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Misfits: Herzkönig

{boyxboy}
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Anfangs werden die Kapitel relativ schnell hintereinander hochgeladen werden. Rechnet so alle zwei bis drei Tage mit einem neuen Kapitel, dafür habe ich ja so viele vorgeschrieben. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Sooo~ Einige Leser haben ja schon angemerkt, dass die Kapitel bitte länger werden könnten. Ich habe einige Kapitel schon vorgeschrieben und dachte mir, ich packe die nächsten Beiden einfach zusammen und veröffentliche sie als EIN Kapitel. Viel Spaß beim Lesen :D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich danke euch für eure regelmäßigen Reviews. :) Ich weiß, dass ich nicht häufig auf eure Kommentare antworten, aber ihr könnt euch sicher sein, dass ich sie alle sehr schätze und gerne lese! :D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Diesmal gibt es ein langes Kapitel :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
http://www.youtube.com/watch?v=uHIsBZNg9nU = Partysong. Vielleicht bin ich seltsam, wenn ich mir das alles so genau vorstelle, aber ich denke ab 1:17 werfen sie dann die Farben :)
Ich weiß, dass die Geschichte momentan mehr so ein "Lalala, wann vögeln Gaara und Lukas endlich und eigentlich ist alles ganz wunderbar" ist, aber ich habe noch mehr geplant. Nur möchte ich nicht alles in der elften Klasse geschehen lassen xD Ich muss mal endlich die 12. Klasse und höher kommen, überlege die ganze Zeit wie ich mal einen Zeitsprung einbauen kann, ohne, dass er total bescheuert wirkt. Nunja, wir sehen mal :')
Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Huhu! Ich hatte in ff.de und myff eine Umfrage gemacht, was für ein Spezialkapitel die Leute gerne lesen würden und dieses Kapitel hat haushoch gewonnen: Angesiedelt in den Osterferien, einen Tag nach Gaaras gescheitertem Versuch Lukas einen zu blasen – Ein Tag im Leben von Kaito oder auch „Wie mein bester, bis zum Erbrechen verliebter, Freund mir die Nerven raubte“
Beim Schreiben entwickelte sich Ganze mehr in 'ein Tag im Leben von Kaito' und am Ende geht es nur noch um ihn und nicht mehr darum, was Gaara nun eigentlich für Lukas empfindet. Ich hoffe, ihr werdet trotzdem Spaß an dem Kapitel haben, obwohl es zum Ende hin nicht sonderlich fröhlich ist :) Komplett anzeigen

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Ein Dach stürzt ein.

Ich wüsste gerne, wann mein Leben sich so schlagartig verändert hatte. Womit ich es verdient hatte. Wann war die Entscheidung gefallen, dass es ausgerechnet ich sein musste, dem plötzlich das Dach über dem Kopf einbrach? Natürlich nur im übertragenen Sinne gemeint. Das Haus stand noch, aber ich konnte es nicht mehr betreten ohne diesen Kloß in meinem Hals. Bis vor einigen Wochen war ich noch ein gläubiger Mensch gewesen oder zumindest dachte ich das. Ich hatte nie viel über Gott und Religion nachgedacht, doch ich mochte den Gedanken, dass es höhere Mächte gab, die über uns wachten. Bis vor wenigen Wochen dann der Tag gekommen war an dem alles einstürzte. Mein Glauben, meine Familie, meine heile Welt. Meine Kindheit war so schmerzlos und perfekt gewesen, vergleichsweise mit der Kindheit meines besten Freundes ein absoluter Traum. Und wie neidisch er immer gewesen war, wenn er meine glücklich verheirateten Eltern sah, während seine geschiedenen Eltern sich nicht zwei Sekunden sehen konnte ohne aufeinander los zu gehen. Aber dies war eine andere Geschichte. Meine Geschichte, so würde ich sagen, startete am 23.04.2010.
 

Dad wurde 50 Jahre alt und dies war ein besonderer Geburtstag. Er mochte es immer Gesellschaft um sich herum zu haben, am liebsten Freunde und Familie mit denen man alte Erinnerungen teilen und Neue erringen konnte. Bereits Wochen vorher hatten er und Mum angefangen dieses Geburtstag zu planen und Alexandra, meine kleine Schwester, und ich wurden gleich mit eingeplant. Alex und ich hatten Probleme gehabt ein Geschenk für meinen Dad zu finden und ich muss ehrlich sein, ich hatte mich auch nicht wirklich darum gekümmert.
 

Zwei Tage vor dem eigentlichen Geburtstag war es mir schlagartig eingefallen. Also nicht, welches Geschenk ich kaufen wollte, sondern, dass ich überhaupt eins kaufen sollte. Verwunderlich, wenn man bedenkt, dass meine Mum bereits damit beschäftigt war das Haus für die kommenden Gäste zu schmücken und ich an diesem Tag beinahe drei Stunden lang Einladungen gebastelt hatte. Ich bastelte nicht gerne und hatte versucht meinen besten Freund Simon dazu zu bewegen mir zu helfen, aber er ließ sich in der Vorbereitungszeit nicht bei uns Zuhause blicken.
 

Er gehörte praktisch zur Familie und meine Mum hatte es an sich ihn zu behandeln wie ihren eigenen Sohn, was jedoch ebenfalls bedeutete, hätte Simon seinen schwarzen Haarschopf durch die Tür geschoben und mit seinem unvergleichbaren Grinsen das Haus betreten, dann hätte Mum ihm vor jedem Hallo eine Aufgabe in die Hände gedrückt. Also blieb ich auf mich alleine gestellt. Und als mir dann das Geschenk eingefallen war, bin ich zu Alex ins Zimmer gegenüber gelaufen. Sie murmelte nur etwas davon, dass dies typisch Ich wäre und erklärte mir dann sie hätte bereits ein Geschenk besorgt. Konzertkarten. Auf die Frage hin wie teuer die denn wären, antwortete Alex dann nicht mehr.
 

Am Ende hatte es mich viel Geld gekostet, aber Dad war mir jeden Cent wert, darum scherte es mich nicht wirklich. Schließlich kam der große Tag und ich sah Familienmitglieder wieder, die weit entfernt wohnten und Bekannte schauten vorbei, von denen ich nicht einmal wusste, woher ich sie kennen sollte. Aber alle kannten mich, sagten mir wie groß ich doch geworden wäre und gegen 22 Uhr fand ich mich in einem äußerst unangenehmen Gespräch mit einer Großtante und einer alten Bekannten wieder, die wohl die Großcousine meines Vaters war.
 

„Gut siehst du aus, Lukas, wie ein junger Mann. Wie alt bist du jetzt?"

„16."

„Wann wirst du denn 17?"

„Juli."

„Er bekommt den Mund kaum auf und er sieht aus wie ein Bubi", teilte die Großtante ihre gern gehörte Meinung mit, dann fuchtelte sie mir die Kapuze meiner dunklen Stoffjacke vom Kopf und beschwerte sich darüber, dass ich damit aussehen würde wie ein Assi. Ich versuchte ihr nicht zu erklären, dass ich mich mit einer Kapuze über den hellbraunen Haaren schlichtweg wohler fühlte. Auch ließ ich es bleiben ihr zu sagen, dass ich nicht gerne Bubi genannt wurde.
 

Milchbubi. Das bekam ich viel zu oft zu hören. Ich trug meine hellbraunen Haare etwas länger, damit mir Strähnen auf die Stirn fielen, wie ein Pony, welches ich jedoch zur Seite trug und meine Gesichtsmerkmale waren schmal, die Lippen voll und rot und meine Augen von einem dunklen Braun. Ich wusste meine Augen hatten Ähnlichkeiten wie mit denen eines Hundewelpen oder irgendeines anderen Tieres, das absolut niedlich war. Solche Sachen hörte ich mir jeden Tag an. Aber heute kann ich euch sagen, dass mir die Bezeichnung 'Bambi' gar nicht so schlecht gefiel. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.
 

„Dann bist du ja dieses Jahr mit der Schule fertig?", fragte die Großcousine.

„Nein, ich mach noch Oberstufe... also Abi."

„Welche Leistungskurse?"

Ich wollte nicht über meine Leistungskurse reden, ich wollte gar nicht reden und ich war froh als Alex meine Hilfe bei den Getränken beanspruchte. Ich konnte mich für den Rest des Abends aus allerlei unangenehmen Gesprächen herauswinden mit der Ausrede ich müsse mich um die Cocktails kümmern und so wurde der Geburtstag auch für Alex und mich noch spaßig.
 

Nachts zwischen zwei und drei Uhr waren Alex und ich dann in der Küche mit Spülen und Abtrocknen beschäftigt. Irgendwann fing sie an mich mit dem nassen Handtuch zu schlagen und lachte dabei ihr keckes, ansteckendes Lachen und ich konnte es nur erwidern, während ich mich in Sicherheit brachte und ebenfalls auf Angriffsposition ging. Wie versuchten uns mit den nassen Lappen zu treffen und schließlich griff ich zu härteren Gefilden und bewaffnete mich mit Eiswürfeln aus dem Eiscrusher. Ich wollte sie Alex hinten unters Shirt stecken und so bekämpften wir uns in der Küche. Es hatte Spaß gemacht.
 

Es war der letzte Spaß vor dem großen Einsturz.

Für lange Zeit das letzte Mal, dass ich aus tiefem Herzen lachte.

Für lange Zeit das letzte Mal, dass ich Alex so freudig sah und das glücklich erhitzte Gesicht meiner Mutter, gerötet von Wein und der Anstrengung, die es mit sich brachte, wenn man mit seinem Ehemann einen schnellen Walzer hinlegte.

Und das allerletzte Mal, dass ich meinen Vater lächeln sah als er in die Küche kam und uns mitteilte, dass auch die letzten Gäste nun nach Hause gehen würden.

Und das allerletzte Mal, dass er Worte an mich richtete.
 

„Wir haben hier noch einiges zu tun, aber erst morgen. Den Abend lassen wir nicht mit Arbeit ausklingen, geht schon mal ins Wohnzimmer zu eurer Mutter. Ich komme sofort nach."

„Alles klar."
 

Wenn ich gewusst hätte, dass ich danach nicht mehr die Möglichkeit hatte ihm etwas zu sagen, hätte ich meine letzten Worte anders gewählt. Vielleicht glaubt ihr, ich hätte ihm gesagt, wie lieb ich ihn hatte und, dass er der beste Vater der Welt war. Das mag Beides auch stimmen, aber ich hätte ihm etwas anderes gesagt. Nur drei Worte: "Ich brauche dich." Denn, wenn ich eines nach diesem Tag gelernt habe, dann, dass ich meinen Vater brauchte. So sehr.
 

Im Wohnzimmer waren wir knappe zwei Minuten, dann erklang ein Geräusch als würde jemand schnappartig die Luft anhalten und ein dumpfer Schlag ertönte. Gefolgt von dem Zerspringen von Gläsern und das Lächeln auf den Lippen meiner Mutter zerglitt wie Wachs. Ich weiß noch, dass mich ein Gefühl überkommen hatte wie nie zuvor in meinem Leben, denn ich wusste etwas war passiert. Mum rannte in die Küche und ich hörte wie sie den Namen von Dad rief und Alex lief hinterher und fragte in hoher, panischer Stimme, was geschehen war. Und ich blieb im Wohnzimmer.
 

Mit diesem Gefühl. Es war komisch. Als hätte mir jemand etwas in den Körper gegossen, eine Flüssigkeit die auf mein Gehirn drückte und mir das Gefühl gab, dass mir heiß und kalt zur gleichen Zeit war. Die in mein Herz sickerte und es schwer gegen meine Rippen stieß, immer und immer wieder. Eine Flüssigkeit, die meine Beine betäubte und mich erstarren ließ. Mit offenem Mund stand ich nur dort und hörte die Stimmen der beiden wichtigsten Frauen in meinem Leben, wie sie nach dem wichtigsten Mann in meinem Leben riefen. Mum verlangte nach dem Telefon. Sie rief den Krankenwagen.
 

Ich hatte nicht geweint als der Arzt uns im Krankenhaus sagte es war ein Herzinfarkt und die Sanitäter konnten nichts mehr machen, dass es zu spät war und wie sehr er unseren Verlust bedauerte. Mum drückte Alex und mich an sich, beide Frauen weinten, aber ich nicht. Ich hatte immer noch dieses Gefühl, es wollte nicht mehr weggehen und es war so unangenehm. Und es blieb auch noch eine Weile, es blieb solange wie ich nicht um meinen Vater weinte. Und ich weinte lange nicht.
 

Fünf Tage nach seinem Todestag war die Beerdigung und Verwandte und Bekannte und Freunde, die nur fünf Tage zuvor in aller Fröhlichkeit und Ausgelassenheit zusammen gekommen waren, waren nun wieder vereint. Aber niemand kam zu mir, um mich zu fragen, was ich mit meiner Zukunft anstellen wollte und niemand fragte mich, wie alt ich denn nun war und, dass ich aussehen würde wie ein Bubi. Fast jeder umarmte mich am Grab, sagte mir, wie Leid es ihm tat. Nahezu jeder hatte Tränen in den Augen, Frauen küssten mich auf die Wange und Alex und ich hielten die gesamte Beerdigung über Händchen. Ich konzentrierte mich darauf ihre zierliche, zitternde Hand zu drücken, während sie neben mir schluchzte und sich schüttelte.
 

Erstaunlich ist es, wie schwer es doch war schlechte Nachrichten zu überbringen. Meine Freunde erfuhren erst am Tag der Beerdigung von dem Tod meines Vaters. Sicher hatten sie meine Abwesenheit in der Schule bemerkt und meine zurückhaltende, stille Art, die ich ohnehin schon hatte, aber nun viel, viel ausgeprägter war. Sicher hatten sie mich gefragt, ob etwas geschehen war, aber ich schaffte ein Lächeln auf meine Lippen und log: "Nichts ist passiert."

Am Abend der Beerdigung als wir wieder Zuhause waren und Mum im Schlafzimmer weinte, klingelte es an der Tür und davor stand Simon. In seinem Gesichtsausdruck las ich Mitleid, Besorgnis, Entsetzen, Trauer und ich wusste sofort, dass er es wusste. Wir mussten nichts sagen. Simon zog mich in eine Umarmung und es tat gut von ihm umarmt zu werden. Ich glaube es war das erste Mal, dass wir uns überhaupt umarmt hatten. Er strich mir über den Rücken und wiederholte ständig dieselben Sätze: „Warum hast du denn nichts gesagt? Gott, es tut mir so Leid, Lukas. Das ist doch beschissen. Warum ausgerechnet ihr? Warum hast du mir nichts gesagt?"
 

Aber weder Simon noch unsere beste Freundin Lynn, die es am nächsten Tag erfuhr und vor mir schrecklich zu Heulen anfing, nachdem sie uns erst einmal nicht glauben wollte, dass mein Dad gestorben war, konnten mich zum Weinen bringen. Es war nicht so, dass ich dagegen ankämpfte. Ich glaube, ich hatte es zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht realisiert. Als ich das erste Mal wegen des Tods meines Vaters weinte, war Mum bereits wieder dabei sich aufzurappeln.
 

Drei Wochen nach der Beerdigung bekamen wir in Physik unsere Arbeit zurück. Eigentlich war ich ein ziemlich guter Schüler in Physik, aber dieses Jahr war ich mit dem Thema nicht gut klar gekommen. Es hatte mich schwer zu schaffen gemacht also hatte Dad sich mit mir hingesetzt und eine Woche lang jeden Tag mit mir für die Arbeit gelernt bis sie dann, zwei Wochen vor seinem Tod, geschrieben wurde. Bestenfalls hatte ich mit eine 2- gerechnet, aber ganz sicher nicht mit einer 1-.
 

Tatsächlich brachte ich bei dieser positiven Überraschung eine ehrliches Lächeln zustande und auch Simon hatte es geschafft sich mit einer glatten 3 durchzumogeln, was ihm den benötigten Schnitt zum Bestehen der zehnten Klasse verschaffte. Wir freuten uns über unsere Noten und ich konnte es kaum erwarten nach Hause zu laufen und Dad davon zu erzählen. Ich war mir an diesem Tag zu hundert Prozent sicher gewesen ihn im Wohnzimmer sitzend über seiner Arbeit zu finden.

„Wie war die Schule, Lukas?", würde er mich fragen. „Hast du die Arbeit endlich wieder bekommen?"

Ich würde ihm die Arbeit zeigen, er würde vor Freude jauchzen, mir auf die Schulter klopfen. "Ich bin stolz auf dich" sagen und mir das Gefühl geben etwas wirklich Großartiges erreicht zu haben, doch als ich nach Hause kam und mit einem vorfreudigen Grinsen ins Wohnzimmer stürzte, verblasste es und mich traf es wie ein Schlag.
 

Ich würde ihm diese Arbeit niemals zeigen, er würde die Note niemals erfahren und überhaupt würde ich niemals je wieder ein Wort mit ihm wechseln können, ihm in die Augen schauen, seine Stimme hören, seine Umarmung spüren, mit ihm Lachen, nie wieder. Und an diesem Tag schloss ich mich in meinem Zimmer ein und weinte das erste Mal wegen seines Todes.
 

Es ist seltsam wie schnell man sich einem neuen Alltag anpassen kann. Nach dem Tod von Dad musste Mum viel mehr arbeiten und mich und Alex öfters alleine lassen, aber wir kamen damit klar. Wir saßen öfter abends zusammen und schauten uns Filme an, trafen uns jedoch weiterhin wie gewohnt mit unseren Freunden, gingen zur Schule und taten so als würde das dunkle Loch in unseren Herzen, welches Dad hinterlassen hatte, nicht existieren. Und es passierte, dass ich ab und an nicht mehr daran denken musste, dass er nicht mehr da war und es für ein paar Minuten einfach vergaß. Nur damit die Erkenntnis mich später wieder mit voller Wucht treffen und zurück in das Loch reißen würde, in welchem ich hilflos und blind umher eilte, in der Hoffnung Dad würde eines Tages wieder in der Küche stehen und ich hatte alles nur geträumt.
 

Ich wachte morgens oft mit diesem Hoffnungsschimmer auf, doch es war absurd, das wusste ich selbst. Gerade als ich angefangen hatte zu akzeptieren, dass es keinesfalls ein Traum war, kam Mum mit neuen, miesen Nachrichten. Es war in der zweiten Woche der Sommerferien. Mir war schon zuvor aufgefallen, dass sie nervös war und manchmal das Gespräch in eine Richtung lenkte, welche nicht zum Thema passte, aber jedes Mal sprach sie ihr Anliegen am Ende doch nicht an. Ich dachte sie wollte fragen, wie es mir ging und wie ich mich fühlte, etwas worüber ich nicht sprechen wollte, aber es war viel schlimmer.
 

Sie sagte Alex und mir erst Bescheid als jede Entscheidung bereits zu spät war und die Lastwagen vor unserer Tür standen, die für den Transport für Möbel zuständig waren. Mum hielt es nicht mehr in dem Haus aus. Ich war einverstanden, dass wir umziehen würden, aber erst als alles gepackt war, beichtete Mum uns, dass wir nicht einfach nur innerhalb der Stadt in ein anderes Haus ziehen würden. Sie wollte weg von hier, so weit weg von all den Orten, die sie mit Dad verband und dorthin, wo sie sich schon zuvor in ihrem Leben wohl gefühlt hatte. Wo ihre beste Freundin lebte und ihre Mutter, dort wo sie aufgewachsen war... in Berlin.
 

Ich kann mich nicht erinnern mich jemals so heftig mit meiner Mutter gestritten zu haben wie an diesem Tag. Es liefen Tränen, es wurden unschuldige Teller und Bilderrahmen mit Familienfotos geschmissen, wir schrien uns die Seele aus dem Leib und schließlich brach sie heulend zusammen. Sie offenbarte mir ihre Gefühle und plötzlich hatte ich Mitleid, sie sagte mir, dass es schwer für sie war diese Entscheidung zu treffen, weil Alex und ich in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen waren und hier unsere Freunde hatten, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie uns in die Entscheidung nicht mit eingebunden hatte. Ich setzte mich neben sie und nahm sie in den Arm. Wir sprachen uns friedlich aus und irgendwie, ich weiß nicht wie, endete es doch in diesem Umzug.
 

Es war beinahe noch schwieriger gewesen Simon und Lynn von dem Umzug nach Berlin zu erzählen. Ihre bestürzten Gesichter werde ich nie vergessen und wie Simon krächzte, dass das nicht gehen würde und, dass er mich hier brauchte. Wir versprachen uns gegenseitig nie den Kontakt abzubrechen und Simon bot mir sofort an in jeden Ferien bei ihm zu wohnen. An diesem Tag weinte ich schon wieder und diesmal vor den Beiden. Mich überkamen die Gefühle so plötzlich, dass ich nur umzog, weil Dad gestorben war und wie unfair das alles doch war. Ich hatte nie etwas Schlimmes gemacht... womit hatte ich das nur verdient...
 

Am Tag des Umzuges habe ich mich dann, wie so oft in den letzten Wochen, richtig schlecht gefühlt und Simon und Lynn wollten mich keinesfalls gehen lassen. Auch die Freundinnen von Alex verabschiedeten sich unter Tränen und die gesamte Autofahrt über schwiegen wir uns nur an. Mum versuchte ab und zu ein Gespräch aufzubauen, doch Alex und ich antworteten ihr auf keine Frage, widersprachen keiner Aussage, sondern straften sie mit Schweigen und aus dem Fenster starren.
 

Auf der Fahrt war ich eingeschlafen, ich wachte erst wieder auf als wir in Berlin ankamen. Ich hatte ein wenig gehofft aufzuwachen und in meinem Bett in Nordrhein-Westfalen zu liegen, aufgeweckt nicht durch den Lärm der Berliner Straßen, sondern durch meinen Vater, ich wurde jedoch wieder enttäuscht. Ich war noch nie zu vor in Berlin gewesen. Die Gegend in der wir wohnten lag in Köpenick und es war eine sehr schöne Gegend. Unsere Wohnung befand sich im Erdgeschoss eines dreistöckigen Hauses, nicht unweit von einem großen See entfernt, in dem Leute schwammen, Familien mit ihren Kindern auf den saftig grünen Wiesen im Schatten der Bäume oder in der prallen Sonne lagen, die wolkenlos vom Himmel strahlte.
 

Vielleicht hätte es mir besser gefallen, wenn ich nicht gegen meinen Willen hier gewesen wäre. Aber ich konnte zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht wissen, dass nach Berlin ziehen, die beste Entscheidung war, die meine Mum hätte treffen können.

Willkommen in der Hölle

Ich hatte schon immer Probleme damit früh aufzustehen und seit dem Tod meines Vaters schlief ich nachts nicht mehr gut. Normalerweise brauchte ich viel Schlaf, doch besonders noch seit dem Umzug, schlief ich kaum noch. So kam es auch, dass ich am ersten Schultag nur höchstens eine Stunde insgesamt geschlafen hatte und mich kaum aus dem Bett quälen wollte. In meinem Zimmer standen noch immer unausgepackte Umzugskartons, in einem von ihnen bewahrte ich Erinnerung an meine alte Heimat und meine Freunde auf. Bisher hatte ich mich nicht getraut diesen Karton zu entpacken. Aus dem Kleiderschrank griff ich mir wahllos Klamotten, verschwand dann im Badezimmer, um mich zu duschen und umzuziehen.
 

Im alten Haus hatten wir zwei Badezimmer gehabt, nun hatten wir nur noch eines und Alex benutzte es mit mir gleichzeitig. Während sie sich leichtes Make-Up auftrug, was ich unnötig fand, da sie gerade mal 14 Jahre alt war, trocknete ich mich ab und zog die Klamotten über. Ein einfaches Shirt und eine einfache Jeans. Es war immer noch Sommer und bereits jetzt bahnten sich die Sonnenstrahlen ihren Weg durch die sauberen Fenster und erwärmten jeden Zentimeter der Wohnung.
 

Ich ging in die Küche, in welcher Mum damit beschäftigt war Frühstück zu machen und begrüßte sie mit einem gemurmelten „Guten Morgen.“ Sie hielt ihr Gesicht gesenkt und ich musste feststellen, dass sie schon wieder geweint hatte. Mit einem gezwungenen Lächeln schob sie mir einen Teller mit Toast und Rührei hin.

„Mittag isst du ja dann immer in der Kantine“, sagte sie und versuchte ihre rot geschwollenen Augen zu verbergen. „Dein erster Schultag wird bestimmt nicht so schlimm.“

Ich hätte gerne erwidert, dass es schon alleine deswegen schlimm wird, weil ich die Oberstufe ohne Simon und Lynn bewältigen werden muss, doch angesichts der Gefühlslage meiner Mutter presste ich bloß die Lippen aufeinander und widmete mich meinem Rührei.
 

Berlin hatte eine gute Sache schon einmal an sich: Alle fünf Minuten fuhr eine Straßen- oder U-Bahn überall dort hin, wo man hin musste. Dementsprechend brauchten Alex und ich nur bei der nächstliegenden Station einzusteigen und nach nicht weniger als zehn Minuten stiegen wir in der Nähe unserer beider Schulen aus. Im Schulzentrum von Köpenick gab es jede Schulart, die das Herz begehrte und Alex und ich waren nur fünf Minuten Fußweg voneinander entfernt. Sie verließ mich, um zu ihrer Realschule zu gehen und ich betrat das Gelände der größten Schule, die es in Köpenick gab.
 

Das Gymnasium hätte genauso gut eine Highschool aus den U.S.A. sein können, weshalb ich alleine schon bei ihrem Anblick Bauchkrämpfe bekam. Bereits am ersten Tag, den ich in dieser Schule verbringen musste, hasste ich sie. Und dafür hatte ich auch jeden Grund. Das Gebäude war groß und bestand aus zwei Gebäudeflügeln, die jeweils eine eigene Schule ergaben. Beides waren Gymnasien, boten dieselben Fächer an, nahmen gemeinsam an den selben Schulausflügen und -festen teil, jedoch hatten sie unterschiedliche Lehrer und unterschiedliche Schüler. In einer Mail, die ich im Sommer erhalten hatte, wurde mir bekannt gegeben, dass ich zu Gebäudeflügel 1 gehörte.
 

Ich machte alles, was in der Mail gestanden hatte. Ich meldete mich bei der Oberstufenleiterin, die meinen Namen abhakte und mir einen Schlüssel für meinen Spind gab. Sämtliche Spinde standen in den Fluren an den Wänden, zwischendurch unterbrochen, um Platz für eine Klassenzimmertür zu lassen. Die Flure waren voll von Schülern, Fünftklässler, die durch die Gänge rannten und Oberstufenschüler, die sie durch die Gegend schubsten, wenn sie vorbei kamen. Ich öffnete meinen Spind, nur um zu schauen, ob der vorherige Besitzer darin etwas hinterlassen hatte, doch dies war zum Glück nicht der Fall.
 

Nachdem ich den Spind wieder verschlossen und den Schlüssel in meiner Hosentasche verstaut hatte, drehte ich mich zur Seite um und da passierte es. Ich sah nur noch eine braune Flüssigkeit und ein Stück von einem weißen Behälter und schloss durch Reflex meine Augen. Im nächsten Moment spürte ich wie mir die Cola ins Gesicht spritzte, die Flüssigkeit meinen Hals runter lief und mein Shirt durchnässte. Gefolgt von dem schallenden Gelächter mehrerer Jungen und Mädchen.
 

Ich spuckte ein wenig Cola aus, die mir in den Mund gekommen war und öffnete meine Augen nur um noch das schelmische Grinsen eines Jungen in meinem Alter zu sehen. Ein gutes Stück größer wie ich mit kurzen, braunen Haaren und einem langgezogenen Gesicht, die Augen waren dunkel und hämisch und seine Körperstatur breit und muskulös. Der typische Idiot, den alle cool fanden und über dessen Witze alle lachten, auch wenn sie nicht lustig waren. Seine Gefolgschaft, bestehend aus zwei weiteren Jungen und zwei Mädchen, folgten dem Beispiel seines spöttischen Grinsens als sie an mir vorbei gingen. Und eines der beiden Mädchen, die Hübsche mit den blonden, langen Haaren, die so aussah als würde sie jeden Kerl vögeln, der ihr in den Weg kam, kicherte noch ein: „So ein Opfer.“
 

Ab diesem Zeitpunkt begann ich mir Regeln für das Überleben der Oberstufe zu machen. Regel Nummer 1: Bring immer ein Handtuch und ein Ersatzshirt mit in die Schule. Auf der Jungentoilette trocknete ich mich ab und versuchte mein Shirt so gut wie möglich zu säubern, doch es blieb ein feuchter Rand um meinen Kragen. Es klingelte zwei Mal und als ich die Toilette endlich mit der miesesten Laune seit langem verließ, waren bereits alle Schüler in ihren Klassenräumen.
 

Die neuen Oberstufenschüler mussten sich zur Begrüßung in der Turnhalle versammeln, von der ich keine Ahnung hatte, wo sie sich befand. Ich irrte beinahe zehn Minuten durch die Schule bis ich an einer doppelflügligen Tür vorbei kam, die mit Glasfenstern ausgestattet war. Dumpf drang die Stimme eines Mannes in den Flur. Ich lugte durch die Fenster hinein und erkannte die Turnhalle mit all den 150 Elftklässlern, die auf der Tribüne versammelt waren und einigen Lehrern, die davor standen und wichtige Sachen erklärten, die ich mir anhören sollte.
 

Die Betonung lag auf 'sollte'. Meine Hand befand sich bereits auf der Türklinke, doch alleine bei dem Gedanken daran alleine eine viertel Stunde zu spät in die Turnhalle zu kommen mit einem nassen Kragen, der aussah als hätte ich übelst geschwitzt, ließ mir die Schamesröte ins Gesicht steigen. Ich zögerte eine Weile hin und her und entschied mich schließlich draußen stehen zu bleiben. Es war einfach zu peinlich. Am liebsten würde ich wieder Heim fahren. Und ich meinte wirklich heim, nicht in die Wohnung in Berlin, sondern zu Simon und Lynn.
 

Unruhig und unsicher schlich ich auf dem Flur umher bis die Begrüßung nach fast einer Stunde zu Ende war und sich die Türen öffnete. Die Schüler, die heraus strömten, beachteten mich nicht weiter, alle hatten Blätter in der Hand – Ihre Stundenpläne und ihre Entschuldigungspläne für die Stunden, in denen sie fehlen würden – unterhielten sich, lachten miteinander und gingen ihrer Wege. Mir lief es eiskalt den Rücken runter als ich die Gruppe rund um den Idioten sah, der mir die Cola übergeschüttet hatte. Ich konnte nur hoffen, dass sie in Gebäudeflügel 2 waren... aber wann hatte ich das letzte Mal Glück?
 

Am Ende kamen noch vier Lehrer heraus und eine davon war die Oberstufenleiterin Frau Beyl-Schüller, eine kleine Frau, die bereits auf die 60 zuging mit langen, grauen Haaren, die sie zu einem geflochtenen Zopf trug und einer runden Brille auf der Stupsnase. Ihre grauen Augen sahen streng, aber freundlich aus, weshalb ich keine Sekunde zögerte sie anzusprechen.
 

„Frau Beyl-Schüller.“ Ich ging einen Schritt auf sie zu und sie blieb gemeinsam mit den anderen drei Lehrern stehen.

„Lukas, wir haben dich bei der Begrüßung vermisst“, sagte sie in ihrer ruhigen Stimme. „Wo warst du?“ Ich stutzte einen Moment, da sie bereits meinen Namen kannte, dann fiel mir ein, dass sie sicher die Schüler ausgerufen hatten, damit sie ihre Blätter abholen konnten und ich war der Einzige, der nicht nach vorne gekommen war.
 

„Ich... ähm... hatte einen kleinen Unfall“, sagte ich und zupfte dabei an meinem Kragen. „Tut mir leid... kann ich vielleicht meinen Stundenplan haben?“

„Aber natürlich.“ Einer der Lehrer drückte mir die Blätter in die Hand und Frau Beyl-Schüller fügte hinzu: „Zur dritten Stunde beginnt der Unterricht, solange hast du noch Zeit dich hier ein wenig einzufinden. Heute geht der Unterricht nur bis zur sechsten Stunde, ab morgen dann wie es im Stundenplan steht. Für die Oberstufenschüler gibt es pro Stufe einen eigenen Aufenthaltsraum, der sich hier gleich um die Ecke befindet. Es gibt auch eine Raucherecke draußen auf dem Schulhof. Mittagessen beginnt jeden Tag um eins, heute fällt es für jeden aus, da ihr nicht solange in der Schule bleiben werdet. Und wie die Entschuldigungsbögen gehandelt werden, steht auf der Rückseite der Bögen.“

„Danke“, sagte ich leise und blickte sie kurz an.
 

Mir fiel auf, dass ich die Leute viel weniger anschaute seit dem mein Vater gestorben war. Mal abgesehen davon, dass ich weniger lachte und weniger sprach, schaute ich auch viel mehr auf den Boden. Es wäre alles so viel einfacher, wenn er noch leben würde... Ich verabschiedete mich von Frau Beyl-Schüller und den anderen drei Lehrern und suchte mir einen Platz zum Sitzen. Ich wollte auf keinen Fall zu all den Schülern in den Aufenthaltsraum, deswegen ging ich hinaus auf den Schulhof und suchte mir eine Bank auf welcher ich mich nieder lassen konnte.
 

Ich studierte meinen Stundenplan, doch ständig schweiften meine Gedanken ab zu Dad. Momentan vermisste ich ihn schrecklich, woran meine gegenwärtige Situation nicht wirklich unschuldig war. Wenn er noch leben würde, wäre alles so wie es sein sollte. Ich würde noch in Nordrhein-Westfalen leben und müsste diesen Mist hier nicht ohne Simon und Lynn durchhalten. Innerlich war ich noch immer wütend auf Mum, doch ich versuchte mich in ihre Situation zu versetzen, damit ich damit aufhörte sie für ihre Entscheidung zu hassen. Seit wir in Berlin wohnten, war ihre beste Freundin beinahe täglich bei uns. Meine Mum schaffte das Ableben von Dad nicht alleine... wie konnte sie dann davon ausgehen, dass ich es alleine schaffte? Und was war mit Alex? Wir sprachen nicht über Dad, ich hatte keine Ahnung, wie ihr es mit der ganzen Sache ging...
 

Als die dritte Stunde endlich begann, durfte ich mich zu einer Stunde Mathematik einfinden. Der Klassenraum war wie alle Klassenräume der Schule relativ groß und wies viel Platz auf und ich setzte mich sofort in die letzte Reihe, wo ich meinen Ranzen, der ein einfacher Rucksack war, auf den Tisch ablegte. Die anderen Schüler sprachen in normaler Lautstärke miteinander und plötzlich hörte ich hinter mir eine Mädchenstimme kichern: „Warum schwitzt der so stark?“
 

Das Kichern kannte ich. Mein Magen drehte sich gefühlte hundert Mal um als ich mich umwandte und das blonde Mädchen sah, gemeinsam mit ihrer Freundin und einem der drei Jungen, sie ließen sich ganz in meiner Nähe nieder und lästerten so auffällig über mich, dass es schon wieder lächerlich war. Ich spürte wie mir das Blut ins Gesicht schoss und verbarg mich hinter meinem Rucksack. Bereits jetzt quälte mich die Stunde und da war der Lehrer noch nicht einmal anwesend.
 

Mein Mathelehrer stellte sich als ziemlich cool heraus, er war aufgedreht, hibbelig und sprach wie ein Wasserfall, machte gute Witze und ging am Anfang der Stunde die Liste aller Namen durch ohne von jedem abzuverlangen sich der Klasse vorzustellen. Dafür war ich mehr als nur dankbar, denn ich hasste dieses Vorstellung etwas über sich sagen seit der ersten Klasse. Jetzt wusste ich jedoch auch, was ich nicht wissen wollte: Die Blonde hieß Lena. Ihre beste Freundin – sie schien es zumindest zu sein – mit den braunen, langen Haaren, die sie zu einem Dutt zusammengebunden hatte und dem schmalen, blassen Gesicht hieß Katharina. Und der Kerl, der bei ihnen saß, mit den schwarzen Haaren, dem Pickelgesicht und der Wollmütze über dem Kopf hieß Marvin. Nur drei der fünf Personen, die mir in nächster Zeit das Leben zur Hölle machen würden.
 

Während des Unterrichts versuchte Katharina ein Gespräch mit mir aufzubauen. Man musste jedoch nicht sonderlich intelligent sein, um zu merken, dass dieses Gespräch daraus bestanden hätte, dass sie mich nach allen Regeln der Kunst nieder machen würde. Also beschäftigte sie sich damit mich mit Papierkügelchen abzuwerfen und ununterbrochen zu sagen: „Ey, hey, Lukas. Lukas. Hallo? Ich rede mit dir. Bist du taub? Oder dumm? Oder beides?“

Ihre Freunde lachten darüber, ein paar andere Schüler auch, andere saßen nur schweigend da und ignorierten es, der Lehrer schien nichts zu bemerken. Ich dachte schon ich müsste diesen Mist die ganze Stunde aushalten bis der Lehrer schließlich in einem strengen und lauten Tonfall sagte: „Du hältst dahinten endlich mal die Klappe, Lena. Der Unterricht hat bereits begonnen und alles, was wir ab dem heutigen Tag machen ist später wichtig für euer Abitur. Verstanden?“

„Ja“, sagte Lena, etwas überrumpelt von der Schärfe in der Stimme des Lehrers. Den Rest der Stunde ließ sie mich in Ruhe.
 

Als nächstes musste ich eine Stunde Physik überleben und – du wirst es vermutlich schon geahnt haben, lieber Leser – ich hatte wieder welche aus der Idiotengruppe an der Backe. Marvin und die beiden anderen Jungen, Hendrik, dessen Gesicht aussah als wäre er vor einen fahrenden Bus gesprungen und Michael, der Typ, der mir die Cola über geschüttet hat. Und wieder hatte ich die Ehre in ihrer Nähe zu sitzen, um genau zu sein saß ich direkt hinter ihnen. Immer noch besser als direkt vor ihnen, aber auch nicht gut.
 

Diesmal bekam ich einen Lehrer, der scheinbar nichts schnallte. Er war aschfahl, dünn, mit einer Brille auf der Nase und grauen Haaren, die in alle Himmelsrichtungen ab standen, er sprach so langsam, dass ich fürchtete jeden Augenblick einzuschlafen und schnell wurde mein ehemaligen Lieblingsfach zu einem neuen Hassfach.
 

Michael, Hendrik und Marvin drehten sich ständig zu mir um, um mir zu sagen, dass ich aussah wie ein Fünf-Jährige, dass ich wahrscheinlich noch nie mit einem Mädchen geschlafen hatte, sie fragten mich, ob ich den Schwanz meines Vaters schon einmal gelutscht hätte. Mal abgesehen von der Hitze in meinem Körper und der Tatsache, dass ich spürte wie mein Selbstwertgefühl mit jedem Wort sank, war ich wütend. Doch ich sagte nichts. Mir fiel kein einziges Wort ein, das ich ihnen erwidern könnte, ich wollte mich nicht melden und sie verpetzen, ich stierte bloß den Lehrer an und hörte nicht einmal, was dieser sagte.
 

Und so ging es mir in jedem Fach in dem ich mit ihnen zusammen war und dies war ausnahmslos jedes Fach bis auf Erdkunde. Ja, ich hatte jeden verdammten Grund die Oberstufe jetzt schon zu hassen.

Schweigen ist nicht immer Gold

Regel Nummer 2: Geh auf keinen Fall in der Kantine zwischen den Tischen durch, sondern immer den weiten Weg außen herum. Gehst du zwischen den Tischen durch, wird dir garantiert das Tablett aus der Hand geschlagen.
 

Regel Nummer 3: Setz dich lieber vor die Tür der Kantine als in die Nähe der Idiotengruppe, sie werden dir garantiert Schokoladenpudding in den Nacken klatschen.
 

Regel Nummer 4: Versuch nicht Kontakte zu knüpfen in dem du dich in der Kantine zu ein paar Leuten aus einem deiner Kurse setzt, sie werden dich doof anschauen, dich ignorieren oder sich wegsetzen.
 

Regel Nummer 5: Setz dich nicht alleine an einen Tisch, ansonsten zischt dir jeder ein „Scheiß Opfer“ entgegen, der vorbei kommt.
 

Regel Nummer 6: Versuch dich nicht zu wehren, wenn sie dich wieder mobben. Ein Wort über deine Lippen und sie verwenden es, um dich die nächsten zwei Wochen damit aufzuziehen.
 

Regel Nummer 7: Am besten packst du einfach deine Sachen und ziehst in ein anderes Land!
 

Drei Tage vor den Herbstferien hing ich mal wieder morgens über der Kloschüssel. In den letzten sechs Wochen, die ich nun schon in der Oberstufe verbrachte, hatte ich knapp zwei Wochen lang gefehlt, meistens, weil ich mich morgens übergeben musste. Bei dem Gedanken daran in die Schule zu gehen, schlief ich mit Bauchkrämpfen ein und wachte morgens mit umgedrehten Magen auf. Ich konnte kaum aufstehen, mir war schlecht, mein Kopf pochte und das jeden Morgen.
 

Wenn ich schlief wurde ich entweder von fiesen Träumen über die Schule heimgesucht oder ich träumte, dass ich noch in Nordrhein-Westfalen lebte, mit Simon und Lynn in eine Stufe ging und morgens gemeinsam mit Dad frühstückte, nur um aufzuwachen und festzustellen, dass dies nicht der Fall war. Die Umzugskartons waren immer noch nicht alle ausgepackt und Mum versuchte mich vergebens zu einem Arzt zu schleppen, doch ich wollte nicht. Er würde mir sagen, dass es mir gesundheitlich eigentlich gut ging und meine körperlichen Beschwerden auf meiner Psyche beruhten, und dann wollte Mum vermutlich, dass ich zu einem Psychologen gehe.
 

Das hatte sie schon einmal vorgeschlagen, um den Tod von Dad besser zu verarbeiten, aber ich wollte nicht zu einem Psychologen. Auf gar keinen Fall. Lichtblicke brachte mir Zeit, die ich mit Alex verbrachte und das Skypen mit Simon und Lynn, das alle zwei Tage anstand. Zum Glück hatte es keiner der drei so schlimm in der Schule wie ich. Meine beiden beste Freunde erzählten von coolen Leuten, die sie kennen gelernt hatten und mit denen ich mich, ihrer Meinung nach, auch verstehen würde und Alex schien bereits eine neue beste Freundin gefunden zu haben. Währenddessen schien Monika, die beste Freundin meiner Mum, so gut wie eingezogen zu sein.
 

Allen ging es mittlerweile besser, nur mir nicht. Simon und Lynn wussten nicht, dass ich in der Schule gemobbt wurde. Ich hatte ihnen erzählt es gäbe ein paar coole Leute, mit denen ich mich ganz gut verstehen würde, was schlichtweg gelogen war. Wenn Mum mitbekam, dass ich mal wieder kotzte, dachte sie es läge an Dad und dem Umzug. Alex schien zu ahnen, dass es etwas mit meiner Stufe zu tun hatte, doch jedes Mal, wenn sie nachfragte, log ich sie an.
 

Ich wusste nicht, warum ich log. Ich tat es einfach.

Beim näheren Nachdenken war es mir peinlich das Mobbingopfer der Stufe zu sein. Es war einfach peinlich. Und ich wollte mich niemandem entblößen, von meinen Gefühlen erzählen oder neue Probleme aufkommen lassen. Stattdessen redete ich mir ein, dass es nur noch drei Tage waren bis ich im Zug nach Nordrhein-Westfalen saß, um Simon und Lynn besuchen zu gehen. Zwei Wochen lang wieder in der Heimat, bei Simon als Übernachtungsgast. In nur noch drei Tagen...
 

Nachdem ich den Inhalt meines Magens in die Toilette erbrochen hatte, spülte ich mir den Mund aus und wusch mein Gesicht, welches schrecklich blass aussah. Einerseits würde ich liebend gerne Zuhause bleiben und den ganzen Tag lang im Bett liegen, andererseits schrieben wir heute einen Test in Physik, den ich mitschreiben sollte. Ich wollte nicht ständig in der Schule fehlen, ich wollte Abitur machen, ich wollte nicht nachgeben und diese Idioten gewinnen lassen, aber ich würde es auch keine drei Jahre mit ihnen aushalten. Und ich würde nicht mehr lange in diesem Konflikt mit mir leben können, das wusste ich.
 

„Lukas, lass mich ins Bad!“ Alex rüttelte an der verschlossenen Tür bis ich diese öffnete. Als sie mich sah, setzte sie einen skeptischen Blick auf. Ihre braunen Augen, die genauso aussahen wie meine, schienen mich durchbohren zu wollen.

„Dir ist schon wieder schlecht“, stellte sie fest. „Angst in die Schule zu gehen?“

„Nein!“, antwortete ich empört. „Ich schlafe nur so schlecht seit Dad... seit ein paar Monaten.“
 

Bei dem kurzen Erwähnen von Dad konnte ich Schmerz in ihren Augen aufblitzten sehen und sie fuhr sich mit den zierlichen Händen durch ihre zerzausten, herbstbraunen Haare, während sie den Blick zu Boden sinken ließ.

„Ich weiß, dass es immer noch schwer ist“, sagte sie leise. Ich spürte wie mein Herz heftiger schlug. Wir hatten bisher noch nicht über Dad gesprochen, nicht seit dem er gestorben war. Jedes ihrer Worte war gleichzeitig gut und schlecht für mein Herz, es war eine Art Schmerz, die es durchbohrte, die ich noch nie zuvor gespürt hatte. Als wäre es ein guter Schmerz. Doch ich mochte dieses Gefühl nicht.
 

