geschehen und sprachen auch die nächsten Tage nicht mehr über den Vorfall. In den ersten Tagen musste ich häufig daran denken. Obwohl ich es mir nicht vorstellen wollte, kamen ständig Bilder in meinem Kopf auf, die mich wütend machten und in meiner Brust schmerzten. Als Silvester nur noch einen Tag entfernt war, wurde es besser. Mittags rief mich Simon an, als ich gerade dabei war die Spülmaschine auszuräumen. „Ich habe dir noch nicht gesagt, was ich dir zu Weihnachten geschenkt habe“, sagte Simon vor jedem Hallo. „Du hast mir auch noch gar nichts geschenkt“, stellte ich fest. „Achtung, mein Geschenk kommt jetzt: Ich habe dir ein Ticket gekauft, Hin- und Zurück, von Berlin nach Nordrhein-Westfalen am 30.12.2010 und von Nordrhein-Westfalen nach Berlin am 02.01.2011. Klingt das nach was?“ In seiner Stimme schwang dieser Ton mit, der bei ihm stets mit seinem breitesten Lächeln kam. Einige Sekunden lang sagte ich gar nichts, dann brachte ich stockend hervor: „Aber heute ist der 30.“ „Dein Zug fährt um fünf“, sagte Simon. „Ich wollte es dir nach Weihnachten sagen, aber irgendwie ging die Zeit viel schneller um als ich es erwartet habe. Ich habe nicht mal richtig mitbekommen, dass schon der 30. ist. Bei euch fängt die Schule doch am 3. wieder an? Ich habe extra im Internet nachgeschaut.“ „Jaja, dann ist der erste Schultag“, nickte ich. „Aber... dann... feiere ich Silvester mit euch?“ „Ja, genau darum ging es, du Blitzmerker!“, lachte Simon. Bisher lauteten meine Silvesterpläne mich in meinem Bett zu verkriechen. Alex wollte mit Freunden feiern. Dass sie dabei Julian über den Weg laufen könnte, bereitete mir ungemeine Sorgen, doch ich behielt sie bei mir. Sicher wollte sie nicht mehr darüber sprechen. Es war einer dieser Vorfälle, die passierten und danach redete nie wieder jemand darüber. So wie mein Nervenzusammenbruch bei Genesis in den Herbstferien. Mir würde es ebenfalls nicht gefallen, wenn Genesis mich darauf ansprechen würde, auch wenn ich glaubte die Sache mit Alex und Julian war noch mal anders... Kurz hatte ich überlegte Noah anzurufen und ihn zu fragen, was er an Silvester machte. Bisher hatte er mich ein paar wenige Male angerufen und im Laufe der Unterhaltungen jedes Mal gemeint, wenn ich WhatsApp hätte, würde wir einen viel besseren Kontakt haben. Vermutlich würde ich mich dann auch viel eher trauen zu fragen, was er an Silvester machte, aber sehr wahrscheinlich war er mit Fynn unterwegs. Ich wollte mir die Abweisung nicht antun, deswegen fragte ich erst gar nicht nach. „Ich würde gerne zu euch kommen“, sagte ich. „Danke, Simon. Mal ehrlich!“ Ich merkte, dass ich über beide Gesichtshälften grinste. Dann würde ich an Silvester also doch kein Opfer sein. Simon erzählte mir, was sie alles geplant hatten und mein Lächeln verschwand plötzlich von meinen Lippen als mir etwas bewusst wurde. „Simon!“, unterbrach ich ihn. „Was ist?“ Ich wurde ein wenig nervös und brachte zögernd hervor: „Es ehm könnte sein, dass ich ehm auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für dich ehm keins gefunden habe, weil mir irgendwie nichts so toll vorkam, dass es zu dir gepasst hätte... ich meine, ich wusste nicht wie ich dir ausdrücken kann, wie wichtig mir unsere Freundschaft ist. Ich habe einfach nichts gefunden“, schloss er kleinlaut. „Okay“, sagte Simon stumpf. „Egal... zum Glück hat Lynn das nicht gehört, das klang gerade so schwul.