„Du hast Dad mehr geliebt, ihr standet euch näher. Es waren immer Mum und ich und dann Dad und du... klar sind wir eine Familie, aber du weißt, was ich meine. Man hat immer ein Elternteil, das man mehr liebt wie das andere...“

„Schon okay“, sagte ich, damit sie aufhörte zu reden. „Ich komm schon klar.“

„Das sehe ich“, sagte sie sarkastisch und hielt mich davon ab an ihr vorbei das Bad zu verlassen. Missmutig blieb ich also vor ihr stehen und blickte sie bittend an.
 

„Ich will nur, dass du weißt, wenn du Probleme hast, sind jetzt Mum und ich für dich da. Normalerweise bist du immer zu Dad gegangen, aber... du kannst auch zu uns kommen.“

„Danke“, sagte ich gedrückt. „Aber wie gesagt, ich komme klar.“
 

Für einige Sekunden starrten wir uns an, dann machte Alex einen Schritt zur Seite und ich verließ schnell das Badezimmer. Ich hatte schon wieder gelogen. Ich log meine kleine Schwester an, dabei hatte ich vor ihr nie Geheimnisse gehabt. Ich liebte meine kleine Schwester, doch ihre ständigen Bitten mich ihr zu öffnen und meine ständige Lügerei verschlechterte unser Verhältnis. Warum musste auch alles in letzter Zeit so schwer sein...
 

Dasselbe fragte ich mich als ich das Höllenhaus namens Schule betreten hatte und einen Blick auf den Vertretungsplan warf. Ich hatte heute Physik frei. Das Fach wegen dem ich überhaupt erst zur Schule gekommen war und dieser lahme Lehrer mit seiner bescheuerten Frisur hielt es nicht für nötig ebenfalls zu kommen. Missbilligend verzog ich den Mund, meine Laune sank noch tiefer sofern dies überhaupt möglich war.
 

Ich trottete mit dem Strom der Masse zu den Kunsträumen und ließ mich in einem von ihnen für eine Stunde Kunst mit Lena und Katharina nieder. Kunst war noch eines der Fächer, welches nicht so schlimm war, denn wir mussten jeder eine Leinwand bemalen und alle liefen ständig herum und unterhielten sich miteinander in normaler Lautstärke. Katharina und Lena war nicht langweilig, beide saßen am anderen Ende des Klassenraumes und so hatte ich erst mal meine Ruhe.
 

Unsere Aufgabe bestand darin eine Landschaft zu malen. Die meisten malten etwas mit Wäldern und Flüssen, aber ich wollte meiner Fantasie freien Lauf lassen und erschuf auf meiner Leinwand eine Landschaft, die es niemals im richtigen Leben geben wird. Ich versank vollkommen in meinem Bild und mit der Zeit ging es mir sogar besser. Am Ende der Stunde war mir kaum noch schlecht und meine Laune hatte sich ein wenig gebessert.
 

Natürlich änderte sich dies im Laufe des Tages rapide. Eine zusätzliche Freistunde mag vielleicht super klingen, aber wenn man keine Freunde hatte, hieß das nichts anderes wie eine Stunde alleine irgendwo rum zu sitzen und zu versuchen die Zeit totzuschlagen. Für mich hieß es Lernen und Hausaufgaben machen, aber dies war schwierig, wenn man sich kaum konzentrieren konnte. Und ich konnte mich seit Wochen kaum konzentrieren.
 

Abgesehen davon bekam ich bereits jetzt Panikzustände, wenn ich an den Winter dachte. Momentan konnte ich mich noch draußen hinsetzen. Ich trug eine dünne Stoffjacke, deren Kapuze ich mir über die hellbraunen Haare zog, welche mittlerweile vorne so lang waren, dass mir einige Strähnen über die Augen fielen, und ließ mich auf der Mauer nieder, die den Schulhof abgrenzte. Hier hatte ich meine Ruhe, aber im Winter würde es zu kalt werden und ich müsste rein. In den Aufenthaltsraum. Zu der Idiotengruppe. Wie ich mich freute.
 

Mit der Zeit schweiften meine Gedanken mal wieder von der Hausaufgabe weg und ich ließ den Blick über den Schulhof schweifen. Ich konnte sagen, dass es ein schönes Gelände war mit den goldbraunen Blättern, die von einer kühlen Brise über den Asphalt und das Gras gefegt wurde und den Sonnenstrahlen, die um einiges wärmer waren und sich zwischen schneeweißen Wolken hindurch bahnten. Und trotzdem hasste ich den Anblick. Einfach alles an dieser Schule verband ich mit Hass. Da waren nur eine Hand voll Lehrer, die ich einigermaßen mochte. Aber das war es auch schon.
 

Nach der sechsten Stunde, Geschichte, einer meiner beiden Leistungskurse, musste ich zwei Stunden plus Mittagspause warten bis ich zu Sport musste. Heute Morgen hatte ich jedoch keine Sportsachen mitgebracht. Insgesamt hatte ich mir in den letzten sechs Wochen nur zwei Doppelstunden Sport angetan und würde heute wieder schwänzen. Solange zu warten brachte mir Bauchkrämpfe, in die Kantine zu gehen brachte mir Bauchkrämpfe und der Sportunterricht an sich, in welchem ich drei der Idiotengruppe am Hals hatte, darunter auch Michael, der Schlimmste von ihnen, brachte mir nur noch mehr Krämpfe. Es bot sich schlichtweg an zu schwänzen. Es schrie gerade zu danach. Also fuhr ich mal wieder frühzeitig mit der Straßenbahn nach Hause.
 

Am nächsten Tag hatte ich wieder Physik frei. Diesmal war es jedoch gar nicht schlimm, denn donnerstags hatte ich Physik in der ersten Stunde, also konnte ich länger schlafen. Dann jedoch quälte ich mich durch drei der schlimmsten Schulstunden, die ich in den letzten sechs Wochen erlebt hatte. Michael und seine Idioten gaben wirklich alles, was sie hatten, um es mir vor den Herbstferien noch einmal so richtig zu vermiesen. Angefangen bei beleidigenden und demütigenden Sprüchen bis hin zum Beinstellen im Flur.
 

Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich Michaels in letzter Sekunde ausgestrecktes Bein nicht bemerkt hatte. Ich spürte nur noch wie ich dagegen stieß und das Gleichgewicht verlor. Ich hätte es noch geschafft stehen zu bleiben, doch zwei Hände stießen mir unsanft gegen den Rücken und schon lag ich bäuchlings auf dem schmutzigen Flurboden. Allgemeines Gelächter ertönte um mich herum und ich spürte wie ich knallrot anlief.
 

„Sorry, Lukas“, lachte Michael so laut, dass es jeder hören konnte. „Warte, ich helf dir auf.“

Ehe ich es aufhalten konnte, hatte mich Michael am Rucksack gepackt und zog mit voller Kraft nach oben. Ich hob nur ein paar Zentimeter vom Boden ab, dann gab es ein lautes Ratschen und das Gewicht meines Rucksackes verschwand von meinem Rücken.

„Huch“, machte Michael unschuldig und wieder wurde es mit Lachen kommentiert. Entweder lachten die Umstehenden oder sie schauten tatenlos zu.
 

Immer noch knallrot im Gesicht, mit zusammengepressten Lippen und pochendem Herz stand ich auf und riss Michael den kaputten Rucksack aus den Händen. Die Träger waren abgerissen und baumelten Rucksacklos über meinen Schultern, was scheinbar ziemlich albern aussah. So albern, dass Lena es für nötig hielt ihr Handy auszupacken und ein Foto davon zu machen.
 

„Ich will nicht, dass du mich fotografierst!“, rief ich sauer und wurde von der Gruppe einen Augenblick überrascht angeschaut.

„So hört sich deine Stimme also an“, meinte Marvin dann, der an seiner Stoffmütze zupfte, die er immer über dem Kopf trug. Die Anderen lachten.

„Lena, lösch das Foto“, verlangte ich ohne auf Marvin zu achten.

„Hmm...“ Lena tat als würde sie überlegen und antwortete dann: „Nein.“

„Ich will aber, dass du das Foto löschst -“

„Und ich will, dass deine Mutter dich im Keller versteckt, aber wir bekommen nicht immer alles, was wir haben wollen“, sagte Michael und wieder lachten seine Freunde hämisch.

„Was willst du machen, wenn ich es nicht lösche? Mich anzeigen?“, fragte Lena hämisch. „Zu Mama und Papa laufen und petzen? Zu einem Lehrer laufen und petzen?“
 

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und ich spürte einen Kloß in meinem Hals. Ich kannte dieses Gefühl, es bedeutete, dass ich gerne anfangen würde zu heulen. Niemals würde ich vor denen heulen, deswegen ergriff ich die einzige Lösung, wandte mich um und ging mit schnellen Schritten weg. Während alle Schüler zur fünften Stunde gingen, sperrte ich mich auf der Jungentoilette in einer Kabine ein und übergab mich. Schon wieder.
 

Nachdem ich mich ausgekotzt hatte, wusch ich mir in einem Becken den Mund aus und schluckte mehrmals gegen den Kloß in meinem Hals. Mir fiel es schwer zu atmen. Die abgerissenen Träger hatte ich achtlos auf der Kabine liegen gelassen. Einige Sekunden lang sammelte ich mich, dann packte ich meinen Rucksack und verließ die Toilette wieder. Eigentlich hatte ich noch meinen anderen Leistungskurs Deutsch und danach eine Stunde Mathematik, aber ich würde mir die Demütigung sicher nicht antun mit einem kaputten Rucksack und Tränen in den Augen verspätet in die Stunde zu kommen.
 

Schnell verschwand ich aus dem Gebäude. Lieber schwänzte ich die letzten beiden Stunden.

Urlaub in der Heimat

Ich hatte meine Mum schon wieder angelogen. Diesmal sagte ich ihr nicht, dass es mir gut ginge, obwohl dem nicht der Fall war, diesmal behauptete ich, ich hätte Freitag die erste Stunde frei. Was ich nicht hatte. Immer, wenn ich die Erste frei hatte, stand ich auf, wenn Mum und Alex bereits aus dem Haus waren. Diesmal stellte ich mir jedoch nicht den Wecker, um zur zweiten Stunde zur Schule zu gehen. Ich schaltete den Wecker ganz aus und hatte vor den gesamten Tag, was ohnehin nur vier Schulstunden waren, zu schwänzen.
 

Es war der letzte Schultag und ich wollte zwei Wochen Ferien zwischen dem Vorfall mit dem Rucksack und dem Wiedertreffen mit den Idioten haben. Abgesehen davon hatte ich nun ohnehin keinen Rucksack mehr. Mum und Alex erzählte ich die Träger wären abgerissen, weil ich in der Tür zur Straßenbahn eingeklemmt wurden wäre. Es war eine peinliche Ausrede, aber immer noch besser wie das, was mir in der Schule geschehen war. Mum und Alex fanden die Geschichte mit der Straßenbahn sogar lustig, somit hatte ich sie noch ein wenig zum Lachen gebracht, was ja auch nicht so falsch sein konnte.
 

Obwohl ich mir den Wecker nicht stellte, wachte ich früh morgens auf. Ich hörte zu, wie Alex im Bad summte, hörte, wie Mum mit ihr in der Küche sprach, wie die Beiden durch die Wohnung gingen, wie Mum ihre Sachen packte, um ins Krankenhaus auf die Arbeit zu fahren und wie schließlich die Wohnungstür ins Schloss fiel. Darauf folgte eine dröhnende Stille. Sie summte in meinen Ohren und war kaum zu ertragen. Ich schloss die Augen und stellte mir vor Dad würde durch die Wohnung gehen.
 

Ich drehte die Uhr innerlich ein wenig zurück. Ich presste die Augenlider fest zusammen und stellte mir vor tatsächlich die Erste frei zu haben. Ich lag in meinem alten Zimmer in Nordrhein-Westfalen und war aufgewacht, weil Dad, selbst wenn er leise sprach, noch immer so laut war, dass er mich damit aufweckte. Ich ärgerte mich ein wenig, dass er mich geweckt hatte, denn in meiner Vorstellung konnte ich, so wie früher, verdammt gut und verdammt lange schlafen. Alex lachte, weil Dad einen Scherz gemacht hatte und Mum sagte sie sollen sich beeilen sonst würden sie zu spät kommen.

„Kannst du mich zur Schule fahren?“, hörte ich Alex fragen.

„Du weißt, dass ich in die andere Richtung muss“, sagte Dad und vor meinem inneren Auge konnte ich deutlich sein Gesicht erkennen, wie er sie anlächelte und ihr über den Kopf strich wie er es so oft bei ihr gemacht hatte.
 

„Nun aber los, sonst kommen wir wirklich zu spät“, drängte Mum und sie verließen gemeinsam das Haus. Zu dritt nicht zu zweit und auf der Straße küssten Mum und Dad sich zum Abschied und Alex verzog das Gesicht und verschwand mit einem Abschiedsgruß in Richtung Bushaltestelle. Jetzt waren sie weg und im Haus wurde es still. Eine schöne Stille, denn jetzt konnte ich noch für eine Weile schlafen bevor ich dann selbst zur Schule musste. Wo Simon und Lynn auf mich warteten und ganz viele neue, coole Leute, die mich mochten.
 

Die Stille in meiner Vorstellung war schön, nicht weil ich meine Ruhe hatte, sondern, weil sie nicht lange anhalten würde. Es stimmte. Wenn man in einer Familie lebte und viele Freunde hatte, dann war es laut. So laut, dass man es manchmal kaum aushalten konnte. Doch wenn man jemanden verlor und keine Freunde mehr bei sich hatte, dann wurde es leise, so leise, dann man es nicht aushalten konnte. Ich öffnete wieder meine Augen und spürte Tränen meine Wangen herunter laufen.
 

Mum und Alex erfuhren nicht, dass ich geschwänzt hatte und als Alex heim kam, war ich bereits mit packen beschäftigt. Sie fuhr nicht nach Nordrhein-Westfalen und leistete mir Gesellschaft indem sie sich auf mein Bett fallen ließ und was von ihrem Tag erzählte.

„Wenn du in Nordrhein-Westfalen bist, treffe ich mich mit Freunden aus der Schule“, redete sie, während ich Klamotten in meinem Koffer verstaute. „Und morgen treffe ich mich mit Julian.“
 

Mir fielen die Klamotten aus der Hand und ich wirbelte so schnell herum, dass mein Hals knackste.

„Bitte mit wem?“, fragte ich wie aus der Pistole geschossen. „Julian? Wer ist das?!“

„Ein Junge aus meiner Klasse und er ist groß und gut aussehend und lustig“, zählte sie verträumt auf. „Und er hat mich um eine Verabredung gebeten.“

„Du bist 14!“, sagte ich empört. „Du solltest dich noch nicht mit Jungen treffen!“

„Ich werde in einem Monat 15“, verdrehte Alex die Augen. „Und Julian ist bereits 16 Jahre alt, weil er einmal die Stufe wiederholen musste -“

„Super...“

„- aber das bedeutet nicht, dass er dumm ist. Er ist toll.“ Sie lächelte mich an und ich las in ihrem Gesichtsausdruck ab, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Mit 14. Sie war viel zu jung.
 

„Du solltest noch ein wenig damit warten“, sagte ich finster. „Mindestens bis du volljährig bist und verheiratet.“

„Danke“, meinte Alex sarkastisch. „Aber darauf verzichte ich... was ist das denn?“
 

Ihr Blick war auf einen der Umzugskartons gefallen, der gleich neben meinem Bett stand. Dort bewahrte ich die Erinnerungen an mein altes Leben auf und es stach in meiner Brust den Karton überhaupt anzusehen.

„Nur so Zeug“, murmelte ich. „Fotos, paar andere Sachen, die mich an Zuhause erinnern. Nichts Wichtiges.“

„Nichts Wichtiges? Ich denke schon, dass es wichtig ist. Warum hängst du die Fotos nicht auf?“

„Ne, lass mal.“
 

Ich spürte Alex durchbohrenden Blick auf mir liegen, doch sie hakte nicht länger nach.

Es kostete mich den ganzen Tag für zwei Wochen zusammen zu packen, denn ständig fiel mir ein, was ich noch mitnehmen wollte und gegen Abend fiel mir ein, dass ich Simon und Lynn versprochen hatte ihnen etwas aus Berlin mitzubringen. Bisher hatte ich noch nicht viel Zeit in der Stadt verbracht, ich kannte mich überhaupt nicht aus, war noch nicht shoppen oder aus gewesen, eigentlich war ich immer nur Zuhause oder in der Schule. Zuerst überlegte ich mir noch schnell etwas suchen zu gehen, doch mir schoss der Gedanke durch den Kopf jemanden aus meiner Schule treffen zu können, darum entschied ich mich dazu meinen beiden besten Freunden doch nichts mitzubringen. Ich würde ihnen sagen ich hatte es vergessen und das würde sie nicht einmal stören, denn es passte zu mir Dinge zu vergessen.
 

Am nächsten Tag brachten mich Mum und Alex zum Bahnhof, verabschiedeten mich mit Umarmungen und Küssen, welche ich einerseits genoss, andererseits abwehrte und stieg dann in meinen Zug ein. Es war ein gutes Gefühl mit Musik auf den Ohren von Berlin davon zu treiben, das rhythmisches Rattern über die Schienen, wie sich die Bahn immer weiter weg von meiner persönlichen Hölle entfernte und mich weiter in die Heimat trug. Ich spürte wie mein Herz leichter wurde bei dem Gedanken ganze zwei Wochen dieser Schule fern zu sein, wieder mit Simon und Lynn vereint.
 

Die Fahrt dauerte eine Weile länger, weil der Zug meinte eine viertel Stunde mitten in der Pampa stehen zu bleiben, zwischenzeitlich wurde es ziemlich eng, weil so viele Menschen mitfuhren, doch die letzten anderthalb Stunden war ich beinahe alleine im Wagen. Schließlich war ich angekommen, blickte durch die schmutzigen Fenster hinaus auf den vertrauten Bahnhof. Dieser hässliche, kleine Bahnhof von diesem hässlichen, kleinen Vorort, den ich so oft als trostlos und bedrückend empfunden hatte, und nun ging mir das Herz auf und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich war so glücklich dieses mit schlechtem Graffiti bemalte Gebäude zu sehen und diesen alten Bahnhof, dessen Pfosten angelaufen waren, die Unterführung, die nach Pisse und Kotze stank. Ich liebte jedes noch so miese Detail und da hatte ich noch nicht gesehen, dass Simon Fuchs auf mich wartete.
 

Erst als ich meinen Koffer aus dem Zug gehievt hatte, sah ich auf und erkannte meinen besten Freund auf mich zukommen. Ich war so glücklich ihn zu sehen, es war unfassbar. Mir wurde klar, wie sehr ich ihn eigentlich vermisst hatte. Einfach alles an ihm hatte ich vermisst. Sein unvergleichliches Grinsen und sein unverschämt gutes Aussehen. Er war kleiner wie ich, hatte einen schlanken Körper und einen etwas dunkleren Hautton, einen sehr gesunden Ton als hätte er mehrere Stunden in der Sonne gelegen. Seine Augen waren groß und tiefbraun, seine Lippen schmal und wenn er lachte oder grinste schien sein Mund riesig zu sein. Es gab niemanden, der nicht ebenfalls gute Laune bekam, wenn er Simon lachen oder grinsen sah und, da Simon eigentlich immer gut gelaunt war, war er ein immer gern gesehener Gast und Gute-Laune-Verbreiter.
 

Zur Begrüßung umarmten wir uns und wollten uns kaum mehr los lassen. Ich war so glücklich wieder hier zu sein, dass ich aus dem Grinsen nicht mehr raus kam.

„Du siehst blass aus“, stellte Simon fest als wir wieder auseinander gingen.

„Kann sein“, zuckte ich bloß mit den Schultern. „Die Fahrt war lang. Hast du lange gewartet?“

„Zwanzig Minuten, aber ist kein Problem. Hab ja nicht umsonst gewartet.“
 

Während wir zu Simon nach Hause gingen, erzählten wir uns gegenseitig von unterschiedlichen Sachen. Erst einmal ging es nur um Filme, die neu raus gekommen waren. Simon liebte Filme und ging gerne ins Kino, aber dann ging es langsam wieder darauf zu, was wir in der letzten Zeit so gemacht hatten. Über Skype und am Telefon sprachen wir natürlich schon darüber, aber ich hatte nie viel erzählt. Was sollte ich auch erzählen? Ich war froh als Simon etwas von einem Club erzählte in den ich unbedingt einmal gehen sollte.
 

„Warst du in Berlin schon mal feiern?“, fragte er als wir in die Straße einbogen in der er wohnte. Ich schaute immer von ihm zu der Umgebung, die ich so sehr vermisst hatte. Die Wohnhäuser waren gar nicht so hässlich, eigentlich wohnten wir hier sehr schön, nur die öffentlichen Gebäude sahen echt schlimm aus. Die Schule auch, das war nur ein riesiger, grauer Klotz, aber es wäre mir hundert Mal lieber hier zur Schule zu gehen wie in Berlin.
 

„Nein“, antwortete ich knapp.

„Das heißt, du warst noch nie feiern“, stellte Simon fest. „Dann wird’s mal Zeit.“

„Jetzt tu nicht so als würdest du seit Jahren feiern gehen“, sagte ich gespielt ärgerlich. „Du warst das erste Mal vor drei Wochen in einem Club!“

„Ist mir egal“, grinste Simon. „Ich war immer noch öfter wie du. Aber es macht echt Spaß, du musst es mal ausprobieren. Das würde dir auch sicher gut tun.“
 

Für einen Augenblick konnte ich Besorgnis in seinen Augen erkennen, dann wandte er sich um und bog in den Vorgarten zu seinem Haus ein. Er wohnte gemeinsam mit seinem Vater und dessen fester Freundin in einem Mehrfamilienhaus in der untersten Etage. Die Nachbarn darüber hatte ich in all den Jahren bisher nur ein paar Mal zu Gesicht bekommen, aber das störte mich auch nicht weiter. Ich liebte Simons Wohnung. Sie war nicht besonders groß, aber sie sah einladend und gemütlich aus. In seinem Zimmer stand in einer Ecke mehrere Sitzsäcke, ein Haufen Kissen und Decken und ich liebte es mich dort hinein fallen zu lassen. Sie hatten für mich extra ein Feldbett gegenüber von Simons Bett aufgebaut und Martina, die Freundin seines Vaters, begrüßte mich wie immer freundlich und mit einem breiten Lächeln auf den Lippen.
 

Ihr war das Alter bereits anzusehen, in Form von Fältchen um die Augen und Lippen herum und ihre langen, rötlichen Haaren waren gelockt und in einen Pferdeschwanz gebunden. Sie war ein wenig fülliger, aber das verlieh ihr, meiner Meinung nach, nur Charme. Martina hatte immer einen freundlichen Ausdruck auf den Augen, ich fand sie passte hervorragend zu Simon und seinem Vater.
 

„Ich habe einen Pizzateig gemacht, ihr könnt ihn später selbst belegen. Ich weiß doch, wie gerne du Pizza isst“, sagte sie mit einem Augenzwinkern zu mir. „Habt ihr heute Abend schon was vor?“

„Nein, noch nicht“, sagte Simon. „Erst will ich meinen besten Freund für mich haben, morgen teil ich ihn mit anderen.“
 

Martina und ich mussten lachen und ich spürte wie Simons Worte Balsam für mein Herz waren. Es tat so gut mal etwas Positives von jemandem zu hören. Gerade kam ich mir dämlich vor, dass ich mich in den letzten sechs Wochen so von der Idiotengruppe abhängig gemacht hatte, wie unnötig die fünf doch waren, wenn ich hier einen so guten Freund hatte.
 

Simon wollte runter in den Keller etwas zu trinken holen und ich wollte schon einmal in sein Zimmer vorgehen, da hielt mich Martina zurück indem sie sehr ernst und besorgt fragte: „Lukas, wie geht es dir?“

Ich schluckte, blieb jedoch bei ihr in der Küche. Unsere Blicke trafen sich und ich wusste, dass ihre Besorgnis ehrlich war, ich konnte es in ihren dunklen Augen ablesen.

„Es geht“, antwortete ich ehrlich. „Ich bin gerade einfach nur froh wieder hier zu sein, wieder bei Simon zu sein, aber es ist immer noch schwierig...“
 

Natürlich ging sie davon aus es war immer noch schwierig wegen dem Tod meines Vaters, sie wusste nicht, dass ich hier auch von der Idiotengruppe sprach. Für eine Sekunde überlegte ich zu erwähnen, dass ich meine Schule nicht leiden konnte, doch der Gedanke war schnell wieder verworfen. Ich wollte es niemandem sagen.
 

„Natürlich ist es das, aber es wird besser werden, Lukas, das kann ich dir versprechen“, sagte Martina entschieden. „Ich kann nachvollziehen wie du dich fühlst. Ich war nicht so jung gewesen, aber als ich Mitte Zwanzig war, hatte mein Bruder Selbstmord begangen und kurz darauf hatte ich gesagt bekommen niemals dazu in der Lage sein Kinder zu bekommen, weshalb mich mein damaliger Verlobter verlassen hat. Es war alles andere als leicht und ich hatte das Gefühl nie mehr glücklich werden zu können.“
 

Ich blickte sie überrascht an. Es überrumpelte mich, dass sie mir dies alles erzählte. Ich wusste schon vorher, dass Martina keine Kinder bekommen konnte, aber der Rest war mir neu und gerade fühlte ich mich davon wirklich betroffen. Ich mochte Martina wirklich, sie verdiente es nicht solche Dinge erleben zu müssen.
 

„Manchmal passieren solche schlimme Sachen“, fuhr Martina fort. „Ich denke auch heute noch häufig an meinen Bruder, aber Dinge ändern sich. Damals hatte ich eine Zeit lang geglaubt mein Leben würde einfach keinen Sinn mehr ergeben, es ging mit der Zeit wieder bergauf, auch wenn ich erst einmal eine ganze Weile nicht den Richtigen gefunden hatte. Und dann... naja... habe ich Rudi kennen gelernt und hier bin ich, seit sechs Jahren glücklich mit ihm zusammen und seien wir mal ehrlich, wir haben zwar nicht vor jemals zu heiraten, aber Simon ist doch irgendwie zu meinem Stiefkind geworden. Und ich bin sehr glücklich wie es momentan ist. Du bist noch jung, Lukas, und das Leben hat dir noch viel zu bieten. Es wird besser werden, versprochen.“

„Danke“, sagte ich leise und mir viel ehrlich nichts Besseres sein. Für einige Sekunden schaute ich sie bloß überrumpelt an, während sie anfing die Küchentheke zu wischen, dann fügte ich hinzu: „Es tut mir Leid, was mit deinem Bruder passiert ist und alles andere auch -“

„Ach Gott, das muss es nicht“, sagte sie und lachte ein wenig. „Ich glaube, wenn Leute dir sagen sie verstehen dich oder können dich nachvollziehen, dann wirst du eher sauer als dass es dir hilft. Darum wollte ich dir etwas erzählen mit dem du etwas anfangen kannst, damit du einen Beweis hast, dass es besser werden kann.“

„Danke...“, wiederholte ich ein weiteres Mal, dann war Simon aus dem Keller zurück mit genug Verpflegung bewaffnet und seinem typischen, frechen Grinsen auf den Lippen.

„Wird Zeit, dass wir wieder mal etwas machen, was wir, glaube ich, seit über einem halben Jahr nicht mehr gemacht haben!“

Das goldene Trio

Bis fünf Uhr morgens waren Simon und ich mit Zocken beschäftigt. Nachdem er zu seinem 14. Geburtstag eine Playstation geschenkt bekommen hatte, waren wir eine ganze Zeit lang an den Wochenenden nur mit Zocken beschäftigt gewesen, von abends bis morgens, selbst im Sommer, wenn es draußen so warm war, dass man bis 23 Uhr im Shirt herumlaufen konnte. Es war ein schönes Gefühl diese alte Zeit zu wiederholen und es hatte Spaß gemacht, auch wenn sein Vater zwischendurch vorbei kam, um uns darum zu bitten leiser zu sein.
 

Simons Vater hatte mich ebenfalls gefragt wie es mir geht, mir jedoch keine ergreifende Geschichte seiner Vergangenheit erzählt, wofür ich auch recht dankbar war. Über Martina musste ich noch eine Weile nachdenken, aber ich war am Ende doch froh, dass sie mir diese Erlebnisse anvertraut hatte. Irgendwie gab es mir das Gefühl, dass ich zu ihrem engeren Bekanntenkreis gehörte und tatsächlich gab es mir auch Hoffnung. Sie hatte Recht. Ich war jung und irgendwie würde ich die Oberstufe schon überleben.
 

Als Simon dann die Playstation anschaltete, konzentrierte ich mich nur noch aufs Rumgeballer. Morgens um fünf legten wir uns dann schlafen.
 

Morgens um zwölf wurden wir geweckt. Ein schrilles Klingeln, das nur von der Haustür stammen konnte. Genervt öffnete ich die Augen und blickte rüber zu Simon, von dem ich nicht mehr wie seine schwarzen Haare erkennen konnte, die unter der Decke hervorschauten, welche er bis über sein Gesicht gezogen hatte. Ein weiteres Mal klingelte es und nun schob Simon stöhnend die Decke weg.
 

„Ich will nicht aufmachen“, klagte er, seine Augen waren von der Müdigkeit noch ganz schmal. Es klingelte weiter und er quälte sich aus dem Bett, um zur Haustür zu schlurfen. Ich entschied mich dazu liegen zu bleiben und meine müden Augen noch ein wenig zu schließen. Heute hatte ich nicht schlecht geträumt, ich fühlte mich immer noch nicht ausgeschlafen, aber besser wie in den letzten sechs Wochen.
 

„Lukas, das ist für dich!“, rief Simon aus dem Flur. Verwirrt stand ich auf, doch noch während ich Simons Zimmer verließ, leuchtete mir ein, wer uns da um zwölf Uhr besuchen kam. Meine Vermutung bestätigte sich als ich bei Simon angelangt war und mit einem freudigen Lächeln unserer gemeinsamen besten Freundin Lynn Lehmann gegenüber stand. Ich hatte es vermisst sie so vor mir stehen zu sehen. Ich fand Lynn sehr hübsch, sie hatte ein Gesicht, welches man nicht häufig antraf. Ein rundes, flaches Gesicht mit einer Stupsnase und großen, braunen Augen, die einen immer neugierig oder verwirrt anschauten, dazu ihre schmalen Lippen und ihr schöner Körper.
 

Ich wusste, dass viele Jungen ihren Körper heiß fanden. Lynns weibliche Rundungen waren stark ausgeprägt und sie trug gerne Tops, die ihren Ausschnitt betonten, doch ich konnte daran nichts heiß finden. Ich fand es schön anzusehen, mehr jedoch auch nicht. Wahrscheinlich, weil wir schon solange miteinander befreundet waren, dann fühlte man sich voneinander nicht so angezogen.
 

Zur Begrüßung umarmten wir uns und Lynn strahlte über beide Gesichtshälften.

„Ich bin so froh, dass du wieder hier bist. Ich hab dich vermisst!“, sagte sie. „Ich konnte nicht länger warten, erst hatte ich vor schon früher zu kommen.“

„Du?“, fragte ich verdutzt. „Miss 'Ich brauche mindestens zwölf Stunden Schlaf'?“

„Wenn ich mich auf etwas freue, kann ich nicht schlafen. Ich wollte dich unbedingt wieder sehen. Und jetzt solltet ihr euch umziehen, wir haben noch viel vor!“

„Und jetzt sollten wir noch etwas schlafen, ich bin immer noch total müde“, grummelte Simon.

„Halt du doch die Klappe!“, zischte Lynn und schlug ihm mit der flachen Hand gegen die Schulter. „Du hattest Lukas seit gestern, jetzt bin ich an der Reihe.“
 

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Wie ich diese kleinen Streitereien zwischen den Beiden vermisst hatte... ständig fanden sie etwas bei dem sie sich ein wenig in die Haare bekamen, doch wenn es drauf ankam, hielten sie zusammen und waren füreinander da.
 

„Wir habt ihr das sechs Wochen lang nur geschafft?“, fragte ich. „Sechs Wochen lang zu zweit, ohne mich dazwischen, der irgendwann mal sagt, dass ihr aufhören sollt euch an zu zicken.“

„Ich hab ehrlich keine Ahnung“, seufzte Simon.

„Wir haben auch gar nicht so viele Kurse miteinander“, meinte Lynn. „Wir sind nicht mehr so viel zusammen wie vorher, aber naja, die Zeit in der wir zusammen sind, keine Ahnung, wie wir das ohne dich machen. Jetzt geht euch aber umziehen, wir haben einiges nachzuholen!“
 

Ich konnte in den nächsten Tagen das Chaos in Berlin vergessen und mich mit Simon und Lynn super amüsieren. Wir gingen Eis essen, fuhren in die nächste Stadt, um dort zu shoppen, gingen abends ins Kino, zockten zu Dritt, alberten herum, unterhielten uns über längst vergangene Tage an denen lustige Dinge geschehen waren und vor allem lachten wir viel miteinander. Schließlich war die erste Woche in Nordrhein-Westfalen um und es war wieder Samstag. Simon wollte unbedingt, dass wir abends in die Stadt fuhren und dort in einem Club feierten, doch ich hatte nicht wirklich Lust darauf.
 

„Ich schreib Lynn ne SMS, dann treffen wir uns am Bahnhof und fahren zusammen hin“, sagte Simon bittend. „Es macht wirklich Spaß. Du hast es doch noch nie ausprobiert, warum willst du denn nicht?“

„Ich hab einfach keine Lust in einen Club zu gehen“, gab ich zu. „Und ich weiß nicht, wie wir wieder heim kommen sollen. Der letzte Zug fährt um kurz vor 11.“

„Und der erste um kurz vor sechs und solange feiern wir. Halt eben die ganze Nacht durch!“

„Darauf hab ich sicher keine Lust...“
 

Simon seufzte genervt. Ich merkte, dass er wirklich gerne feiern gehen würde, doch gleichzeitig wusste ich, dass er lieber Zeit mit mir verbringen würde und so gab er nach. Er wollte gerade sein Handy auf sein Bett werfen, da vibrierte es wieder und er schaute sich die SMS an. Ein stummes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen und er blickte mich mit seinen tiefbraunen Augen unschuldig an.
 

„Und was hältst du von Hauspartys?“, fragte er.

„Willst du hier ne Party veranstalten?“, sagte ich verwirrt.

„Nein, natürlich nicht. Eine Freundin aus der Stufe feiert gerne mal Hauspartys und wir könnten dort hinfahren, Lynn hat gerade Bescheid gegeben.“ Er wedelte mit dem Handy vor meiner Nase herum. Ich verzog ein wenig den Mund. Ich wollte nicht schon wieder sagen, dass ich keine Lust hatte, zumindest gefiel mir der Gedanke einer Hausparty ein wenig mehr wie der Gedanke eines Clubs.
 

„Na gut, ja, können wir machen. Wo wohnt sie denn?“

„In einem anderen Dorf, ungefähr ne viertel Stunde entfernt, aber keine Angst, Lynns ältere Schwester kann uns hin fahren“, sagte Simon, der eilig eine Antwort in sein Handy tippte und bereits ein vorfreudiges Lächeln auf den Lippen hatte.

„Und wie kommen wir heim?“, fragte ich zweifelnd.

„Jetzt hör doch mal auf, dir über alles Gedanken zu machen. Wir fahren hin, trinken und rauchen, haben Spaß und heim kommen wir schon irgendwie.“
 

Noch klangen diese Ideen für mich nicht sehr verlockend, doch Simon schien davon überzeugt zu sein, dass es einen schönen Abend oder eher gesagt eine schöne Nacht ergeben wird, deswegen ließ ich mich von ihm mit schleifen. Wir zogen uns Jacken und Schuhe über und gingen die zehn Minuten zu den Lehmanns zu Fuß. Kurz nachdem wir klingelten, sprang die Haustür auch schon auf und Lynn und ihre ältere Schwester Liane kamen sich streitend heraus.
 

„Ich will aber nicht, dass du an meine Sachen gehst, wenn ich es dir nicht erlaube und hör auf dich zu beschweren, ansonsten fahre ich euch doch nicht“, keifte Liane Lynn hinterher, die sauer zwischen uns beiden hindurch rauschte.

„Hallo, Lukas“, sagte Liane freundlich mir zugewandt, dann drehte sie sich wieder ihrer Schwester zu, die bereits am Auto stand und ungeduldig dagegen tippte. „Ich finde es nicht gut von dir, dass du der Meinung bist so etwas wäre selbstverständlich!“

„Du hast mir mal gesagt, ich brauche nicht zu fragen, aber du drehst dir ja alles immer so wie du es gerne hättest. Und ich hab immer Unrecht“, fauchte Lynn, während Liane das graue, kleine Auto aufschloss. Liane war 19 Jahre alt und hatte erst seit kurzem dieses Auto. Ich fand es sah genauso aus wie das erste Auto einer Jugendlichen, die noch in der Ausbildung steckte und kaum Geld verdiente, darum gefiel es mir auch. Obwohl es nicht besonders aussah.
 

Simon und ich stiegen schweigend aus und saßen die gesamte Fahrt über schweigend auf der Rückbank, während Liane und Lynn mal wieder über alles stritten, was sie nur finden konnten. Die meiste Zeit verstanden sie sich eigentlich gut miteinander, doch es musste nur eine Kleinigkeit passieren und schon stritten sie sich tagelang bis es irgendwann einfach wieder gut war. Ohne, dass sie das Streitthema wirklich geklärt hatten. Wie richtige Schwestern eben. Besonders chaotisch wurde es, wenn sich die Jüngste der drei Lehmann-Schwestern noch einmischte. Manchmal fragte ich mich, wie es ihr Vater mit vier Frauen im Haus nur aushielt, seine Ruhe und Gelassenheit brachten ihm dabei vermutlich sehr viel.
 

Nach einer knappen viertel Stunde waren wir angekommen und Liane ließ uns vor einem großen Haus raus, welches noch von den letzten Strahlen der Abendsonne erleuchtet wurde. Durch den Himmel zogen sich rosafarbene Schlangenlinien, die die Wolken aussehen ließen wie Watte und die Straßenlaternen waren bereits angesprungen. Kaum, da wir ausgestiegen waren, fiel mir auf, dass wir absolut nichts mitgebracht hatte und ich wandte mich zweifelnd Simon zu.
 

„Hätten wir nicht Alkohol oder so was kaufen sollen?“, fragte ich. Lynn knallte die Tür hinter uns zu und Liane fuhr wieder fort.

„Nein, Genesis meinte wir sollen nur gute Laune mitbringen“, antwortete Lynn und Simon nickte zustimmend.

„Genesis?“, wiederholte ich verwundert. „Ist das ein Name?“

„Ja, ihre Eltern haben sie so genannt, weil die Lieblingsband ihres Vaters Genesis heißt“, erklärte Lynn und musste bei meinem verwirrten Gesichtsausdruck grinsen. „Du wirst sie mögen. Genesis ist absolut cool.“
 

Absolut cool war gar kein Ausdruck. Genesis Thomas war einer der coolsten Menschen, die ich jemals in meinem Leben kennen lernen durfte. Ihr Gesicht lief spitz zu, war blass und sah sogar ein wenig kränklich aus mit den dunklen Ringen unter ihren großen, blauen Augen. Ihre Wimpern waren auffällig lang und ihr Körper auffällig dünn, beinahe schon mager, wodurch ihre Haare noch stärker zur Geltung kamen. Genesis' Haare bestanden aus Dreadlocks in unterschiedlichen Brauntönen und ihre Dreads waren solang, dass sie ihr bis zum Hintern reichten. Ein Stirntuch zierte ihren Kopf und ihre Ohren waren mit silbernen Kugeln mehrfach gepierct. Ihre Stimme war rau und rauchig, als würde sie bereits seit Jahren rauchen und sie strahlte eine angenehme Gelassenheit und Ruhe aus, wodurch sie mir sofort sympathisch war.
 

Abgesehen von Simon und Lynn waren noch ein paar andere Jugendliche auf der Party, die ich kannte. Alte Klassenkameraden, die nun zusammen in einer Stufe waren und sich gut miteinander verstanden. Wir durften ungestört durch das Haus laufen, Genesis hatte sturmfrei, doch die meiste Zeit verbrachten wir im Wohnzimmer, wo sie gerade eine Shisha aufbauten. Ich hatte noch nie zuvor geraucht, keine Zigarette und auch keine Shisha.
 

Zuerst sagte ich ständig, dass ich nicht Shisha rauchen wollte, aber je länger der Abend ging und je mehr Alkohol wir tranken, desto verlockender wurde der Geruch des Rauches, der uns umwarb. Und als Genesis zum wiederholtesten Mal fragte, ob ich an der Shisha ziehen wollte, sagte ich schließlich zu.
 

„Du musst wahrscheinlich erst mal husten, aber das ist normal. Kann auch sein, dass es im Hals oder in der Lunge kratzt“, sagte Genesis und ich nahm einen kräftigen Zug durch den Schlauch. Es war viel mehr Rauch wie ich erwartet hatte und ich musste heftig husten, auch wurde mir für ein paar Sekunden schwindelig, doch ich ließ mir nichts anmerken. Um mich herum wurde es weiß als ich den Rauch wieder ausblies.

„Probiere einfach noch ein paar Mal“, schlug Genesis vor, die den zweiten Schlauch nahm, der an der Shisha gebunden war und damit weiter rauchte.
 

Simon und Lynn waren irgendwo im Haus oder im Garten verschwunden. Etwas weiter entfernt saßen drei Mädchen zusammen, tranken Wodka-O, unterhielten sich und kicherten ständig und ich saß zusammen mit Genesis in weißem Shisha-Rauch eingehüllt. Wir begannen uns zu unterhalten, erst über irgendwelche Sachen, die in den Nachrichten kamen, über Ethik, Politik, doch je länger wir uns unterhielten desto persönlicher wurden die Gesprächsthemen.
 

„Die Oberstufe ist eigentlich echt cool, aber du musst mehr machen wie früher“, erzählte Genesis in ihrer rauchigen Stimme. „Ich weiß wovon ich rede, ich hab die 11 schon mal gemacht und musste jetzt wiederholen.“

„Ich glaub ich würde durchdrehen“, murmelte ich in Gedanken an die letzten sechs Wochen, die mir bereits zu viel gewesen waren.

„Ich hab aber auch echt gar nichts gemacht, ständig gefehlt, lieber Party gemacht und gekifft“, sagte Genesis und lachte leise. „Ich habe seit ein paar Wochen kein Marihuana mehr angefasst, weil ich mich mehr in die Schule reinhängen möchte. Aber ich hab voll Bock mal wieder high zu sein. Hast du schon mal gekifft?“

„Nein“, schüttelte ich den Kopf, ein wenig überrascht von ihrer Offenheit gegenüber diesem Thema. „Ich bin erst 17.“

„Erst?“ Genesis musste lachen. „Ich hab mit 15 das erste Mal gekifft. Würdest du es gerne mal ausprobieren? Ich hab jetzt nichts hier, aber mein Dad wird in den Herbstferien öfters weg sein, dann könnten wir uns mit Simon, Lynn und ein paar anderen Freunden oder nur wir vier treffen und bisschen kiffen. Oder es in Kakao oder Cookies machen, dann wirkt es stärker. Was meinst?“

„Ehm... ich weiß nicht... ob Simon und Lynn da mitmachen würden...“

„Sie meinten sie wollen es mal ausprobieren, wir haben ausgemacht in den Herbstferien. Du kannst ruhig mitmachen, das wird bestimmt lustig.“
 

Genesis sprach darüber als wenn es nichts besonderes wäre und ich fühlte mich ein wenig hintergangen, dass Simon und Lynn mir davon noch nichts erzählt hatten. Einerseits klang es verlockend es mal auszuprobieren, andererseits war ich bereits ein wenig angetrunken und fühlte mich von der Shisha benebelt und konnte deswegen ohnehin nicht klar denken. Marihuana war nun mal eine Droge und ich hatte mir immer geschworen niemals Drogen zu nehmen. Aber die Erfahrung wäre es eigentlich mal wert... aber wenn wir erwischt werden, dann wird es mein Leben zerstören...
 

„Du kannst ja noch mal drüber nachdenken“, sagte Genesis als wüsste sie von meinem inneren Konflikt. „Wir entscheiden das ganz spontan. Aber mach dir keine Sorgen von wegen, dass wir erwischt werden. Ich hab gute Kontakte und wir machen es hier bei meinem Dad im Haus, da passiert uns nichts.“

„Wenn du sagst bei deinem Dad... leben deine Eltern getrennt?“, fragte ich, hauptsächlich um das Thema zu wechseln. Genesis schmunzelte stumm, dann antwortete sie: „Jup, seit ich zwölf Jahre alt bin. Meine Mum hat auch schon seit ein paar Jahren einen festen Freund, mein Dad hatte seit der Scheidung keine Freundin mehr gehabt.“

„Verstehst du dich mit dem festen Freund?“, fragte ich vorsichtig. Ich kannte bisher nur eine Person deren Eltern getrennt waren und diese Person war Simon. Während Martina, die Freundin seines Vaters, ein freundlicher und liebenswerter Mensch war, war Simons Stiefvater das genaue Gegenteil und der Grund, warum das Verhältnis zwischen Simon und seiner Mutter ziemlich schlecht war. Simon sprach nicht gerne darüber und ich traute mich nur selten zu fragen, da er von sich aus nie erzählte. Außerdem war nach so einem Gespräch die allgemeine Stimmung immer ziemlich im Keller...
 

„Ja, ich versteh mich super mit ihm“, sagte Genesis. „Er ist Masseur und massiert mich manchmal, wenn ich lieb frage. Der kann das richtig gut.“

„Das ist schön“, murmelte ich.
 

Einige Sekunden lang schwiegen wir uns bloß an, dann sagte Genesis in ihrer weiterhin lockeren und ruhigen Art: „Ich weiß, Simon versteht sich mit seinem Stiefvater richtig schlecht.“

„Ja, sein Stiefvater ist aber auch ein Arschloch“, meinte ich. „Aber egal, ich will eigentlich nicht über den reden. Ich bekomme Aggressionen, wenn ich nur an den Mistkerl denke.“

„Dann lass uns darüber reden, warum du nach Berlin gezogen bist. Simon und Lynn erzählen ständig von dir, aber wenn ich frage, warum der Umzug, sagen sie das wäre deine Sache und das würden sie nicht ohne deine Erlaubnis erzählen.“
 

Ich spürte wie mir heiß wurde. Um Zeit zu schinden zog ich ein paar Mal an der Shisha und für einige Sekunden wurde mir schwarz vor Augen, weil es zu viel für meine ungeübten Lungen war. Mein Herz klopfte mir schnell gegen den Brustkorb und ich suchte nach einer Erklärung, in welcher ich nicht erzählen musste, dass mein Vater gestorben war. Ich wusste irgendwann würde ich in die Situation kommen, dass ich es jemand Fremdes erzählen müsste, doch ich fühlte mich dazu noch nicht bereit. Wenn ich so überlegte, kamen die Worte „Mein Vater ist gestorben“ bisher noch nie über meine Lippen. Und das konnten sie auch nicht. Alleine bei dem Gedanken daran spürte ich, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete.
 

„Meine Mum ist dort aufgewachsen“, haspelte ich. „Sie wollte wieder zurück zu ihrer besten Freundin, außerdem hat sie dort einen besseren Jobangebot bekommen.“

„Ah... und dein Dad?“
 

Ich konnte nichts tun außer Genesis mit leicht geöffnetem Mund anstarren. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Plötzlich war es viel schwieriger zu atmen und ich hatte Angst, dass man mir meine innere Panik anmerken könnte. Viel zu spät kam ich auf den Gedanken, dass ich einfach sagen könnte, sie ginge dies nichts an. Ehrlich gesagt wurde mir dies erst bewusst als Genesis es selbst aussprach: „Schon okay, wenn du nicht willst, musst du es nicht erzählen. Ist ja deine Sache.“
 

Sie war nicht wütend auf mich oder beleidigt und sie schien auch nicht neugierig und ungeduldig zu sein. Sie akzeptierte einfach, dass ich nicht darüber sprechen wollte und wechselte selbstständig das Thema. Stattdessen sprachen wir jetzt über das Reisen, was sich direkt als das liebste Hobby von Genesis entpuppte. Während wir uns unterhielten, mit der Zeit anfingen herumzualbern und zu lachen, hatte ich ständig nur eine Frage im Kopf: Warum konnte es solche Leute nicht in Berlin geben?

Nur noch drei Tage..

„Nein, nein, nein!“

Ich sah Lynns braunen Haarschopf an mir vorbei rasen, wie die Einkaufstüten wild um ihre zarten Handgelenke schlackerten und aus dem Augenwinkel sah ich wie Simon langsamer wurde und keuchend stehen blieb. Auch ich verlangsamte mein Tempo und schaute belustigt zu wie Lynn anfing gegen den davon fahrenden Zug zu hämmern. Natürlich half es nichts und schließlich blieb sie stehen und blickte mit einem gequälten Seufzen unserem Zug hinterher. Es war mies den Zug zu verpassen noch mieser wenn man eine Minute vorher noch rechtzeitig gekommen wäre.
 

„Das ist deine Schuld“, sagte ich mit einem Lächeln und unter schwerem Atmen zu Simon gewandt, der sich auf seinen Knien abstützte und nach Luft schnappte. „Du hast im Subway zu lange gebraucht. Hättest du dich nicht noch einmal angestellt, um Cola nachzufüllen, wären wir rechtzeitig angekommen.“

„Nein, du bist Schuld“, erwiderte Simon, ebenfalls scherzhaft. „Wegen dir kamen wir nicht mehr über die Straße als die Ampel grün war und mussten eine Rotphase abwarten. Alles nur, weil du dir unbedingt dieses Plakat anschauen wolltest. Dabei wirst du so oder so nicht auf die Party gehen.“
 

Wir lachten ein wenig und richteten uns auf. Lynn kam mit bestürztem Gesichtsausdruck zurück und konnte es allem Anschein nach nicht so locker nehmen wie wir beide. Aber das waren wir bereits gewohnt. Lynn übertrieb gerne mal und machte aus einer Fliege einen Elefanten, doch es störte mich nicht im Geringsten. Das war nun einmal Lynn und dafür hatte ich sie lieb.
 

Da auf den wenigen Bänken, die hier am Bahnhof standen, kein Platz mehr war, ließen wir uns auf dem Boden neben den Snackautomaten nieder. Der nächste Zug kam erst in einer knappen halben Stunde und Lynn nutzte die Zeit, um ihre eben erst gekauften Klamotten noch einmal zu betrachten. Ich selbst hatte mir nur eine Kapuzenjacke gegönnt, um die ich fast zwanzig Minuten lang herum gedruckst bin, weil sie mir so gut gefiel, aber so teuer war. Am Ende konnte ich den Laden ohne die Jacke doch nicht verlassen.
 

„Wollten wir uns eigentlich noch mal mit Genesis treffen?“, fragte ich nach einiger Zeit in der Simon und ich bloß geistesabwesend Lynn zugeschaut hatten.

„Mit der hast du dich richtig gut verstanden“, stellte Simon grinsend fest. „Ich hab doch gesagt, du wirst sie mögen. Hat sie dir gefallen? Ich meine so... vom Aussehen her auch?“

„Naja, ich finde die Dreads eigentlich ziemlich cool“, antwortete ich. „Ich dachte immer die würden nicht gut an Mädchen aussehen, aber sie passen zu Genesis. Ich würde sie nur gerne noch mal wiedersehen bevor ich dann in drei Tagen wieder nach Berlin muss, ich habe mich mit ihr so gut unterhalten.“

„Ja, da hat es auf Anhieb gefunkt“, grinste Simon mit einem Grinsen welches ich von ihm nur zu gut kannte. Für einige Sekunden blickte ich ihn bloß mit zusammengezogenen Augenbrauen an, dann wurde mir klar worauf er hier eigentlich hinaus wollte.
 

„Du willst mich mit Genesis verkuppeln?“, fragte ich empört. „Nein, Mann! Nicht, dass sie hässlich wäre oder so etwas, aber ich habe wirklich kein Interesse.“

„Alter, du hast nie Interesse an Mädchen mit denen du dich gut verstehst“, seufzte Simon. „Ich finde nur du solltest mal eine Freundin haben. Ich hatte schon eine Freundin, Lynn hatte schon einen Freund, wir haben beide manchmal jemanden zum Rummachen auf einer Party oder so, aber du hattest noch nie eine Freundin oder irgendein Mädchen näher wie in einer Umarmung. Es wird langsam mal Zeit. Abgesehen davon ist es mit einer Freundin vielleicht einfacher.“

„Was ist vielleicht einfacher?“, fragte ich in einem härteren Tonfall. Ich wusste nicht warum, aber dieses Thema reizte mich immer wieder. Aus irgendeinem Grund konnte mein sexuelles Interesse einfach nicht erregt werden und das nervte mich. Ich wollte Simon nicht erzählen, dass ich langsam glaubte asexuell zu sein und warum ich nicht davon träumte mit einem Mädchen Sex zu haben. Daran hatte ich ehrlich kein Interesse.
 

„Alles“, antwortete Simon auf meine Frage nun etwas bedrückter. „Du hast es momentan nicht leicht.“

Wieder einmal spürte ich Blut in mein Gesicht steigen, mir wurde unangenehm heiß und ich konnte Simon nicht länger anblicken. Stattdessen fixierte ich einen ausgetretenen Kaugummi, der neben meinen Sneakers auf dem Bahnsteig klebte, hörte mit zusammengepressten Lippen und unruhigen Händen zu, was mein bester Freund zu sagen hatte.

„Wenn du eine Freundin hast, ist das eine besondere Bindung, vielleicht könntest du dich sogar verlieben und das würde dich bestimmt glücklicher machen. Ich will nur, dass es dir gut geht.“ Ich spürte Simons Blick auf mir liegen, doch ich schaute ihm nicht in seine tiefbraunen Augen, ich starrte weiterhin den Kaugummi an.
 

„Es war nicht böse gemeint“, sagte Simon, danach schwieg er und ich sagte ebenfalls nichts. Einige Minuten lang schwiegen wir uns bloß an, dann sagte Lynn beeindruckt: „Wow, und ich dachte immer Kerle würden nicht miteinander über ihre Gefühle sprechen.“

„Wir haben nicht über unsere Gefühle gesprochen“, kam es beinahe gleichzeitig aus unseren Mündern. Wir versuchten unsere Männlichkeit zu verteidigen, aber Lynn bestand darauf, dass Simon gerade indirekt gesagt hatte wie lieb er mich hatte. Sie amüsierte sich über unsere Versuche bis wir uns extra um Kopf und Kragen redeten und anfingen mussten zu lachen.
 

Am nächsten Tag verabredeten wir uns mit Genesis. Nur wir vier gemeinsam, diesmal bei ihrer Mutter, wo es viel ordentlicher und sauberer aussah. Ihre Mutter und ihr fester Freund fuhren zu Freunden und Genesis hatte die ganze Nacht sturmfrei. Als wir ankamen, stand sie in der Küche und rührte einen Teig.
 

„Ich hab gestern versucht Marihuana zu kaufen und dann habe ich ein ultra gutes Angebot bekommen“, erzählte sie uns als wir uns am Küchentisch zwischen das Chaos von Zutaten, Schüsseln und viel Mehl nieder ließen. „Für siebzig Euro zehn Gramm Hasch.“

„Siebzig Euro?!“, keuchte ich. „Ist das nicht total viel?“

„Ist Hasch nicht dasselbe wie Marihuana?“, fragte Lynn Stirn runzelnd.

„Nein und nein“, antwortete Genesis. Sie stellte die Schüssel in welcher sie rührte zur Seite und entschwand kurz in den Flur. Nach wenigen Sekunden kam sie zurück, in ihrer Hand etwas Kleines in Papier eingepackt, welches sie nun auf dem Tisch entpackte und genau vor meine Nase auf ein Brettchen legte.
 

Hasch war ein kleiner brauner, harter Klotz. Simon, Lynn und ich starrten ihn skeptisch an, während Genesis uns erwartungsvoll angrinste.

„Man merkt, dass ihr absolut keine Ahnung habt“, seufzte sie schließlich. „Hasch ist das Harz der weiblichen Cannabispflanze, das zu solchen Blöcken zusammen gepresst wird. Meistens noch mit etwas gestreckt, damit es billiger wird. Aber ich bekam versichert, dass hier das richtig gutes Zeug ist.“

„Und worin besteht der Unterschied zum normalen Marihuana?“, fragte Simon.

„Das hier kann man nicht rauchen“, meinte ich prompt. „Du backst es in Muffins ein oder so was?“

„Genau, ich mach uns Schokomuffins“, nickte Genesis. „Man kann es auch mit Kakao trinken oder so etwas, aber ich finde es mit Muffins klassischer. Abgesehen davon ist Hasch viel stärker wie Marihuana. Aber auch gefährlich, weil man schwer einschätzen kann, wann es genug ist. Es wird auf jeden Fall trotzdem lustig.“

„Und siebzig Euro sind nicht viel“, murmelte ich skeptisch.

„Normalerweise bezahlt du für zehn Gramm um die 150 Euro“, sagte Genesis und wir blickten sie gleichzeitig überrascht an. Sie nahm aus einer Schublade ein riesiges Küchenmesser und drückte es mir mit den Worten „Schneid mal ein bisschen was ab“ in die Hand.
 

„Nehmen wir nicht alles?“, fragte Simon.

„Nein!“, rief Genesis erschrocken und begann zu lachen. „Zehn Gramm sind viel zu viel, das würde jeden einfach nur umhauen und wir hätten nicht wirklich was davon. Wir schauen mal wie viel Gramm wir nehmen. Es ist schließlich euer erstes Mal.“
 

Im Endeffekt wogen wir das, was ich abschnitt nicht. Und was hieß abschneiden. Der Harz war so hart, dass ich mich mit meinem kompletten Gewicht auf das Messer stemmte und trotzdem nicht weit kam. Es dauerte Ewigkeiten bis ich endlich etwas abgetrennt hatte und Genesis tupfte jeden Krümmel auf, der abblätterte. Sie tupfte ein paar mit ihrem Zeigefinger auf und hielt ihn mir vors Gesicht.
 

„Leck mal ab“, sagte sie und ich spürte schlagartig Simons Blick auf mir liegen. Sein blödes Grinsen konnte ich mir bereits jetzt vorstellen, doch ich leckte trotzdem mit der Zungenspitze über die Krümmel. Sie hatten einen komischen Beigeschmack, doch an sich schmeckte Hasch nach nichts.
 

Genesis nahm das bisschen Hasch, das ich abtrennte und schmolz es mit Butter ein. Dazu stellte sie eine Schüssel in heißes Wasser und erklärte uns noch wieso man dies so machen sollte. Dabei hatte sie aber die Fachbegriffe vergessen, weshalb es mehr eine „Irgendein Stoff im Hasch wird getrennt durch irgendwas in der Butter und dadurch wird der Hasch stärker“ - Erklärung war. Ich nahm mir vor darüber zu lesen, sobald ich wieder in Berlin war. Zuletzt vermischte sie die Haschbutter mit dem Teig und goss ihn in die Förmchen. Jetzt mussten wir nur noch warten bis die Muffins gebacken waren und solange gingen wir ins Wohnzimmer und diskutierten darüber welchen Film wir uns anschauen sollten.
 

„Ich bin für was richtig Gutes wie Inception“, meinte Simon, der sich auf der Couch breit gemacht und seine Beine auf Lynns Schoß liegen hatte. Sie platzierte auf ihnen einige Kissen, verschränkte ihre Arme über diesen und bettete ihren Kopf darauf.

„Inception versteh ich schon kaum, wenn ich ihn so sehe“, sagte sie und verzog das Gesicht. „Wie wäre es mit einem Horrorfilm? Das ist bestimmt lustig in diesem Zustand.“

„Wenn, dann aber so einen richtig schön trashigen und alten“, sagte ich und blickte Genesis an, die neben mir auf dem Boden gleich neben der DVD-Sammlung ihrer Mutter saß.

„So einen finden wir aber garantiert nicht bei meiner Mutter. Ich wüsste aber einen, den wir schauen könnten. Ich hab den auch noch nicht gesehen, nur von Freunden davon gehört.“ Sie stand mit einem vielsagenden Grinsen auf und ging in Richtung der Wendeltreppe, die sie hoch ins erste Stockwerk führte und somit auch zu ihrem Zimmer.
 

„Worum geht es in dem Film?“, rief ich ihr hinterher und sie antwortete: „Das verrate ich nicht. Sonst ist es nicht so witzig.“

„Hast du den Film etwa?“, fragte ich verwirrt.

„Nein, ich hol nur meinem Laptop und ein Kabel, damit wir den Laptop -“ Ihre Stimme wurde lauter, da sie wieder die Wendeltreppe herunter kam. Diesmal mit einem weißen Laptop und einem dazugehörigen Kabel in der Hand. „- mit dem Fernseher verbinden können und den Film online schauen.“

„Geht der Abend vielleicht noch illegaler?“, murrte Simon sarkastisch. Kaum hatte er die Frage zu Ende gesprochen, fing die integrierte Uhr des Herdes an zu piepen als Zeichen dafür, dass die Muffins fertig waren. Für einen Augenblick schauten wir uns stumm an, dann begannen wir zu lachen, während Genesis aufstand und in die Küche ging.
 

Ich wurde ein wenig nervös. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich es wirklich ausprobieren sollte. Nur ein Bissen von einem Muffin und ich hatte Drogen genommen. Das könnte ich nie mehr rückgängig machen und ich könnte später vor meinen Kindern nicht behaupten es niemals getan zu haben. Einerseits würde ich gerne sagen, dass ich keine Muffins esse, andererseits wollte ich es doch ausprobieren. Wissen, wie es ist high zu sein, vielleicht auch nur dieses eine Mal. Nur ein einziges Mal, um die Erfahrung gemacht zu haben.
 

Ja, ich würde heute Nacht high werden.

Dunkelrote Augen

Ich fühlte mich als würde ich nach und nach in eine andere Welt gezogen werden. Einige Sekunden lang starrte ich geistesabwesend und mit geöffnetem Mund Simon an, der seit gefühlten zwanzig Minuten versuchte uns eine lustige Geschichte aus der Schule zu erzählen. Dann bemerkte ich, dass ich ihm nicht wirklich zuhörte und meine Umwelt vor mir zu verschwimmen begann und versuchte mich zu konzentrieren, aber dies war schwerer gesagt als getan. Lynn lag zusammen gekrümmt auf der Couch, hatte sich eine Decke bis ans Kinn gezogen und war unentwegt am Kichern. Simon saß gleich vor ihr auf dem Boden und ich gegenüber von Simon. Ich hatte keine Lehne, nichts gegen das ich mich stützen konnte und obwohl ich nur im Schneidersitz auf dem Boden saß, war ich gefährlich am hin und her schwanken.
 

„Und irgendwie hat der Lehrer dann gesagt... er meinte... also ich war auf dem Flur und der Lehrer kam zu mir und dann... Lynn... hör auf zu lachen, ich schaff das noch, wart's ab.“ Lynn lachte, presste sich dabei eine Hand gegen ihre Brust und jammerte „Aua“, hörte jedoch nicht auf zu Lachen. Ihr liefen sogar Tränen die Wangen herunter, während Simon angestrengt überlegte und dabei mit glasigen Augen auf den Boden starrte. Als ich schon dachte er wäre hellwach eingeschlafen, ich hatte wirklich das Gefühl er hätte seit zehn Minuten nichts mehr gesagt, meinte er plötzlich: „Nein, ich weiß es nicht.“
 

„Was weißt du nicht mehr?“, fragte ich verwirrt.

„Das mit dem Lehrer.“

„Welcher Lehrer?“

„Ich weiß es nicht mehr.“

„Oh Gott.“ Lynn brach in schallendes Gelächter aus und begann gleich darauf wieder zu Jammern an, auch Simon musste nun leise kichern.

„Ich hab irgendwas erzählt, aber plötzlich wusste ich nicht mehr was.“

„Alter, deine Augen.“ Schlagartig, so als hätte ich Simon nicht schon seit Stunden angeschaut und darauf gewartet, dass er endlich diese lustige Geschichte mit dem Lehrer erzählt, fiel mir auf, dass seine Augen dunkelrot waren. Die Lider kaum geöffnet, überzogen mit einem Schleier aus Tränen und das Weiß hatte sich dunkelrot gefärbt.
 

Ich konnte mir gut vorstellen, dass meine Augen ganz genau so aussahen, denn sie fühlten sich an als würden sie nicht mehr in meine Augenhöhlen passen. Als würde ein Druck dahinter sein, der versuchte die Augen aus meinem Kopf zu drücken. Es war ein wirklich unangenehmes Gefühl ebenso wie der Schwindel und die Verschwommenheit, die in meinem Kopf herrschte, aber je länger ich Simon anschaute desto witziger war er. Simon war wirklich witzig. Und Lynn erst!
 

Ohne ersichtlichen Grund begann ich zu lachen.

„Warum?“, fragte Simon bloß, weshalb ich nur noch stärker lachen musste und kaum mehr aufhören konnte. Lynn brach ebenfalls mit ins Gelächter ein. Als wir uns einigermaßen beruhigten, schauten Lynn und ich uns an und fingen wieder an heftig zu lachen. So stark, dass ich kaum noch Luft bekam und meine Wangen anfingen zu schmerzen.
 

„Ich weiß nicht mal warum“, keuchte ich, Lynn konnte nur zustimmend nicken, da sie vor lauter Lachen kein Wort über ihre Lippen bekam.

„Wo ist eigentlich Genesis?“, fragte Simon genau in dem Moment in dem das Mädchen in den Raum geschwankt kam.
 

„Krass, eure Augen!“, rief sie aus als sie uns sah. „Bei mir ist es gar nicht so sehr stark. Aber gerade als ich an der Kiste bei meiner Mum im Schlafzimmer hockte um die Kabel zu holen, hab ich einfach angefangen zu lachen. Dabei war ich ganz alleine und ich hab ja nur da gesessen.“
 

Diesmal mussten wir alle Vier lachen.

„Und ich hab das Gefühl ich versuche seit zwei Stunden den Laptop mit dem Fernseher zu verbinden“, seufzte Genesis und ließ sich vor dem Fernseher auf die Knie fallen.

„Hä?“, fragte Simon. Wieder lachten Lynn und ich. Ich schwankte stärker und ließ mich seitlich auf den Boden fallen, rollte mich zusammen wie eine Katze und schlang die Arme um meine Brust, während ich vor mich hin kicherte. Da sich meine Augen so schlimm anfühlten und es langsam schmerzte sie offen zu halten, schloss ich sie und lauschte bloß den Stimmen von Genesis und Simon.
 

„Was Hä?“

„Ich hab grad“, Simon musste ebenfalls wieder lachen. „Weißt du?“

„Nein, ich weiß nicht. Was hast du grad?“

„Ich denke alles“, meinte Simon. „Aber ich sag's nicht.“

„Es wäre aber schön, wenn du es sagen würdest. Obwohl ich das gerade ziemlich amüsant finde, muss ich gestehen.“

„Ich dachte... ich weiß nicht mehr, warum ich Hä gesagt habe.“
 

Egal, was die Beiden sagten, ich fand alles nur noch extrem lustig und war die ganze Zeit am Lachen, auch wenn ich weiterhin die Augen geschlossen hielt. Ich hatte das Gefühl ich blieb stundenlang so liegen während Simon versuchte sich zu erinnern, warum er 'Hä' gefragt hatte, solange bis Genesis sagte, dass der Film nun los ginge. Ich wollte mich zu ihnen nach hinten auf die Couch setzen, doch als ich meine Augen öffnete, fühlte es sich an wie ein Absturz.
 

Vor mir drehte sich alles und mein Kopf war schlagartig schwer. Ich hörte auf zu kichern und zu grinsen und schloss wieder meine Augen. Es pochte in meinem Kopf, während ich trotzdem versuchte mich aufzustemmen. Als ich einigermaßen saß und meine Augen erneut öffnete, war mir schlecht. Ich wusste, dass ich kotzen müsste, deswegen zwang ich mich trotz Schwindel auf die Beine und suchte mir meinen Weg zum Badezimmer.
 

Ich stützte mich auf allem ab, was mir in den Weg kam und stolperte beinahe über meine eigene Füße bis ich endlich auf den Fließen im Badezimmer auf die Knie stürzte, den Kopf über der offenen Toilette und kotzte. Alles, was ich heute zu mir genommen hatte, schien wieder hochkommen zu wollen und fand seinen Weg aus meinem Körper heraus. Sofort als ich fertig war, drückte ich ab und legte mich danach neben die Toilette auf die Fließen.
 

Diesmal schien sich die Zeit nicht in die Länge zu ziehen. Es war seltsam aber kaum hatte ich ein paar Sekunden gelegen, fühlte ich mich viel besser. Meine Augen schienen zwar nur noch zweidimensional einen bestimmten Fleck wahr nehmen zu wollen, der seltsam pochte, als hätten die Decke und die weißen Lichter einen Herzschlag, doch mir war kaum noch schwindelig und schlecht war mir gar nicht mehr.
 

Trotzdem blieb ich liegen. Denn diese Szene kam mir extrem bekannt vor. Gerade noch in letzter Sekunde auf die Toilette gekommen, um darüber mein Essen auszukotzen. Einfach liegen bleiben, nicht mehr aufstehen wollen, sich dazu jedoch trotzdem zwingen, auch wenn die Kraft einfach nicht mehr da war. In der letzten Woche hatte ich meine Schule in Berlin fast vergessen können. Ich hatte einfach die Zeit mit meinen besten Freunden genossen, es ebenfalls genossen jemand Neues kennen gelernt zu haben, aber das würde schon bald um sein.
 

In nicht einmal drei Tagen. Dann musste ich zurück nach Berlin, zurück in die Hölle, zurück in ein Haus indem es meinen Vater nicht mehr gab. Von jetzt auf gleich, ohne die Vorwarnung von einem Kloß im Hals und diesem seltsamen Gefühl im Bauch, das wie eine böse Vorahnung war, begann ich zu schluchzen. Ich konnte nicht einmal dagegen ankämpfen, die Tränen quollen aus meinen Augen hervor, flossen seitlich meine Schläfen herunter, sickerten in meine hellbraunen Haare oder fielen auf die weißen Fließen.
 

Ich legte mich seitlich auf den Boden und krümmte mich zusammen, zog die Knie heran und schlang die Arme um meinen Körper als würde ich versuchen mich selbst zu umarmen und mir selbst Schutz zu spenden. Es war unmöglich dagegen anzukämpfen, ich konnte nicht aufhören zu heulen und das machte mich nur noch mehr fertig. Schließlich begann ich schnappartig nach Luft zu ringen. Jemand schien ein Seil um meinen Hals gesurrt zu haben und zog dieses Seil nun so feste zu, dass ich keine Luft mehr bekam. Ich keuchte und hustete. Tränen benetzten weiterhin mein Gesicht und mein gesamter Körper zitterte unkontrollierbar.
 

Ich würde ersticken. Ich war mir zu hundert Prozent sicher ersticken zu müssen und versuchte nach Hilfe zu rufen, doch ich brachte nur erstickende und kaum hörbare Laute heraus. Irgendwann schaffte ich es von selbst besser Luft zu bekommen, ich keuchte immer noch heftig, doch mir wurde bewusst, dass man auf diese Weise nicht ersticken konnte. Mir wurde bewusst, dass ich eine Panikattacke hatte, vielleicht sogar eine Art Nervenzusammenbruch und mir wurde klar, dass ich nicht wollte, dass mich jemand in diesem Zustand sah. Die Badezimmertür war nicht abgeschlossen, doch ich hoffte sehr, dass keiner von den Dreien herein kam und mich in diesem Zustand entdeckte.
 

„Lukas?“

Falsch gehofft. Ich krümmte mich tiefer zusammen, heulte und schnappte nach Luft gleichzeitig, ich presste fest meine schmerzenden Augen zusammen als würde die Person, die gerade reingekommen war so verschwinden.
 

Ich spürte wie sie mir eine Hand auf die Schulter legte und sich vorsichtig über mich beugte. Zwar blickte ich ihr nicht ins Gesicht, doch ich glaubte, dass es Genesis war. Als sie das nächste Mal sprach, war ich mir dann ganz sicher. Ich erkannte ihre Stimme.
 

„Lukas, was hast du denn?“, fragte sie besorgt. „Hast du gekotzt?“

„Geh weg“, würgte ich hervor. „Lass mich, geh weg, schau mich nicht an.“

„Es ist okay“, sagte sie sanft. „Ich kann nicht weggehen, so kann ich dich nicht alleine lassen.“

„Doch“, schluchzte ich. „Bitte, ich will nicht, dass mich jemand so sieht. Ich kann dir doch nie wieder unter die Augen treten. Bitte.“

„Natürlich kannst du das“, widersprach Genesis. „Ich möchte dir nur helfen, warum weinst du denn Lukas?“
 

Ich wollte ihr ein weiteres Mal sagen, dass sie mich in Ruhe lassen soll, doch als ich die Augen öffnete wurde mir wieder schwindelig und dann schwarz vor Augen.
 

Als ich zum ersten Mal wach wurde, war mich schlecht. Mein Kopf pochte, mein Körper schmerzte und ich versuchte die Augen zu öffnen. Doch sie fielen mir sogleich wieder zu und nur Sekunden später war ich wieder eingeschlafen.
 

Als ich zum zweiten Mal wach wurde, ging es mir erheblich besser. Ein leises Summen drückte in meinem Kopf, ansonsten jedoch fühlte sich mein Körper erholt an. Mir war nicht schlecht und ich fühlte mich tatsächlich ausgeschlafen. Vorsichtig setzte ich mich auf und blickte mich in dem Zimmer um, in welchem ich lag.
 

Ein großes Fenster spendete Sonnenlicht, man hörte den Wind durch die Dielen rauschen und im Stockwerk unten drunter ertönten Stimmen. Ich lag in einem großen Bett und mir gegenüber, gleich neben dem überfüllten Kleiderschrank an dem tausende von Taschen hingen, erstrahlte sich ein riesiges Banner von Bob Marley. Auch ohne diesen Banner musste das Zimmer Genesis gehören. Ich kannte das Zimmer nämlich nicht und ihres hatte ich bis jetzt nicht gesehen.
 

Langsam kamen die Erinnerungen an die Nacht hoch. Marihuana war eine wirklich schlechte Idee gewesen und voller Scham erinnerte ich mich an meinen Heulkrampf im Badezimmer und wie Genesis reingekommen war. Sie kannte mich vielleicht eine Woche und fand mich dann in diesem Zustand in ihrem Haus vor und nun hatte ich auch noch in ihrem Bett geschlafen, wie auch immer ich hier gelandet war, es war peinlich. Sie musste sonst was von mir denken. Da lernte ich schon einmal jemand Neues kennen und dann passierte so etwas.
 

Am liebsten würde ich versuchen ungesehen aus dem Haus zu entkommen, doch ich hörte gedämpft die Stimmen von Personen aus dem unteren Stockwerk. Zwar verstand ich nicht über was sie sprachen, aber eigentlich war dies auch egal. Tatsache war, ich würde nicht an ihnen vorbei kommen ohne von ihnen gesehen zu werden.
 

Ich stand aus dem Bett aus und warf einen Blick auf die Uhr, die in Genesis' Zimmer hing. Voller Schrecken stellte ich fest, dass es 17 Uhr am Nachmittag war. Ich hatte den gesamten Tag in Genesis' Bett geschlafen. Ich wollte es nicht glauben und tastete in meinen Hosentaschen nach meinem Handy um zu schauen, was für eine Uhrzeit es mir angab, doch ich konnte es nicht finden. Suchend blickte ich mich im Zimmer um und fand es gleich auf dem Nachttisch.
 

Als ich auf den Display blickte, sah ich, dass ich mehrere verpasste Anrufe und SMS hatte. Welche von Simon, Lynn, Genesis, von Mum und Alex. Ich spürte wie mir heiß wurde. Bitte, sie durften nicht alle wissen, was geschehen war. Ich löschte die verpassten Anrufe und schaute die SMS durch. Simon bat mich darum Bescheid zu geben, wenn ich wach war; Lynn hatte bloß 'Wie geht es dir?' geschrieben und dies bereits vor vier Stunden; Genesis hatte mir geschrieben ich soll runter in die Küche kommen, wenn ich wach war; Mum fragte mich darum anzurufen und Alex hatte mir geschrieben, Mum würde sich Sorgen machen und ihr damit auf die Nerven gehen, deswegen solle ich doch bitte endlich anrufen.
 

Ich wollte nicht anrufen, ich wollte Simon nicht Bescheid geben, dass ich wach war und wollte Lynn nicht schreiben, wie es mir ging. Nicht solange ich keine Ahnung hatte, was noch passiert war als ich meinen Heulkrampf hatte. Missmutig packte ich mein Handy weg, legte eine Hand auf die Klinge von der Zimmertür und verharrte für einige Sekunden. Wenn nicht bereits 17 Uhr wäre, würde ich weiterhin in dem Zimmer bleiben und so tun als würde ich noch schlafen, doch ich konnte meine Aufenthaltszeit hier nicht noch weiter strapazieren, deswegen sog ich tief Luft ein, sprach mir selbst Mut zu und öffnete die Tür.

Simons Überraschung

In der Küche saß Genesis am Tisch mit noch leicht geröteten Augen und müdem Blick, zwischen ihren blassen Fingern eine dampfende Tasse Kaffee. An der Küchentheke stand der Freund ihrer Mutter gelehnt und aß genüsslich Schokolade. Als ich herein kam wandten sich die Blicke der Beiden mir zu und sie verstummten in ihrem Gespräch.
 

„Ausgeschlafen?“, fragte Genesis mich belustigt. Ich antwortete nicht, sondern schluckte bloß und ließ den Blick beschämt zu Boden sinken. Der Freund ihrer Mutter machte einen Schritt auf mich zu und streckte die freie Hand aus, um mich zu begrüßen. Ich ergriff sie.
 

„Hey, mein Name ist Detlev und du musst Lukas sein. Habt es gestern wohl ein wenig übertrieben?“, fragte er grinsend.

„Scheint so“, murmelte ich betreten.

„Kein Grund sich zu schämen“, versicherte er mir. „Wenn du wüsstest, was ich in eurem Alter alles angestellt habe...“

„Jetzt bitte keine Geschichten aus deiner Jugend“, sagte Genesis und lachte. „Die kenn ich schon alle!“

„Aber noch lange nicht. Irgendwann erzähl ich dir mal was“, sagte Detlev mir mit einem Augenzwinkern und verließ dann die Küche. „Ich lass euch dann mal alleine.“
 

Ich hörte wie er ins Wohnzimmer ging, dann wandte ich mich mit gesenktem Blick Genesis zu. Natürlich wollte ich fragen, was passiert war, aber als ich versuchte meine Stimme anzuheben, kam nur ein Hüsteln hervor.

„Setz dich“, sagte Genesis und deutete auf den Platz gegenüber von ihr. Ich ließ mich darauf nieder, faltete die Hände auf dem Tisch zusammen und starrte meine Fingernägel an. Ich konnte Genesis einfach nicht mehr ansehen, nicht nachdem sie mich in diesem Zustand vorgefunden hatte.
 

„Wie viel weißt du noch von gestern?“, fragte sie.

„Hm“, machte ich nur und schüttelte leicht den Kopf. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn wieder und beobachtete wie mein rechter Daumen über meine linke Handfläche fuhr. „Bisschen was...“
 

Für einige Sekunden schwiegen wir uns an, dann sagte Genesis in ihrer ruhigen, rauchigen Stimme: „Weißt du, die Sache mit Marihuana ist, dass man nicht zwangsläufig gute Laune bekommt. Marihuana ist eine Droge, die die Gefühle, welche man gerade hat, verstärkt. Die meisten Leute sind gut drauf, wenn sie Marihuana oder Hasch zu sich nehmen, aber wenn man um seinen verstorbenen Vater trauert, sollte man lieber die Finger davon lassen.“
 

Wie aus Reflex zog ich mir die Kapuze meiner dünnen Jacke über meinen Haarschopf, stützte meinen Kopf auf eine Hand und begann mit der anderen am Tisch rum zu kratzen.

„Haben Simon und Lynn dir das erzählt?“, fragte ich leise.

„Nein, das hast du mir selbst erzählt“, antwortete Genesis. „Du hattest gestern einen Nervenzusammenbruch. Als ich zu dir bin, wolltest du, dass ich abhaue, weil du dich geschämt hast, dann bist du ohnmächtig geworden. Gerade als ich zu Simon und Lynn gehen wollte, bist du plötzlich wieder aufgewacht und hast total schwer geatmet, als hättest du die Ohnmacht hindurch die Luft angehalten. Du hast dich aufgesetzt, weil du keine Luft mehr bekommen hast und ich hab versucht dich zu beruhigen. Ich hab dir gesagt, dass alles okay ist, du hast widersprochen und gemeint, dass nichts okay ist und du nicht wieder zurück nach Berlin kannst. Du wolltest nicht, dass ich jemandem Bescheid gebe, aber dein Kreislauf ist ständig wieder abgeschmiert, du hast zwischendurch kaum noch Luft bekommen und du hast gesagt, wenn du in Berlin bist, willst du nicht mehr leben... und, dass du deinen Vater vermisst und, dass du sauer auf ihn bist, weil du das Gefühl hast, er hätte dich im Stich gelassen, auch wenn er nichts dafür kann und du fühlst dich schlecht, weil du deswegen sauer bist. Es war echt heftig und ich hatte Angst, dass du dir was antust, wenn ich dich alleine lasse.“
 

„Hast du jemandem Bescheid gesagt?“, murmelte ich. Nun hielt ich meine Hand so vor mein Gesicht, dass Genesis mir nicht mehr in die Augen schauen konnte. Ich spürte, dass meine Wangen knallrot waren und mein Herzschlag pochte vehement gegen meine Schädeldecke.

„Nein“, antwortete Genesis schlicht. „Ich habe dich solange beruhigt bis du selbstständig aufstehen konntest, dann habe ich dich hoch in mein Bett gebracht und bin solange bei dir geblieben bis du eingeschlafen bist. Und das war irgendwann gegen acht Uhr morgens.“

„Ach du scheiße“, flüsterte ich. „Und Simon und Lynn?“

„Die waren so drauf, die haben gar nichts mehr mitbekommen. Sie sind im Laufe der Nacht eingeschlafen und heute morgen so gegen zehn Uhr aufgewacht. Natürlich haben sie gefragt, wo wir gestern plötzlich geblieben sind, da hab ich ihnen erzählt du hättest kotzen müssen und dir wäre es wegen dem Marihuana total schlecht gegangen. Ich konnte sie dazu überreden schon mal nach Hause zu gehen. Niemand weiß, was gestern passiert ist, nur wir Beide.“
 

Ich senkte meine Hand und blickte Genesis nun doch an, voller Dankbarkeit. Sie schien keineswegs sauer zu sein.

„Danke“, sagte ich. „Und Entschuldigung, ich hab dir den Abend versaut.“

„Ist okay“, sagte sie schulterzuckend. „Hab so was schon mal bei einer Freundin erlebt. Sie hat getrunken, zwei Tage nachdem ihr Freund mit ihr Schluss gemacht hat, und hatte dann ebenfalls so einen Nervenzusammenbruch.“

„Okay...“
 

Wieder trat Schweigen zwischen uns ein. Ich spürte Genesis' Blick auf mir liegen, während ich wieder meine Hände betrachtete, dann unterbrach ein lautes Rumpeln gefolgt von Fluchen die Stille. Ehe einer von uns Beiden reagieren konnte, ertönte die Stimme von Detlev aus dem Wohnzimmer: „Lasst euch nicht unterbrechen!“

„Alles okay?“, fragte Genesis belustigt. „Sind wieder die Bücher runter gefallen?“

„Immer!“, rief Detlev genervt zurück. Wir hörten wie er grummelnd über die Bücher fluchte und schauten uns mit einem stummen Grinsen an.
 

„Hast du Hunger? Wir könnten zusammen was essen gehen, dann bringe ich dich bei Simon vorbei und wir vergessen die Sache von gestern einfach. Außer natürlich du willst darüber reden?“

„Nein, lass mal“, sagte ich. „Erst mal ruf ich meine Mutter zurück, dann können wir was essen gehen.“
 

Ich ließ diesen für mich sehr kurzen Tag bequem mit Genesis ausklingen mit Kaffee aus Starbucks, einem Sub und einem Schlendern durch die Stadt. Dabei unterhielten wir uns über alles, nur nicht über die gestrige Nacht. Es gab ein paar witzige Dinge an die ich mich erinnern konnte, ich wusste auch, dass alles bis zum Badezimmer lustig gewesen war, aber ich konnte mich kaum noch an die Dialoge erinnern. Gerne würde ich ein paar gute Erinnerungen an gestern aufkommen lassen, doch ich wusste nicht wie ich anfangen sollte und überhaupt hatte ich Angst am Ende landen wir bei dem Gespräch doch beim Nervenzusammenbruch.
 

Meine Mutter hatte ich angerufen. Sie wollte nur wissen, wie es mir ging, was ich machte und, ob alles für die Rückfahrt bereit wäre. Zwar war diese erst in zwei Tagen, aber meine Mutter wurde sentimental wenn es darum ging, dass ich irgendwohin alleine fuhr. Dann machte sie sich unentwegt um mich Sorgen bis ich angekommen war und sie sicher gehen konnte, dass es mir gut ging. Simon und Lynn hatte ich Bescheid gesagt, dass ich noch in der Stadt war und, dass ich mich gut fühlte.
 

Gegen neun Uhr am Abend kamen Genesis und ich bei Simon an. Sie wollte unbedingt mitkommen und schauen, wie es Simon ging, denn er hätte sich am Morgen über schreckliche Kopfschmerzen beschwert, doch uns erwartete eine Überraschung.
 

Ich öffnete das kleine Tor, das zum Vorgarten der Fuchses führte und wandte mich der Eingangstür zu, welche seltsamerweise offen stand. Genesis war hinter mir noch etwas am Erzählen, doch ich hörte ihr nicht mehr zu. Unter ihre Stimme mischten sich nun laute Stimmen aus dem Haus, die sich anschrien und eine Stimme gehörte auf jeden Fall Simons Vater. Genesis verstummte hinter mir als sie es ebenfalls bemerkte und wir blieben gleichzeitig wenige Zentimeter vor der Eingangstür stehen.
 

„Schreit er Simon an?“, fragte Genesis leise. „Weiß er vom Hasch?“

Zur Antwort zuckte ich bloß kaum merklich mit den Schultern. Ich hatte das Gefühl mein Herz hätte ausgesetzt als ich den letzten Schritt ging und die Tür aufdrückte. Alles in mir betete bloß, dass Simons Vater nichts von dem Hasch wusste, doch kaum waren wir einige Schritte im Haus, wusste ich, dass er nicht Simon anschrie. Die zweite Stimme gehörte einer Frau. Für einen schrecklichen Moment dachte ich, er würde mit Martina streiten, doch kaum eine Sekunde später, als wir im Wohnzimmer ankamen, stand Martina dort mit einem Bademantel über dem Körper und verschränkten Armen, das Gesicht besorgt und unzufrieden verzogen.
 

„Simons Mutter?“, fragte ich leise, weil mir nichts besseres einfallen wollte.

„Ja“, nickte sie. „Ich wollte zu Simon und ihn ablenken, aber er lässt mich nicht ins Zimmer. Vielleicht dringst du zu ihm durch, bitte Lukas.“

„Ich versuche es.“
 

Ich wandte mich zu Genesis um. In diesem Moment wurde mir klar, dass Simon vor ihr nicht über seine Gefühle reden würde, denn er kannte sie nicht gut genug dafür. Ich suchte nach den richtigen Worten, um Genesis nach Hause zu schicken ohne dabei gemein zu klingen, doch wieder schien sie meine Gedanken lesen zu können. Oder sie besaß selbst genug Verstand und Feingefühl, um zu erkennen, dass sie in dieser Situation unerwünscht war.
 

„Dann geh ich besser Heim“, sagte sie. „Schreib mir eine SMS oder so, wenn das hier geklärt ist. Nur damit ich weiß, wie es Simon geht.“

„Ich hab deine Nummer nicht“, murmelte ich.

„Ich schreib sie auf“, schaltete sich Martina dazwischen, im gleichen Moment indem Simons Eltern in der Küche lauter wurden. Ich versuchte nicht hinzuhören, doch mehrfach war der Name von Simons Stiefvater gefallen und Simons Mutter gebrauchte öfters die Worte „Er ist auch mein Sohn!“
 

Dankbar nickte ich Martina zu, verabschiedete mich von Genesis mit einer Umarmung und einem weiteren „Danke nochmal wegen gestern“ und ging zu Simons Zimmer. Vorsichtig ging ich bis an die geschlossene Tür ran und drückte sanft die Klinke runter, doch die Tür war abgeschlossen. Leise klopfte ich gegen das Holz und von drinnen kam ein genervtes: „Ich hab doch gesagt, lass mich in Ruhe!“
 

„Simon, ich bin's“, sagte ich laut. „Komm schon, lass mich rein.“

Ich hörte wie er zur Tür ging und sie aufschloss, Simon öffnete sie einen Spalt, dann entfernten sich seine Schritte wieder. Schnell schlüpfte ich ins Zimmer und schloss die Tür wieder hinter mir. Die streitenden Stimmen von Simons Eltern klangen nun nur noch dumpf und kaum verständlich.
 

Simon saß auf seinem Bett, zog gerade die Beine heran und machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Es kam nicht häufig vor, dass man Simon schlecht gelaunt sah. Ich fand immer er sah ein wenig beleidigt aus, wenn er schlechte Laune hatte. Mit verzogenem Gesicht lehnte er an der Wand und zupfte unablässig an seiner Hose. Ohne groß zu überlegen ging ich zu ihm hin und setzte mich neben ihn, legte den Kopf in den Nacken und seufzte hörbar.
 

„Warum streiten sie?“, fragte ich vorsichtig.

„Mum will, dass ich mal wieder zu ihr komme und Dad will es nicht wegen meinem Stiefvater“, antwortete Simon murmelnd.

„Und was willst du?“

„Ich weiß es nicht.“
 

Okay. Bis hier hin kam ich, jetzt hatte ich keine Ahnung mehr, was ich sagen sollte. Ich war nicht sonderlich gut darin Leute zu trösten und zu motivieren. Seit dem mein Vater gestorben war, war ich darin nur noch schlechter, weil es mir selbst beinahe ständig mies ging. Für einige Sekunden, die sich anfühlten wie Minuten, weil ich das Gefühl hatte etwas sagen zu müssen, saßen wir bloß schweigend nebeneinander.
 