“ Er lachte. „Jetzt bin ich also wieder dein Ehemann. Aber mir ist es echt egal, ob ihr mir etwas zu Weihnachten kauft oder nicht.“ „Ich werde schon noch was finden“, meinte ich entschlossen. „In zwei Tagen haben wir 2011, du brauchst mir nichts mehr zu kaufen“, versicherte Simon. „Weihnachten ist vorbei, jetzt müssen wir gebührend ins neue Jahr feiern!“ Ich hoffte sehr, dass Simon wirklich auf ein Geschenk verzichten konnte. Trotzdem war es mir nicht egal, ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen und wollte das fehlende Geschenk irgendwie wieder gut machen. Nachdem wir auflegten, suchte ich meine Mutter bei der Waschmaschine auf und erzählte ihr von Simons Geschenk. Sie lächelte matt. „Darf ich fahren?“, fragte ich. „Wenn du möchtest.“ Obwohl sie dies sagte, merkte ich, dass ihr der Gedanke nicht gut gefiel. Vermutlich wieder, weil ich dann alleine in der Gegend herum fahren müsste. „Du kannst dich ja mit Monika und ihren Freunden treffen und ihr feiert zusammen“, schlug ich vor. „Ja, so werden wir es wahrscheinlich machen“, seufzte Mum. „Dann räume die Spülmaschine gerade noch fertig aus, danach solltest du schnell packen. Ich bringe dich zum Bahnhof.“ Mit dem Auto durch Berlin zu fahren, war eine der schlechtesten Ideen, die man nur haben konnte, doch Mum bestand darauf. Simon hatte uns vorher die Zugtickets, die er online gekauft hatte per Mail geschickt, damit wir sie ausdrucken konnten. Einige Zeit lang hatte ich Panik der Zugbegleiter würde sie nicht annehmen, aber als er darüber schaute, nickte er knapp und ließ mich weiter in Ruhe Musik hören. Ich legte meinen Kopf auf der Fensterscheibe ab und hörte dumpf, dass irgendwo im Zug eine Gruppe Leute bereits Party machten. Nach einiger Zeit fielen mir die Augen zu, doch ich wurde geweckt, weil das Handy in meiner Hosentasche vibrierte. Schnell nahm ich die Kopfhörer raus und den Anruf entgegen, ohne vorher zu schauen, wer überhaupt dran war. Ich vermutete Simon und war überrascht als ich Noah hörte. „Hallo“, trällerte er wie jedes Mal mit seiner engelsgleichen Singstimme. „Duuu, was machst du an Silvester?“ „Ich fahre zu Freunden nach Nordrhein-Westfalen“, antwortete ich dumpf. „Zu Genesis, Simon und Lynn?“, fragte Noah sofort. „Jaa.“ „Ohh, warum kommen die denn nicht her? In Berlin ist Silvester doch viel besser und ich hätte sie gerne mal wieder gesehen... naja, eigentlich wollte ich dich fragen, ob du mit uns feiern möchtest, aber das hat sich dann ja wohl erledigt.“ „Was heißt denn mit uns?“ Mir wurde mulmig zumute. Wenn Noah jetzt Gaara sagen würde, würde ich mich vermutlich ohrfeigen. „Kaito, Samantha, Gaara, Fynn, ich und noch einige Freunde von uns. Wir wollten zu einem Kumpel, der eine Dachterrasse hat und uns von dort das Feuerwerk anschauen und danach zu Gaara feiern. Naja, nächstes Jahr kannst du ja mitmachen.“ Jetzt wollte ich nicht mehr nach Nordrhein-Westfalen. Noah sagte noch ich solle den Dreien schöne Grüße ausrichten, dann legten wir auf und ich spürte mein Herz seltsam pochen. Es fühlte sich beinahe aufgeregt an, aber warum? Und warum wollte ich lieber mit Noah und Gaara und den Anderen feiern als mit meinen besten Freunden? Nein, es war gut, dass ich nach Nordrhein-Westfalen fuhr, es war die richtige Entscheidung. Ich redete es mir solange ein bis ich mir fast glaubte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)