Dann sagte Simon: „Mir macht es nichts aus kaum noch Kontakt zu meiner Mutter zu haben. Früher war es schlimmer, mittlerweile ist es mir egal geworden. Sie will lieber mit meinem Stiefvater zusammen sein als mit mir also brauche ich sie auch nicht in meinem Leben. Aber... dann denke ich an deinen Dad und daran, dass du keine Möglichkeit mehr hast, ihn noch einmal zu sehen und ich habe aber die Möglichkeit meine Mutter zu sehen, also...“

„Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben“, unterbrach ich ihn direkt. „Das sind zwei völlig unterschiedliche Situationen. Wenn du nicht zu ihr willst, musst du auch nicht zu ihr.“

„Ja, denke ich auch“, murmelte Simon.
 

Wieder trat Stille zwischen uns ein. Wir hörten wie im Haus Türen zugeschlagen wurden, dann sprang die Tür zu Simon Zimmers auf und seine Mutter stand im Raum. Hochrot vom Streit, die Haare sahen aus als hätte sie sich sie die ganze Zeit über gerauft, die Hände in die Hüften gestemmt.

„Simon!“, sagte sie gebieterisch. „Ich möchte, dass du das Wochenende bei mir verbringst. Lukas kann auch gerne mitkommen bis er wieder zurück nach Berlin fahren muss. Du bist mein Sohn, ich vermisse dich und hätte dich gerne wieder um mich.“

„Aber nicht, wenn Bernd da ist“, sagte Simon und meinte damit seinen Stiefvater. „Mum, du bist mit ihm zusammen gekommen und er hat mich nicht leiden können. Du hast nie mitbekommen, wie er zu mir war und geglaubt hast du mir auch nicht. Ich hab gesagt ich zieh zu Dad, wenn er bleibt und du hast ihn trotzdem geheiratet.“

„Aber Bernd soll doch nicht der Grund sein, dass wir uns nicht mehr sehen“, sagte seine Mutter und ließ die Hände sinken, ihre Stimme wurde ruhiger und sie kam ein paar Schritte auf uns zu.
 

Ich fühlte mich furchtbar fehl am Platz und wollte rausgehen, damit die Beiden alleine reden konnten, doch als ich mich bewegte, hielt Simon mich am Arm fest und zog mich wieder zu sich. Gezwungenermaßen blieb ich also bei ihm sitzen und betrachtete unruhig einen unbestimmten Punkt auf Simons Bettdecke.
 

„Bernd ist auch nicht der Grund“, schüttelte Simon seufzend den Kopf. „Der Grund ist, dass du nie darauf eingehst, wenn ich dir sage, dass er mich früher geschlagen hat.“

„Lass uns in Ruhe darüber reden, Simon“, sagte seine Mutter. „Nur wir Beide.“

„Nein, ich will nicht mit dir darüber reden, es ist zu spät!“, erwiderte Simon. „Geh einfach, ich komm übers Wochenende nicht zu dir.“
 

Sie setzte noch einmal zum Satz an, doch ehe ein Laut über ihre Lippen kommen konnte, wiederholte Simon heftiger: „Geh!“

Die Beiden blickten sich einige Momente lang an. Simon auffordernd und bestimmt, seine Mutter deutlich verletzt und geschockt. Für einen Augenblick war ich mir sicher sie würde nicht locker lassen, doch sie wandte sich um und verließ das Zimmer ihres Sohnes. Wir hörten wie sie ebenfalls zur Eingangstür rausging und Martina und Simons Vater kamen vorsichtig zu uns.
 

„Alles okay bei dir?“, fragte sein Vater.

„Läuft“, antwortete Simon trocken. „Ich will nicht darüber reden, wehe jemand spricht mich darauf an.“

„Sollen wir euch alleine lassen?“, fragte Martina.

„Ja“, sagte Simon dumpf.
 

Die Beiden schlossen die Zimmertür und ich hörte wie sich ihre Schritte vom Raum entfernten. Für einen Moment sah Simon gequält aus, als würde er weinen wollen, doch ich kannte ihn zu gut, um dies wirklich anzunehmen. Simon weinte nie, er schluckte alles und lebte weiter als wäre nichts gewesen.

„Mir geht’s mies“, seufzte Simon. „Und dir geht’s auch mies.“

„Mir geht’s seit einer ganzen Weile mies“, sagte ich. „Aber was sollen wir machen... ich würde sagen wir leben nach deinem Lieblingsmotto. Was anderes bleibt uns doch nicht übrig.“

„Ja, am Ende wird alles wieder gut und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende“, sagte Simon und lächelte matt.

„Und in diesem Sinne: Ich will eine Revanche in CoD, diesmal zocke ich dich ab!“

„Von wegen!“
 

Wir sprangen beide vom Bett auf und griffen nach den Playstation-Controllern. Auf Simons Lippen bildete sich ein ehrliches Lächeln und wie immer konnte ich ihn für seine gute Laune und seine Stärke nur bewundern.

Zurück in die Hölle

Erstaunlich wie schnell die Herbstferien rum waren. Mir kam es vor als wäre ich erst gestern angereist und nun stand ich neben dem Zug, der mich zurück nach Berlin bringen würde, und blickte die vor mir Versammelten an. Simons Vater, Martina, Simon, Lynn, Lynns ältere Schwester Liane und Genesis.
 

„Mach bloß, dass du in den Winterferien wiederkommst“, mahnte Genesis als sie mich zum Abschied umarmte.

„Ja, unsere Tür steht immer für dich offen“, sagte Martina liebevoll und gab mir einen Kuss auf die Wange. Simons Vater klopfte mir auf die Schultern und gleich darauf fiel mir Lynn um den Hals, die Tränen in den Augen hatte.
 

„Kein Grund zum Weinen“, murmelte ich.

„Doch, ich will nicht, dass du wieder nach Berlin gehst“, jammerte sie. „Du gehörst doch zu uns!“

„Ich komm ja wieder“, beruhigte ich sie und gleichzeitig versuchte ich damit auch mich zu beruhigen, denn ich wollte nichts weniger als in diesen Zug zu steigen. Natürlich vermisste ich meine Mutter und meine kleine Schwester, doch mir wäre es viel, viel lieber sie würden herkommen und wir würden hier wohnen und ganz entschieden nicht in Berlin.
 

„Beim nächsten Mal kannst du ja auch bei uns wohnen“, sagte Liane mit einem scherzhaften Grinsen auf den Lippen. Ungewollt blickte ich sie sogleich geschockt an und die Versammelten begannen zu lachen.

„War nur ein Scherz“, kicherte Liane.

„Nicht, dass ich euch nicht leiden kann“, brachte ich ein wenig beschämt heraus. „Es ist nur...“

„Schon okay, mit uns drei Mädels würdest du es keine zwei Tage aushalten“, winkte Liane ab. „Ich hab ja nur einen Scherz gemacht.“
 

Sie umarmte mich ebenfalls zum Abschied. Natürlich mochte ich sie, ebenso wie ich Lynns jüngere Schwester mochte, aber wenn die Dreien zusammen waren, war der Zickenkrieg bereits vorprogrammiert. Es wäre reiner Selbstmord bei ihnen für länger als eine Nacht zu bleiben und das wussten die hier Versammelten. Jeder von ihnen wusste es. Weil sie sich alle untereinander kannten, als wären sie eine Familie. Und ausgerechnet ich war derjenige, der diese Familie nun verlassen musste.
 

Zum Schluss umarmte ich Simon und am liebsten hätte ich ihn nicht wieder losgelassen. Ich spürte wie seine schwarzen Haare mein Gesicht kitzelten und presste fest die Augen zusammen in der Hoffnung, wenn ich sie wieder aufmache, würde ich nicht länger am Bahnhof stehen, sondern bei ihm Zuhause. Mich würde die Erkenntnis treffen es waren gerade mal zwei Tage um und keine zwei Wochen, doch als wir uns wieder voneinander lösten und ich die Augen öffnete, standen wir immer noch am grauen Bahnhof.
 

Züge fuhren auf anderen Gleisen vorbei, Menschen tummelten sich über dem Bahnsteig, schleppten Koffer hin und her, sammelten sich plaudernd und lachend in Gruppen oder liefen alleine telefonierend durch die Gegend. Mittendrin standen Simon und ich und blickten uns stumm an. Anhand seines Gesichtsausdrucks konnte ich erkennen, dass er mich nicht gehen lassen wollte. Gerne hätte ich etwas gesagt, doch ich spürte diesen altbekannten und verhassten Kloß in meinem Hals, der gegen meine Kehle drückte. Ich wollte weinen, aber das konnte ich vor all den Leuten doch nicht machen. Nicht schon wieder vor Genesis. Es wäre zu peinlich.
 

„Ich steig dann mal ein“, sagte ich mit einem Blick auf die Uhr. „Sonst fährt er ohne mich.“

„Wir telefonieren“, sagte Genesis, während Simons Vater mir half den Koffer in den Zug zu bekommen.

„Ja, wir auch“, kam es von Simon und Lynn beinahe gleichzeitig.

„Denk an das, was ich dir gesagt habe“, winkte Martina mit einem aufmunternden Lächeln und Liane rief: „Und richte deiner Familie liebe Grüße aus.“

„Von uns allen“, fügte Simons Vater hinzu, dann stieg ich meinem Koffer hinterher in den Zug ein, wandte mich ein letztes Mal zu den vielen geliebten Gesichtern um und gleich darauf fielen die Türen zu.
 

Mir kam es vor als wäre ich nur zwei Tage und keine zwei Wochen in Nordrhein-Westfalen gewesen. Schneller wie mir lieb war, war ich also wieder zurück in Berlin und wurde am Bahnhof von Mum abgeholt. Zur Begrüßung umarmte sie mich, blickte mich dann mit skeptisch zusammen gezogenen Augenbrauen an.

„Was ist mit deinen Augen?“, fragte sie und ich antwortete schulterzuckend: „Ich bin nur müde.“

Ich schenkte ihr ein Lächeln welches sie überzeugte, doch als sie sich umwandte, erstarb das Lächeln auf meinen Lippen. Kaum war ich zurück, begann ich auch schon wieder meine Familie anzulügen. Meine Augen sahen rot und entzündet aus, weil ich im Zug geheult hatte.
 

Gerade war der Zug ein paar Minuten von meinen Freunden fort gewesen, da war es auch schon über mich gekommen. Die Leute mit denen ich gemeinsam in einem Abteil gesessen hatte, hatten mich alle mitleidig angeschaut, aber niemand hatte mich angesprochen.
 

Im Auto, auf dem Weg nach Hause, wollte ich am liebsten geistesabwesend aus dem Fenster starren und nichts sagen oder tun, doch Mum durchlöcherte mich mit Fragen wie es denn bei Simon gewesen war. Ich wusste, vorher hatte ich immer viel von meinen Freunden erzählt, witzige Dialoge zitiert, Situationen komisch wiedergegeben, aber gerade war mir danach gar nicht zumute. Tatsächlich fiel mir nur eine Sache ein über die ich lange reden wollte und konnte und diese Sache hieß Genesis Thomas.

Natürlich ließ ich alles aus, was mit der grässlichen Hasch-Nacht und meinem Zusammenbruch zu tun hatte.
 

Während ich über Genesis erzählte, fiel mir auf, dass sie die einzige Person war, die wirklich wusste, wie schlecht es mir ging. Nun ja, wirklich. Auch sie wusste nicht, dass ich in der Schule gemobbt wurde. Und schon musste ich wieder daran denken. Ich hatte nur noch einen freien Tag bevor es zurück in diese Hölle gehen würde.
 

Als wir zuhause ankamen, wollte ich mich in meinem Zimmer einsperren unter dem Vorwand, dass ich dringend Schlaf nötig hätte. Doch als ich den Raum betrat, wurde mir eine Überraschung geboten, die ich keinesfalls erwartet hatte. Die kahle Wand über meinem Bett war gar nicht mehr so kahl, sondern geschmückt mit Erinnerungen. Sämtlicher Inhalt aus meiner kleinen Box war an die Wand geheftet und getackert wurden und es sah einfach nur schön aus. Ich erkannte sofort, dass dies das Werk meiner kleinen Schwester war.
 

Bilder von Klassenfahrten, Ausflügen und der Abschlussfeier waren außen. Bilder mit Familie und vor allem Freunden gingen wie in einem Kreis zur Mitte hin, wo ein großes Foto klebte, welches Alex scheinbar extra ausgedruckt hatte, denn ich konnte mich nicht erinnern ein so großes Foto zu besitzen. Es war mein Lieblingsfoto. Darauf zu erkennen waren Simon, Lynn und ich. Lynn in der Mitte, verschmitzt am lächeln, dass ihre runde Wangen wie Pausbäckchen aussahen; Simon schaute verwirrt in die Kamera als hätte er nicht mitbekommen, dass wir ein Foto machen und ich strahlte über beide Gesichtshälften.
 

Zwischen den Fotos klebte ein Bändchen von einem Festival, bei welchem ausschließlich Bands aufgetreten waren, die kaum jemand kannte. Geburtstagskarten, zwei Konzertkarten, Urlaubskarten, ein im Unterricht selbstgemaltes Bild von Lynn, welches ziemlich albern aussah und alles wurde eingerahmt von einer Lichterkette, die Simon für unsere Abschlussfeier gebastelt hatte. Eigentlich hatte er ganze 37 Lichterketten gebastelt, dafür knappe vier Stunden gebraucht und sich unentwegt darüber aufgeregt, dass er sich für diese Arbeit auch noch freiwillig gemeldet hatte. Als die gesamte Feier dann zu Ende gewesen war, wollten wir die Lichterketten nicht wegschmeißen, weil sich Simon nun einmal so viel Mühe gemacht hatte. Also hatte jeder eine Lichterkette mit nach Hause genommen. Ihm zu Liebe. So etwas würde es in meiner neuen Klassenstufe niemals geben.
 

Überwältigt von dieser Überraschung ließ ich meine Reisetasche fallen und sank langsam zu Boden. Minutenlang kniete ich nur dort und dachte an all die Erlebnisse zurück, die ich mit den Fotos und Gegenständen verband, bis ich schließlich einen schwarzen Schriftzug erkannte, der sich unter dem Meisterwerk auf der Wand schlängelte. Ich feinen Lettern hatte meine Schwester geschrieben: „Weine nicht, weil es vorbei ist, sondern lache, weil du es erlebt hast.“
 

Ich musste lächeln und gleichzeitig hatte ich Tränen in den Augen. Sie hatte ja Recht und ich würde noch so viel mehr erleben können. Ich musste nur die Oberstufe überleben, danach konnte ich gleich wieder zurück nach Nordrhein-Westfalen in eine eigene Wohnung ziehen. Mit neuem Mut erhob ich mich und begann meine Tasche auszuräumen, versuchte an alles, was mit glücklich machte zu denken und keinen Gedanken an die Schule zu verschwenden.
 

Am Abend kam Alex wieder nach Hause und ich fing sie gleich an der Eingangstür mit einer Umarmung ab. Für einen Moment schien sie überrascht zu sein, dann lehnte sie sich gegen mich und ließ sich von mir durch die langen, herbstbraunen Haare streichen.
 

„Danke für die Wand“, sagte ich leise.

„Kein Problem.“
 

Wir gingen wieder auseinander und lächelten uns an.

„Du bist nicht mehr so blass wie vor den Ferien“, stellte Alex zufrieden fest.

„Ja... und du hast dich mit Julian getroffen?“, fragte ich und versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen, doch Alex verdrehte sogleich stöhnend die Augen und rauschte an mir vorbei.

„Du hast es echt nicht vergessen“, schüttelte sie den Kopf, während ich die Eingangstür zuschloss und ihr hinterher in die Küche folgte.
 

„Klar, hab ich es nicht vergessen. Wie ist es gelaufen? Ist er immer noch so toll? Wollte er was von dir?“

In der Küche angelangt, blieb ich vor dem Tisch stehen und Alex drehte sich mir mit einer Wasserflasche in der Hand zu.

„Na gut, ich erzähle es dir“, sagte sie. „Aber nur, wenn du mir erzählst, was in deiner Schule abgeht.“

„Wie, was in meiner Schule abgeht?“, fragte ich und spürte wie mir heiß wurde. Konnte sie merken, dass ich in der Schule gemobbt wurde? Ich versuchte verwirrt auszusehen, doch meine Panik war größer.
 

„Du weißt genau, was ich meine“, sagte Alex und setzte einen vielsagenden Blick auf. „Du schwänzt ständig, dir ist total oft schlecht, du erzählst so gut wie nichts von der Schule. Was ist da los?“
 

Für einige Momente schaute ich sie überrumpelt an. Mein Mund war leicht geöffnet, ich hielt mich mit beiden Händen am Türrahmen fest, eine Hand auf jeder Seite, ein paar Strähnen meines hellbraunen Ponys fielen über meine entsetzten und panischen Augen, die auf Alex gerichtet waren. Sollte ich es ihr erzählen? Ich hatte Alex immer alles erzählen können. Ich könnte ihr ja wenigstens ein wenig von der Wahrheit erzählen, sozusagen die Halbe oder auch nur ein Viertel.
 

„Ehm“, machte ich, um ein wenig Zeit zu schinden. Nervös trommelte ich mit den Fingern gegen den Türrahmen, ließ den Blick über die weiße Decke streifen und wieder zurück zu Alex, die mich erwartungsvoll anschaute.

„Ich hab keine Freunde in der Schule“, sagte ich langsam. „Und keine Leute mit denen ich mich wenigstens etwas verstehen würde.“

„Sie ignorieren dich einfach?“, hakte Alex nach. „Oder zeigen sie dir irgendwie, dass sie dich vielleicht nicht leiden können. Durch dumme Sprüche und so was?“

„Nein, ich bin einfach nur ein Außenseiter mit dem niemand sprechen will“, sprudelte die Lüge aus meinem Mund heraus ehe ich darüber wirklich nachdenken konnte. Im selben Zug bemerkte ich, dass dies nicht unbedingt ausreichte, um sich morgens vor der Schule übergeben zu müssen, also fügte ich hinzu: „Ich denke einfach mir geht es immer noch so schlecht wegen dem Umzug und wegen Dad. Du weißt schon...“
 

Alex nickte nur knapp, widmete sich dann der Wasserflasche. Öffnete sie, schenkte sich etwas zu Trinken ein und ließ eine unangenehme Stille über uns kommen, die nur durch das stetige Ticken der Uhr unterbrochen wurde. Wie gut kannte Alex mich? Merkte sie, wenn ich sie anlog? Ich versuchte es herauszufinden in dem ich meine Schwester genauer beobachtete, doch in ihren Gesichtszügen war keine Regung zu sehen. Schließlich wandte sie sich wieder mir zu und sagte leise: „Tut mir leid, dass es dir immer noch so schlecht geht.“

„Muss es nicht“, winkte ich sogleich ab. „Wird wieder besser...“
 

Mit diesem Satz konnte ich nicht einmal mich selbst überzeugen. Er kam so herzlos über meine Lippen, so unentschlossen, dass Alex sofort merken musste, dass ich es nicht ernst meinte. Ich redete mir ein, sobald die Oberstufe um war, würde alles wieder super werden, aber bis dahin waren es immer noch über zweieinhalb Jahre. Es fühlte sich so fern an... wie ein unerreichbares Ziel...
 

„Jetzt aber zu Julian“, wechselte ich schnell das Thema. „Na, wie ist er so?“

„Toll“, antwortete Alex in der gleichen verliebten Stimme wie vor meiner Abreise nach Nordrhein-Westfalen. „Wir haben uns ein paar Mal in den Ferien getroffen, erst immer mit Freunden, zum Schluss zwei Mal alleine. Und er hat mich ins Kino ausgeführt und mir mein Essen bezahlt.“

„Ist was zwischen euch passiert?“

„Er hat mir einen Kuss auf die Wange gegeben zum Abschied. Ich glaube, das wird was.“
 

Alex strahlte mich über beide Gesichtshälften an und ich blickte finster zurück.

„Vorher möchte ich ihn aber kennen lernen. Ohne meine Erlaubnis -“

„Deine Erlaubnis?“, fuhr Alex dazwischen. „Ich brauch deine Erlaubnis nicht und er auch nicht. Freue dich einfach für mich, bitte.“

„Hmm“, machte ich und versuchte mir ein Lächeln auf die Lippen zu zwingen. „Ich halte dich mit 14 für immer noch für zu jung.“

„In zwei Wochen bin ich 15.“

„Das ist auch zu jung!“
 

Alex musste lachen und schüttelte dabei den Kopf.

„Ich finde das gar nicht witzig“, empörte ich mich. „Wenn er dir weh tut, töte ich ihn.“

„Kannst du ja dann machen“, kicherte meine Schwester. „Aber er wird mir garantiert nicht weh tun. Er ist einfach zu toll dafür.“

Ein Augendrehen konnte ich mir nichts verkneifen.
 

Der Rest des Abends verlief schön. Alle Gedanken an morgen verdrängte ich halbwegs erfolgreich, erst als ich im Dunkeln im Bett lag und an die schwarze Decke starrte, kamen die Erinnerung an die sechs Wochen Hölle zurück. An den Rucksack und die Tatsache, dass ein Bild von mir gemacht wurde. Meine Angst, dass dieses Foto irgendwie im Internet gelandet war, war groß. Und wenn ich nun zurück kam und einfach jeder hatte dieses Foto gesehen? Alle kannten es und würden mich dafür auslachen?

Ich schlief in dieser Nacht nicht gut.
 

Montags erwachte ich mit nur einer Stunde Schlafintus. Ich war so müde, dass ich nicht einmal darüber nachdenken konnte, wie ungern ich in die Schule wollte. Schwerfällig schleppte ich mich ins Badezimmer, wusch kurz mein Gesicht, zog mir frische Klamotten an, sprühte mich mit Deo ein und schaute dann in den Spiegel. Einige Haarsträhnen fielen über meine Augen, die verschleiert wirkten. Es war einer dieser Momente, in denen man in den Spiegel schaute und sich fragte „Wer ist diese Person, dir mir dort entgegen schaut?“
 

Warum lächelte ich nicht mehr? Mir kam es vor als hätte ich das Lachen verlernt seit dem mein Vater gestorben war. Obwohl ich weiß, dass ich in den Herbstferien – bei meinen Freunden – gelacht habe, kam es mir vor wie in einem Traum. Als wäre dies alles gar nicht wirklich geschehen und würde bereits so weit zurückliegen, dass die Erinnerungen langsam verblassten. Nur eine Erinnerung stach gerade hervor: Der Nervenzusammenbruch im Badezimmer. Zu gut konnte ich mich an das Gefühl der Verzweiflung erinnern, das mich dort übermannt hatte und jetzt kam es zurück.
 

Ich spürte wie mein Herz schneller schlug und stützte mich mit beiden Händen auf dem Waschbecken ab, den Blick vom Spiegel entfernt, das weiße Porzellan fixiert. Durch die Nase bekam ich nicht mehr genügend Luft, ich begann schwer durch den Mund zu atmen. Ich blies die Luft spitz aus, schloss die Augen und tat alles, um mich selbst zu beruhigen.

„Keine Angst“, wisperte ich mir selbst zu. „Der erste Tag nach den Ferien ist noch gar nicht so wichtig. Wenn es dir zu viel wird, kannst du einfach wieder heim gehen. Genau das machst du. Und wenn du Zuhause bist, schaust du mal im Internet nach anderen Gymnasien auf die du gehen könntest. Wenn das mal keine Idee ist.“
 

Ein letzter Mal atmete ich tief durch, dann richtete ich mich auf und verließ das Badezimmer. In meinem Herzen pulsierte noch immer die Panik und sie wurde nur noch schlimmer als ich in der Straßenbahn saß. Alex ließ mal wieder die Bemerkung hören, dass ich blass aussehen würde und ich kommentierte es mit einem „Hab schlecht geschlafen.“
 

Besonders in Berlin war es um diese Jahreszeit kühler, was mir nur zu gute kam. Je mehr Klamotten ich trug, desto sicherer fühlte ich mich. Als würde ich eine Art Schutz tragen. Ich trug einen einfachen, grauen Pullover mit weitem Kragen und natürlich einer Kapuze, die ich mir über den Kopf gezogen hatte. Dazu diese schwarze, enge Jeans, die Lynn mir mal vor einem halben Jahr aufgeschwatzt und ich bisher noch nie getragen hatte. Jetzt fühlte es sich an als würde ich etwas von Lynn bei mir tragen. Immerzu musste ich an meine beste Freundin denken, wenn ich die Jeans anschaute und das gab mir Mut. Zumindest ein wenig.
 

Mit neuem Rucksack betrat ich das Gebäude. Am Eingang nahm ich noch einmal tief Luft als würde ich ins Wasser springen. In ein tiefes, weites Wasser ohne schwimmen zu können. Und trat ein. Ich machte mich auf jegliche Attacken und dumme Sprüche gefasst, doch bis zu meinem Spind blieb ich verschont. Auch meine Befürchtung ein ausgedrucktes Foto von dem Rucksack-Bild könnte an oder in meinem Spind kleben, stellten sich als unsinnig heraus. Bis zum Vertretungsplan kam ich mit niemandem aus der Idiotengruppe in die Quere, niemand schaute mich an und lächelte hämisch, niemand tuschelte hinter meinem Rücken und deutete auf mich. Vielleicht waren meine Befürchtung wirklich unsinnig. Sie hatten das Foto nicht rum gezeigt. Wie viel Glück konnte ich haben?
 

Am Vertretungsplan angelangt, warf ich einen kurzen Blick drauf und war auch sogleich verwundert, dass tatsächlich bereits etwas dran stand. Eine große Bemerkung für den Physik Grundkurs: Aufgrund einer Krankheit würde unser Lehrer nicht mehr zurück an die Schule kehren und aufgrund von Lehrermangel konnte keine Vertretung gefunden werden. Stattdessen würde der Physik Grundkurs des ersten Gebäudeflügels mit dem Physik Grundkurs des zweiten Gebäudeflügels zusammen gelegt werden. Und den Unterricht in diesem Fach hätten wir ebenfalls von nun an im zweiten Gebäudeflügel.
 

Mein erster Gedanke war: Super. Noch mehr Leute, die mich mobben konnten. Dabei konnte ich ja nicht wissen, dass beim Betreten des zweiten Gebäudeflügels die Person, die mein Leben für immer verändern würde, bereits an mir vorbei gegangen war und mich das erste Mal gesehen hatte.

Einfache Physik

Meine erste Physikstunde hatte ich gleich am Montag in der Vierten. Ich war bereits genervt, denn in Mathematik kam mir Lena entgegen, warf ihr langes, blondes Haar in den Nacken, lächelte mich dämlich mit ihrem glitzernden Schmollmund an und sagte: „Schöner, neuer Rucksack.“
 

Marvin, der sich an einem Pickel kratzte, und Katharina, die ihre Hochsteckfrisur richtete, kicherten auf ihren Plätzen und warfen mir feixende Blicke zu. Immer wieder musste ich über die Stunde hinweg dumme Sprüche einstecken, allesamt basierend auf dem Geschehnis mit dem Rucksack vor den Herbstferien. Ständig wurde mir diese Peinlichkeit vorgehalten und Katharina fragte mich ununterbrochen, ob ich das Foto sehen möchte. Ich traute mich nicht einmal „Nein“ zu sagen. Ich sagte gar nichts, sondern starrte stur an die Tafel und hörte zu, wie unser Lehrer versuchte unsere Erinnerungen an das Thema zurück zu bringen.
 

Auf dem Weg zum Physikunterricht wurde ich von Marvin begleitet, der erst ein gutes Stück hinter mir ging und dann aufholte als wir den zweiten Gebäudeflügel betraten. Mich wunderte es kaum, dass es hier genauso aussah wie im Ersten. Nur mit dem Unterschied, dass es gleich im Foyer eine riesige Fläche an der Wand gab, die mit Graffiti verziert war. Ich konnte nicht umhin kurz stehen zu bleiben und das Kunstwerk zu betrachten, es sah fantastisch aus. Gerne wäre ich länger stehen geblieben, doch Marvin, der wie immer eine Mütze über seinem Kopf trug, war nun beinahe auf meiner Höhe, deswegen ging ich schnell weiter.
 

Vergebens. Er ging nun gleich neben mir und für einige Sekunden hüllten wir uns in peinliches Schweigen, dann sagte Marvin: „War bisschen fies von Michael.“

Ich schwieg und wunderte mich über den fehlenden ironischen oder spöttischen Unterton.

„Der Rucksack hat ja auch Geld gekostet und das Foto hätten sie auch nicht machen sollen. Ist voll übertrieben. Ich hab Lena aber dazu überreden können, es zu löschen. Ehrlich. Kommt nicht mehr vor, dass sie Fotos von dir machen werden. Katharina wollte dich eben nur ärgern, wir haben das Foto echt nicht mehr.“
 

Marvin klang freundlich und das verwirrte mich. Aus dem Augenwinkel warf ich ihm einen skeptischen Blick zu und sah, dass er mich stumm anlächelte. Ich hatte das Gefühl, dass er seine Worte tatsächlich ernst meinte und machte den fatalen Fehler ihm entgegen zu kommen. Statt ihn zu ignorieren oder einen bissigen Kommentar abzugeben, sagte ich: „Ehm... danke.“

Sein Gesicht verzog sich zu einem fiesen Grinsen, dann begann er zu lachen und fragte: „Hast du mir gerade etwa geglaubt?“
 

Ich spürte wie mir mal wieder die Röte ins Gesicht stieg, meine Finger zitterten leicht. Lieber schaute ich den Boden an als Marvin, der mir nun einen Klaps auf den Hinterkopf gab und sagte: „Scheiße, bist du naiv. So langsam solltest du doch mal wissen, dass niemand nett zu dir ist.“

Wir bogen zu den Physikräumen ein und ich beschleunigte meine Schritte, um schnell in der Klasse zu sein und mich an einen Platz zu setzen, der so weit weg wie möglich von Marvin und den anderen beiden Idioten war.
 

Ich befürchtete schon, dadurch dass wir zwei Klassen waren, würde es kaum Plätze geben und ich würde dazu gezwungen sein mich neben die drei Idioten zu setzen, doch tatsächlich saßen sie auf der rechten Seite, während auf der linken Seite in den hintersten Reihen noch genug Platz war für sechs Personen war. Schnell ging ich nach hinten und ließ mich nieder.
 

Die Tische im Physikraum waren weiß und recht groß. Sie standen immer zu dritt als Gruppentische zusammen, sodass sechs Schüler Platz nehmen konnten. Ich saß alleine an einem Gruppentisch und hoffte inständig, dass es so bleiben würde. Mein Blick glitt hinüber zu Marvin, Michael und Hendrik, die die Köpfe zusammen gesteckt hatten und über etwas lachten und diskutierten. Schließlich schauten sie sich gegenseitig auffordernd an und blickten dann zu mir herüber. Ich wusste, was sie vorhatten.
 

Hektisch blickte ich mich im Klassenraum um nach einem freien Platz an einem der anderen Gruppentische, während die drei ihre Taschen über die Schulter warfen und aufstanden, mit der Absicht sich zu mir zu setzen. Mein Herz begann zu rasen und in meinem Kopf drehte sich alles, ich konnte mich kaum konzentrieren und betete bloß, dass sie sich doch nicht zu mir setzen wollten, doch alles wies genau darauf hin. Mein Blick war panisch auf sie gerichtet als es neben mir einen lauten Krach gab.
 

Erschrocken zuckte ich zusammen und wandte den Blick von den drei Idioten ab, die in ihrem Tun zögerten. Neben mir hatte sich ein fremdes Mädchen nieder gelassen, ihren Ordner mit einem lauten Knall auf den Tisch gepfeffert, der genervte Blick ihrer bernsteinfarbenen Augen wurde durch ein genervtes Stöhnen untermalen. Wie selbstverständlich saß sie genau neben mir, mit mir an einem Tisch, freiwillig. Sie zog aus der Tasche ihrer dünnen, schwarzen Lederjacke ein Haargummi und band sich damit die buschigen, hellbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ihre Haut war von einem bräunlichen, gesunden Teint, ihr Gesicht herzförmig und ihre Gesichtszüge schmal. Ich empfand sie als recht hübsch.
 

Ehe ich auch nur „Hä“ sagen konnte, waren die drei Idioten zu uns gekommen und Michael warf seine Tasche auf einen der Tische, da sagte das Mädchen: „Vergiss es, Hase.“

„Wie bitte?“, fragte Michael sie überrascht und auffordernd. „Wie hast du mich gerade genannt?“

„Ihr könnt hier nicht sitzen“, fuhr das Mädchen fort als hätte es seine Frage nie gegeben. „Es kommen noch drei Jungs, mit denen wir in einer Gruppe sind.“

„Wir?“, fragte Hendrik.

„Ja, ich und Bambi.“
 

Sie zeigte bei dem Wort 'Bambi' mit einer kurzen Handgeste zu mir und erntete dafür von mir einen verwirrten wie auch vorwurfsvollen Blick. In erster Linie war ich jedoch überrumpelt und schaute wahrscheinlich nicht weniger verstört drein wie die drei Idioten, die ihre Münder kaum noch zu bekamen. Ich verstand nichts mehr. Welche Gruppen? Warum Bambi? Was war los und wer war dieses Mädchen überhaupt?
 

„Was für Gruppen überhaupt?“, zischte Marvin hinter den beiden anderen.

„Wir machen immer mit Lukas Teamarbeit“, log Michael ohne mit der Wimper zu zucken, ohne das Anzeichen eines fiesen Lächelns auf den Lippen, so als würde diese Aussage tatsächlich stimmen. „Wir sind voll gute Freunde und wollen mit ihm in einer Gruppe sein.“

„Wie niedlich“, sagte das Mädchen sarkastisch. „Wenn du fertig bist mit lügen, darfst du dann gehen. Ihr wollt hier nicht Stress schieben bis meine Jungs kommen.“
 

Mein Mund stand leicht offen und ich schaute gespannt zwischen dem Mädchen und Michael hin und her. Beide warfen sich die besten Todesblicke entgegen, die ich je zu sehen bekommen hatte und keiner von uns bemerkte, dass sich eine weitere Person in die Runde gesellte. Erst als er seine Tasche auf einem freien Platz gegenüber von Michael, Hendrik und Marvin fallen ließ, waren alle Blicke auf ihn gerichtet.
 

„Ehm, gibt’s ein Problem?“, fragte der Junge in die angespannte Runde. Er war einer der kleinsten Jungen meines Alters, die ich bisher gesehen hatte, noch kleiner wie Simon, hatte einen dünnen, schwächlich wirkenden Körper, strohblonde Haare und besaß strahlend blaue, große Augen. Noch nie in meinem Leben hatte ich so fantastische Augen gesehen und ich war vollkommen fasziniert von Farbe und Ausdruck. Seine blasse Haut wurde über Nase und Wangen von leichten Sommersprossen geziert und ich war ein wenig gefangen von seinem recht hübschen Gesicht, dass ich erst Sekunden später bemerkte, dass ich tatsächlich so fasziniert von einem Jungen war.
 

Einem Jungen. Einer Person meines Geschlechts, ich dachte gerade, dass er niedlich wäre. Er war ein Junge. Ich löste schnell meinen Blick von seinem Gesicht und bemerkte nun erst wie er gekleidet war. Ebenfalls fiel mir jetzt erst auf, wie sich Michaels Lippen zu einem dreckigen Grinsen verzogen und Marvin und Hendrik musterten den Jungen mit abschätzendem und spöttischen Blick.
 

Er trug einen schwarzen Pullover mit weitem Kragen, dessen Ärmel über seine Hände fielen und der so lang war, dass er beinahe bis zu seinen Knien ging. Darunter trug er eine enge, bunte Leggins. Darauf war wohl das Universum zu erkennen und dazu trug er schwarze Stiefel, bei denen der obere Teil nach unten abgeknickt war. Solche Schuhe sah ich öfters bei Mädchen, aber bisher noch nie bei einem Jungen.
 

„Wie siehst du denn aus?“, fragte Michael mit diesem Ton in der Stimme, bei dem ich mich immer wie der letzte Dreck auf Erden fühlte.

„Ich kann's dir sagen“, meinte Hendrik, der nicht mehr aus dem Grinsen raus kam. „Wie ne kleine Schwuchtel.“

„Ja, die Klamotten sind voll schwul“, pflichtete Marvin bei.
 

Der blonde Junge verdrehte die Augen und sagte genervt: „Gott, zum Glück hab ich Typen wie euch, die mich daran erinnern, dass ich schwul bin. Ansonsten würde ich es glatt vergessen.“

Neben mir begann das Mädchen zu lachen. Die Idioten standen dort wie Idioten, überrumpelt und mit leicht geöffneten Mündern und vorne kam der Lehrer herein geschneit und rief, dass sich alle setzen sollten.
 

Für einen Moment glaubte ich die Drei würden sich trotzdem hierher setzen und tatsächlich ertappte ich mich dabei dies zu hoffen. Zu gerne würde ich sehen, wie die beiden fremden Jugendlichen sie zusammen falteten, doch die Idioten waren klug und setzten sich zurück an ihre alten Plätze.
 

„Ab sofort haben wir einige neue Schüler im Kurs“, sagte der Lehrer. „Für diese neuen Schüler gilt: Sucht euch Plätze in bereits bestehenden Gruppen. In meinem Unterricht werden immer Gruppen gebildet, die gemeinsam ein Projekt bearbeiten. Wir erweitern die Gruppen auf fünf bis sieben Personen, ich habe extra neue Aufgaben für euch ausgedruckt. Meine alten Schüler können euch in die Projekte einweisen.“
 

Er schaute sich im Klassenraum um und sein Blick blieb auf uns, ganz hinten in der Ecke, hängen.

„Wo sind Kaito und Gaara?“

„Zu spät“, murmelte die halbe Klasse und ein paar Leute kicherten.

„Wie immer“, sagte vorne ein Mädchen und der Lehrer verdrehte die Augen.

„Ich sollte anfangen die Minuten, die sie zu spät kommen, zusammen zu zählen, das wird sicher einige Fehlstunden ergeben. Dann fangen wir schon mal ohne die Beiden an.“
 

Alle begannen ihre Ordner aufzuschlagen und Schreibsachen aus den Taschen zu packen. Der blonde Junge hatte ein weißes I-Phone ausgepackt, welches er unter der Tischplatte versteckte. Ein glückliches Lächeln zierte seine Lippen, während er eifrig SMS am tippen war. Mir schien es als hätten ihm die Sprüche und Blicke absolut nichts ausgemacht. Das Mädchen hingegen breitete ihre benötigten Schulsachen auf unserem Tisch aus und blickte mich dann an.
 

„Danke“, sagte sie.

„Hä?“

„Das solltest du sagen.“

„Oh.“ Mir stieg Blut ins Gesicht, schnell zog ich mir meine Kapuze über die Haare und murmelte gedrückt: „Danke.“
 

„Wer ist das überhaupt?“, fragte der blonde Junge und schaute von seinem Handy auf.

„Das ist Bambi“, meinte das Mädchen.

„Nein“, widersprach ich ein wenig trotzig und deutlich unsicher. „Ich heiße Lukas.“

„Ich bin Noah“, stellte sich der Junge mit einem Lächeln vor. „Und das ist Samantha.“

„Aber wehe du nennst mich so“, sagte sie zu mir. „Du kannst mich Sam nennen, so wie es alle machen.“
 

Aufgabenblätter gingen im Klassenraum umher und waren nun auch bei uns angelangt. Einige Schüler waren aufgestanden und hatten das Zimmer verlassen, was ich erst etwas seltsam fand, doch als Noah über die Blätter flog, verkündete er glücklich: „Es gibt einen praktischen Teil!“

Sofort war er auf den Beinen und mit den Worten „Ich geh schon mal den Kram dafür holen.“ hatte auch er das Klassenzimmer verlassen.
 

„Noah ist richtig schlecht in Physik“, sagte Sam. „Er macht immer nur was in der Gruppe, wenn es einen praktischen Teil gibt. Wie bist du so in Physik?“

„Geht“, murmelte ich.

„Na super“, seufzte Sam. „Ich kann kein Physik, Noah kann kein Physik, Kaito kann kein Physik, du scheinbar auch nicht. Bleibt mal wieder alles an Gaara hängen.“
 

Als wäre dies das Stichwort gewesen, kamen zwei weitere Schüler zu uns. Zwei Jungen, beide ein gutes Stück größer wie ich, die dem Lehrer ein „Entschuldigung“ zu riefen und sich schnell bei uns am Tisch nieder ließen. Einer von ihnen sah meiner Meinung ziemlich gut aus, er hatte ein freches Grinsen auf den Lippen und schaute von Sam zu mir, die mit einer ausschweifenden Handbewegung auf mich deutete und sagte: „Das ist Bambi und er gehört ab sofort zu unserer Gruppe.“

„Bambi, ja?“, fragte der Junge und lachte als ich Sam genervt anschaute.

„Ich heiße Lukas“, murmelte ich.

„Ich bin Gaara“, stellte der Junge sich vor.
 

Mir fiel auf, dass er sehr stilsicher gekleidet war. Er trug ein eher enge, schwarze Jeans, die seinen schlanken Körper untermalte und seine Haut noch blasser wirken ließ wie sie ohnehin schon war. Er hatte schmale Gesichtszüge und einen perfekt geformten Nasenrücken auf den ich ein wenig neidisch war, seine Augen waren ebenfalls eher schmal, doch von einem starken braun-grün wodurch sie durchdringend wirkten. Seine dunkelbraunen Haare fielen ihm locker auf die Stirn. Ich hatte auch einmal so die Frisur gehabt, bevor ich mich entschieden hatte mein Pony einfach wie ein Vorhang vor meinen Augen zu tragen.
 

„Und das ist Kaito“, nickte Gaara zu dem Jungen neben sich. Er war noch ein Stück größer wie Gaara, hatte sehr blasse Haut und einen gut gebauten, stämmigen Körper. Ich fand er sah ein wenig unfreundlich aus, woran die weiße Narbe, die sich von seiner Stirn bis auf seine Kopfhaut schlängelte nicht ganz unschuldig war. Hinzu kam, dass er sich die Haare komplett abrasiert hatte und hinter seinem Ohr eine selbst gedrehte Zigarette klemmte. Seine haselnussbraunen Augen schienen tief in den Augenhöhlen zu liegen und dunkle Augenringe formten sich darunter.
 

„Hey“, grüßte Kaito knapp. „Was sind die Aufgaben?“

„Stehen auf den Blättern“, antwortete Sam. „Aber was bringt es dir, die Aufgaben zu kennen, du wirst ohnehin nichts machen.“

„Stimmt“, grinste Kaito. Mir fiel auf, dass er einen leichten, russischen Akzent hatte. „Wo ist Noah ab geblieben?“

„Geht den praktischen Teil holen.“
 

Während sich Kaito und Sam anfingen zu unterhalten, las ich mir die Aufgaben durch und spürte ständig die Blicke von Gaara auf mir liegen. In diesem Moment war ich mir sicher entweder paranoid oder von Gaara skeptisch und spöttisch angestarrt zu werden, weil mich einfach noch nie ein Schüler auf dieser Schule anders angeschaut hatte. Erst viel später erfuhr ich, dass alles ganz anders war.

Wintereinbruch

In der Mitte der Tische befand sich eine seltsame Konstruktion aus Drähten, Holz und einer Glühbirne, mit viel Mühe zusammen gelötet, es hatte Samantha sogar eine Brandblase am rechten Zeigefinger gekostet, den sie nun mit einem, in Papier eingepacktem Kühlkissen, kühlte. Kaito hatte eine Kapuze über seinen geschorenen Kopf gezogen, das Kinn auf die, auf dem Tisch verschränkten Arme gebettet und schaute zu wie Noah einen Draht in jeweils einer Hand hielt und mit den Enden herumspielte.
 

Gaara und ich brüteten jeweils alleine über den theoretischen Aufgaben und ich warf immer wieder flüchtige Blicke zu Noah, der die Drähte gegen seine Wangen drückte und zu Kaitos Belustigung dumme Grimassen zog. Ihre Konstruktion funktionierte nicht. Eigentlich sollte die Glühbirne leuchten und ich wusste ganz genau, wo sich der Fehler befand und, was ich tun musste, um Noah einen kleinen Stromschlag zu verpassen, doch ich versuchte mich bloß auf meine Aufgaben zu konzentrieren.
 

„Was machen wir eigentlich am Wochenende?“, fragte Samantha irgendwann in die Runde. „Freitagabend muss ich so bis elf Uhr meine Brüder Babysitten, aber danach hätte ich Zeit.“

„Wir könnten mal wieder durch Clubs ziehen“, schlug Kaito vor und Gaara hörte ich ungläubig sagen: „Deine Bruder Babysitten? Mal ehrlich, die sind doch mittlerweile alt genug, um auf sich selbst aufzupassen.“

„12 und 14“, meinte Samantha. „Unsere Eltern sind der Meinung das ist nicht alt genug. Wie auch immer, durch Clubs ziehen hört sich gar nicht so schlecht an.“

„Ihr kennt meine Meinung“, sagte Gaara und ich konnte deutlich heraushören, dass er diese Idee überhaupt nicht gut fand.

„Ich bin auch nicht dafür“, schaltete sich nun Noah ein. „Ich muss Samstag schon morgens um neun zur Generalprobe fahren. Da muss ich fit sein.
 

Den letzten Satz sang Noah mit einer hohen, klaren Singstimme, die sich wunderschön anhörte, aber genauso gut einer Frau hätte gehören können. Überrascht blickte ich nun doch mal von meinem Collegeblock auf in das sommersprossige, zierliche Gesicht des Jungen, während die Jugendlichen weiter diskutierten, wie sie ihr Wochenende verbringen wollten.
 

„Außerdem wollte ich den Freitag mit Fynn verbringen“, sagte Noah und für einen Augenblick sah ich jenen verliebten Ausdruck über sein Gesicht blitzen, den Alex immer bekam, wenn sie über Julian sprach. Dann war sein Spruch, den er zuvor gegen die Idioten gebracht hatte, kein Scherz gewesen. Noah war tatsächlich schwul und befand sich scheinbar in einer glücklichen Beziehung.
 

„Dann bist du also raus“, stellte Gaara fest. „Wollt ihr zwei dann nicht einfach zu mir kommen und wir machen uns einen gechillten Abend?“

„Es gibt da so einen neuen Horrorfilm -“, setzte Kaito an, doch er wurde sofort von Samantha und Gaara unterbrochen.

„Wir schauen uns nicht schon wieder einen deiner Horrorfilm an“, fauchte Sam. „Ich kann vom letzten immer noch nicht richtig schlafen.“ Ich hörte, wie Kaito hämisch lachte und spürte, wie mein Herz schmerzhaft pulsierte.
 

Mit jeder Sekunde, die ich hier saß und ihnen zuhörte, vermisste ich meine eigenen Freunde mehr. Es tat weh daran zu denken, dass ich meine Wochenenden alleine auf meinem Zimmer verbrachte, einerseits glücklich für zwei Tage aus der Schule zu sein, andererseits bereits mit neuer Angst vor der kommenden Woche, während sich alle anderen mit Freunden verabredeten, raus gingen, Spaß hatten und nicht vehement an das Ende der Schule in drei Jahren dachten. Selbst meine kleine Schwester hatte sich hier ein Leben aufgebaut... nur ich nicht.
 

Ein leises Summen ertönte von der Seite. Ich schaute auf und sah wie Noah die Enden der Drähte aneinander drückte. Noch immer funktionierte die Glühbirne nicht, doch er spielte wie ein Kleinkind weiter mit den Drähten herum, während Sam und Gaara diskutierten welchen Film sie sich anschauen wollten. Immer wieder schaltete sich Kaito laut ein. Seine Stimme war so laut und mein Herz pulsierte so schmerzhaft und dieses verdammte Summen, das ich nicht mehr aus dem Kopf bekam.
 

Die Zahlen und Buchstaben in meinem Collegeblock verschwammen, meine Konzentration verabschiedete sich und dafür meldete sich ein nervendes Pochen, das gegen die Innenwände meines Schädels pulsierte. Für einige Sekunden schloss ich die Augen und sammelte meine Gedanken. Dann öffnete ich sie wieder, legte meinen Kugelschreiber bin, machte ein paar einfache Handgriffe an der kaputten Konstruktion und plötzlich gab es ein lautes Bsssm.
 

„Woah!“, ertönte es erschrocken von Noah. Sofort ließ er die Drähte fallen, welche ich nun vorsichtig am abgewickelten Bereich anfasste und die Enden miteinander verband. Erneut gab es ein Bsssm und die Glühbirne leuchtete auf.

Alle am Tisch waren still geworden und schauten von Noah, dem ich einen kleinen Stromschlag verpasst hatte und der aussah als hätte ich ihm eine runter gehauen, zu mir. Schnell schrieb ich mit meinem Kuli die letzten Rechnungen nieder und schob dann den Collegeblock von mir weg.
 

„Fertig“, murmelte ich. Einen Moment lang starrten mich die Vier bloß überrumpelt an, dann krächzte Samantha: „Bambi! Du hast gesagt, du wärst nicht so gut in Physik, du hast mich knallhart angelogen!“

Gaara nahm sich meinen Collegeblock und ging die Aufgaben durch, als Kaito anfing zu lachen. Er zeigte auf Noah und konnte erst vor Lachen nichts sagen, irgendwann brachte er prustend hervor: „Alter, der hat dir voll den Stromschlag verpasst.“
 

Samantha und Gaara lachten ebenfalls und ich ertappte mich dabei, wie mir ein Lächeln über die Lippen zuckte.

„Du bist gemein, Lukas“, sagte Noah gespielt beleidigt und zog einen Schmollmund.
 

Man könnte meinen die nächsten Wochen wären für mich einfacher geworden, tatsächlich begann ich mich mit der Zeit auf die Physikstunden zu freuen und man möchte es kaum glauben, ich unterhielt mich sogar mit den Vieren. In Physik wurde ich von den Idioten in Ruhe gelassen, doch in allen anderen Stunden machten sie mir die Hölle heiß und dann begann auch noch die Saison der Arbeiten.
 

Im ersten Halbjahr der 11. Klasse zählten die Arbeiten noch nichts. Sie waren sozusagen eine Übung, ob wir für das Abitur überhaupt geschaffen waren. Erst im zweiten Halbjahr würden unsere Noten wirklich wichtig werden. Momentan zählten unsere Noten nur in die Versetzung in die 12. Klasse hinein und das machte mir schon Druck genug. Die Idioten, die mich jeden Tag mobbten, die Tatsache, dass ich in meiner Freizeit nichts anderes tat als zuhause im Bett zu liegen und Musik zu hören, mein Vater, den ich so sehr vermisste, dass ich es an einigen Tag kaum aushalten konnte, all das steuerte meiner Konzentration nicht unbedingt bei.
 

Ich versuchte meine ganze Freizeit darauf zu verwenden zu lernen und meine Hausaufgaben zu machen, jedoch kam ich nur mäßig voran. Mittlerweile freute ich mich nicht einmal mehr auf die Stunden, die ich in Skype mit Simon und Lynn verbrachte, denn die erzählten mir von all den tollen Sachen, die sie erlebten. Wie Simon sturzbetrunken bei einem Kumpel (den ich nicht einmal kannte) in den Blumentopf gekotzt hat; wie Lynn einen Jungen kennen gelernt hat, den sie ganz nett findet und der sie auch ganz nett findet; wie sie gemeinsam mit Freunden im Kino waren; wie Simon versucht hatte cool zu sein und über eine Mauer zu springen und sich dabei ordentlich hingelegt hatte.
 

Anstatt ihnen zu erklären, dass ich davon nichts hören wollte, weil ich mich dadurch nur noch schlechter fühlte, hörte ich ihnen schweigend zu, lachte wenn sie lachten und sagte am Ende so etwas wie „Das ist ja cool.“ Nur Genesis, mit der ich manchmal telefonierte, zeigte mehr Feingefühl, jedoch versuchte sie unsere Gespräche immer auf mich zu lenken und, da ich nichts über mich erzählen wollte, legte ich immer mit einer dummen Ausrede auf, dass meine Mutter mich in der Küche brauchte oder so etwas.
 

Als es langsam Winter wurde und ich meine fünfte Arbeit hinter mir hatte, hatte ich das Gefühl mich verloren zu haben. Wenn ich in den Spiegel blickte, schaute mich eine fremde Person an. Wenn ich morgens aufwachte, wollte ich liegen bleiben und nichts tun und wenn ich abends einschlief, hoffte ich nie wieder aufzuwachen. Ich hörte nicht mehr richtig zu, wenn Leute mit mir sprachen, ging Gesprächen aus dem Weg und ignorierte die Idioten mittlerweile so gekonnt, dass ich nicht einmal mehr rot wurde.
 

Ihre Worte prallten an mir ab, doch wenn ich aus der Schule war, spürte ich jeden einzelnen Satz in mir brennen, als hätten sie mir Eisenstäbe ins Herz gerammt. Alles, was ich machte, war existieren. Ich lebte nicht mehr, ich existierte nur noch. Das einzige was mich wach hielt, war mein wachsendes Interesse an den vier Jugendlichen aus meinem Physikkurs. Ich schnappte jedes ihrer Worte auf als würden sie mich in eine andere Welt tragen.
 

Mitte November fiel der erste Schnee. Die Flocken trafen sanft gegen die Fensterscheiben der Schule und forderten meine Aufmerksamkeit ein. Der Blick meiner braunen Augen folgte ihnen wie sie die kargen Bäume in eine weiße Decke hüllten und die dunklen Häuserdächer hell färbten. In einer Hand hielt ich einen Stift, auf die andere hatte ich mein Kinn gebetet, den Ellenbogen auf den Tisch gestemmt.
 

In der Klasse herrschte ein Schweigen, das nur vom taktvollen Schreiben der Stifte unterbrochen wurde. Alle Blicke waren auf ihre Englisch-Arbeiten gerichtet, nur meiner nicht. Ich hasste Englisch. Nächste Woche würde ich noch Religion und Geschichte schreiben, dann hatte ich alle Arbeiten fertig und musste nur noch die Endnoten für Sport machen. Ach ja und dann würde noch mein Alptraum bevor stehen: Mündliche Noten. Es gab nichts Schlimmeres wie mündliche Noten und zu allem Überfluss brummte uns so gut wie jeder Lehrer momentan noch Referate auf, die wir im Dezember halten sollten.
 

Eine der vielen Sachen, die ich überhaupt nicht konnte, war vor der gesamten Klasse zu sprechen. Vielleicht würde es mir etwas leichter fallen, wenn die Idiotengruppe nicht jedes Mal anfangen würde wie blöd zu kichern, wenn ich sprach. Wie auch immer... Ich blickte hinab zu meiner Arbeit. Die Hälfte der Zeit war bereits um und ich hatte von sechs Aufgaben nicht einmal zwei geschafft.
 

Früher hatte ich häufig Vokabeln mit meinem Vater gelernt, gebracht hatte es mir jedoch nichts. Während meine Mutter sich immer darüber beschwerte, dass ich so schlecht in Englisch war, nahm es mein Vater eher locker. „Er kann doch auch nichts dafür, dass sie unbedingt englisch lernen müssen“, hatte er einmal mit einem frechen Grinsen gemeint. „Das gleicht er mit anderen Fächern super aus! Er ist eben eher ein Mathematiker!“

Immer hatte er mir den Rücken gedeckt. Und trotzdem war ich momentan so sauer auf ihn.
 

Ich liebte und vermisste ihn, momentan noch schlimmer wie am Anfang, aber ich war auch wütend auf ihn. Dafür, dass er gestorben und mich alleine gelassen hatte, dafür dass wir wegen ihm nach Berlin gezogen sind und ich auf diese Schule gehen musste, aber natürlich wollte er nicht sterben. Ich wusste mein Vater hätte uns niemals freiwillig verlassen und es würde ihm das Herz brechen, wenn er wüsste, wie es mir momentan ging, doch ich konnte meine Wut auf ihn nicht abschalten. Und das wieder rum machte mich wütend auf mich selbst. Ich merkte es noch nicht so sehr, aber ich begann mich langsam selbst zu hassen.
 

Ich las mir Aufgabe Drei durch. Wenn ich die Englisch-Lektüre gelesen hätte, würde ich vermutlich besser voran kommen. Ich hatte es wirklich versucht, aber sie war auf Englisch und ich verstand kein Wort. Ich verstand nicht einmal die Aufgabenstellung. Für den Rest der Zeit zog ich mir dann und wann etwas aus den Fingern, wissend darüber, dass meine Sätze eine grammatikalische Katastrophe waren und wartete ungeduldig auf das Ende dieser Tortur.
 

Endlich klingelte es.

„Alle die Stifte hinlegen und die Hefte zu mir nach vorne“, sagte der Lehrer und ich gehorchte sofort. Schnell gab ich mein Heft ab, packte mir meine Sachen und verließ die Schule. Nachmittags hatte ich noch Unterricht und zwar... ach keine Ahnung, welchen Unterricht, irgendwas halt. Was auch immer es war, ich schwänzte es mal wieder. Mittlerweile hatte ich deswegen nicht einmal mehr ein schlechtes Gewissen, mir was es egal ob ich im Unterricht fehlte. Es war mir nur wichtig zu wissen, dass ich nicht Physik schwänzte, denn die Stunden wollte ich mir nicht entgehen lassen.
 

Viel zu früh kam ich nach Hause und war etwas überrascht meine Mutter in der Küche anzutreffen. Sie arbeitete viel und ich verbrachte die meiste Zeit hinter geschlossener Zimmertür, dementsprechend sahen wir uns nicht häufig. Auch Alex war anwesend. Als ich herein kam, waren sie sich gerade am unterhalten, unterbrachen das Gespräch jedoch sofort und blickten mich nicht minder überrascht an.
 

„Schon so früh zu Hause?“, fragte Mum.

„Hab frei“, log ich ohne mit der Wimper zu zucken. Wie egal es mir mittlerweile war, dass ich meine Familie anlog... Ich wollte schon wieder gehen, da sagte meine Mum mit unheilvoller Stimme: „Lukas, bitte setz dich zu uns.“

Ich seufzte schwer, wandte mich um und ließ mich am Tisch nieder. Wie immer mit der Kapuze über meinem Kopf, die Finger ineinander verschränkt und den Blick auf die Tischplatte gerichtet.
 

„Alex und ich haben uns über dich unterhalten“, begann Mum behutsam, legte eine ihrer Hände auf Meine ineinander verschränkten und begann sanft darüber zu streicheln. „Wir machen uns Sorgen um dich, du gehst uns aus dem Weg und du schwänzt die Schule. Ständig verkriechst du dich in deinem Zimmer. Wir würden dir gerne helfen.“

„Geht es dir wegen Dad so schlecht?“, fragte Alex, mittlerweile übrigens 15 Jahre alt und mit Julian zusammen, diesem aufgeblasenen Idioten. „Oder ist etwas Neues dazu gekommen?“
 

Sie blickten mich erwartungsvoll an. Schwerfällig atmete ich aus, ich wollte ihnen nichts von meinen Problemen erzählen. Als ich ihnen nicht antwortete, sagte Mum: „Du weißt, dass wir immer für dich da sind, Lukas. Du bist mein Sohn und ich kann nicht tatenlos zuschauen, wenn es dir so schlecht geht.“
 

Sie strich mir mein langes Pony aus den Augen, fuhr mit dem Daumen über meine Stirn, ihre Berührungen lösten nichts in mir aus. Ich wollte sie nicht weg stoßen, weil es mir peinlich war und konnte es nicht genießen, weil ich genau wusste, dass ihre Worte wahr waren und sie mich liebte. Und das ich nichts spürte, brachte mich an den Rand der Verzweiflung.
 

„Lasst mich einfach“, sagte ich leise. „Ihr könnt eh nichts machen.“

Mit den Worten schob ich die Hand meiner Mum von mir weg, stand auf und ging in mein Zimmer. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, sank ich mit dem Rücken dagegen gelehnt auf dem Boden zusammen, zog die Knie an meinen Körper heran und begann zu weinen.

Beste Freunde

Zwei Wochen später bekam ich eine Nachricht, die mich aus meinem tranceartigen Zustand weckte: Simon, Lynn und Genesis wollten über ein Wochenende nach Berlin kommen. Gemeinsam verkündeten sie es bei einem Gruppengespräch in Skype. Ich sah ihre erwartungsvollen, vorfreudigen Gesichter, gezeichnet mit breiten Grinsen, und brauchte einige Sekunden um mich in meinem Entsetzen zu fassen. Mein Mund stand solange entgeistert offen bis ich es bemerkte und ihn mit einem schweren Schlucken schloss.
 

„Nein“, brachte ich hervor. „Lasst mich lieber über das Wochenende zu euch kommen. Das ist doch logischer.“

„Wir wollen aber mal die Wohnung sehen“, widersprach Lynn. „Und du musst uns deine Schule zeigen und Leute vorstellen, die du kennen gelernt hast. Du erzählst ja nie was.“

„Abgesehen davon wollen wir in Berlin durch Clubs sehen, das fetzt dort viel mehr wie hier“, fügte Genesis hinzu.

„Und ich würde gerne deine Mutter und deine Schwester wiedersehen“, sagte Simon. „Ich vermisse die Zwei irgendwie.“

„Wir haben schon alles ausgemacht. Auch mit deiner Mum, wir dürfen für die drei Tage bei euch wohnen.“ Lynn lächelte glücklich in die Kamera und mich packte die Panik.
 

„Ihr dürft aber nicht herkommen!“, entfuhr es mir härter wie geplant. „Ich komme euch besuchen, wenn ihr wollt, aber ich lasse nicht zu, dass ihr herkommt!“

„Warum das denn?“, fragte Simon verstört.

„Lukas, alles klar bei dir?“, kam es von Genesis besorgt.

„Nein, nichts ist klar! Wenn ihr herkommt seht ihr was für ein Opfer ich bin, bleibt einfach wo ihr seid, hier in Berlin gibt es nichts, was euch gefallen könnte.“
 

Ich wusste nicht warum ausgerechnet das Vorhaben meiner Freunde mich besuchen zu gehen der Tropfen war, der das Fass zum überlaufen brachte, doch in mir kamen sämtliche Emotionen hoch, die ich weitestgehend versucht hatte zu unterdrücken. Das letzte Mal als ich Simon und Lynn so entgeistert gesehen hatte wie jetzt, hatten die Beiden erfahren, dass mein Dad gestorben war.
 

„Warum bist du denn ein Opfer?“, fragte Lynn verwirrt. „Lukas, wovon redest du denn?“

„Lukas, weinst du?“ Genesis beugte sich ein wenig vor um den Bildschirm besser zu erkennen. Vorsichtig tastete ich mit zitternden Fingern nach meinen Wangen und spürte die Nässe der Tränen. Ich konnte nicht mehr genug Luft durch die Nase bekommen und begann schwer ein- und auszuatmen. Eigentlich wollte ich den Dreien nichts erklären und erzählen, doch die Emotionen überrumpelten mich und die Worte sprudelten nur so aus mir hervor: „Ich hab hier nichts. Absolut niemanden! In der Schule behandeln sie mich wie Scheiße und ich verbringe jeden Tag alleine in meinem Zimmer und ich weiß nicht mehr wer ich bin und was ich überhaupt noch hier soll. Wenn ich einschlafe, wünsche ich mir nie wieder aufzuwachen. Ich hasse mein Leben!“
 

Und weil ich ihre entsetzten Gesichter nicht sehen konnte, schaltete ich meinen Laptop aus und klappte ihn zu. Mit einem dumpfen Schlag ließ ich meine Stirn darauf nieder fallen und begann aus tiefster Seele zu heulen. Es brannte so sehr in meinem Herzen. Ich spürte die Stiche wie echte, physische Schmerzen und krümmte mich jammernd zusammen. An diesem Tag zog ich das erste Mal in Erwägung meinem Leben ein Ende zu setzen. In einer Sekunde des Schreckens blitzte dieser Gedanke in mir auf, doch ich versuchte ihn schnell wieder zu vergessen, was nicht leicht war, denn die Emotionen waren kaum auszuhalten. Die Schmerzen nicht zu ertragen. Ich wünschte ich könnte meinem Körper entfliehen...
 

Gefühlte Ewigkeiten später lag ich in meinem Bett und fühlte mich ausgelaugt und schlapp. Meine Augen waren gereizt. Wenn ich sie schloss, fühlte es sich unglaublich gut an. Neben mir auf dem Nachttisch klingelte mein Handy im zwei Sekunden Takt, doch ich ging nicht ran. Mein Körper war so erschöpft und mir fielen ständig die Augen zu, dass ich irgendwann einfach einschlief. Ich hörte das Handy nicht mehr und hatte den tiefsten Schlaf seit langem.
 

Und als ich wieder aufwachte, fühlte ich mich ausgeschlafen. Meine Augen fühlten sich noch immer etwas schwach an als sie auf die Uhr blickten. Es war neun Uhr morgens, ich hatte verdammt lange geschlafen. Meine Finger suchten mein Handy, löschten die verpassten Anrufe, ich hatte viele Nachrichten von Genesis, Lynn und Simon bekommen. Bis um ein Uhr nachts hatten sie mir Nachrichten geschrieben, dann plötzlich damit aufgehört. Nur Simon hatte mir eine weitere Nachricht geschrieben, morgens um halb sechs. Da heute Samstag war, war er sicherlich nicht bereits um diese Uhrzeit wach gewesen, sondern gar nicht erst im Bett...
 

„Lukas, ich weiß du wirst mich dafür hassen, aber ich habe Alex angerufen und sie gefragt, ob sie kurz nach dir schauen kann, damit wir wissen wie es dir geht. Du warst am schlafen, sie wollte dich nicht wecken. Mir tut es Leid, dass es dir so schlecht geht und mir tut es Leid, dass ich es nicht bemerkt habe. Ich hätte mehr auf dich achten sollen. Als ich die ganzen Probleme in meinem Stiefvater hatte, warst du für mich da gewesen und da waren wir noch jung. Wir waren in einem Alter in dem man sich nicht unbedingt um die Probleme anderer kümmern möchte, aber du warst für mich da und ich konnte so oft bei euch schlafen, wenn mein Stiefvater wieder durchgedreht ist. Du hast für mich gelogen, du hast für mich deine Freizeit geopfert und deine gute Laune und ich will nicht, dass du dich verkriechst und mir die Chance verwehrst dir das alles zurück zu geben. Wenn es dir in Berlin schlecht geht, dann lass uns hinkommen. Wir wollen dich wiedersehen und wenn du uns auch wiedersehen willst, dann bitte, lass uns kommen. Lukas, sag es nicht Lynn, sonst ärgert sie uns damit, aber du weißt nicht, wie wichtig du mir bist. Also tu mir BITTE den Gefallen und ruf an, ich STERBE hier vor Sorge. Bitte!“
 

Toll. Ich hatte gerade geschlafen und mich erholt, da hatte ich schon wieder das Gefühl am liebsten heulen zu wollen. Doch scheinbar waren keine Tränen mehr übrig, die ich vergießen konnte, stattdessen musste ich einige Male schwer ausatmen. Ich las mir die SMS mehrmals durch, sog ihre Worte auf und merkte, dass es gut tat mich endlich mitgeteilt zu haben. Einerseits zumindest, andererseits hatte ich Angst ab sofort von den Dreien anders behandelt zu werden.
 

Mehrmals tippte ich Worte ins Handy und löschte sie wieder. Nach einigen Minuten sendete ich Simon schließlich ein simples „Hey“, weil mir mehr nicht einfallen wollte. Es dauerte nicht lange, da kam die Antwort: „Hi! Wie geht’s dir? Kann ich anrufen?“

„Nein, ruf bitte nicht an, ich kann jetzt nicht reden. Was denkst du jetzt von mir?“

Hart schluckend wartete ich auf die Antwort. Mein Handybildschirm wurde schon wieder schwarz, zitterte zwischen meinen unruhigen Fingern. Minuten und Minuten starrte ich darauf bis er endlich wieder aufblinkte und Simons Nachricht offenbarte.
 

„Wenn du glaubst ich denke jetzt anders von dir wie vorher, dann stimmt das nicht. Ich mache mir Sorgen und will dir helfen, bitte lass uns darüber reden, dass wir dich besuchen kommen.“

„Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.... momentan habe ich nicht das Gefühl einem von euch unter die Augen treten zu können.“

„Bitte, hör auf so was zu schreiben.“
 

Es ging lange hin und her und irgendwann kam ich mir mit meinen Gefühlen dämlich vor. Simon musste von mir unglaublich genervt sein, deswegen gab ich schließlich nach, um ihn nicht komplett zu verschrecken. Telefonieren wollte ich immer noch nicht, doch ich sagte dem Wochenende zu, an dem sie herkommen wollten. Alles war bereits abgemacht, auch mit meiner Mum, weshalb ich sauer auf sie wurde, kaum da mit Simon das SMS - Gespräch beendet war.
 

Schnell erhob ich mich vom Bett und ging in die Wohnung. Gerade noch rechtzeitig bevor Mum zur Arbeit fahren wollte, hielt ich sie an der Tür auf. Scheinbar sah man mir an, dass ich geheult hatte, denn Mum wollte vollkommen besorgt mein Gesicht zwischen ihre Finger nehmen, doch ich drückte sie von mir weg.
 

„Warum hast du mir nicht erzählt, dass Simon, Lynn und Genesis herkommen wollen?“, fragte ich wütend.

„Sie wollten es dir selbst erzählen“, antwortete Mum überrascht. „Sie haben es mit mir abgeklärt, damit du dich nicht darauf freust, dass sie herkommen und ich es dann jedoch verbiete.“

„Ich wollte aber nicht, dass sie herkommen und jetzt kommen sie doch“, murmelte ich.

„Aber warum willst du sie denn nicht hier haben? Sie sind doch deine Freunde.“
 

Niedergeschlagen blickte ich sie an und hatte keine Antwort auf ihre Frage. Mir fiel auf, dass ich Mum lange nicht mehr richtig angesehen hatte. Als Dad noch gelebt hatte, sah sie jünger aus, doch der ganze Stress ließ ihre Haut blasser und älter erscheinen. Trotzdem sah sie immer noch jünger aus als sie es tatsächlich war. Ihre Haare ließ sie immer wieder blond nach färben, sie waren ganz lang und glatt, ihr Gesicht war markant und Alex und ich hatten ihre Augen geerbt. Diese tiefbraunen Augen, die einem jede Emotion und jeden Gedanken verrieten, so sehr man auch versuchte sie zu verstecken.
 

„Ist okay“, murmelte ich schließlich. „Ich bin momentan einfach nur verwirrt.“

„Was verwirrt dich denn?“

„Alles.“
 

Für einen Moment wollte ich ihr erzählen, dass ich mich selbst verloren hatte, doch ich schüttelte diesen Gedanken schnell ab. Mum musste zur Arbeit und hatte so schon genug um die Ohren, musste selbst sehen wie sie mit dem Tod von Dad klar kam, da konnte ich ihr nicht noch mehr Probleme bereiten. Ich zwang mir ein müdes Lächeln auf die Lippen und sagte: „Vergiss es einfach, ich bin nur müde. Du musst zur Arbeit.“
 

Mum wollte weiter auf meine Verwirrung eingehen, doch ich schaffte es sie aus der Tür zu bewegen und schloss diese dann vor ihrer Nase zu. Es war ein etwas holpriger Abschied, doch sie schien selbst zu merken, dass ich nicht reden würde und versuchte es nicht weiter. Jetzt konnte ich mich in aller Ruhe darauf vorbereiten meinen Freunden zu zeigen, was für ein Opfer ich war.
 

Das besagte Wochenende kam schnell und der Zug hatte Verspätung, da die Fahrbahnen vereist waren. Fast vier Stunden verbrachten Alex und ich am Bahnhof, welcher zum Glück ziemlich groß war, sodass wir genug Zeitvertreib fanden. In einem Bücherladen holte sich jeder von uns Beiden ein Harry Potter – Buch in die Hand und wir begannen uns gegenseitig Sätze daraus vorzulesen, wobei wir das Wort 'Zauberstab' mit 'Penis' ersetzten.
 

Es tat gut zu wissen, dass ich über solche alberne Sachen lachen konnte. Mittlerweile freute ich mich sogar auf meine Freunde, würde sie jedoch viel lieber in Nordrhein-Westfalen sehen und nicht hier. Mir lag es immer noch schwer im Magen ihnen zu zeigen, dass ich mir hier nichts aufgebaut hatte, doch zumindest waren sie gut vorgewarnt. Endlich kam der Zug und Lynn war die Erste, die mir um den Hals fiel.
 

Ihre langen, braunen Haare flatterten im kalten Wind und sie ließ ihre Reisetasche fallen, bevor sie beide Arme um mich schlang. Fest drückte ich sie an mich und wir schwankten ein wenig hin und her. Ich spürte ein Lächeln auf meinen Lippen, vergrub ein wenig das Gesicht in ihren Haaren und hörte wie Lynn flüsterte: „Ich hab dich lieb, Lukas.“

Danach kam Simon zu mir, mit einem müden Lächeln auf den Lippen und Schlaf in den Augen. Wir umarmten uns brüderlich. Genesis war die Letzte und hatte mit einem großen Koffer zu kämpfen. Ihre langen Dreads waren zusammengebunden und von einem bunten Kopftuch geziert, über welches sie helle, flauschige Ohrschützer trug. Sie war so dick eingepackt in Klamotten, dass ich bei der Umarmung ihren dünnen Körper nicht ansatzweise spüren konnte.
 

Als wir uns voneinander lösten, sah ich aus dem Augenwinkel wie Simon und Lynn Alex mit jeweils einer Umarmung begrüßten. Lynn fragte, wie es ihr ginge und was sie machte und sofort begann Alex von Julian zu erzählen.

„Ist er wirklich so toll?“, grinste Lynn scherzhaft mir zugewandt als wir den Bahnsteig wieder verließen.

„Ich habe ihn ehrlich gesagt noch nicht kennen gelernt“, sagte ich entschuldigend. „Alex will ihn uns nicht vorstellen.“

„Weil du ihn einen aufgeblasenen Idioten nennst“, meinte Alex und die anderen Drei brachen in Gelächter raus.

„Er ist einer“, verteidigte ich mich, auch wenn ich gut wusste, dass jegliche Argumente, die ich mir aus den Fingern ziehen konnte, unsinnig waren. Vielleicht war Julian wirklich ein netter Kerl, aber er war mit meiner Schwester zusammen und vielleicht schliefen sie sogar schon miteinander, darüber wollte Alex nicht mit mir oder Mum reden. Und nur weil die Möglichkeit bestand, dass er meine Schwester verletzen könnte, hasste ich ihn.
 

Unseren ersten Abend, den Freitag, verbrachten wir auf meinem Zimmer. Beim Betreten von diesem bestaunten alle Drei eine gefühlte Ewigkeit die Wand, die Alex so wunderbar verziert hatte. Natürlich schauten sie sich auch jeden Zentimeter der Wohnung an und ich bekam gesagt, ein wirklich tolles neues Zuhause gefunden zu haben.
 

Genesis wollte unbedingt die Stadt sehen und feiern gehen, doch Simon war furchtbar müde und im Allgemeinen verhielt er sich nicht so wie der Simon, den ich kannte. Er war viel ruhiger, lachte weniger und wenn ich ihn ansah, lächelte er mich halbherzig an. Man musste kein Psychologe sein, um zu merken, dass ihn etwas belastete und ich wollte ihn unbedingt ausfragen, fand jedoch erst nicht den richtigen Moment.
 

Schließlich hatten wir einen. Genesis' Koffer war so riesig, weil sie ihre Shisha eingepackt hatte. Wir machten uns einen gemütlichen DVD – Abend und irgendwann waren Lynn und Genesis in ein Gespräch über Zicken und Jungen vertieft, welches Simon und mich in die Küche trieb. Wir wollten uns nur etwas zum Trinken holen, doch kaum standen wir beieinander begann wir gleichzeitig zu reden.
 

„Was ist los mit dir?“, fragte ich und Simon sagte gleichzeitig: „Ich will dich etwas fragen.“

Wir schauten uns einen Moment lang gegenseitig an, dann murmelte ich: „Was willst du mich fragen?“

„Eigentlich hatten Lynn, Genesis und ich ausgemacht, dass wir dich nicht über deine Schule ausfragen, sondern dich einfach nur ablenken, aber du kennst mich, ich halte so was nicht aus. Du hast gesagt, in der Schule würdest du wie Scheiße behandelt werden. Von wem? Von Mitschülern?“
 

Ich seufzte schwer und ließ den Kopf sinken. Früher oder später wäre es ja so gekommen, dass ich es jemandem erzählen müsste. Und wer wäre dafür besser geeignet als mein bester Freund?

„Eigentlich ist es gar nicht mehr so schlimm für mich“, sagte ich und spürte wie ich mich damit nur selbst belog. „Ich komme klar, darum ist es auch nicht so wichtig.“

„Du kommst klar“, wiederholte Simon ungläubig. „Sag bitte die Wahrheit.“

„Da ist so eine Gruppe von Mitschülern“, seufzte ich, mir fiel es schwer darüber zu reden und bei dem Gedanken an all ihre Worte und Demütigungen schmerzte es in meiner Brust. „Die ärgern mich schon seit dem ersten Tag. Ich denke ich bin einfach ein leichtes Opfer, ich wehre mich halt nicht und das nutzen sie aus.“

„Wie ärgern sie dich?“, hakte Simon nach.

„Wie wohl?“ Ich wurde ein wenig wütend. Musste ich es denn unbedingt aussprechen? War es denn nicht vollkommen offensichtlich? „Sie beleidigen mich und so was.“

„Was sagen sie denn?“

„Mein Gott Simon, sie mobben mich!“, brach es säuerlich aus mir heraus. „Sie sagen niveaulose, bescheuerte Sachen, versuchen alles damit ich mich unsicher und scheiße fühle und demütigen mich wo sie gehen und stehen. Und ich will nicht weiter darüber reden!“
 

Ich sah in seinem Gesichtsausdruck, dass ich zu hart war und fühlte mich auch gleich schlecht, dass ich ihn so angefahren hatte. Ehe ich jedoch eine Entschuldigung murmeln konnte, sagte Simon: „Es tut mir Leid, ich hätte wirklich nicht fragen sollen.“

„Ist schon okay“, winkte ich ab und rieb mir über die Augen. „Aber jetzt bist du dran. Was ist los?“
 

Erst sagte Simon nichts, stattdessen zeigte er mir etwas und was er mir zeigte, ließ meinen Atem stocken.

Ein unerwartetes Treffen

Mir ging der Anblick nicht mehr aus dem Kopf und jedes Mal wenn ich daran dachte, keimte Wut in mir auf. Zähne knirschend starrte ich auf das Kunstwerk irgendeines Jugendlichen, der die Hinterseite des Sitzes vor mir verziert hatte und fuhr mit dem Finger über Löcher im Plastik, die von ausgedrückten Zigaretten stammten. Neben mir in der Straßenbahn saß Genesis und blickte aus dem Fenster heraus, ich sah die Fassaden der Häuser in ihren großen, blauen Augen wieder spiegeln und fragte mich, ob sie ebenfalls Bescheid wusste.
 

Egal, ob ja oder nein, ich würde gerne mit Genesis darüber reden, es irgendjemandem erzählen und mein Herz entlasten, welches sich wie zugeschnürt anfühlte. Immer wieder wechselten meine Blicke hinüber zu Simon, der wieder fit und mehr Simon war wie gestern Abend, doch manchmal, wenn er eine falsche Bewegung machte, zuckte er zusammen und fasste sich an die Stelle seines Brustkorbes, wo die blauen und grünen Flecken ihn zierten.
 

Sie sahen furchtbar aus, waren gesprenkelt mit tiefroten Punkten und geschwollen. Heute morgen hatte ich ihm ein wenig Wundsalbe gegeben und ihm geholfen die Verletzungen zu verbinden und er hatte mich noch gestern darum gebeten, es niemandem zu erzählen. Natürlich hatte ich es ihm versprochen, dabei wollte ich nichts lieber als es mir von der Seele zu schreien. Freitagmorgen, nur zwei Stunden bevor er mit Genesis und Lynn zum Bahnhof gefahren war – die Schule hatten sie extra für mich geschwänzt – war er zu seiner Mutter gefahren, weil sie ihn inständig darum gebeten hatte.
 

Sein Vater und Martina waren über das Wochenende weg und seine Mutter hatte gehofft, Simon würde solange bei ihr übernachten, doch er hatte ihr erklärt, dass er nach Berlin fahren würde. Wie so häufig endete ihr Gespräch in einem heftigen Streit, der eskalierte, eben in diesem Moment indem Simons Stiefvater nach Hause gekommen war. Mit einem perfekten Timing war er genau in diesem Moment ins Wohnzimmer gekommen, in dem Simon seine Mutter 'Schlampe' genannt hatte, etwas was Simon sofort bereute. Und das lag nicht nur daran, weil sein Stiefvater ihm für diese Beleidigung mit der geballten Faust in die Seite geschlagen hatte.
 

Jetzt war Simon mit seiner Mutter zerstritten und hatte blaue Flecken von seinem Stiefvater und doch schien er es besser zu verkraften als ich. Immer wieder hörte ich ihn mit Lynn lachen und scherzen. Da ich sehr gut wusste, wie es war ein Lächeln zu fälschen und Simon besser kannte wie jeden anderen auf dieser Welt, sah ich auch, dass es ein ehrliches Lachen auf seinen Lippen war. Wenn ich so darüber nachdachte, fiel mir ein, dass Simon ziemlich schlecht im Lügen war und wenn es ihm schlecht ging, merkte es einfach jeder sofort. Er versuchte es nicht einmal zu verbergen. Vielleicht wusste Genesis also doch Bescheid, denn sie besaß mehr Feingefühl und eine bessere Menschenkenntnis wie ich. Nur hatte Simon gestern gesagt, nicht mal Lynn wüsste es und ihr erzählte er normalerweise alles...
 

Mit einem leisen Klong ließ ich meinen Kopf gegen die Fensterscheibe fallen, spürte das Rauschen der Straßenbahn gegen meinen Schädel dröhnen. Ich sah dieselben Häuser an mir vorbei ziehen wie jeden Morgen und jeden Nachmittag, wenn ich zur Schule hin und wieder zurück fuhr. Obwohl wir nur das Gebäude besuchen wollten, damit es meine Freunde einmal gesehen hatten, spürte ich diesen Kloß in meinem Hals. Mir war schlecht und ich hatte Angst. Erst als wir ausstiegen und ich das Gebäude am Ende der Straße erblickte, wurde mir bewusst warum ich Angst hatte: Ich befürchtete die Idiotengruppe könnte uns begegnen. Doch es war Schwachsinn. Wir hatten Samstag und die wären sicher die Letzten, die sich an einem Wochenende hier blicken lassen würden.
 

Am Gebäude angelangt, hatte ich schon wieder die Kapuze über den Kopf gezogen, die Hände tief in den Hosentaschen verstaut und den Kopf gesenkt, so wie ich hier jeden Tag auftauchte. Schlurfend folgte ich meinen Freunden, die große Augen machten als sie das riesige Gebäude sahen, so sauber und mit hohen, breiten Fenstern, einem großen Schulhof auf dem sich Bänke und Bäume befanden.

„Verdammt, das sieht viel geiler aus wie bei uns“, stellte Genesis grinsend fest. „Ich mein unsere Schule ist einfach hässlich.“

„Ich weiß“, murmelte ich. „Bin selbst sechs Jahre auf die Schule gegangen.“
 

Von der fünften bis zur zehnten Klasse. Schmutzige, ekelhafte Toiletten, eine dunkelgraue, trostlose Fassade, einfach gestrickte Gänge und alte, unbequeme Holzstühle auf denen man keine zwanzig Minuten sitzen bleiben konnte. Und doch würde ich hundert Mal lieber dort zur Schule zu gehen wie auf dieses Gebäude gleich vor meinen Augen. Einige Minuten langen tummelten sich Simon, Genesis und Lynn vor dem Schuleingang und wollten hinein gehen. Mit zusammen gepressten Lippen schaute ich ihnen auf einigen Metern Abstand zu, doch zu meinem Glück war die Schule verschlossen. Als sie stattdessen auf den Schulhof wollten, meinte ich heftiger als geplant: „Können wir nicht lieber in die Stadt gehen?“
 

Einen Moment lang blickten sie mich nur schweigend und überrascht an. Vielleicht erinnerten sie sich wieder an meine Worte in Skype, Lynn bekam einen seltsam mitleidigen Ausdruck und ich musste sofort den Blick von ihr abwenden.

„Jaa“, sagte Simon langsam. „Noch ein bisschen shoppen und dann noch mal zu dir nach Hause was Essen bevor wir feiern gehen.“

Ich wartete nicht auf Zustimmung zu diesem Vorschlag, sondern machte auf dem Absatz kehrt und ging denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Hinter mir hörte ich die Dreien etwas zueinander murmeln, doch ich versuchte sie zu ignorieren.
 

Den restlichen Tag herrschte eine gedrückte Stimmung zwischen uns. Verzweifelt versuchte ich eine freundliche, lustige Maske aufzusetzen, die mir den Ausdruck verlieh gerne unterwegs zu sein, doch es schien schier unmöglich. Ich konnte mir meine Gefühle selbst nicht erklären, doch ich wollte mich bloß unter meiner Bettdecke zusammenrollen, liegen bleiben und nichts tun. Ich war weder erschöpft noch in irgendeiner Weise faul, ich verstand es einfach nicht. Noch wenige Tage zuvor hätte ich bei dem Gedanken die Wochenenden alleine auf meinem Zimmer verbringen zu müssen heulen können und jetzt wünschte ich mir nichts sehnlicher als meine Freunde wieder loswerden zu können.
 

Als sich Genesis und Lynn am Abend für die Stadt hübsch machten, saß ich in meinen schlichten Alltagsklamotten auf dem Bett und spürte ein seltsames Pochen in meinem Herzen. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nach einer Ausrede suchte nicht mitgehen zu müssen und seltsamerweise dachte ich dabei ständig an Gaara. Er hasste Clubs. Mehrmals hatte er es in unterschiedlichen Gesprächen in Physik gesagt, immer wenn es gerade angebracht war. Wenn ich nur wüsste warum, würde ich genau dieselben Gründe benutzen, um Zuhause bleiben zu können.
 

„Kommst du so mit?“, fragte Simon, als er mein Zimmer betrat. Einmal mehr fiel mir auf, dass Simon mit gutem Aussehen gesegnet wurden war. Kein Makel zierte seine braun gebrannte Haut, seine schwarzen Haare waren geschickt zerzaust und unter seine Lederjacke trug er ein enges, graues Hemd, welches ihm außerordentlich gut stand. Und wenn er grinste schien sein halbes Gesicht nur noch aus Zähnen zu bestehen, sein Lachen und Lächeln waren für jedermann ansteckend. Jeder mochte Simon und alle fanden, dass er gut aussah. Für einen Moment war ich neidisch.
 

Ich wollte mich selbst dafür ohrfeigen. Würden Simon und ich unser Aussehen tauschen, würden mich die Idioten immer noch mobben. Ganz sicher. Sie würden nur nicht mehr behaupten, dass ich ein Affengesicht besaß und vielleicht würde Lena insgeheim auf mich stehen, wie sie auf alle gut aussehenden Jungen unserer Stufe stand und versuchte sie ins Bett zu bekommen. Aber mit mir würde sie das nicht versuchen, das wäre ja peinlich.
 

„Ja, ich hab nichts anderes“, zuckte ich mit den Schultern. „Ich besitze keine Ausgehsachen.“

„Was ist mit dieser engen Jeans, die dir Lynn mal gekauft hat?“, fragte Simon und öffnete meinen Kleiderschrank. Ungefragt begann er darin herum zu wühlen und mich störte es nicht.

„Die habe ich auch mal so in der Schule an und ich glaube, die ist momentan in der Wäsche“, antwortete ich.

„Du solltest irgendwas tragen bei dem du dir nicht eine Kapuze überziehen kannst und du musst dir dringend die Haare schneiden lassen“, sagte Simon, den Kopf halb in meinem Schrank, sodass seine Stimme durch das Holz seltsam hohl klang.

„Jetzt redest du schon wie meine Mutter“, klagte ich. „Lasst mich doch einfach wie ich bin.“
 

Simon grinste als er den Kopf wieder herauszog.

„Du weißt doch, ich wechsele mich immer ab, dein bester Freund, dein Bruder, deine Mutter und dein Ehepartner zu sein!“

Wir lachten und mein Lachen war ehrlich. Jetzt wünschte ich mir einen lockeren Abend nur mit Simon verbringen zu können, aber auch dies würde nicht geschehen.
 

Mit vereinten Kräften fanden Genesis, Lynn und Simon für mich Klamotten, die ein wenig schicker waren. Im Wäscheraum fanden wir getrocknet und ungebügelt die schwarze Hose und Simon gab mir eines seiner Shirts, welches etwas enger lag, nur die Kapuzenjacke konnten sie mir nicht nehmen. Ich trug nun meine Lieblingsjacke, eine Schwarze in deren Innenseite eine graue Stoffjacke mit Kapuze eingearbeitet war, sodass es aussah als würde ich zwei Jacken tragen.
 

Mum wünschte uns viel Spaß und gemeinsam brachen wir auf. Bis ins Zentrum war es noch leicht, dann wussten wir nicht mehr weiter. Es war bereits dunkel, doch die Lichter von Berlin ließen die Nacht zum Tag werden. Überall leuchteten Reklametafeln, Straßenlaternen, Fenster und Gruppen von Leuten, die gemeinsam ausgingen strömten kreuz und quer durch die Straßen. Wir steuerten in Richtung Altstadt und fanden einen Haufen Restaurants und Dutzende Shisha-Bars.
 

„Wir könnten uns einfach in eine Shisha-Bar setzen“, schlug ich vor als wir auf einem großen Platz stehen blieben, der mit hellem Stein gepflastert war, in dem kleine Lampen leuchteten.

„Das hat nichts mit Feiern zu tun“, klagte Genesis. „Ich will mich besaufen und tanzen!“ Sie wandte sich um und hielt eine Gruppe Jugendlicher auf, die gerade an uns vorbeigehen wollte.

„Könnt ihr uns helfen? Wir wissen nicht, wo man hier gut feiern kann.“ Einige der Gruppe schauten sich gegenseitig bloß verwirrt und blöd an, doch einer der Jungen antwortete freundlich: „Wollt ihr direkt dorthin wo es laut ist und ihr tanzen könnt oder erst einmal vortrinken?“

„Vortrinken hört sich gut an“, meinte Genesis und blickte uns zur Zustimmung an. Simon und Lynn nickten eifrig, ich sagte bloß „Joah“ und zuckte mit den Schultern.

„Dann empfehle ich das Fox“, antwortete der Junge. „Dort könnt ihr euch große Flaschen mit einem speziellen Gemisch erstellen und bekommt dazu Shotgläser aus Plastik. Zum Vortrinken also ideal.“
 

Er erklärte uns den Weg, Genesis bedankte sich herzlich und weiter ging es in die Altstadt hinein. Das Fox befand sich fast am Ende von dieser und wir wären glatt daran vorbeigelaufen, wenn ich nicht damit beschäftigt gewesen wäre gedankenverloren durch die Gegend zu blicken, anstatt mich an den Gesprächen der anderen Drei zu beteiligen.

„Leute, hier ist das Fox“, sagte ich und blieb stehen. Sie taten es mir gleich und Genesis war die Erste, welche selbstbewussten Schrittes auf die schwarze Tür zuging, auf die mit weißer, leuchtender Farbe die Silhouette eines Fuchses gemalt war. Schnell stellte sich heraus, dass es sich beim Fox mehr um eine Kneipe als um einen Club handelte und zu meiner Erleichterung spielte der DJ so leise Musik, dass man sich in normaler Lautstärke miteinander unterhalten konnte.
 

Der Raum war klein und auf einen Blick konnte man alles Wichtige erfassen. Gleich am Eingang befand sich die Theke, die den halben Raum einnahm. Um sie herum saßen Leute unterschiedlichen Alters. Es gab zwei Sitzecken, links und rechts vom DJ und Wände, Decke und Boden waren schwarz, besprenkelt mit bunter Farbe, die im Schwarzlicht leuchtete. Das Fox war ziemlich bunt. Klein und gemütlich. Es gefiel mir. An der Theke konnte man sich kostenlos Armbänder nehmen, die mit einer farbigen Flüssigkeit gefüllt waren. Wenn man sie knickte, begannen sie zu leuchten.
 

Wir behängten uns gegenseitig mit den Bändern, noch bevor sich Genesis an der Theke nach der großen Flasche Mixgetränk erkundigte. Es gab zwei Flaschen zur Auswahl: Fixy, welches orange war und Foxy, welches rot war. Genesis bestellte Orange.

„Was ist das überhaupt für ein Getränk?“, fragte ich als wir uns in einer Sitzecke nieder ließen. Simon füllte die Shotgläser auf und Genesis steckte sich eine Zigarette an. Aschenbecher standen auf den runden Tischen.

„Keine Ahnung“, zuckte Genesis die Schultern.

„Hauptsache Alkohol!“, stimmte Simon zu und reichte jedem ein Shotglas. Mir fiel auf, dass meines besonders voll war.
 

Noch immer sehnte ich nach meinem Bett und einem ruhigen Abend eingewickelt in meiner Decke. Obwohl ich wusste, ich würde dadurch zu viel Zeit zum Nachdenken haben, nur im depressiven Selbstmitleid versinken, wegen dem ich mir bereits selbst auf die Nerven ging und nicht einschlafen konnte, weil mir klar wurde, würde ich nicht ich sein, sondern jemand anderes, würde ich die Person, die stattdessen ich war, hassen. Ich starrte in das volle Glas. Ich war noch nie betrunken gewesen. Vielleicht konnte ich mich so sehr betrinken, dass ich einen Filmriss hatte. Wie wunderbar es wäre mich an ein paar Stunden meines bescheuerten Lebens nicht mehr erinnern zu können. Mein Blick fiel auf Genesis, die ihren Shot kippte und verlauten ließ, dass das Getränk richtig gut schmecken würde.
 

Ich konnte ihr nicht noch einen Nervenzusammenbruch antun. Außerdem wäre es peinlich, wenn ich kotzen müsste. Ich dachte immer so viel nach. Mir fiel ein, dass Alex dies vor einigen Tagen zu mir gesagt hatte. Alles würde ich verkomplizieren und immer machte ich mir zu viele Gedanken. Vielleicht stimmte das und war ein Grund, warum es mir momentan so schlecht ging. Für eine Nacht sollte ich mir mal keine Gedanken machen. Ich erfasste diesen Entschluss schnell und sicher und kippte den gesamten Shot in einem Zug weg.
 

Den Alkohol schmeckte ich kaum, stattdessen hatte es etwas pfirsisches an sich. Beinahe wie Eistee. Simon schenkte nach. Als die Flasche nur noch bis zum Viertel voll war, merkte ich, dass sich sehr wohl genug Alkohol im Getränk befand. Obwohl ich anfangs schlecht gelaunt war, wurde ich lockerer und konnte einfacher lachen. Auch weil mir das Thema endlich mal gefiel. Keine Geschichten aus der Oberstufe oder von den tollen Sachen, die die Drei in Nordrhein-Westfalen mit meinen alten Freunden erlebten, sondern alte, lustige Geschichten bei denen ich ebenfalls dabei gewesen war.
 

Geschichten und Zitate kamen wieder auf, die ich schon fast vergessen hatte und Genesis musste sich alles anhören, wobei sie von uns noch am Lautesten darüber lachte. Als die Flasche leer war, waren wir uns einig Foxy probieren zu wollen. Ich nahm die leere Flasche und ging noch festen Schrittes zur Theke. Die Kellnerin gab mir das rote Getränk. Als ich mich umdrehte, stieß ich beinahe mit jemandem zusammen. Gerade noch rechtzeitig sprangen wir uns gegenseitig aus dem Weg. Ich blickte einem gleichgroßen Jungen, der sich im ungefähr selben Alter wie ich befand, ins blasse Gesicht.
 

Emo, schoss es mir durch den Kopf. Seine schwarzen Haare waren lang und lagen ihm verwegen auf der Stirn, ich konnte die Farbe seiner Augen nicht erkennen, da sie im düsteren Licht vom Fox aussahen wie seine Pupillen. Er sah recht hübsch aus mit seinen schmalen Gesichtszügen, nur gefielen mir weder die riesigen, gedehnten Ohrlöcher noch die Snakebites, die seine Lippen zierten.

„Entschuldigung“, murmelte ich und wollte mich umdrehen, da tauchte hinter ihm ein bekanntes Gesicht auf. Mit seinem typischen, niedlichen Grinsen stand Noah neben dem Emojungen, reichte ihm gerade so bis zum Kinn und war wie immer stilsicher gekleidet. Noah musste einen riesigen Kleiderschrank haben, zumindest hatte ich das Gefühl er würde ständig neue Klamotten tragen.
 

Heute hatte er sich für eine türkisfarbene Jacke entschieden, deren Innenseiten mit weißem Fell bespickt war, an der Kapuze konnte man es am meisten erkennen. Im Schwarzlicht leuchtete das Weiß geradezu. Dazu trug er eine enge Jeans, dass ich mich fragte, wo er seine Männlichkeit hin geklemmt hatte, dass er dort überhaupt rein passte und natürlich zierten seine schwarzen Lieblingsschuhe die kleinen Füße des Jungen. Die hohen Stiefel, dessen Seiten er jedoch immer abgeknickt trug, was sehr lässig wirkte. Ich mochte diese Schuhe und manchmal stellte ich mir vor, wie ich darin aussah...
 

„Hey Lukas, dich hätte ich hier nicht erwartet“, lachte Noah. „Mit wem bist du hier?“

„Mit Freunden“, antwortete ich und deute zu Simon, Lynn und Genesis, die uns neugierig beobachteten. „Und du?“

„Mit meinem Freund, Fynn“, sagte Noah und der Emojunge schüttelte mir zur Begrüßung die Hand. Jetzt fühlte ich mich schlecht, weil ich ihn in meinen Gedanken Emojunge nannte. „Wir wollten nur ein wenig was trinken gehen, weil sonst keiner mit Feiern gehen wollte.“

Mir schoss der Gedanke über die Lippen, bevor er mein Gehirn passieren konnte: „Ihr könnt euch uns anschließen, wenn ihr wollt. Foxy hier, geht auf mich.“ Ich wedelte mit der Flasche vor ihm und Noah lachte erneut.
 

„Lukas!“, entfuhr es ihm beinahe vorwurfsvoll. „Ich habe dich total falsch eingeschätzt! Das haut mich gerade fast so um, wie der Stromschlag, den du mir in unserer ersten gemeinsamen Physikstunde verpasst hast.“

Zum Glück war es so dunkel hier drin, sonst hätte Noah gesehen, dass ich vor Scham knallrot anlief. Für meine Verhältnisse war ich lange nicht mehr rot geworden.

„Was sagst du?“, fragte Noah an seinen Freund gewandt.

„Mir ist das egal“, meinte dieser. „Du weißt, dass ich immer Lust aufs Feiern hab.“

„Okay, dann machen wir mit.“
 

Ich führte die Beiden in die Sitzecke und mir wurde plötzlich bewusst, dass ich ihnen doch jemanden Cooles zeigen konnte, den ich in Berlin kennen gelernt hatte. Wenn Noah Zöller nicht eine aufregende, coole Person war, dann war es niemand. Schlagartig war ich extrem fröhlich und als ich Foxy in die Shotgläser füllte, kam mir ein weiterer Gedanke, der mich glücklich stimmte: Würden Simon und ich unser Aussehen tauschen, dann könnte Samantha Zucker mich nicht mehr Bambi nennen und auf eine unerklärliche Art und Weise mochte ich es, wenn sie mich Bambi nannte.

Eine Nacht in Berlin

Zum Glück wusste ich nicht, warum Gaara Clubs hasste. Zum Glück hatte ich keine passende Ausrede gefunden, um zu Hause zu bleiben und mich schweren Herzens mit den anderen Drei in die Stadt gequält. Zum Glück war ich gerade betrunken und konnte alles vergessen, was mich belastete, denn es machte verdammt noch mal Spaß zu tanzen. Nach ein paar Fixys und Foxys hatte Noah vorschlagen ins Dreams zu gehen, einem kleinen Club, der hauptsächlich Rock und Pop spielte, auch Lieder aus den 80er und 70er fanden in der Auswahl des Djs Platz. Es gab eine große Bar, viele Sitzmöglichkeiten und eine erhöhte Tanzfläche, die mit bunten Farben beleuchtet wurde.
 

Viele Jugendliche hatten sich heute entschieden hierher zu kommen. Normalerweise hasste ich die Anwesenheit vieler Menschen und seit ich die Idioten kannte, hasste ich jeden fremden Jugendlichen meines Alters, aber heute tanzte ich mit fremden Mädchen, die mir ins Ohr schrien, dass ich niedliche Augen hätte und bekam von einem mir völlig unbekanntem Jungen einen Jägermeister ausgegeben, weil ihm mein T-Shirt gefiel. Ich erzählte ihm nicht, dass das T-Shirt eigentlich nicht mir gehörte, doch vermutlich würde er mich ohnehin nicht verstehen. Dafür war er bereits zu betrunken.
 

Mehrere Songs lang waren Noah und ich nun schon gemeinsam auf der Tanzfläche. Der Junge wurde in meinen Augen immer perfekter, denn er konnte nicht nur wunderschön singen, sondern auch verdammt cool tanzen. Obgleich er ziemlich viel getrunken hatte, waren seine Bewegungen noch flüssig und im Takt. Er zeigte mir wie man shuffelt, doch ich bekam es beim besten Willen nicht auf die Reihe, deswegen tanzte ich einfach wie es mir in den Sinn kam. Als uns der Schweiß in langen Fingern über den Rücken lief und unsere Haare auf der Stirn klebten, quetschten wir uns durch die Menge wieder von der Tanzfläche runter und hielten Ausschau nach den anderen.
 

„Vielleicht gehen wir erst noch mal zur Theke“, brüllte mir Noah durch den Lärm zu und machte eine Geste, die eindeutig zeigte: Wir trinken noch was zusammen. Er packte mich am Handgelenk, damit wir uns nicht verloren. An der Theke bestellte er zwei Wodka Red Bull mit extra viel Wodka und mich schüttelte es als ich den ersten Schluck nahm. Noah lachte.

„Jetzt hast du wirklich wie Bambi ausgesehen!“, sagte er laut. Er warf einen Blick über meine Schultern und rief: „Ich hab Simon gefunden!“

Ich drehte mich und erspähte Simon in einer Sitzecke, eng umschlungen mit einem blonden Mädchen. Es sah aus als würden sie sich gegenseitig auffressen, er hatte eine Hand auf ihrem Busen, sie hatte eine Hand gefährlich nahe an seinem Schritt.
 

„Wir können mal raus gehen und schauen, ob Genesis eine Rauchen ist“, schlug ich vor, da ich Simon wirklich nicht stören wollte. Noah nickte zustimmend, wir holten unsere Jacken aus der Garderobe und gemeinsam verließen wir den Club. Die kalte Nachtluft tat gut auf der erhitzten Haut und eine Brise wehte durch meine klebrigen Haare. Für einen Moment schloss ich die Augen, dann öffnete ich sie wieder als ich hörte wie Genesis und Fynn uns riefen. Gemeinsam saßen sie ein paar Meter entfernt auf einer kleinen Mauer, die sich neben dem Bürgersteig erstreckte. Noah und ich gesellten uns zu ihnen. Wir hatten beide Schwierigkeiten auf die Mauer zu kamen, was unserem Alkoholkonsum zuzuschreiben war.
 

„Ich finde es gut, wenn du so viel trinkst“, meinte Fynn als sich Noah endlich neben ihn gesetzt hatte. „Dann hast du immer Lust auf Sex.“

„Hab ich“, grinste Noah und kuschelte sich eng an seinen Freund, er legte den Kopf auf seiner Schulter ab. Ich wusste nicht, warum, aber ich wollte sehen wie die Beiden sich küssten. Als ich es mir vorstellte, gefiel mir der Gedanke und ich schüttelte den Kopf, um es wieder loszubekommen. Ich hatte wirklich viel getrunken.
 

„Was machen die anderen?“, fragte Genesis, neben der ich saß und trotz allem weiterhin großzügige Schlucke Wodka Red Bull nahm.

„Simon hat ein blondes Mädchen gefunden“, sagte ich, Genesis nahm mir das Glas ab und lachte.

„Du lallst, Lukas.“ Sie trank selbst etwas von dem Alkohol. „Entweder hörst du auf zu trinken oder ich trinke mehr, damit wir uns wieder ordentlich miteinander unterhalten können.“

„Du trinkst mehr“, entschloss ich. „Lalle ich so schlimm?“

„Geht“, sagte Fynn und Noah zuckte mit den Schultern.

„Ich bin zu betrunken, um das zu beurteilten“, meinte der Junge und lachte wieder sein niedliches Lächeln. Fynn fand es wohl ebenfalls niedlich, denn ein Lächeln breitete sich auf seinen gepiercten Lippen aus und er beugte sich ein wenig herunter, um Noah auf die Nasenspitze zu küssen. Noah hob den Kopf und sie küssten sich richtig, öffnete ihre Münder und für einen Moment sah ich wie ihre Zungen miteinander spielten. Ich spürte ein Ziehen in meinen Lenden. Mir wurde klar, dass mich der Anblick antörnte.
 

Sofort wandte ich den Blick ab und starrte lieber die Straße herunter, noch immer hell von den Lichtern der Stadt erleuchtet.

„Und Lynn?“, fragte Genesis, aber ich wollte sie nicht anschauen, denn dann hätte ich hinter ihr wieder Noah und Fynn gesehen.

„Keine Ahnung“, antwortete ich schulterzuckend. „Tanzen hat total viel Spaß gemacht, wieso gehen wir nicht zusammen tanzen?“

„Kannst du denn noch stehen?“, fragte Genesis belustigt und schnippte ihren Zigarettenstummel weg. Leichtfüßig sprang sie von der Mauer, trat vor mich und streckte die Arme aus, damit ich zu ihr herunterkam. Ich trank den letzten Rest aus meinem Glas und musste mich noch einmal schütteln. Das leere Glas stellte ich neben mich, dann nahm ich ihre Hände in meine und ließ mich herunterfallen.
 

Die Mauer war wirklich nicht hoch. Wenn man darauf saß, waren die Füße nur ein paar Zentimeter vom Boden entfernt, doch ich hatte das Gefühl viel tiefer zu fallen. Mit voller Wucht stieß ich gegen Genesis, die erschrocken aufschrie und nach hinten stolperte. Ausgestreckt landete sie auf dem Rücken und ich begrub sie halb unter mir. Wir begannen noch vor den Zuschauern des Unglücks an zu lachen.

„Ich sollte weniger trinken“, stellte ich grinsend fest als ich beim Aufstehen wieder gefährlich torkelte.

„Wir sollten vielleicht doch nicht tanzen gehen“, sagte Genesis und klopfte sich die Hose ab.
 

Wir blieben noch eine Zeit lang draußen und unterhielten uns über alles mögliche. Als wir über Atomkraft und ihre Folgen diskutierten, kam ein gutaussehender, junger Mann herüber und sammelte die beiden leeren Gläser ein.

„Bringen Sie uns auch neue, die gefüllt sind?“, fragte Fynn mit einem Zwinkern.

„Ich wollte nur schauen, wie mein Laden läuft“, grinste der Mann.

„Ach so, Ihnen gehört der Club?“, fragte Genesis. Er nickte und stellte sich als Eduard vor, den alle Eddy nannten. Groß mit dem Schatten eines Bartes über dem Kiefer und braunen Haaren, die verwegen in sein braunes Gesicht fielen. Mit den leeren Gläsern in der Hand blieb er noch eine Weile bei uns stehen, denn Genesis hatte das unglaubliche Talent jeden in ein interessantes Gespräch zu verwickeln aus dem man nicht mehr heraus wollte.
 

Schließlich kamen Lynn und Simon dazu, beide hatten die Augen halb geschlossen, sowie es bei Betrunkenen üblich war. Sicher sah ich genauso aus, zumindest fühlte es sich so an. Mittlerweile schlug der Alkohol bei mir mehr zu und ich nahm alles durch einen Schleier wahr, der ein wenig an einen Traum erinnerte. Es war anders wie beim Hasch und gefiel mir viel besser.

„Ich hab gehört du warst erfolgreich, Simon“, grinste Genesis.

„So wie ihr beide zusammen aussaht, dachte ich du würdest sie mitholen, um mit ihr zu schlafen“, meinte Noah.

„Wo denn? In meinem Bett?!“, entfuhr es mir und die anderen lachten, nur Lynn nicht. Sie sah kränklich aus und schwankte auf der Stelle.

„Das hat sich schon erledigt“, sagte Simon mit seinem unvergleichbarem Grinsen. „Hier gibt es schließlich Toiletten.“

Eduard schien von dieser Vorstellung nicht sehr begeistert zu sein, doch er sagte scherzhaft: „Wenn sie schwanger ist und es ein Junge wird, benennt ihn bitte nach mir.“

„Nein“, widersprach Simon durch unser Gelächter durch. „Ohne Kondome schlafe ich nicht mit Mädchen. Wir haben's anders gemacht.“ Er zeigte auf seinen Mund und ich verstand.
 

Sie hatte ihm einen geblasen. Für einen Moment kam ich mir ein wenig dumm vor. Simon sah nicht aus als wäre dies das erste Mal für ihn gewesen, er hatte schon viele sexuelle Erfahrungen mit unterschiedlichen Mädchen gemacht. Und ich stand daneben, die Jungfrau, die von einem Schwulenpärchen angetörnt wurde. Ehe ich mich wieder, wie üblich, in trüben Gedanken verlieren konnte, beugte sich Lynn vor und übergab sich direkt auf Eduards Hose und Schuhe.
 

Genesis schrie auf und machte einen Satz nach hinten, Fynn begann so fies zu lachen wie ich noch nie jemanden lachen gehört habe und Noah schlug wie ein entsetztes Mädchen beide Hände auf den Mund.

„Scheiße“, sagte Lynn als sie fertig war.

„Alles klar?“, fragte Simon, der kaum eine Reaktion gezeigt hatte. Ich tat mich schwer ein Lachen zu unterdrücken. Mir tat es Leid, dass es Lynn so schlecht ging, doch sie hatte gerade dem Besitzer des Dreams auf die Hose gekotzt und sein Gesichtsausdruck sollte fotografiert und eingerahmt werden. Ich sah wie er wütend wurde, doch konnte er uns schlecht anschreien oder vertreiben, schließlich waren wir seine Kunden und es würde sich herumsprechen, wenn er Gäste anschrie. Die Situation war zu gut, um nicht lachen zu müssen.
 

„Ich müsste mal ein bisschen gehen und frische Luft schnappen“, sagte Lynn. Sie begann plötzlich zu zittern und ihre Zähne klapperten. Sofort zog Simon seine Lederjacke aus und warf sie ihr über die Schultern.

„Vielleicht gehen wir auch besser“, brachte ich unter meinem unterdrückten Lachen hervor und fasste Genesis an der Hand. Noah und Fynn kamen von der Mauer herunter und verabschiedeten sich von Eduard, der fluchte und dabei etwas sagte wie: „Ja, besser geht ihr jetzt.“
 

Erst als wir einen Häuserblock zwischen uns und den Club gebracht hatten, brachen wir in lautes Gelächter aus. Selbst Lynn schaffte es zu lächeln. Simon musste sie stützen und hielt sie mit beiden Armen fest umklammert.

„Weißt du überhaupt wer das war?“, fragte Noah an sie gewandt, Lynn schüttelte den Kopf. „Dem Typ gehört das Dreams.“

„Du lügst“, sagte Simon prompt.

„Nein“, brachte ich hervor, der vor Lachen Tränen in den Augen hatte. „Das war der echt.“
 

Nun lief Lynn vor Scham scharlachrot an und Simon lachte noch einmal.

„Das ist nicht euer Ernst“, murmelte sie entgeistert. „Das ist nicht witzig.“

„Morgen kannst du darüber lachen“, sagte Fynn entschieden. „Natürlich dann, wenn deine Kopfschmerzen weg sind. Schade, dass ihr in Nordrhein-Westfalen wohnt, mit euch kann man echt gut feiern. Und reden“, fügte er an Genesis gewandt zu.

„Dafür wohnt Lukas ja hier. Zum Glück wohnt er hier“, sagte Noah. Als ich mich endlich beruhigt hatte und die Tränen von meinen Wangen wischte, kamen die Worte über mich ehe ich darüber genauer nachdenken konnte: „Ja. Zum Glück wohne ich hier.“

Samantha und ihr Bambi

Um sechs Uhr morgens kamen wir heim und hätten bis in den späten Nachmittag schlafen können, wäre der Zug zurück nach Nordrhein-Westfalen nicht bereits um zwölf Uhr gefahren. Ich wusste noch, dass ich Simons Vorschlag gar nicht erst ins Bett zu gehen, zugesagt hatte, nichtsdestotrotz wachte ich gegen elf Uhr auf, da Mum uns weckte. Verwirrt schaute ich sie an, mein Kopf dröhnte wie noch nie in meinem Leben und mein Bauch war vor Hunger schmerzhaft verkrampft.
 

„Was zum Teufel...“, brachte ich ächzend hervor.

„Ihr habt noch eine Stunde bis der Zug geht, beeilt euch“, sagte Mum und verließ wieder das Zimmer. Ein zerzauster Kopf tauchte aus den Decken auf der Matratze neben meinem Bett aus, Lynn war blass und ihre Augen zu Schlitzen verengt. Eigentlich hatte sie bei meiner Schwester im Zimmer auf einer Matratze geschlafen und Simon auf dieser, auf die sie nun lag. Für einen Moment dachte ich Simon würde bei Alex schlafen, doch dann spürte ich wie etwas gegen meine Beine stieß.
 

Simon hatte mit mir im Bett gelegen und zwar falsch herum. Seine Füße lagen neben meinem Kopf und meine neben seinem. Wir hatten halb aufeinander gelegen. Glücklicherweise war Lynn zu verschlafen, um dies zu bemerken, sie hätte uns damit Wochen lang aufgezogen. Erschöpft quälten wir uns aus den Betten und machten uns fertig. Genesis war die Einzige, die tatsächlich die ganze Nacht durchgemacht hatte. Als wir in die Küche kamen, saß sie dort mit dunklen Augenringen und einer dampfenden Tasse Kaffee in der Einen und einer Zigarette in der anderen Hand. Die Couch im Wohnzimmer, auf der sie das Wochenende geschlafen hatte, war bereits aufgeräumt und ihr Koffer gepackt.
 

„Schon wieder am Rauchen“, stellte ich murmelnd fest.

„Luki, ich würde unter der Dusche rauchen, wenn es möglich wäre“, sagte Genesis todernst. Ich brachte ein Lachen zustande und es zog in meinen Schläfen. Stöhnend presste ich eine Hand gegen meinen Kopf.

„Da ist wohl jemand verkatert“, grinste Genesis und nippte an ihrem Kaffee.
 

Ich war so müde und hatte solche Kopfschmerzen, dass ich froh war als die Drei fort waren und ich mich wieder ins Bett werfen konnte. Es war Sonntag, das wusste ich, doch ich bejammerte mich nicht, weil ich am nächsten Tag wieder in die Schule musste. Im Gegenteil. Morgen hatte ich Physik und ich freute mich darauf Noah wiederzusehen.
 

Zum Glück wohne ich hier. Ich könnte lachen und heulen gleichzeitig. Als mich Michael mit Kraft gegen den Spind stieß und meine Schulter vor Schmerzen schrie, war ich nicht mehr so glücklich in Berlin zu wohnen. Wenn nur Noah, Gaara, Kaito und Samantha in meinem Gebäudeflügel wären, dann würden sie diese Typen zusammenfalten. Im gleichen Moment in dem ich dies dachte, wollte ich mich schlagen. War ich denn so schwach, dass ich mich hinter anderen Jugendlichen verstecken musste? Die Antwort lautete ja, denn ich brachte kein Wort über meine Lippen als mir Hendrik den Ordner aus der Hand schlug. Sie beleidigten noch meine Mutter und bedauerten sie im selben Zug, dass sie mich als Sohn hatte. Dann zogen sie mit diesem Grinsen auf den Gesichtern ab, bei dem sie immer aussahen als würden sie sich für die Helden der Nation halten.
 

Eigentlich waren sie erbärmlich. Vielleicht würde ich eines Tages den Mut aufbringen ihnen zu sagen wie erbärmlich sie waren. Wenn sie meine Familie beleidigten, wollte ich ihnen jedes Mal ins Gesicht schreien, dass mein Vater tot war und ja, ich wünschte ich könnte nachmittags nach Hause kommen und mir bei ihm die Augen ausheulen, weil ich in der Schule gemobbt werde. Aber ich schwieg. Ich sagte nie etwas gegen diese Idioten. Verbittert sammelte ich meinen Ordner wieder auf und stellte mich der alltäglichen Tortur. Sonntagabend hatte ich noch ein paar Hausaufgaben erledigt und ein Referat vorbereitet, doch ich kam nicht an die Reihe wofür ich nur dankbar war. Ich wollte es so weit hinauszögern wie nur möglich.
 

Zu Physik ging ich dann mit einer positiveren Erwartung, doch ich bekam einen herben Schlag in die Fresse. Nicht wörtlich gemeint, doch es fühlte sich ganz danach an, denn Noah und Kaito und Gaara fehlten. Nur Samantha saß an unserem Gruppentisch und begrüßte mich wie immer mit: „Na, Bambi? Wie geht’s?“ Und ich antwortete wie immer mit: „Gut.“

Vielleicht kamen alle Drei nur zu spät. Ich hoffte und hoffte noch eine viertel Stunde lang als der Unterricht schon längst begonnen hatte und eine Gruppe ihre Lösungen der letzten Wochen vorstellte, doch die Drei kamen nicht. Sollte ich fragen, wo sie waren? Ich wollte, aber aus irgendeinem Grund traute ich mich nicht. Am Rande bekam ich mit, dass die Gruppe eine Aufgabe falsch hatten. Eine andere Gruppe stellte ihre Lösungen vor, doch die waren ebenfalls falsch. In der Klasse begann eine Diskussion über die Aufgabe.
 

„Bambi, melde dich“, stupste Samantha mich an.

„Warum sollte ich?“, fragte ich verwirrt. Sie tippte auf den Block, der vor mir auf dem Tisch lag.

„Deine Lösungen hat noch niemand gesagt.“

„Na und?“

„Sie könnten richtig sein, du bist gut in Physik und bekommst schlechte mündliche Noten, das ist unnötig. Melde dich.“

„Nein.“ Ich sagte das Wort so entschieden, dass Samantha für einen Moment stutzte, dann verdüsterte sich ihr Blick.
 

„Sei bitte nicht so stur wie unser Gaara“, sagte sie. „Melde dich und trage die Lösungen vor.“

„Jetzt bist du auch stur“, stellte ich fest.

„Aber ich bin nicht stur und schade mir dabei selbst. Wenn du dich nicht meldest, melde ich mich für dich.“

Ich schob ihr den Block zu. „Von mir aus kannst du die vortragen.“
 

Samanthas Hand schoss in die Höhe. Der Lehrer nahm sie sofort dran, denn Samantha meldete sich nicht oft in Physik.

„Lukas hat die Lösungen“, sagte sie prompt und schob mir den Block wieder unter die Nase. Ich spürte die Blicke der gesamten Klasse auf mir liegen und mir schoss das Blut ins Gesicht. Reihen weiter vorne hörte ich Michael, Hendrik und Marvin tuscheln und leise lachen. Mir blieb nichts anderes übrig als vorzutragen.
 

„Alles richtig!“, sagte der Lehrer begeistert als ich fertig war.

„Wie bist du darauf gekommen?“, fragte eine Schülerin, ich hatte ihren Namen vergessen geschweige denn wusste ich, ob sie aus meinem Gebäudeflügel oder aus dem anderen Gebäudeflügel stammte. Eigentlich kannte ich nur die Namen von einer Hand voll Schüler auf dieser Schule und manchmal dachte ich wir hätten kurzzeitig neue Mitschüler bekommen, denn mir kamen ihre Gesichter immer fremd vor.
 

„Am besten kommst du vor und erklärst es“, sagte der Lehrer ehe ich zu einer Antwort ansetzen konnte. Er nahm ein Stück Kreide und hielt es mir entgegen und ich fühlte mich als hätte ich gerade das Todesurteil bekommen. Ich wurde sauer auf Samantha. Warum hatte sie mir das angetan? Sich jetzt zu weigern wäre nur albern, deswegen zwang ich mich aufzustehen. Ich nahm meinen Block mit, obwohl ich die Aufgabe auch so erklären konnte, ich hatte nur Angst einen Blackout zu bekommen, wenn ich erst einmal an der Tafel stand.
 

Zwanzig Minuten brauchte ich um alles zu erklären. Unentwegt zitterten meine Finger und ich spürte eine unangenehme Hitze in mir, dass ich nur hoffen konnte niemand würde mir meine Nervosität anmerken. Die Schüler schrieben mit und stellten mir Fragen und unser Physiklehrer setzte sich ans Pult, hatte die Finger ineinander verschränkt und wartete bis ich fertig war. Dann sagte er glücklich: „Schön, wenn man Schüler hat, die einem die Arbeit abnehmen.“

Ein paar in der Klasse lachten. Ich zwang mir ein Lächeln auf Lippen, weil ich glaubte so höflich zu sein. Als ich mich endlich wieder auf meinen Platz setzte, fühlte ich mich benommen aber gut. Niemand hatte mich ausgelacht, keine dummen Sprüche sind geflogen und ausnahmslose alle haben mich ernst genommen.
 

„Schau dir die an“, flüsterte Samantha und zeigte auf die drei Idioten. „Du hast ihnen ganz schön die Suppe versalzt.“

„Was meinst du?“, fragte ich verwirrt.

„Sie dachten du blamierst dich und jetzt haben sie gemerkt, dass du intelligenter bist als sie“, antwortete Samantha mit einem verschlagenen Grinsen. „Ihre Gesichter während deines Vortrags waren göttlich.“

„Wieso sollten sie wollen, dass ich mich blamiere?“ Einfach mal total dumm stellen. Woher sollte Samantha wissen, dass sie mich mobbten? Niemand sollte davon wissen, es wäre zu peinlich.
 

Samantha schaute mich an als hätte ich ihr gerade erzählt auf dem Schuldach würde ein roter Kobold mit dem Weihnachtsmann Tango tanzen.

„Denkst du ich bin bescheuert, Bambi?“, sagte sie. „Jeder weiß, dass du von ihnen gemobbt wird.“

„Was heißt denn jeder?“, fragte ich und meine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen.

„Deine Stufe und meine Stufe, die 12er und die 13er. Die gesamte Oberstufe weiß, dass die Typen Arschlöcher und du ein armes Schwein bist. Schließlich mobben sie dich ohne Scham in aller Öffentlichkeit und haben dieses Foto von dir herum geschickt.“
 

Ich wollte sterben. Es klingelte in dem Moment in dem mein Herz schmerzhaft zu Boden sackte. Sofort packte ich meine Sachen zusammen. Wieder zitterten meine Hände und ich wusste nicht, welches Gefühl stärker war: Meine Angst, meine Verzweiflung, das Gefühl jeden Augenblick losheulen zu müssen oder meine Wut.

„Bambi, hör mal.“ Sam stellte sich mir in den Weg als ich aufstand und meine Wut siegte über die anderen Gefühle.

„Geh mir aus dem Weg“, keifte ich sie an. „Hast du dich gefreut als du das Foto bekommen hast? Hast du es allen gezeigt und mit ihnen darüber gelacht? Bist du enttäuscht, weil ich mich gerade nicht vor der ganzen Klasse blamiert habe?“

„Bist du jetzt durchgeknallt?“, entgegnete Samantha nicht weniger aufgebracht. „Die Leute, die das Foto behalten haben und es lustig fanden, kannst du an zwei Händen abzählen. Der Rest findet ihr Gehabe peinlich und unnötig, die aus deiner Stufe haben nur Angst sich gegen die Idioten zu stellen, weil sie nicht selbst gemobbt werden wollen. Ich wollte dir doch nur helfen, ich weiß, dass du gut in Physik bist, sonst hätte ich mich nicht für dich gemeldet.“
 

Sie packte ihre Tasche, schwang sie sich über die Schulter und griff nach ihrem Ordner.

„Du hast auf dieser Schule keine Freunde, aber wenn du welche machen könntest, behandelst du sie auf diese Weise? Vielen Dank, Lukas.“ Sie rauschte mit wehendem, hellbraunen Haar davon und ich wusste nicht, was mich mehr getroffen hatte: Dass sie mit mir Freundschaft schließen wollte und ich es vermasselt hatte oder, dass sie mich zum ersten Mal seit wir uns kannten nicht Bambi sondern Lukas genannt hatte.
 

Als ich am Nachmittag nach Hause fuhr, fühlte ich mich benommen und daran waren nicht die Doppelstunde Deutsch und die Doppelstunde Englisch Schuld, die für mich jeden Montag aufs Neue eine Tour durch die Hölle waren. Ich konnte nur noch an Samantha Zucker denken. Gegen Abend rief mich Genesis an, sie fragte nach Noah und Fynn und ich erzählte ihr von Sam und dem heutigen Erlebnis mit mir.
 

„Sie nennt dich Bambi?“, fragte Genesis als meine Erzählung zu Ende war.

„Heute nicht“, sagte ich traurig. „Heute hat sie mich bei meinem Namen genannt.“

„Luki, darf ich dich auch Bambi nennen?“

„Nein, du nennst mich Luki und Sam soll mich wieder Bambi nennen.“ Ich lag auf meinem Bett und starrte auf den Fernseher, der lautlos eine Folge Southpark zeigte.

„Dann entschuldige dich bei ihr, du hast mal wieder zu viel nachgedacht und alles missinterpretiert“, sagte Genesis prompt. „Darin bist du ziemlich gut, weißt du das?“

„Jaa“, seufzte ich. „Und im Fehler machen und Leute verlieren.“

„Ach Luki.“ Genesis klang mitleidig. „Du gehst dich morgen bei ihr entschuldigen, okay?“

„Okay...“ Es klang so einfach, aber ich wusste, ich würde mich morgen nicht trauen. Vielleicht Mittwoch, wenn wir wieder alleine in Physik waren, aber wenn die Jungs dann wieder da waren, würde es nur peinlich werden zu erklären, warum ich mich entschuldigen musste. Ich wusste, wo Samantha in den Pausen immer stand, doch zu ihr zu gehen und zu all den fremden Jugendlichen aus ihrer Stufe, um sie nach einem Gespräch unter vier Augen zu fragen... das würde ich mich niemals trauen.
 

„Weißt du was von Simon?“, fragte ich gedankenverloren. Im nächsten Moment hätte ich mich mal wieder schlagen können.

„Was soll ich von Simon wissen?“, stutzte Genesis. Angestrengt suchte ich nach einer Ausrede und unterdrückte ein Fluchen. Natürlich. Nicht einmal ein Geheimnis meines besten Freundes konnte ich für mich behalten, ich könnte mich selbst so sehr hassen.

„Ach nichts, ist egal“, sagte ich, weil mir nichts besseres einfallen wollte.

„Egal, ja?“

„Ja, frag ihn nicht danach“, flehte ich. Er vertraute mir und ich konnte dieses Vertrauen nicht so einfach missbrauchen.

„Wonach soll ich ihn denn fragen?“ Genesis lachte. „Du hast mir ja gar nichts erzählt.“

„Ich hab nicht nachgedacht, bitte tu mir den Gefallen und versuch nichts raus zu finden oder so etwas.“

„Luki, du bist niedlich“, sagte sie. „Keine Angst, ich werde Simon nicht nach etwas fragen, was man vielleicht von ihm wissen sollte. Versprochen.“

Die andere Seite

Am Mittwoch war Gaara wieder in der Schule und kam pünktlich zu Physik. Scheinbar konnte er nur in Kombination mit Kaito zu spät zum Unterricht kommen. Als sich Sam auf ihren Platz neben mich setzte, merkte ich sofort, dass sie immer noch sauer auf mich war. Sie fragte nicht „Na Bambi? Wie geht’s?“ und schenkte mir auch keinen einzigen Blick ihrer bernsteinfarbenen Augen. Noch bevor der Unterricht wirklich anfing, fasste ich mich ans Herz und sagte: „Tut mir Leid wegen Montag. Manchmal verkompliziere ich Sachen und denke zu viel darüber nach.“

„Ja und du hast keinerlei Selbstwertgefühl“, fügte Sam schroff hinzu. Die Aussage traf mich, weil sie stimmte. „Aber gut, ich bin nicht mehr sauer auf dich. Du hast eben überreagiert und ich kann es dir nicht einmal übel nehmen.“

„Noch etwas“, sagte ich leise. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Gaara aufmerksam zuhörte. Seine schmalen, grün-braunen Augen beobachteten mich und es bereitete mir eine Gänsehaut. „Nenn mich nie wieder Lukas.“

„Was?“ Samantha begann zu lachen.

„Ich mag es nicht, wenn du mich beim Namen nennst“, gestand ich und lächelte schief während ich schon wieder rot wurde.

„Ich soll dich immer Bambi nennen?“, fragte Sam nach und ich nickte. Auch Gaara lachte und das Mädchen sagte: „Bambi, du bist niedlich.“
 

Das hörte ich zum zweiten Mal in dieser Woche, aber nicht erst zum zweiten Mal in meinem Leben und das gefiel mir nicht besonders gut. Wenn es eine Sache gab, die Jungen nicht sein wollten, dann war es niedlich. Abgesehen davon, war ich noch nicht einmal niedlich. Bisher hatte ich nur einen niedlichen Jungen kennen lernen dürfen und das war Noah und der war wirklich niedlich. Die Stunde verlief ohne große Vorfälle.
 

Nach der sechsten Stunde überlegte ich nach Hause zu fahren und den Rest des Tages zu schwänzen. Mittwoch Nachmittag hatte ich nur in der zehnten und elften Stunde Sport, dementsprechend drei Freistunden, in denen ich nichts zu tun hatte. In meinen Freistunden und in der Mittagspause verzog ich mich meistens auf den Spielplatz, der nicht weit von der Schule entfernt war, machte dort auf den Bänken Hausaufgaben und hörte Musik. Aber drei Stunden lang konnte ich mich damit auch nicht beschäftigen, außerdem wurde es dafür langsam zu kalt. Bereits nach einer Stunde fühlten sich meine Glieder steif und gefroren an. Hier in Berlin ging immer ein besonders starker Wind und er war eiskalt. Andererseits konnte ich jedoch nicht schon wieder Sport schwänzen, mir fehlten Noten und ich hatte schon so viele Fehlstunden, dass ich mir bei der Oberstufenleiterin Frau Beyl-Schüller eine neue Tabelle hatte holen müssen.
 

Während ich so herum überlegte, ging ich auf den Schulhof und stieß beinahe mit Gaara zusammen. Noch rechtzeitig hielt der Junge mich mit einer Hand an der Schulter fest, damit ich ihn nicht über den Haufen lief, wobei ich vermutlich eher gegen ihn gerannt und nach hinten umgefallen wäre, denn er überragte mich um einige Zentimeter und ich wusste, dass sein Körper gezeichnet von Ansätzen von Muskeln waren. Wegen der Kälte trug er jedoch eine graue Winterjacke, die teuer aussah und seine braunen Haare waren von einer schwarzen Wollmütze verdeckt. Einige Strähnen fielen ihm verwegen auf die Stirn. Er sah gut aus. Meine Schulter, die er mit seiner Hand berührte, brannte süßlich.
 

Ich war überrascht von diesem Gefühl und ging einen Schritt zurück und murmelte eine Entschuldigung, sofort ließ er mich wieder los, doch das Gefühl blieb noch eine Weile. Obwohl ich es mochte, erschreckte es mich, denn ich konnte es nicht unterordnen. Aber was wunderte es mich, dass ich Gefühle hatte, die ich nicht verstand, wo ich doch ohnehin so gut wie nichts in meinem Leben verstand. Ich war einfach immer so schrecklich verwirrt und wusste nicht einmal wieso.
 

„Wohin geht’s?“, fragte Gaara.

„Weiß nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß und der Junge lachte. Ich senkte den Blick und war froh, dass es so kalt war. Meine roten Wangen konnte ich auf den kalten Wind schieben, der mir fast die Kapuze vom Kopf wehte.

„Dafür bist du aber ziemlich schnell gegangen“, sagte Gaara. Ich zuckte bloß mit den Schultern. Aus irgendeinem Grund konnte ich ihn nicht ansehen, dabei sah ich Gaara gerne hat. Ich mochte es, dass seine Wimpern so blass und dünn waren, dass man sie kaum sehen konnte und ich mochte seinen perfekten Nasenrücken und seine blutleeren, schmalen Lippen. Wenn Gaara schwarz trug, sah er aus wie ein Geist, denn dann wirkte seine Haut um ein vielfaches blasser.
 

„Willst du vielleicht mitkommen? Ich wollte gerade in die Raucherecke und danach zurück in den Aufenthaltsraum von unserer Stufe. Du könntest ruhig mitkommen.“

Ich wollte gerne mit Gaara mitgehen, aber in der Raucherecke waren immer die Idioten. Ich war noch nie in der Raucherecke gewesen, doch ich wusste, dass sie groß war und vielleicht stand Gaara mit seinen Freunden weit genug von ihnen weg. Doch alleine die Aussicht darauf sie noch einmal sehen zu müssen, machte mir zu schaffen.
 

„Ich weiß nicht“, murmelte ich. Sollte ich ihm meine Bedenken erzählen? Wenn doch laut Sam ohnehin alle wussten, dass ich gemobbt wurde? Nein. Gaara sollte mich nicht für so schwach halten.

„Komm doch einfach mit“, sagte Gaara. „Wir werden dich schon nicht fressen.“

Im Grunde ließ er mir keine andere Wahl als mitzukommen. Ich folgte ihm über den windigen Schulhof und konnte kaum noch was sehen, weil mir mein Pony wie ein Vorhang die Augen verdeckte. Bisher hatte mir das gefallen, doch langsam sollte ich mein Pony wirklich schneiden. Das konnte unmöglich gut aussehen. Ich fragte mich in einem seltsamen Moment, ob Gaara es wohl gefallen würde, wenn ich mir die Haare schnitt. Warum sollte es mich interessieren, ob es Gaara gefiel? Ich schüttelte den Kopf und war schon wieder verwirrt.
 

Die Raucherecke war überdacht und windgeschützt. Sie zog sich längs neben dem Schulhof entlang und ich stellte fest, dass die Idioten soweit weg standen, dass sie nicht einmal merkten, dass ich da war. In der Ferne konnte ich sie beobachten, doch sie würden mich nicht sehen, denn es waren so viele Oberstufenschüler in der Raucherecke, dass sie mich alle verdeckten. Gaara führte mich mitten in den Tumult. Fremde Menschen. Ich hasste es, aber einen Rückzieher würde ich bestimmt nicht mehr machen. Wenn es mir zu unangenehm wurde, konnte ich immer noch mit einer Ausrede verschwinden... meine Schwester! Ich musste meine kleine Schwester von der Schule abholen und ich hatte zwei Freistunden, die diese Geschichte logisch machten. Ja, genau diese Ausrede würde ich benutzen.
 

Steinbänke standen an der Wand, die bis zum Dach reichte, daneben waren auf bloßen Eisenstangen, die aus dem Boden ragten überfüllte Aschenbecher platziert. Ich spürte die Blicke anderer Jugendlichen auf mir liegen, doch sie unterbrachen ihre Gespräche nicht. Überall war Lachen und Gaara brachte mich in einen etwas größeren Kreis aus Jugendlichen. Auf einer Steinbank saß Samantha neben einem Jungen mit kurzen Dreads, wie sie Genesis hatte, und einer Akustikgitarre in den Händen auf denen er bekannte Rocklieder spielte.
 

„Uh, Bambi!“, erkannte mich Sam, der Junge hörte auf zu spielen und verneigte sich vor mir.

„Guten Tag“, grüßte er freundlich. Er streckte eine Hand aus und ich ergriff sie verwirrt. Seit wann gab es so freundliche und gut erzogene Jugendliche?

„Hi“, grüßte ich zurück.

„Ich bin Kiaro“, stellte sich der Junge vor.

„Lukas“, sagte ich leise.

„Und du nennst ihn Bambi?“, fragte Kiaro an Sam gewandt, die eifrig nickte.

„Und ich verrate dir was: Er will sogar, dass ich ihn so nenne, ich darf ihn auf gar keinen Fall bei seinem richtigen Namen ansprechen.“
 

Ich wurde schon wieder rot. Während sie alle hier zusammen standen und miteinander redeten, hielt ich mich die meiste Zeit aus den Gesprächen raus und stand nur schweigend neben Gaara, der eine Zigarette nach der anderen rauchte. Er war in der Sache so schlimm wie Genesis. Kiaro rauchte gar nicht und Sam teilte sich eine Zigarette mit einem Mädchen aus ihrer Stufe. Als sich die Gruppe ein wenig lichtete, weil einige wieder ins Gebäude gingen, fing Kiaro erneut an zu spielen und er war ein Zauberer auf der Gitarre.
 

Seine Finger glitten über die Saiten und erzeugten sanfte Töne und Melodien, die in meinen Ohren pure Schönheit waren. Ich könnte ihm den ganzen Tag lang zu hören und dabei zu schauen, wie seine braunen Augen seine eigenen Finger beobachteten. Seine Haut war von einem gesunden braunen Farbton und sein Gesicht schmal und lang. Pferdegesicht, würden ihn vielleicht die Idioten nennen und sie würden ihn auslachen, weil er diese geflickte, braune Stoffhose trug und darüber ein kariertes Hemd, das ihm zu groß war. Seine Jacke war dunkel und mit weißem Fell gefüttert. Er sah in allen Punkten seltsam und cool aus und gehörte zu einer Art von Jugendlichen, die ich noch nicht kennen lernten durfte. Er war so anders. Vollkommen individuell.
 

Wir blieben die gesamte Mittagspause hindurch, dann mussten wieder einige zum Unterricht unter anderem auch Sam, die von einer Doppelstunde Kunst Leistungskurs erwartet wurde. Gaara hatte ebenso wie Kiaro und ich und eine Hand voll anderer Jugendlicher ihrer Stufe zwei Freistunden.

„Was hast du eigentlich für Leistungskurse, Lukas?“, fragte Kiaro als ich mich auf den freien Platz neben ihn setzte, auf dem vorher Sam gesessen hatte.

„Deutsch und Geschichte“, antwortete ich. „Und du?“

„Deutsch und Mathe“, sagte er. „Aber ich hatte überlegt Geschichte zu nehmen, ich finde das Fach ziemlich interessant und auch sehr wichtig.“
 

Mir fiel ein, dass ich nicht wusste welche Leistungskurse Gaara hatte. Ich fragte den Jungen frei raus, der sich schon wieder eine neue Zigarette anzündete. Seine Packung neigte sich langsam ihrem Ende zu.

„Englisch und Mathe“, antwortete Gaara knapp.

„Igitt, Englisch“, verzog ich das Gesicht. Gaara und Kiaro lachten. Die anderen Jugendlichen hatten sich ihren eigenen Gesprächen zugewandt und ließen uns in Ruhe. Darüber war ich froh.
 

„Das war tatsächlich ein Fehler“, gab Gaara zu. „Aber es liegt weniger am Fach und mehr an der Lehrerin. Wir nennen sie den Endgegner.“

„Aber nichts geht über unsere Lehrerin im Geschichte Grundkurs“, sagte Kiaro und klimperte dabei auf seiner Gitarre die Weiße Hai – Musik.

„Die rote Furie.“ Gaara tat als müsse er schaudern.
 

Wir unterhielten uns noch eine Weile über Lehrer und den Unterricht, bis Gaara sich wieder eine neue Zigarette anzündete und es mich nervte.

„Deine wievielte ist das jetzt?“, fragte ich und versuchte beiläufig zu klingen.

„Keine Ahnung“, zuckte Gaara die Schultern.

„Du rauchst ziemlich viel“, stellte ich fest.

„Zu viel“, sagte Gaara und setzte dabei dieses Grinsen auf, das mir so gut gefiel. Dabei sah er so verschlagen und frech aus, dass man ihm gerne eine Backpfeife verpassen würde und gleichzeitig stand ihm das Grinsen so gut, dass es mich in seinen Bann zog.
 

„Aber wirklich“, murmelte ich. „Irgendwann hast du Lungenkrebs und stirbst dran und dann wünschst du dir, du hättest nicht so viel geraucht.“

„Du klingst wie Sam“, sagte Gaara und lachte.

„Ja aber sie hat doch Recht, wenn sie dasselbe sagt!“ Ich klang zu heftig, das wusste ich als ich Gaaras verdutzten Gesichtsausdruck sah. Und ganz sicher wusste ich es als er fragte: „Warum interessiert es dich, ob ich irgendwann an Lungenkrebs sterbe?“
 

Weil ich dich mag. „Ich weiß nicht.“ Ich zuckte die Schultern und versuchte wieder beiläufig zu klingen. Ja, mir war es total egal wie es Gaara ging, ich kannte ihn schließlich kaum. Um schnell das Thema zu wechseln, fragte ich nach Noah und Kaito. Etwas, was mich ohnehin interessierte.

„Sind beide krank“, antwortete Gaara knapp. Ich wagte nicht zu fragen, was sie hatten, denn seine Antwort hatte den 'Das geht dich nichts an' – Unterton. „Gehen wir nach der Zigarette rein? Ich erfriere so langsam.“

„Können wir machen“, sagte Kiaro und ich stimmte ebenfalls zu. Als ich mich umwandte, erkannte ich die Idioten von der Raucherecke weggehen und Michael sah mich. Er stupste die Anderen an und sie alle sahen herüber und mich neben einem Jungen sitzen, den sie überhaupt nicht kannten und der mit seinen Dreads und seiner Gitarre so cool rüber kam und mit Gaara. Ich wusste nicht, was mich plötzlich überkam, doch ich setzte ein breites Lächeln auf und winkte den Idioten. Von ihren verwirrten, unbeholfenen Blicken hätte ich ein Foto machen und es überall herum schicken sollen.

Süßer Winter

Donnerstag waren Noah und Kaito wieder in der Schule. Letzterer hatte noch dunklere Augenringe wie ohnehin schon und schlief ein keine fünf Minuten nach dem die erste Stunde, Physik, begonnen hatte. Er wachte wieder auf als Gaara und Samantha schallend loslachten und wollte sofort wissen, was los war, also erzählte Noah den Samstag Abend noch einmal. Ich lachte ebenfalls und fühlte mich unglaublich gut. Am Ende der Stunde fragte Noah nach meiner Handynummer und drängte mich im selben Zug mir WhatsApp herunterzuladen.
 

„Ich habe kein Smartphone“, sagte ich. „Außerdem kann man doch auch so SMS versenden.“

„Nein, WhatsApp ist anders, das ist die beste App überhaupt, glaub mir“, widersprach Noah als wir durch den Flur gingen und Sam sagte neben mir: „Noah ist davon süchtig.“

„So schlimm ist es gar nicht“, meinte Noah trotzig, doch Sam und die beiden anderen Jungen lachten nur. Selbst ich wusste, dass Noah ständig an seinem Handy hing. Wenn es in den anderen Fächern auch nur halb so schlimm war wie in Physik, dann musste er vom Unterricht kaum etwas mitbekommen.
 

Meine Mittagspausen und Freistunden verbrachte ich mit den Jugendlichen aus dem zweiten Gebäudeflügel. Scherzte mit Samantha herum, unterhielt mich mit Noah, lernte, dass Gaara und Kaito wie zweieiige Zwillinge waren, mental miteinander verbunden und kaum voneinander zu trennen, mit Kiaro sprach ich über Politik, Geschichte und Philosophie, diskutierte Themen, die unser Land betrafen. Ich lernte auch andere Jugendliche kennen mit denen ich mit gut verstand und welche mit denen ich nichts anfangen konnte. Kaito gehörte leider dazu.
 

Ich wusste nicht, was mir an ihm nicht gefiel. Wenn ich darüber nachdachte, kam ich auf mehrere Sachen. Die meiste Zeit erzählte er Geschichten davon wie er sich mit irgendwem betrunken hatte und er stand offen dazu, dass er sich alle möglichen Arten von Drogen einwarf, womit sein blasses Gesicht, die tiefen Augenringe und die Tatsache, dass er ständig krank war, erklärt wurde. Er kam mir furchtbar oberflächlich vor und ich hatte Angst, dass es auf Gaara umschlagen könnte. Gaara war intelligent, er beteiligte sich ebenfalls an den Gesprächen von Kiaro und mir und hatte die Eigenart immer das letzte Wort haben zu wollen.
 

Einmal war er in eine verheerende Diskussion mit einem Mädchen aus ihrer Stufe geraten und Gaara hatte seine Meinung solange verteidigt, bis sie fluchend aufgegeben hatte und zum heillosen Beleidigen übergegangen war. Dann war Kaito an der Reihe und stutzte sie mit seiner verbalen Art zurecht, er war nicht intelligent. Noah war Gaara und Kiaro ebenfalls intellektuell unterlegen, doch er glänzte durch andere Charaktereigenschaften. Mit niemandem konnte man so gut lästern wie mit Noah. Als wir einmal zusammen auf die Idioten zu sprechen kamen, taten seine Worte so gut und brachten mich so zu lachen, dass ich gut gelaunt aus der Schule ging. Das passierte mir normalerweise nie.
 

„Schau dir doch mal Marvin an“, zischte Noah als wir gemeinsam auf dem Schulhof saßen und die Idioten beobachteten. „Ich wette er trägt ständig diese Mütze, weil ihm die Haare ausfallen und er schon eine Halbglatze hat.“

„Darauf wette ich“, lachte ich.

„Und ich sag dir der hatte noch nie ne Andere wie Lena gehabt, aber dafür hatte sie alle Drei“, sagte Noah hinter hervor gehaltener Hand.

„Nur weil sie aussieht wie eine Schlampe, muss sie ja keine sein.“ Hatte ich gerade Lena in Schutz genommen?

„Nein, sie ist wirklich ein“ , versicherte mir Noah. Wieder etwas, was ich an ihm gut leiden konnte. Noah wusste einfach alles. Egal, was in der Stufe passierte und wie geheim man es auch halten wollte, Noah erfuhr es von irgendwem, weil er der schwule Junge war, den alle Mädchen für ihren schwulen besten Freund hielten, den alle niedlich fanden und dem man einfach nichts Böses konnte. Aber Noah war nicht der unschuldige, niedliche Junge für den ihn alle hielten. Er hatte es faustdick hinter den Ohren, um mal ein Sprichwort meiner Mutter aufzugreifen.
 

„Pass auf.“ Noah begann bestimmt siebzehn Jungen aus unserer Schule aufzulisten mit denen Lena zu hundert Prozent Sex hatte, dazu noch ein paar weitere Namen von Jungen, die nicht auf unsere Schule gingen und noch weitere Jungen, bei denen es nur ein Gerücht war. Am Ende des Tages war ich glücklich, weil ich endlich etwas gegen die Idioten in der Hand hatte. Wenn ich mich traute, könnte ich Lena Schlampe nennen und damit nicht einmal falsch liegen.
 

In der letzten Woche vor den Weihnachtsferien fing mich Gaara ab als ich gerade durch den Hauptflur im ersten Gebäudeflügel ging. Etwas verwundert blickte ich ihn an, denn er hatte in diesem Teil des Gebäudes keinen Unterricht. Wir stellten uns an den Rand, um anderen Schülern nicht im Weg zu stehen und ich spürte wie mir heiß wurde. Warum war ich aufgeregt?
 

„Am 19. Januar werde ich 18, das ist ein Samstag und ich werde bei mir Zuhause feiern und ich möchte, dass du auch kommst“, teilte Gaara mir mit, seine Hände waren lässig in den Hosentaschen verstaut und er lehnte mit einer Schulter gegen die Spinde. Seine Augen funkelten in grün und braun und er sah so gut aus.

„Ehm.“ Mich überkam ein Wall von Glücksgefühlen, ich tat mein bestes es nicht zu zeigen. Gaara wollte mich auf seinem Geburtstag haben, auf seinen Geburtstag lud man nur Freunde ein und ich war ihm wichtig genug, dass er mich als Freund bezeichnen könnte. Ich hatte Freunde in Berlin.
 

„Ja oder nein?“, fragte Gaara mit einem Grinsen auf den blassen Lippen.

„Ja, höchstwahrscheinlich kann ich“, sagte ich und versuchte so gelassen wie möglich zu klingen, aber ich wusste, dass meine Augen mich verrieten. Ich war wie ein offenes Buch, in dem jedermann lesen und blättern konnte, um die Dinge herauszufinden, die er wissen wollte. „Du musst mir nur sagen, wo du wohnst, damit ich schauen kann wie ich hinkomme.“

„Kaito holt dich mit“, sagte Gaara prompt. „Seine Halbschwester kommt im Januar und fährt euch, sie holen auch noch zwei andere Leute mit. Du kannst ja dann noch mal Kaito fragen, wo genau sie dich abholen kommen sollen.“

„Okay...“ Das gefiel mir weniger. Mit Kaito verstand ich mich nicht so gut, bisher hatten wir vielleicht fünf Worte direkt miteinander gewechselt und die Art wie Gaara diese Worte gesprochen hatte, ließ mich mal wieder nachdenken.
 

Meine Glücksgefühl entschwanden mir langsam und Zweifel machte sie breit. Lud er mich wirklich ein, weil er mich mochte oder weil er für seinen 18. einen möglich vollen Geburtstag haben wollte? So viele Leute wie möglich für eine große, geniale Party. Ich schüttelte den Gedanken ab. Wahrscheinlich machte ich mir wieder zu viele Gedanken. Außerdem würde Gaara Zuhause feiern und wie viele Leute passten da schon rein? Abgesehen davon würden seine Eltern es sicherlich nicht gut heißen, wenn fünfzig Jugendliche durch ihr Haus oder ihre Wohnung hüpften.
 

„Wer kommt denn alles?“, fragte ich.

„Noah und Fynn, Kaito, Samantha, ein paar aus meiner Stufe, aber die meisten die kommen, kenne ich außerhalb der Schule. In unserer Stufe sind nicht so viele mit denen ich außerhalb etwas zu tun haben möchte“, antwortete Gaara.

Aber mit mir, ging es mir sofort durch den Kopf. Aber mich lud er ein, mich wollte er außerhalb der Schule haben. Ich war wieder glücklich.

„Kommt auch Kiaro?“

„Ich habe ihn eingeladen, aber er hat schon gesagt, dass er wahrscheinlich nicht kommen wird“, sagte Gaara schulterzuckend. „Du kennst ihn doch, er hält nichts von Alkohol, Drogen und Partys.“

„Drogen?“, fragte ich stutzend.

„Jaa...“ Gaara lachte als er meinen Gesichtsausdruck sah. „Mach dir keinen Sorgen, Süßer, Heroin oder so etwas wird es nicht geben. Nur ein bisschen Marihuana, Koks und Ecstasy.“
 

Mein Gesicht verwandelte sich in eine Tomate. Zumindest musste es danach aussehen, in mir wallte eine Hitze, die sich gleichzeitig gut und scheußlich anfühlte. Süßer. Ich vergaß seine Worte über die Drogen vollkommen. Erst als ich wieder Zuhause war und den restlichen Tag mit Grinsen verbracht hatte, wurde mir bewusst wie wenig mir die Sache mit dem Koks und dem Ecstasy gefiel. Was soll's. Ich musste davon ja nichts nehmen und auch nichts von dem Marihuana. Die eine Erfahrung hat mir eigentlich gereicht. Als ich abends glückselig einschlief, fragte ich mich noch, warum es mir gefiel wenn Gaara mich Süßer nannte, aber wenn Mädchen es taten, hasste ich es... ich war seltsam.
 

Hast du schon Weihnachtsgeschenke?

Noahs erste SMS an mich. Es waren nur noch drei Tage bis zum Fest. Das Zeugnis würde es erst nach den Ferien geben, doch Notenschluss war bereits vorgestern gewesen. Gerade stand ich mit meiner Mutter im Supermarkt und half ihr bei den Einkäufen. Entgeistert ließ ich den Sack Mehl aus meiner Hand mit einem lauten Rumms in den Einkaufswagen fallen, als ich die SMS las. Nein, ich hatte noch keine Weihnachtsgeschenke!

Ich antwortete ihm und kurz darauf rief Noah mich an.
 

„Ich habe auch keine“, sagte er als ich abhob. „Gehen wir zusammen welche kaufen?“

„Klar, wann denn?“

„Heute.“

„Oh.“ Ich schaute zu Mum auf, die gerade mit Soßenbinder um die Ecke bog und sie in den Wagen fallen ließ.

„Du hast ja gar nicht alles besorgt, was du holen solltest“, stellte sie klagend fest.

„Ich weiß nicht, ob ich heute Zeit habe“, sagte ich, Mum merkte erst jetzt, dass ich am Telefonieren war und presste sich überrascht einen Finger auf Lippen.

„In drei Tagen ist Weihnachten, wenn du heute keine Zeit hast, hast du ein Problem“, sagte Noah.

„Warte kurz.“ Ich drückte das Handy gegen meine Schulter, damit Noah nichts hörte und wandte mich zu meiner Mutter: „Weißt du wie lange wir noch brauchen? Ich würde mich heute gerne mit jemandem treffen.“

„Wie heißt sie?“, fragte Mum. „Und warum weiß ich nichts von ihr?“

„Nein, es ist kein Mädchen“, sagte ich genervt. „Er ist aus meiner Schule und ich verstehe mich ganz gut mit ihm, wir wollten zusammen in die Stadt.“

„Du kannst ruhig gehen, ich mache das hier alleine“, lächelte Mum. „Wenn du endlich mal aus dem Haus kommst und was mit anderen Jugendlichen unternimmst, kann ich es dir nicht verbieten. Alex kann mir beim Auspacken helfen, wenn ich nach Hause komme.“

„Ja, wenn du sie dann mit Julian unterbrechen musst“, murrte ich düster.

„Die Beiden haben noch gar nicht miteinander geschlafen“, sagte Mum und wurde leiser, als ob es jemand Fremdes interessieren würde, ob meine Schwester mit ihrem blöden Freund geschlafen hatte oder nicht. „Alex hat Angst davor, aber wehe du erzählst ihr, dass ich das gesagt habe, dann erzählt sie nie wieder was.“

„Keine Angst, ich sag nichts“, grinste ich und ging wieder ans Telefon, um Noah Bescheid zu sagen, dass ich heute Zeit hatte.
 

Dass Alex und Julian noch nicht miteinander geschlafen hatten, freute mich. In letzter Zeit freute mich ziemlich viel. In wenigen Wochen war meine Laune so viel besser geworden und die konnte mir nicht mal Julian verderben, den ich letzte Woche kennen lernen durfte. Größer wie ich, mit dunkelbraunen Haaren, die in der typischen Emofrisur geschnitten waren und schlankem Körper. Er hatte ein paar Piercings und erinnerte mich ein wenig an Fynn, aber Fynn war cool und außerdem schwul und wollte nicht meine Schwester vögeln. Wenn er solange auf Sex wartete, lag ihm vielleicht doch etwas an ihr und er wollte mehr wie nur Sex.
 

Abgesehen von den Idioten trübte noch etwas meine Laune und zwar Simon. Und das war viel schlimmer wie die Idioten, denen ich kaum noch Beachtung schenkte. Sie machten mich nur noch wütend, aber Simon machte mich traurig. Bei einem Gespräch mit seiner Mutter, hatte diese Simon vor den Kopf gestoßen, selbst Schuld daran zu sein, dass sein Stiefvater ihn geschlagen hatte. Und später hatte sein Stiefvater ihm gesagt, er hätte es nicht anders verdient. Verzweifelt hatte Simon versucht seinen Vater im Unwissenden zu lassen, doch Martina hatte die Verletzungen gesehen und so kam alles heraus. Seine Eltern stritten sich heftiger denn je und konnten sich nicht mehr unter die Augen treten und sein Vater hatte darauf bestanden den Stiefvater anzuzeigen. Unendliches Flehen von Simons Seite hatte ihn noch davon abhalten können, dabei wusste Simon nicht einmal selbst, warum er nicht wollte, dass sein Stiefvater angezeigt wird. So hatte er es mir zumindest erzählt, er wollte es nur vergessen. Mittlerweile hatte sich der Stress wieder ein wenig gelegt, doch Simon wollte nun gar nichts mehr mit seiner Mutter zu tun haben.

„Nie wieder, sie ist für mich gestorben“, hatte Simon gestern Abend noch gesagt. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Ich hasste es, nicht bei ihm sein zu können, wenn es ihm so schlecht ging und fragte mich oftmals, ob es Simon genauso mit mir ging.
 

Ich musste wieder an ihn denken als ich den Supermarkt verließ, um mit der nächsten Straßenbahn in die Stadt zu fahren. Noah und ich wollten uns dort treffen und ich war gespannt, was der Tag uns bringen wird.

Einkaufstour mit Noah

In Nordrhein-Westfalen hätte vermutlich jeder Noah einen schiefen Blick zugeworfen, doch wir wohnten in Berlin und hier gab es noch ganz andere Gestalten, denen ich schiefe Blicke zuwarf. Nachdem ich nun fast ein halbes Jahr hier lebte, hatte ich mich an den Anblick von Cybergothics, Hardcore Emos und Hopper Mädchen, die selbst im Winter bauchfrei trugen, gewöhnt und war auch nur halb so überrascht wie ich es vor einem halben Jahr gewesen wäre, als ich Noah gegenüber stand. Heute trug er eine Hose in Regenbogenfarben, die mir absolut nicht gefallen wollte und unter seiner dunklen Winterjacke blitzte ein weiß-pinker Pullover hervor. Mir gefiel das Outfit nicht, doch musste es mir auch nicht gefallen. Sollte Noah doch tragen was er wollte.
 

Überraschter war ich dann doch als er mich mit einer Umarmung begrüßte.

„Danke, dass du mitkommst“, lächelte er als wir wieder auseinander gingen. „Ich hasse es alleine einkaufen zu gehen. Fynn hat keine Zeit, genauso wenig wie Gaara, Kaito, Sam oder sonst welche Freunde von mir und mein Vater muss arbeiten. Du warst meine letzte Hoffnung!“

Und deine letzte Wahl. Ich könnte mich ohrfeigen, dass mir dieser Gedanke in den Kopf kam. Natürlich wollte Noah lieber mit seinem Vater, seinem festen Freund und seinen besten Freunden shoppen gehen als mit einem Kerl, den er gerade mal ein paar Wochen lang kannte und das noch nicht mal wirklich gut. Obwohl ich mir dies einredete, wurde ich das schlechte Gefühl in mir nicht mehr los.
 

Wir zogen durch halb Berlin auf der Suche nach passenden Geschenken. Ich war schon immer schlecht im Geschenke machen gewesen und hatte stets ein schlechtes Gewissen, weil mir die Geschenke, die ich im Endeffekt kaufte, nicht gefielen. Noah machte dies nicht gerade besser, denn er hatte tolle Ideen für seine Familie und Freunde. Jedoch auch genug Geld, um den ganzen Spaß zu bezahlen. So kaufte er seinem Vater zwei Konzertkarten in einem Ticketstore und ich schaute mich derweil bei den Prospekten um.
 

„Musicals“, murmelte ich und griff nach einer Broschüre für Tanz der Vampire. „Meine Mum ist ne ganze Zeit lang in Musicals gegangen und wollte sich schon immer mal Tanz der Vampire anschauen...“

„Dann hast du doch was für sie“, sagte Noah.

„Hmm...“ Ich schaute nach den Preisen und meine Laune sank. „So viel Geld habe ich gar nicht. Ich denke mir immer, dass ich vielleicht neben der Schule arbeiten gehen sollte, damit ich mehr Geld habe, aber irgendwie kommt es dann doch nie dazu. Wo arbeitest du eigentlich?“

„Nirgends“, sagte Noah und klang verwirrt.

„Und woher hast du dann das ganze Geld?“, fragte ich und deutete auf die Tickets in seiner Hand. Zusammen hatten sie hundert Euro gekostet.

„Taschengeld“, antwortete Noah Schulterzuckend.

„Hast du das ganze Jahr über gespart oder was?“

„Nein, ich bekomme im Monat 150 Euro Taschengeld.“
 

Mir fiel die Kinnlade herunter und Noah fing an zu lachen.

„Hundert von meinem Vater und fünfzig von meiner Mutter“, erklärte er.

„Deine Eltern geben dir getrennt Taschengeld?“, krächzte ich und kam mir dämlich vor mit meinen dreißig Euro Taschengeld. Als Mum das Geld erhöhen wollte, hatte ich ihr gesagt sie soll es sein lassen. Schließlich verdiente sie nicht sehr viel und hatte niemanden mehr, der sie bei den Finanzen unterstützen könnte.
 

„Das ist der Vorteil von getrennten Eltern“, grinste Noah schief. „Und ich habe von meiner Mum im Voraus zweihundert Euro Weihnachtsgeld bekommen, dabei kaufe ich ihr seit fast drei Jahren keine Geschenke mehr, nicht einmal mehr zum Geburtstag. Das ist dann wieder rum der Vorteil, wenn ein Elternteil das alleinige Sorgerecht hat. Das andere Elternteil wird immer versuchen sich deine Liebe zu erkaufen. Ich würde noch mehr Geld bekommen, wenn Naomi nicht wäre.“

„Naomi?“

„Meine Zwillingsschwester, sie wohnt bei unserer Mutter und kommt alle zwei Wochen Dad und mich besuchen“, erklärte Noah. „Für Naomi brauche ich auch noch ein Geschenk... hast du eigentlich Geschwister?“

„Ja, eine kleine Schwester.“
 

Wir verließen gemeinsam den Ticketstore und setzten unseren Weg fort und ich fühlte mich arm. Bei so einem Taschengeld war es ja kein Wunder, dass Noah ständig neue Klamotten trug. Ich war neugierig, was seine Eltern arbeiteten und warum sie sich getrennt hatten, dass ich vollkommen vergaß, dass es besser wäre das Thema zu wechseln. Schließlich ging es um Familie und wenn Noah Gegenfragen stellen würde... aber daran dachte ich in diesem Moment nicht. Er fragte ein wenig über meine Schwester, wie alt sie war und wo sie zur Schule ging und ich war so dämlich zu fragen: „Und deine Schwester?“
 

„Willst du wissen wie alt sie ist?“, fragte Noah und lachte. Ich wurde rot. Natürlich war Naomi genauso wie Noah 17 Jahre alt.

„Nein, ich meinte, was sie macht. Macht sie auch Abitur?“

„Ja, aber sie geht natürlich auf ein anderes Gymnasium.“ Noah blieb vor einem Geschäft mit Schuhen stehen. „Sie fährt total auf Schuhe ab, vielleicht sollte ich ihr welche kaufen. Du könntest deiner Schwester auch welche kaufen?“

„Meine Schwester hat ein Paar Sneakers und ist glücklich damit. Sie trägt sie immer egal zu welcher Jahreszeit. Sie ist nicht die Art von Mädchen, die auf Shoppen und Klamotten abfahren“, seufzte ich. Wenn Alex doch nur diese Art von Mädchen wäre, dann wäre es sehr viel einfacher ihr Geschenke zu kaufen. Obwohl ich sie dann vermutlich nur halb so gut leiden könnte.
 

Wir betraten das Geschäft und mir fiel wieder ein wie gerne meine Mutter Schuhe mochte, nur kannte ich mich überhaupt nicht mit ihrem Geschmack aus und ließ es lieber bleiben ihr welche zu kaufen.

„Wohnen deine Mutter und deine Schwester noch in Berlin?“, fragte ich während sich Noah hochhackige Schuhe anschaute und dabei von einer anderen Kundin dumm angeschaut wurde.

„Ja, aber sozusagen am anderen Ende.“

„Was machen deine Eltern eigentlich, dass sie so viel Geld haben?“ Ich ertappte mich dabei wie ich selbst nach Schuhen für mich Ausschau hielt. Normalerweise musste Mum mich immer zwingen mit ihr mitzukommen, dass ich mir neue Schuhe zulegte und ich kam auch immer erst mit, wenn meine aktuellen Treter auseinander fielen.

„Mein Vater ist Leiter eines Buchverlages“, antwortete Noah. „Und meine Mutter arbeitet als Lehrerin. Und deine Eltern?“
 

Jetzt wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Sollte ich Noah anlügen und ihm einfach sagen, was mein Vater vor seinem Tod gemacht hatte oder sollte ich ihm die Wahrheit sagen? Alleine der Gedanke daran trieb mir einen Kloß in meinen Hals und ließ mich schwer schlucken. Er war bereits ein knappes dreiviertel Jahr tot, doch ich hatte die Worte nie über meine Lippen gebracht. Bisher hatte ich nie jemandem sagen müssen, dass er gestorben war. Und ich wollte es auch nicht sagen müssen.
 

„Meine Mutter ist Krankenschwester“, antwortete ich und stockte.

„Und dein Vater?“ Noah blickte mich nun direkt an. Seine blauen Augen strahlten geradezu wie sie es immer taten. Tot. Drei Buchstaben, ein so kurzes Wort, ich musste nur dieses kleine Wort sagen, es würde reichen und Noah würde nicht nachfragen. Er war nicht so unsensibel und man sah mir immer an wie ich mich fühlte. Er würde mir ansehen, dass es mir schwer fiel darüber zu reden. Auf jeden Fall.
 

„Architekt.“

„Okay...“ Noah warf mir einen langen Blick zu. Ich hatte das Gefühl, dass er mir nicht glaubte. Vielleicht, weil mir das Wort am Kloß hängen geblieben war und nur schwerfällig über meine Lippen kam.
 

Noah kaufte für seine Schwester Schuhe und ich rief Alex an, um sie zu fragen, ob sie bereits ein Geschenk für Mum besorgt hatte. Wie immer ließ sie mich nicht im Stich und sagte im selben Zug sie hätte sich bereits etwas für sich selbst ausgesucht, dass ich ihr schenken sollte. Aber da es drei Tage vor Weihnachten war, sollte ich ihr einfach die zehn Euro an Heiligabend geben und sie ein paar Tage später beim Einkaufen begleiten. Gemeinsam mit Julian, damit er mich und ich ihn besser kennen lernte.
 

„Und woher willst du wissen, ob ich nicht schon etwas für dich habe?“, fragte ich empört.

„Weil du Lukas bist“, seufzte Alex. „Ich kenne dich doch und ich bin dir auch nicht wütend. Wenn du Julian eine Chance geben könntest, wäre das das größte Geschenk, das du mir machen könntest. Bitte, es ist mir unheimlich wichtig, dass ihr euch versteht!“

„Hmm.“ Ich grummelte genervt, sagte jedoch ihrem Vorschlag zu. Somit müsste ich in den Ferien einen Tag mit dem aufgeblasenem Idioten verbringen.
 

„Hat deine Schwester eigentlich einen Freund?“, seufzte ich als ich mein Handy wieder verstaute.

„Nein“, antwortete Noah. „Sie hatte bisher noch gar keine Beziehung und ist noch Jungfrau.“

„Ich wünschte meine Schwester wäre auch so“, sagte ich gequält und der Junge lachte.
 

Wir setzten unsere Tour fort. Gaara bekam von Noah ein Bandshirt von Metallica gekauft und ich kaufte Genesis ein gelb-grün-rotes Top mit einem Portrait von Bob Marley. Das Top war super schön geschnitten und ein wenig durchsichtig. Genesis würde es bestimmt gefallen. Danach kaufte Noah ein paar Freunden, die ich nicht kannte Kleinigkeiten. Unsere Tour führte uns in einen Tabakladen in dem es viel zu stark nach Rauch roch und ein Mann mit Tränensäcken unter den Augen und schläfriger Miene hinter seiner Theke Rätsel löste.
 

Missbilligend stand Noah vor einer Bong. Ich hatte noch nie eine in Wirklichkeit gesehen, immer nur in Filmen oder im Internet.

„Kaito wollte unbedingt mal eine eigene haben, wir benutzen immer meine oder die von Gaara“, erklärte er. Ich war verwundert, dass man sich hier einfach so eine Bong kaufen konnte und ebenfalls verwundert, dass Noah eine besaß. Ich hätte nicht erwartet, dass er Drogen nahm, bei Gaara habe ich es irgendwie erwartet. Und trotzdem enttäuschte es mich. Warum enttäuschte es mich, verdammt?
 

„Dann kauf sie halt“, zuckte ich die Schultern. Mir gefiel der Laden nicht und ich wollte so schnell wie möglich wieder raus, weil mich der Rauch benommen machte.

„Nein.“ Noah seufzte schwerfällig. „Kaito hat Probleme mit Drogen. Ich will ihn eigentlich nicht noch süchtig nach Marihuana machen.“
 

Ein Grund mehr Kaito nicht zu mögen. Wenn er Gaara mit diesem Scheiß ansteckte, würde ich sogar anfangen ihn zu hassen. Am Ende entschied sich Noah gegen die Bong. Wir zogen zu meinem Glück weiter und der Junge grübelte neben mir vor sich hin. Ich kaufte Lynn zwei Bücher und ein Armband mit Glückssteinen und dann brauchte ich nur noch etwas für Simon. Auch Samantha bekam von Noah Bücher gekauft, nur kaufte er direkt eine ganze Buchreihe.
 

„Sie liebt die Serie dazu und sagt die ganze Zeit sie will mal anfangen die Bücher zu lesen, aber irgendwie macht sie es trotzdem nicht“, erklärte Noah. Wir mussten die Buchreihe unter uns aufteilen. Es waren zehn Bücher und jeder Wälzer hatte bis zu siebenhundert Seiten. Meine Schultern schmerzten bei dem Gewicht.

„Die waren ziemlich teuer“, stellte ich fest. „Bezahlt du die alle alleine?“

„Nein, einen Teil bezahlen noch Gaara und Kaito“, antwortete Noah. „Aber egal... ich habe immer noch nichts für diesen Hornochsen von einem Russen. Vielleicht sollte ich ihm einen Aufenthalt in einer Entzugsklinik schenken. Oder einen Termin beim Jugendamt.“

„Was will er beim Jugendamt?“, fragte ich verwirrt. Noah schaute mich an als hätte ich ihn gerade etwas sehr Dämliches gefragt.

„Was meinst du wo seine Drogensucht herkommt?“, entgegnete er nur, führte diese Aussage jedoch nicht weiter aus. Augenblicklich fühlte ich mich schlecht, weil ich eine so miese Meinung über Kaito hatte. Ich empfand Mitleid und wollte mehr über seine Eltern wissen, doch ich traute mich nicht zu fragen.
 

Am Ende des Tages hatte ich nur nichts für Simon gefunden. Ich wusste nicht, was ich ihm kaufen sollte, um ihm zu beweisen wie wichtig mir seine Freundschaft war. Noah und ich besorgten uns chinesische Nudeln zum Essen und saßen nebeneinander in beißender Kälte auf einem der größten Plätze von Berlin. Obwohl es so kalt war, waren überall Leute unterwegs und ein riesiger, leuchtender Tannenbaum stand in der Mitte des Platzes. Alles war festlich geschmückt und leuchtete. Wir alberten ein wenig herum, dann bekam Noah eine SMS von seinem Freund und war für einige Momente beschäftigt.
 

„Hmm“, meldete er sich schließlich wieder zurück. „Ich frage mich gerade...“

„Was?“

„Naja ich sitze hier in meiner Regenbogenjeans und meinem pinken Pullover und wechsle Liebesschwüre mit meinem Freund und frage mich nur, ob mein Leben noch schwuler werden könnte.“

Vielleicht war es die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme, die mich so zum Lachen brachte. Noah grinste nur und meinte mit vorwurfsvollem Ton: „Ja, ist doch so!“
 

Als wir mit Essen fertig waren, blieben wir noch ein wenig sitzen und unterhielten uns. Dann wechselte Noah schlagartig das Thema.

„Darf ich noch mal was zu deinem Vater fragen?“, fragte er vorsichtig. Ich spürte wie Hitze in mir aufstieg. Plötzlich war mir überhaupt nicht mehr kalt und der Kloß in meinem Hals war wieder da und drückte schmerzhaft. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Stell dich nicht so an, du Idiot. Es ist ein dreiviertel Jahr her, dass er gestorben ist.

„Ja“, brachte ich erstickt hervor.

„Ist er wirklich Architekt? Du hast das vorhin so komisch gesagt und irgendwie... kann es sein, dass deine Eltern auch getrennt sind?“ Noah sprach behutsam und beugte sich ein wenig vor, während ich mehrmals hintereinander schluckte, um den Kloß los zu werden, doch er schien nur noch zu wachsen.
 

„Nein, also...“ Ich suchte nach Worten und musste dabei schwer atmen. Memme. „Sie sind getrennt sozusagen, aber nicht so wie du denkst.“ Meine Stimme zitterte und Noah blickte mich entgeistert an.

„Lukas?“, fragte er sorgenvoll. Es hörte sich an als würde er die nächste Frage kaum aussprechen wollen. „Lebt dein Vater noch?“

Tränen schossen mir in die Augen und ich schüttelte den Kopf. Jetzt war auch alles egal, ich spürte wie mit die salzige Nässe über die Wangen rinnte und versuchte gequält zu lachen, während ich erklärte: „Seit diesem Jahr nicht mehr, deswegen sind wir nach Berlin gezogen. Meine Mutter ist hier aufgewachsen und wollte nach seinem.... wollte hierher zurück. Du verstehst?“
 

Mitleid und Erschütterung waren Noah anzusehen. Er beugte sich vor und zog mich in eine tröstende Umarmung. Sicher hatte er es nur gut gemeint, doch das gab mir kurzerhand den Rest und ich begann zu weinen. Verzweifelt versuchte ich mich zu beruhigen. Es dauerte nicht lange bis ich es schaffte, doch ließ ich meinen Kopf auf Noahs Schulter liegen, während er mir über den Rücken strich und sagte, wie leid es ihm tat.

Carol of the bells

Weihnachten kam und mit ihm die Verwandten. Ich war an Heiligabend bereits schlecht gelaunt aufgewacht und all die Besucher, die extra von Nordrhein-Westfalen herkamen, nervten mich nur. Meine Großmutter, die wie immer nur meckern konnte, meine beiden Onkel – die Brüder meines Vaters mit ihren Familien und Monika, die beste Freundin meiner Mutter und Patentante meiner kleinen Schwester. Sie alle hielten es für das Beste nach Berlin zu reisen, damit unser neues Zuhause heimischer wirkte. Ich hasste diese Entscheidung. Viel lieber wäre ich drei Tage lang nach Nordrhein-Westfalen gekommen, zu meinen Freunden, auch wenn ich immer noch kein Geschenk für Simon hatte.
 

Unsere Wohnung war viel zu klein für all die Besucher und ich konnte keine ruhige Minute finden, dabei hätte ich mich am liebsten in meinem Bett gelegen und getrauert. Das erste Weihnachten ohne meinen Vater. Normalerweise mochte ich die Festtage und war auch stets in Festtagesstimmung. Mum fing bereits Anfang Dezember mit dem Backen an, wir tauschten Kekse innerhalb der Familie und Alex und ich trällerten Weihnachtslieder um unsere Eltern damit zu ärgern, unsere Oma strickte dicke Pullover, die keiner anziehen wollte, weil sie so furchtbar aussahen und kratzten und wir schmückten gemeinsam das Haus. Aber dieses Jahr schmückten wir nicht das Haus und Mum fand erst einen Tag vor Heiligabend Zeit zu Backen und niemand kam vorbei, um uns Kekse zu bringen und überhaupt fühlte ich mich so unweihnachtlich wie es nur irgend möglich war. Und dabei schneite es.
 

Als endlich alle Verwandten da waren und mehr oder weniger untergebracht, zitierte Oma mich in die Küche und drückte mich auf einen Stuhl nieder, der mittig im Raum stand. Für ihr Alter war sie noch ziemlich kräftig, auch wenn ihr Körper faltig und eingefallen wirkte. Tiefe Furchen zierten ihr dünnes, knochiges Gesicht und ihre Augen waren dieselben von Mum, Alex und mir... nur um einiges weniger herzlich. Auf ihrem Kopf befand sich ein dicker, weißer Lockenschopf. Sie schnalzte mit der Zunge und sagte: „Milena, Kind, wie konntest du dem Jungen die Haare nur solange wachsen lassen, es sieht absolut grauenhaft aus.“
 

Mum verzog das Gesicht. Sie hasste es, wenn ihre Mutter sie 'Kind' nannte, doch beschwerte sie sich nicht.

„Lukas ist alt genug, um selbst zu entscheiden wie er seine Haare trägt“, sagte Mum entschieden. Meine Tante Sabine kam mit einer Tasche in die Küche, die sie auf dem Tisch abstellte. Ihr Körper war mit Sommersprossen übersät und ihre Haare waren kurz und rötlich. Sie sah aus wie eine Fackel und war auch genauso dünn. Stets trug sie tolle Frisuren, kein Wunder, sie war selbst Friseuse. Langsam verstand ich das bevorstehende Unterfangen.
 

„Ich wollte mir eh mal die Haare schneiden lassen“, gab ich zu, Oma schnalzte erneut mit der Zunge. Das tat sie immer wenn ihr etwas nicht gefiel.

„Und warum hast du solange gewartet bis die Erwachsenen es für dich übernehmen? Wie deine Mutter sagte, du bist alt genug dich selbst um so etwas zu kümmern! Du wirst doch wohl nicht immer noch Angst davor haben fremde Menschen anzusprechen, oder?“

Doch eigentlich schon... aber das konnte ich nicht sagen. Stattdessen wurde ich rot und schwieg.

„Mutti, lass ihn doch bitte“, sagte Mum gequält.

„Nein Milena, Kind, du verhätschelst ihn viel zu sehr. Zu meiner Zeit hätte es so etwas nicht gegeben, ich habe dich anders erzogen und ich wurde anders erzogen. Meine Mutter hätte ich mich geschlagen, wenn ich mich mit 17 noch hinter ihr versteckt hätte.“ Sie hob das Kinn und stolzierte aus der Küche. Mum und Tante Sabine wechselten Blicke, dann strich mir Mum durch die langen Haare und sagte: „Du darfst sie nicht so ernst nehmen.“

„Mach ich nicht“, versicherte ich.
 

Und das tat ich tatsächlich nicht. Oma konnte immer nur meckern. Egal wo sie war und um was es ging und noch nie war sie krank gewesen. Dad hatte stets im Scherz gesagt, dass sie uns alle überleben würde. Wenn er nur hier wäre... Er hatte immer Witze gerissen, wenn Oma wieder jemanden zurecht gestutzt hatte und ich hatte darüber so gut lachen können.
 

„Soll ich dir einfach einen Kurzhaarschnitt verpassen oder möchtest du etwas Bestimmtes?“, riss mich Tante Sabine aus den Gedanken. Sie schnallte sich den Gürtel mit den Scheren um und schaute mich erwartungsvoll an.

„Ehm... nur kurz, aber nicht zu kurz, ich will sie noch ein wenig stylen können oder so was...“, murmelte ich. Sie nickte und machte sich ans Werk.
 

Am Ende fielen mir nur noch kurze Strähnen auf die Stirn. Wenn sie einfach nur da lagen, sahen die Haare langweilig aus. Ich schloss mich im Bad ein und probierte ein wenig mit Haargel und Haarspray herum, nur um zu merken, dass ich darin sehr schlecht war. Schließlich musste ich mir die Haare waschen, weil sie aneinander klebten. Alex klopfte an der Tür als ich meinen Kopf gerade mit einem Handtuch wieder trocken rubbelte.
 

„Wir wollen raus an den See gehen und im Schnee spielen. Kommst du mit?“, ertönte ihre Stimme gedämpft durch die Tür. Wenn sie alle rausgingen, hätte ich die Möglichkeit alleine zu sein...

„Nein, ich bleibe hier“, antwortete ich also. Alex versuchte mich noch solange zu überreden bis ich die Tür aufschloss und ihr entschieden ins Gesicht sagte, dass ich nicht mit kommen wollte. Dann erst ließ sie mich in Ruhe und verließ mit den anderen Kindern das Haus.
 

Ich wollte in mein Zimmer, aber da kümmerten sich meine Onkel gerade um eine zweite Matratze, damit Tante Petra und Onkel Thomas im Raum schlafen konnten. Danach wollte ich mich in Alex' Zimmer einschließen, aber dort hatte sich mein 16-jähriger Cousin Konrad verkrochen, der ebenfalls nicht mit raus gehen wollte. Alex schlief mit unseren beiden Cousinen in diesem Zimmer und die beiden Cousins und ich müssten im Wohnzimmer bleiben. Und im Wohnzimmer unterhielten sich Mum und Oma. Und in der Küche bereitete Tante Petra ein paar Snacks vor und im Gästezimmer packte Tante Sabine ihre Klamotten aus der Tasche. Schließlich ging ich ins Schlafzimmer und schloss die Tür mit pochendem Herzen.
 

Ich wusste selbst nicht, warum ich plötzlich so verzweifelt war. Mit dem Rücken lehnte ich mich gegen die geschlossene Tür und sank daran langsam zu Boden, bis ich auf das Parkett nieder plumpste und meine Arme um meine angezogenen Beine schlingen konnte. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Knien und spürte das Brennen in den Augen und im Hals. Warum wollte ich weinen, warum tat mein Herz weh, warum hasste ich gerade jeden aus meiner Familie? Ich war immer so froh gewesen sie zu sehen und all die Familienfeste und das gemeinsame Grillen im Sommer, es hatte nichts Schöneres für mich gegeben. Häufig waren Simon und Lynn ebenfalls mit dabei, aber vor allem Simon. Wenn er nur hier wäre...
 

Wenn Dad nur hier wäre...
 

Plötzlich spürte ich wie mir die Tür in den Rücken gedrückt wurde. Schnell sprang ich auf und ging einige Schritte zurück, dass ich die Bettkante in meiner Kniekehle spürte. Sie kam so überraschend, dass ich mich kurzerhand aufs Bett setzte, gerade als die Tür ganz aufging und Mum vor mir stand. Ihre blonden, langen Haare hatte sie sich heute Morgen kunstvoll gelockt und sie trug dieses weiße Winterkleid, das sie immer nur zu Weihnachten getragen hatte, weil es Dad so gut gefiel. Sie sah aus wie ein Engel.
 

„Lukas?“, fragte sie und die Besorgnis schwang deutlich in ihrer Stimme mit. Erst jetzt merkte ich, dass ich weinte. Ich schluchzte richtig und Tränen liefen zuhauf über meine Wangen. Mum schloss die Tür wieder hinter sich, setzte sich neben mich aufs Bett und legte mir einen Arm um die Schultern. Mit der anderen Hand ergriff sie meine zitternden Finger und drückte feste zu.
 

„Was ist los, Schatz?“

„Mum, es ist unfair!“ Ich dachte ich wollte nicht reden, ich wusste nicht einmal worüber, aber irgendwoher nahm mein Mund diese Worte und während ich sie aussprach wusste ich, dass sie alle stimmten. „Ich bin so sauer auf jeden und alles. Warum müssen die alle hier sein? Ich will sie nicht hier haben, ich will alleine sein und mich drei Tage lang in meinem Zimmer einsperren. Und warum lebt Dads Vater noch und liegt mit Demenz im Altenheim, er sollte tot sein und Dad noch am Leben. Oma ist viel älter und sie war nie krank und hatte nie Probleme und sie lebt auch noch. Und Simons Stiefvater ist ein mieses Arschloch und Dad hat nie jemandem was Böses getan, warum können nicht die sterben, die ohnehin keiner brauch? Warum musste ausgerechnet Dad sterben?!“

„Komm her, Liebling.“ Sie strich durch meine Haare und drückte sanft gegen meinen Kopf, damit ich ihn auf ihrer Schulter ablegte, was ich auch sofort tat. Ich klammerte mich an sie wie ein Baby und spürte ihre Haare über mein Gesicht streifen und ihre Finger, wie sie mich streichelten und beruhigten. Mir war nicht bewusst gewesen wie sehr ich die Nähe meiner Mutter gebraucht hatte.
 

„Du redest ziemlich gemein über deine Oma“, sagte Mum. „Aber du hast Recht, es ist unfair und wir können daran nichts ändern. Ich weiß wie schwierig es ist, damit umzugehen. Ich vermisse ihn auch ganz furchtbar, aber gemeinsam schaffen wir das.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und flüsterte: „Und gemeinsam schaffen wir auch diese drei Tage hier. Falls du es gar nicht mehr aushältst, überreden wir Alex, dass sie so tut als wäre sie schlimm krank, das würde sie bestimmt lustig finden und dann wären wir auch die Verwandten wieder los.“

Ich musste über die Vorstellung tatsächlich ein wenig lachen.
 

Alex musste nicht so tun als wäre sie ganz schlimm krank und die drei Tage überlebte ich ebenfalls. Tagsüber waren wir draußen am See und bauten Schneemänner und lieferten uns Schneeballschlachten bis unsere Gesichter knallrot und unsere Fingerspitzen blau waren. Es machte Spaß und fühlte sich beinahe so an wie die vielen Weihnachten davor, die wir in Nordrhein-Westfalen verbracht hatten. Nur wenn wir dann zurückkehrten und die Cousins und Cousinen zu ihren Vätern liefen und Alex und ich nicht, merkte ich, dass es eben nicht wie die Weihnachten davor war.
 

Als dann alle wieder abgereist waren und ich mein Zimmer zurück hatte, war ich erleichtert und glücklich nicht mehr im Wohnzimmer auf einer dünnen Matratze auf dem Boden schlafen zu müssen. Ständig mit dem Arm von Leon, der auf der Couch schlief, im Gesicht und Konrad im Laufe der Nacht halb auf mir drauf, weil er sich im Schlaf in alle Richtungen wälzte. Ich sprach über Skype mit Simon, Genesis und Lynn über ihr Weihnachten.
 

Bei Lynn hatte es mal wieder Zickenkrieg gegeben, wie eigentlich immer, sie hatte eine ältere und eine jüngere Schwester und ihr Vater war wohl der ärmste Mann dieser Welt. Ihre Familie war eigentlich amüsant, denn alle vier Frauen hatten mehr Autorität wie der Vater. Selbst die Jüngste konnte ihm sagen, was er zu tun hatte, nur die Mutter hatte die drei Töchter im Griff. Ich mochte Lynns Vater ziemlich, er war lustig und nahm seine Situation wie das gesamte Leben stets locker.
 

Bei Simon hatte es wieder Ärger gegeben als er am zweiten Weihnachtstag seine Mutter besuchen gegangen war. Sein Stiefvater hatte die Tür aufgemacht, „Ach du bist es“ gesagt und die Tür wieder geschlossen. Da wollte er am liebsten schon wieder Heim gehen, doch er blieb hartnäckig und bei seiner Mutter nicht lange, denn der Stiefvater gab sein Bestes ihn raus zu ekeln.
 

Genesis erzählte von ihrer Tante, die in Amerika wohnte und zu Besuch gekommen war. Sie hatte ihr viele tolle Geschenke mitgebracht, die sich über die letzten zwei Jahre bei ihr angesammelt hatten. Immer wenn sie etwas Schönes sah, kaufte sie es und schenkte es Genesis, wenn sie sich irgendwann einmal wieder sahen. So wurde Genesis von allen am Reichsten beschenkt. Ich war mit Erzählen als letztes an der Reihe.
 

„Eigentlich war es so wie immer“, sagte ich und klang gezwungen locker. „Es war ätzender, weil wir nur so wenig Platz hatten und Konrad ständig auf mir gelegen hatte. Ich hab die drei Tage echt kaum geschlafen. Und naja... ohne Dad war es halt sehr ungewohnt.“

Nur selten hatte ich ihn den Dreien gegenüber erwähnt und kaum trauten sie sich ihn anzusprechen. Für eine Sekunde blickten sie mich überrascht an, dann fuhren wir ganz normal mit dem Gespräch fort. Wir erzählten uns gegenseitig von den Sachen, die wir geschenkt bekommen hatten. Ich war besonders erfreut über Alex' Geschenk gewesen: Eine schwarze Wollmütze, wie die von Gaara. Jedes Mal wenn ich rausging, trug ich diese Mütze, ich mochte sie total.
 

Als ich Skype schloss, klopfte es an meiner Tür und Alex trat ein.

„Hast du morgen Zeit?“, erkundigte sie sich.

„Ja, wofür?“

„Du Blödian! Hast du etwa schon vergessen, dass du mit Julian und mir in die Stadt gehen wolltest? Ich habe von dir immer noch kein Weihnachtsgeschenk, denk dran“, sagte Alex, die Hände in die Hüften gestemmt.

„Ach ja, stimmt ja...“ Meine Miene verdüsterte sich. Ich musste einen Tag mit Julian verbringen und ich wollte es nicht...

„Wir holen dich morgen hier ab.“

„Wie ihr holt mich ab?“ Schlagartig war ich auf den Beinen.

„Ich gehe gleich zu ihm und übernachte bei ihm“, erklärte Alex als wäre es nichts besonderes. „Morgen um zwölf holen wir dich hier ab, sei dann bitte schon fertig.“
 

Sie ging aus meinem Zimmer und ich lief ihr hinterher, um ihr mitzuteilen wie wenig es mir gefiel, dass sie nun auch noch anfing bei Julian zu übernachten. Natürlich machte sie sich darüber lustig.

„Oh ich übernachte bei meinem festen Freund, das ist echt furchtbar“, äffte sie mit verstellter Stimme und einer Grimasse auf dem Gesicht. Ich wusste selbst, dass dies völlig normal war, aber ich konnte den Kerl einfach nicht leiden und bekam das ungute Gefühl ihm gegenüber nicht los.

Alpträume und späte Weihnachtsgeschenke

Ich träumte von Dad. Wir standen in unserem Garten in Nordrhein-Westfalen und lachten über etwas, er sagte Dinge, die er mir schon einmal gesagt hatte und klopfte mir auf die Schulter, wie er es immer getan hatte. Als er seine Hand dort liegen ließ, wurde sie eiskalt und stach wie tausend Messerstiche in meine Haut. Ich drehte mich zu ihm und seine Augen waren blass und tot, sein Gesicht grau und ausgemergelt. Ich schrie und wachte auf. Kerzengerade saß ich im Bett und Schweiß bedeckte meinen gesamten Körper. Schwer atmend blieb ich einige Sekunden sitzen, bis ich Geräusche im Flur hörte. Schritte und Schluchzen. Im ersten Moment dachte ich, Mum würde nun auch wegen Dad weinen und kurz ins Badezimmer wollen, dann stellte ich fest, dass die Stimme nicht zu ihr sondern zu Alex gehörte. Aber sie war bei Julian...
 

Eilig schwang ich mich aus dem Bett. Noch mit zittrigen Händen und weichen Beinen öffnete ich meine Zimmertür und trat Alex im Flur entgegen. Im Dunkeln konnte ich nur ihre Silhouette erkennen, sie benutzte ihr Handy als einzige Lichtquelle und in dem Licht sah sie beinahe gespenstisch aus. Trotzdem konnte ich die Tränen auf ihren Wangen erkennen. Ihre herbstbraunen Haare waren ganz zerzaust und ihre Lippen zitterten.
 

„Lukas“, würgte sie hervor.

„Komm in mein Zimmer“, sagte ich und war selbst von der Stärke meiner Stimme überrascht. Sie gehorchte und ich schloss die Tür wieder hinter uns, dann schaltete ich das Licht an. Es blendete uns Beide, doch erkannten wir uns nun gegenseitig besser. Sie sah mich, schweißgebadet, die Haare auf der Stirn klebend und mit zitternden Händen und ich sah sie, durch gefroren, mit zerzausten Haaren und Tränen überzogenem Gesicht. Ihre verschmierten Eyeliner und Wimperntusche ließen sie aussehen wie einen Waschbären.
 

„Was ist passiert?“, fragte ich ernst. „Hat er mit dir Schluss gemacht?“

„Nein“, brachte Alex hervor. „Ich habe mit ihm Schluss gemacht. Was ist mit dir passiert? Lukas, hast du etwa Alpträume?“ Das schien sie noch trauriger zu machen und neue Tränen in ihr aufkommen zu lassen. Noch nie hatte ich meine Schwester in einem solchen verstörten Zustand gesehen, doch ich fühlte mich seltsamerweise nicht überfordert. Sie war meine kleine Schwester und sie brauchte mich jetzt, das spürte ich.
 

„Nein, nicht regelmäßig“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Nur heute hatte ich einen, aber das ist nicht so wichtig. Warum hast du mit ihm Schluss gemacht? Du scheinst das nicht gerade gewollt zu haben...“

Anstatt zu antworten, zog sie weinend ihre Jacke aus und meine Augen wurden riesengroß. Ihr Oberteil, eins das sie sich extra gekauft hatte um Julian zu gefallen, war von der linken Schulter bis zu ihrem Bauchnabel aufgerissen. Der Träger ihres Bhs war abgerissen und entblößte einen Teil ihrer linken Brust und die Haut war überzogen von vier deutlich roten Kratzspuren. Einen Augenblick lang konnte ich nichts spüren außer dem Schock, dann keimte in mir Wut auf. Ich ballte die Finger zu Fäusten zusammen, sie zitterten nicht mehr.
 

„Was hat er dir angetan?“, brachte ich durch zusammengebissene Zähnen hervor.

„Er wollte Sex, aber ich wollte keinen, schon die ganze Zeit lang“, erklärte Alex jammernd. „Ich hatte doch die ganze Zeit Angst davor. Heute wollten wir es ausprobieren, er hatte schon sein Oberteil aus, aber als er mich ausziehen wollte, hatte ich plötzlich wieder Angst bekommen. Ich sagte ihm, dass ich doch noch nicht will, dass ich vielleicht einfach noch zu jung dafür bin, da wurde er wütend und meinte er hätte lange genug gewartet. Er hat weiter gemacht und ich habe ihn weggestoßen und er hat trotzdem weitergemacht. Er hat mich auf das Bett gedrückt und wollte mit mir schlafen, obwohl ich nicht wollte. Ich konnte ihm entfliehen und als er mich festhalten wollte, hat er mein Oberteil und meinen BH kaputt gemacht und mich verletzt. Ich wollte weglaufen, aber meine Sachen waren noch da. Da meinte er zu mir entweder schlafe ich jetzt mit ihm oder ich gehe sofort heim und wir machen Schluss. Da habe ich ihm dann gesagt, dass auf jeden Fall zwischen uns Schluss ist und ich ihn nie wieder sehen will. Lukas, du hattest die ganze Zeit Recht gehabt! Die ganze Zeit! Und bitte sei jetzt nicht wütend, ich brauch jetzt nicht deine Wut, ich brauch meinen Bruder!“
 

Sie ging vor und ich nahm sie fest in die Arme, gab ihr einen Kuss auf die Haare, während sie sich in meiner Umarmung schüttelte. Geladen malmte ich mit den Zähnen, doch versuchte so gut wie möglich meine Wut unter Kontrolle zu halten und zu verbergen. Ich wollte diese Nacht für Alex so da sein, wie sie es brauchte, morgen hätte ich noch Zeit mich mit Julian zu unterhalten...
 

In dieser Nacht schlief Alex mit in meinem Bett. Ich hielt sie die ganze Zeit über in den Armen und am Morgen bedankte sie sich und verlangte von mir zu versprechen Julian nicht aufzusuchen und ihn in Ruhe zu lassen. Nach ewigem Betteln gab ich schließlich nach.

„Na gut, aber sollte er mir irgendwann über den Weg laufen, kann ich nichts versprechen.“

„Damit kann ich leben“, sagte Alex. Danach standen wir auf und taten vor Mum so als wäre nichts geschehen und sprachen auch die nächsten Tage nicht mehr über den Vorfall. In den ersten Tagen musste ich häufig daran denken. Obwohl ich es mir nicht vorstellen wollte, kamen ständig Bilder in meinem Kopf auf, die mich wütend machten und in meiner Brust schmerzten. Als Silvester nur noch einen Tag entfernt war, wurde es besser.
 

Mittags rief mich Simon an, als ich gerade dabei war die Spülmaschine auszuräumen.

„Ich habe dir noch nicht gesagt, was ich dir zu Weihnachten geschenkt habe“, sagte Simon vor jedem Hallo.

„Du hast mir auch noch gar nichts geschenkt“, stellte ich fest.

„Achtung, mein Geschenk kommt jetzt: Ich habe dir ein Ticket gekauft, Hin- und Zurück, von Berlin nach Nordrhein-Westfalen am 30.12.2010 und von Nordrhein-Westfalen nach Berlin am 02.01.2011. Klingt das nach was?“ In seiner Stimme schwang dieser Ton mit, der bei ihm stets mit seinem breitesten Lächeln kam. Einige Sekunden lang sagte ich gar nichts, dann brachte ich stockend hervor: „Aber heute ist der 30.“

„Dein Zug fährt um fünf“, sagte Simon. „Ich wollte es dir nach Weihnachten sagen, aber irgendwie ging die Zeit viel schneller um als ich es erwartet habe. Ich habe nicht mal richtig mitbekommen, dass schon der 30. ist. Bei euch fängt die Schule doch am 3. wieder an? Ich habe extra im Internet nachgeschaut.“

„Jaja, dann ist der erste Schultag“, nickte ich. „Aber... dann... feiere ich Silvester mit euch?“

„Ja, genau darum ging es, du Blitzmerker!“, lachte Simon.
 

Bisher lauteten meine Silvesterpläne mich in meinem Bett zu verkriechen. Alex wollte mit Freunden feiern. Dass sie dabei Julian über den Weg laufen könnte, bereitete mir ungemeine Sorgen, doch ich behielt sie bei mir. Sicher wollte sie nicht mehr darüber sprechen. Es war einer dieser Vorfälle, die passierten und danach redete nie wieder jemand darüber. So wie mein Nervenzusammenbruch bei Genesis in den Herbstferien. Mir würde es ebenfalls nicht gefallen, wenn Genesis mich darauf ansprechen würde, auch wenn ich glaubte die Sache mit Alex und Julian war noch mal anders...
 

Kurz hatte ich überlegte Noah anzurufen und ihn zu fragen, was er an Silvester machte. Bisher hatte er mich ein paar wenige Male angerufen und im Laufe der Unterhaltungen jedes Mal gemeint, wenn ich WhatsApp hätte, würde wir einen viel besseren Kontakt haben. Vermutlich würde ich mich dann auch viel eher trauen zu fragen, was er an Silvester machte, aber sehr wahrscheinlich war er mit Fynn unterwegs. Ich wollte mir die Abweisung nicht antun, deswegen fragte ich erst gar nicht nach.
 

„Ich würde gerne zu euch kommen“, sagte ich. „Danke, Simon. Mal ehrlich!“ Ich merkte, dass ich über beide Gesichtshälften grinste. Dann würde ich an Silvester also doch kein Opfer sein. Simon erzählte mir, was sie alles geplant hatten und mein Lächeln verschwand plötzlich von meinen Lippen als mir etwas bewusst wurde.
 

„Simon!“, unterbrach ich ihn.

„Was ist?“

Ich wurde ein wenig nervös und brachte zögernd hervor: „Es ehm könnte sein, dass ich ehm auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für dich ehm keins gefunden habe, weil mir irgendwie nichts so toll vorkam, dass es zu dir gepasst hätte... ich meine, ich wusste nicht wie ich dir ausdrücken kann, wie wichtig mir unsere Freundschaft ist. Ich habe einfach nichts gefunden“, schloss er kleinlaut.

„Okay“, sagte Simon stumpf. „Egal... zum Glück hat Lynn das nicht gehört, das klang gerade so schwul.“ Er lachte. „Jetzt bin ich also wieder dein Ehemann. Aber mir ist es echt egal, ob ihr mir etwas zu Weihnachten kauft oder nicht.“

„Ich werde schon noch was finden“, meinte ich entschlossen.

„In zwei Tagen haben wir 2011, du brauchst mir nichts mehr zu kaufen“, versicherte Simon. „Weihnachten ist vorbei, jetzt müssen wir gebührend ins neue Jahr feiern!“
 

Ich hoffte sehr, dass Simon wirklich auf ein Geschenk verzichten konnte. Trotzdem war es mir nicht egal, ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen und wollte das fehlende Geschenk irgendwie wieder gut machen. Nachdem wir auflegten, suchte ich meine Mutter bei der Waschmaschine auf und erzählte ihr von Simons Geschenk. Sie lächelte matt.
 

„Darf ich fahren?“, fragte ich.

„Wenn du möchtest.“ Obwohl sie dies sagte, merkte ich, dass ihr der Gedanke nicht gut gefiel. Vermutlich wieder, weil ich dann alleine in der Gegend herum fahren müsste.

„Du kannst dich ja mit Monika und ihren Freunden treffen und ihr feiert zusammen“, schlug ich vor.

„Ja, so werden wir es wahrscheinlich machen“, seufzte Mum. „Dann räume die Spülmaschine gerade noch fertig aus, danach solltest du schnell packen. Ich bringe dich zum Bahnhof.“
 

Mit dem Auto durch Berlin zu fahren, war eine der schlechtesten Ideen, die man nur haben konnte, doch Mum bestand darauf. Simon hatte uns vorher die Zugtickets, die er online gekauft hatte per Mail geschickt, damit wir sie ausdrucken konnten. Einige Zeit lang hatte ich Panik der Zugbegleiter würde sie nicht annehmen, aber als er darüber schaute, nickte er knapp und ließ mich weiter in Ruhe Musik hören. Ich legte meinen Kopf auf der Fensterscheibe ab und hörte dumpf, dass irgendwo im Zug eine Gruppe Leute bereits Party machten.
 

Nach einiger Zeit fielen mir die Augen zu, doch ich wurde geweckt, weil das Handy in meiner Hosentasche vibrierte. Schnell nahm ich die Kopfhörer raus und den Anruf entgegen, ohne vorher zu schauen, wer überhaupt dran war. Ich vermutete Simon und war überrascht als ich Noah hörte.

„Hallo“, trällerte er wie jedes Mal mit seiner engelsgleichen Singstimme. „Duuu, was machst du an Silvester?“

„Ich fahre zu Freunden nach Nordrhein-Westfalen“, antwortete ich dumpf.

„Zu Genesis, Simon und Lynn?“, fragte Noah sofort.

„Jaa.“

„Ohh, warum kommen die denn nicht her? In Berlin ist Silvester doch viel besser und ich hätte sie gerne mal wieder gesehen... naja, eigentlich wollte ich dich fragen, ob du mit uns feiern möchtest, aber das hat sich dann ja wohl erledigt.“

„Was heißt denn mit uns?“ Mir wurde mulmig zumute. Wenn Noah jetzt Gaara sagen würde, würde ich mich vermutlich ohrfeigen.

„Kaito, Samantha, Gaara, Fynn, ich und noch einige Freunde von uns. Wir wollten zu einem Kumpel, der eine Dachterrasse hat und uns von dort das Feuerwerk anschauen und danach zu Gaara feiern. Naja, nächstes Jahr kannst du ja mitmachen.“
 

Jetzt wollte ich nicht mehr nach Nordrhein-Westfalen. Noah sagte noch ich solle den Dreien schöne Grüße ausrichten, dann legten wir auf und ich spürte mein Herz seltsam pochen. Es fühlte sich beinahe aufgeregt an, aber warum? Und warum wollte ich lieber mit Noah und Gaara und den Anderen feiern als mit meinen besten Freunden? Nein, es war gut, dass ich nach Nordrhein-Westfalen fuhr, es war die richtige Entscheidung. Ich redete es mir solange ein bis ich mir fast glaubte.

Veränderung

Verwunderlich wie ein einfaches Blatt Papier so unterschiedliche Gefühle in einem hervorrufen konnte. Es ging auch mehr darum was drauf stand, um diese schwarzen Zahlen und Buchstaben, die der Lehrer auf die vorgeschriebenen Lehrer gekritzelt hatte, unterzeichnet und unterschrieben von der Schuldirektorin und unserer Oberstufenleiterin. Gemeinsam waren wir in der Turnhalle versammelt, beide Gebäudeflügel. Leider mussten wir trotzdem getrennt voneinander sitzen, damit die Lehrer den Überblick behalten konnten. Mittlerweile saß so gut wie keiner mehr. Die Schüler, die ihre Zeugnisse noch nicht hatten, weil ihr Nachname spät im Alphabet kam, hatten sich weiter nach vorne gesetzt um die beiden Lehrer zu verstehen, die sie aufriefen. Und alle anderen Schüler liefen herum, unterhielten sich, tauschten ihre Zeugnisse oder saßen wie ich stumm auf ihrem Platz und starrten dieses Blatt Papier an.
 

Vor ein paar Tagen war Silvester gewesen. Nach einigen Drinks konnte ich Gaara, Noah und die anderen vergessen und genoss die Zeit mit meinen besten Freunden und den alten Klassenkameraden. Wir schossen Feuerwerkskörper ab, machten Fotos, tranken selbstgemachten Glühwein und als das neue Jahr schließlich anbrach, gaben mir Genesis wie auch Lynn einen Kuss auf die Wange und Simon und ich umarmten uns. Ein paar Minuten später rief mich Noah an und nach dem er mir ein neues Jahr gewünscht hatte, reichte er das Handy weiter an Samantha und sie gab es Gaara. Selbst Kiaro war bei ihnen anwesend und wünschte mir ein neues Jahr. Am meisten hatte ich mich jedoch über Gaara gefreut... am Telefon verstand ich deutlich, dass er schon ein wenig was getrunken hatte, doch er hatte mich wieder Süßer genannt und das war der schönste Rutsch ins neue Jahr den ich mir hätte wünschen können.
 

Warum machte es mich so glücklich? Darüber hatte ich mir bei der Rückfahrt nach Berlin Gedanken gemacht. Nun, wäre Gaara ein Mädchen, wäre der Fall vollkommen klar: Ich hatte mich verliebt. Aber da Gaara ein Junge war, wurde die Sache viel komplizierter. Warum wusste ich selbst nicht, es fühlte sich einfach komplizierter an. In meiner Überlegung hatte ich an Noah und Fynn denken müssen und wie sie sich vor dem Dreams geküsst hatten und ich spürte erneut, dass es mich erregte. Ich war nicht dumm, eigentlich müsste es bedeuten, dass ich auf Jungs stehe. Aber das konnte nicht sein... warum es nicht sein konnte, wusste ich aber nicht. Es konnte einfach nicht sein.
 

Nun waren diese Gedanken jedoch nur zweitrangig. Es zählte bloß dieses blöde Papier in meinen Händen. Das wohl schlechteste Zeugnis, dass ich je bekommen hatte. Nicht mal das Abschlusszeugnis der zehnten Klasse, das Jahr in dem mein Vater gestorben war, war so schlecht wie dieses hier zwischen meinen Fingern, das ich am liebsten zerknüllen und wegwerfen wollte.
 

Leistungskurse:

Deutsch – sieben Punkte (entspricht einer 3-)

Geschichte – acht Punkte (entspricht einer 3)
 

Grundkurse:

Englisch – zwei Punkte (entspricht einer 5)

Mathematik – neun Punkte (entspricht einer 3+)

Physik – acht Punkte (entspricht einer 3)

Erdkunde – zehn Punkte (entspricht einer 2-)

Kunst – sechs Punkte (entspricht einer 4+)

Religion – vier Punkte (entspricht einer 4-)

Sport – sieben Punkte (entspricht einer 3-)
 

Es war zum Lachen, aber tatsächlich hatte ich meine beste Note in einem Fach in dem ich früher nie wirklich gut gewesen war, welches jedoch das einzige Fach war in dem ich keiner der Idioten um die Ohren hatte. Das einzige Fach in dem ich mich traute mich zu melden. Es war die einzige Note mit der ich zufrieden war, eben weil ich nicht mit einer zwei gerechnet hatte. Englisch überraschte mich kein bisschen, schließlich war ich scheußlich in Fremdsprachen. Über Deutsch ärgerte ich mich, über Geschichte und Mathematik, über Physik und Sport. Über Religion, weil es ein Fach war in dem man total einfach gute Noten bekam und über Kunst, weil die schlechte Note daher rührte, dass ich das Halbjahresprojekt nie abgegeben hatte. Es war einfach nie fertig geworden.
 

Ich hatte viel zu wenig Zeit und Konzentration in die Schule gesteckt und das war die Strafe dafür. Schnell packte ich das Zeugnis in meine Tasche, zog mir meine neue schwarze Mütze über den Kopf und wollte aus der Halle verschwinden, doch die Oberstufenleiterin Frau Beyl-Schüller stellte sich mir in den Weg.

„Ich würde dich bitten kurz mit in mein Büro zu kommen“, sagte sie freundlich. Ich nickte bloß und folgte ihr aus der Halle heraus. Ihr grauer, geflochtener Zopf schwang über ihren schmalen Rücken und der dicke Wollrock hüpfte ein wenig, während sie ging. Sie trug immer Röcke und eine Brille auf ihrer Nase.
 

Im Büro angelangt bat sie mich mich zu setzen, was ich auch sofort mit einem mulmigen Gefühl tat. Vermutlich ging es wieder um meinen Vater. Nach seinem Tod hatte ich mit der Schule, dem Schulamt und dem Jugendamt einen Haufen Formulare ausfüllen müssen, die sich um sonst etwas handelten, was ich nicht verstand und ständig hatte mich dieser ätzende Vermittlungskerl als einen Halbwaisen bezeichnet. Ich hatte diesen Ausdruck gehasst und jedes Mal wenn ich an das Wort dachte, schmerzte es in meiner Brust. Ich wollte kein Halbwaise sein, es war ein trauriges Wort.
 

„Lukas, bevor wir die Zeugnisse ausfüllen, treffen sich alle Lehrer, um über die Noten der Schüler und die Schüler selbst zu diskutieren“, begann Frau Beyl-Schüller zu erklären und für einen Moment war ich froh, dass das Gespräch in eine andere Richtung verlief. Dann jedoch versteifte sich meine Körperhaltung und ich spürte die altbekannte Hitze in mir aufsteigen. Es ging also um mein beschissenes Zeugnis...

„Wir sind uns alle darüber einig, dass du mehr kannst“, sagte Frau Beyl-Schüller und bedachte mich mit einem beinahe vorwurfsvollen Blick. „Mit Ausnahme von Englisch und Religion waren all deine schriftlichen Arbeiten gut mit einigem Platz nach oben. Der Grund für deine mittelmäßigen bis schlechten Noten liegt im mündlichen Bereich, in deinen Referaten und deinen fehlenden Beiträgen. Mittlerweile befindest du dich in der Oberstufe.“ Sie wurde strenger. „Und wirst dieses Jahr volljährig und trotzdem sitzt du dort und sagst nichts, wenn man dich etwas fragt. Solches Verhalten sieht man noch bei den schüchternen Fünft- und Sechstklässler, aber als junger Mann sollte man dazu in der Lage sein es wenigstens zu versuchen oder zu sagen, dass man keine Ahnung hat, aber nicht schweigend den Tisch anstarren. Lukas, schau mich bitte an, wenn ich mit dir rede.“
 

Ich schaute von der Tischplatte auf, die ich mit finsterem Ausdruck und rotem Gesicht angestarrt hatte und schaute Frau Beyl-Schüller in die harten, grauen Augen. Sie machte mir keine Angst, ich hatte großen Respekt vor ihr und doch mochte ich sie. Hinter dem Harten sah ich ihre Freundlichkeit. Sie fuhr wieder etwas ruhiger fort.
 

„Die meisten Lehrer sagten deine Referate wären gut aufgebaut und sowohl inhaltlich als auch sprachlich sehr gut, doch würde die Art deiner Vortragsweise alles wieder zerstören. Stottern und rot werden, auf den Boden starren, zitternde Finger und so leise sprechen, dass niemand dich versteht. Ich glaube dir, dass du Referate nicht sonderlich gut leiden kannst.“

Ich nickte zustimmend und wollte wieder auf die Tischplatte starren, dann erinnerte ich mich an ihre Worte und schaute ihr weiterhin ins Gesicht.

„Natürlich sind wir Lehrer nicht blind“, sagte sie. „Es gibt da wohl ein paar Herrschaften denen man die Schuld an deinem fehlenden Selbstbewusstsein im Unterricht zuschreiben kann. In Erdkunde nimmst du aktiv am Unterricht teil und in Physik hat dich wohl ein Mädchen aus dem zweiten Gebäudeflügel an die Tafel gezwungen, wo du einen guten Eindruck bei deinem neuen Lehrer hinterlassen hast. Wir haben lange darüber diskutiert und sind uns einig geworden, dass bestimmte Situationen bestimmte Maßnahmen erfordern.“
 

Ich richtete mich ein wenig im Stuhl auf und hatte Angst vor dem, was nun kam. Wollte sie mich jetzt zur Schulpsychologin schicken? Bei meiner Mutter anrufen und ihr alles erklären? Meine Finger krallten sich in den harten Stuhl, bis die Kuppen schmerzten.
 

„Die Direktorin wollte dem Vorschlag erst nicht zustimmen. Sie sagte und ich zitiere 'Mit beinahe 18 Jahren sollte man dazu in der Lage sein mit solchen Situationen umzugehen und sich selbst zu verteidigen'. Gelegentlich der Einwand, dass der Tod deines Vaters deiner Psyche und deinem Selbstbewusstsein schwer zugesetzt haben könnte, überredete sie doch zuzustimmen.“

„Und was genau passiert jetzt?“, fragte ich, der langsam ungeduldig wurde. Frau Beyl-Schüller lächelte ehe sie schlicht sagte: „Wir verlegen dich in den zweiten Gebäudeflügel.“
 

Es war eine so einfache Lösung für mein Problem, dass ich sie einen Augenblick lang überrascht anschaute, dann brach ein Schwall von Erleichterung und Freude in mir los und ich musste lächeln.

„Ich wusste nicht, dass das geht“, gab ich zu.

„Normalerweise machen wir so etwas auch nicht“, sagte Frau Beyl-Schüller mit einem Augenzwinkern. „Aber ich habe mich für dich eingesetzt.“

„Wie kann ich Ihnen jemals dafür danken?“ Ich hätte sie am liebsten umarmt und ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt.

„Schreib ab sofort einfach bessere Noten“, lächelte sie und ich musste mich zurückhalten ihr zusagen, dass ich sie in diesem Moment liebte.
 

„Bambi gehört ab sofort zu uns?“

Samantha stand mit einem breiten Lächeln vor mir. Über ihren hellbraunen, buschigen Haaren trug sie eine weiße Wollmütze mit Bommeln dran und ihre Winterjacke reichte ihr bis zu den Knien. Ihre Haut bildete dazu einen seltsamen Kontrast, denn die sah immer aus als hätte Samantha lange in der Sonne gelegen.
 

Der Unterricht war bereits zu Ende und normalerweise wäre ich sofort nach Hause geflohen, aber heute wollte ich ihnen die Neuigkeiten überbringen und ich wusste, dass sie sich immer am Ende des Schultages noch für eine Zigarette und ein paar abschließende Worte in der Raucherecke versammelten. Gaara hatte ein gerade zu freches Grinsen aufgesetzt und Noah hüpfte glücklich auf der Stelle. Auch Kiaro freute sich und klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter.
 

„Eine Bereicherung für unsere Stufe, würde ich sagen“, sagte er mit einem Lächeln. Und es war Gaara der zustimmend meinte: „Ja, auf jeden Fall.“

Obgleich mein Zeugnis beschissen war, war ich an diesem Tag der glücklichste Mensch der Welt. Ich hatte das Gefühl eine riesige Last wäre von meinem Herzen genommen, viele schwere Steine, die mich nun nicht mehr in die Knie zwingen konnten. Ich hatte das Gefühl ich wäre die Idioten losgeworden, dabei war mir bewusst sie würden trotzdem noch jede Möglichkeit suchen mich zu ärgern, mich herum zu schubsen und zu beleidigen, aber das war mir egal. Ich war sie im Unterricht los. Ich musste nicht mehr eine dreiviertel Stunde lang still sitzen, während sie mir Beleidigungen zuflüsterten, über mich lachten und mich mit Papierkügelchen oder Schinkenbrot abwarfen. Nur um fünf Minuten später wieder eine solche dreiviertel Stunde über mich ergehen zu lassen. Ich war befreit.
 

Zuhause musste ich das erste Mal in meinem Leben nicht so tun als wäre ich gut gelaunt obwohl ich es nicht war, sondern ich musste so tun als wäre ich schlecht gelaunt obwohl ich es nicht war. Bei meinem Zeugnis wäre es nur seltsam gewesen, wenn ich breit grinsend vor Mum herumgelaufen wäre. Schließlich wusste sie nichts von den Idioten und mit Sicherheit würde sie nie etwas davon erfahren. Einmal, weil es zu peinlich war und zum zweiten Mal, weil sie genug um die Ohren hatte. Wie die Direktorin selbst meinte, ich war 17 Jahre alt und sollte alleine mit solch einer Situation umgehen können.
 

Am Abend erzählte ich Simon, Genesis und Lynn in Skype von der guten Nachricht und las ihnen ebenfalls mein Zeugnis vor. In Nordrhein-Westfalen würde es noch ein paar Tagen dauern bis sie ihre Zeugnisse bekamen und sie hatten ebenfalls noch drei Tage Ferien, wofür mich Simon ein wenig aufzog, doch es konnte mir nicht gleichgültiger sein. Nächste Woche begann das zweite Halbjahr, nächste Woche begann meine Zeit im zweiten Gebäudeflügel. Gemeinsam mit Noah, Samantha, Kiaro... und natürlich Gaara.
 

Ich konnte es kaum erwarten und mir kam es vor als würden die Tage noch langsamer vorbei gehen. Im Unterricht quälten mich die Idioten so schlimm als ob sie wüssten, dass ich bald nicht mehr ihr Opfer sein könnte. Als ich daran dachte, dass ich sie bald los sein würde, fiel mir erst auf, dass ich nicht der Einzige war, der ihnen ständig zum Opfer fiel. Es gab noch andere, die von ihnen gemobbt wurden, aber niemand so schlimm wie ich. Nächste Woche war ich sie dann alle los. Jeden einzelnen. Die, die daneben standen und lachten und die, die daneben standen und so taten als würde es sie nichts angehen.
 

Als ich dann endlich am Freitag aus der Schule ging, schien ich über den Boden zu schweben vor Glück und meine Laune wurde gleich noch einmal gehoben als mir Noah den Weg versperrte und mich mit einem Lächeln fragte: „Was hast du morgen vor?“

„Noch nichts“, antwortete ich. Wie immer.

„Ich treffe mich mit Fynn und noch einer Freundin bei mir Zuhause, es wäre cool, wenn du kommen würdest. Wir wollten nur ein wenig Shisha rauchen und zocken. Es wird ein ruhiger Abend“, sagte Noah. Für einen Moment war ich enttäuscht, dass Gaara nicht kommen würde, aber sie konnten wohl kaum jeden Tag ihres Lebens miteinander verbringen. Für das Wochenende hatte er sicher andere Pläne.
 

Plötzlich kam mir in den Sinn, dass er andere Pläne mit einer festen Freundin oder einem festen Freund haben könnte und dieser Gedanke gefiel mir überhaupt nicht. Einen Augenblick lang war ich sogar sauer auf die Person, die mit Gaara zusammen sein könnte. Ich schüttelte diese dummen Gedanken ab und fragte mich, was in letzter Zeit mit mir los war. Alles drehte sich nur noch um Gaara und ich verstand die Welt nicht mehr. Ich kannte ihn doch überhaupt nicht richtig.
 

„Klar, ich würde gerne kommen. Ich weiß nur nicht, wo du wohnst“, sagte ich und auf Noahs Lippen machte sich ein glückliches Lächeln breit.

„Kein Problem, ich sage dir zu welcher Station du mit der Straßenbahn fahren musst, dann hole ich dich dort ab!“

Lügner

Noah wohnte in einer Gegend in der mir selbst die Straßenlaternen das Gefühl gaben arm zu sein. Es waren keine flackernden, matten Lichter in quadratischen Plastikbehältern, die teilweise nicht mehr funktionierten und hoch oben auf grauen Stangen saßen, von Kritzeleien und Aufklebern geziert. Hier in dieser Gegend waren die Straßenlaternen tatsächlich hell und die Lichter strahlten in runden Glaskugeln, die auf tiefschwarzen Stangen saßen, die kunstvoll verschnörkelt waren. Jedes Haus war hier ein Einfamilienhaus, wurde verkauft und nicht vermietet und sah aus als könnte sich meine Mum es niemals leisten. Ein paar Häuser erinnerten mich an mein altes Zuhause in Nordrhein-Westfalen.
 

Wir mussten beinahe eine viertel Stunde Fußweg zurück legen und dabei einen Hügel erklimmen. Nach nur kurzer Zeit war ich aus der Puste und Noah machte sich darüber lustig, wie unsportlich ich war. Dann beschwerte ich mich, dass ich den gesamten Samstag auf seine Rückmeldung gewartet hatte und ihn vehement nicht erreichen konnte, am Ende sogar dachte das Treffen wäre ohne mich gelaufen. Meine gute Laune hatte einen harten Dämpfer erhalten bis sich Noah endlich um fünf Uhr am Nachmittag meldete und mir mitteilte, dass das Treffen erst abends stattfinden würde.
 

„Hatte ich dir das am Freitag echt nicht gesagt?“, fragte Noah verlegen.

„Nein, hattest du nicht!“, motzte ich. „So etwas kannst du mir nicht antun, Noah, du weißt, dass ich außer euch niemanden in Berlin kenne. Ich habe keine Pläne für meine Wochenenden.“

„Das wird sich noch ändern“, versicherte mir Noah, danach wurde er ein wenig trübseliger. „Ich wollte dich ja früher anrufen, aber es kam ein wenig etwas dazwischen...“

„Was Schlimmes?“, fragte ich.

„Nein, es hat sich wieder geklärt“, winkte Noah ab und ging noch ein wenig schneller. Wie konnte jemand so kleines mit so kurzen Beinen so schnell gehen?
 

Als wir endlich am Haus ankamen, brauchte ich ein paar Sekunden zum Luft schnappen. Danach erst konnte ich sein Haus mit offenem Mund bewundern.

„Bonzen“, murrte ich hinter ihm als er seinen Schlüssel auspackte und er begann zu lachen.

Das Haus war weiß und groß. Es hatte eine Etage und einen ersten Stock, eine große Terrasse überdachte den Vorgarten und sie wurde von dicken Säulen gehalten, die dem ganzen etwas schlossartiges verlieh. Die Tür war aus undurchsichtigen Glas und ich hatte Angst sie anzufassen, weil ich dachte sie müsste zwischen meinen Fingern zerbrechen. Doch auch als sie hinter uns laut ins Schloss fiel, passierte dem Glas nichts.
 

Im Grunde stand man sofort im Wohnzimmer, wenn man durch die Haustür herein kam und dies erinnerte mich abermals an mein altes Zuhause. Nur sah dieses Wohnzimmer eher elegant aus mit einer weißen Couch und einem echten Kamin, in dem ein Feuer freudig knisterte. Zur rechten Seite erreichte man über eine Treppenstufe den Esszimmerbereich und ebenfalls konnte man von der Haustür aus sofort die Küche sehen, in deren Wände riesige Glaslose Fenster eingelassen waren. Alles sah unglaublich sauber und unglaublich schick aus.
 

Noah führte mich quer durch den riesigen Raum in einen eher engen Flur, an dessen Ende sich eine hölzerne Tür befand. Sie öffnete sich nach innen und wir mussten drei Treppenstufen herunter gehen, die direkt in einen großen Raum führten. Im ersten Moment dachte ich wir würden in einem zweiten Wohnzimmer stehen, dann jedoch verkündete Noah feierlich: „Willkommen in meinem Zimmer.“ Nun blieb mir tatsächlich die Sprache weg.
 

Die Wand gegenüber seiner Zimmertür bestand nur aus Fenstern und man sah den großen Hintergarten mit einem abgedeckten Pool, auf dessen Plane sich Schnee häufte. Der Boden seines Zimmers war aus hellem Holz, links der Tür erstreckte sich eine riesige Couchecke mit einer Couch, die so breit und groß war, dass sicher zehn Leute darauf passten. Vor den Fenstern stand ein breiter Flachbildschirm und nur am Rande bekam ich mit, dass die beiden Jugendlichen, die auf der Couch saßen ein Ballerspiel spielten. Ich war noch zu abgelenkt durch Noahs Zimmers. Rechts der Tür standen noch mehr Sessel, jedoch auch ein breiter Schreibtisch, auf dem ein Laptop von Apple stand. Eine Wendeltreppe führte hoch in einen weiteren Raum und ich konnte eine Tür erkennen, die neben der Treppe in der Wand eingelassen war.
 

„Da oben ist mein Bett“, verkündete Noah und zeigte auf den Raum, zu dem die Wendeltreppe führte. „Komm mit, ich zeig es dir.“

Er packte mich am Arm und schleifte mich die Treppe hoch. Erst jetzt merkte ich, dass mein Mund offen stand und klappte ihn zu. Nur damit er mir oben angekommen wieder aufklappen konnte. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein so großes Bett gesehen. Und die Decke war schräg und in ihr waren erneut große Fenster eingelassen, durch die man die wenigen Sterne sehen konnte, die bereits den Nachthimmel säumten.
 

Ohne uns abzusprechen ließen Noah und ich uns rückwärts aufs Bett fallen und schauten aus dem Fenster in die Weite des Himmels. Keine Wolke versperrte die Sicht.

„Wenn es richtig Nacht ist, ist es hier wunderschön“, sagte Noah leise.

„Das glaube ich dir sofort... du bist wirklich ein Bonzen.“ Ich blickte ihn mit einem Grinsen an, aber diesmal lachte Noah nicht. Er war ernst geworden und wirkte beinahe traurig.
 

„Bevor wir anfangen uns wirklich anzufreunden, solltest du ein paar Sachen über mich wissen“, sagte er und ich merkte wie mir unwohl zumute wurde. Bisher hatte noch keiner ein Gespräch auf diese Weise eröffnet und das machte mir Angst. Ich versuchte es zu verbergen und so neutral wie möglich zu bleiben.

„Okay“, sagte ich verwirrt. Er schaute mich nicht an. In seinen strahlend blauen Augen spiegelten sich die Sterne.

„Ich bin nicht unbedingt einfach und ich bin auch kein guter Mensch.“

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte ich noch verwirrter als vorher.

„Lukas, ich bin kompliziert und mit mir befreundet zu sein ist kompliziert und schwer, weil ich... aus Launen heraus handle, die ich selbst nicht verstehe und...“ Er brach ab und seufzte schwer. Für einen Moment dachte ich er würde anfangen zu heulen, aber Noah schluckte nur hart und sagte dumpf: „Ich habe psychische Probleme. Bewiesene psychische Probleme.“

„Von einem Psychologen bewiesen?“, fragte ich und war darüber verwirrt, dass mich dieses Wissen nicht so sehr schockte wie es sollte. Noah nickte und fuhr fort: „Die Sache ist nur die, dass ich gerne überreagiere und eine Zeit lang, eine lange Zeit lang habe ich Sachen erfunden und erlogen aus Gründen, die ich mir selbst nicht erklären kann. Und ich habe immer gesagt daran ist meine Psyche Schuld, daran ist meine Psyche Schuld, aber eigentlich bin ich selbst Schuld. Nur ich kann daran was ändern, aber das ist viel, viel schwieriger als einfach hinzunehmen, dass ich Probleme habe und sie als Ausrede für alles was ich falsch mache zu benutzen. Und ich weiß gerade selbst nicht warum ich dir das erzähle, jetzt denkst du wahrscheinlich ich bin der totale Psycho...“

„Nein, bestimmt nicht“, erwiderte ich schnell.
 

Ich versuchte tief in mich zu gehen und Noahs Informationen zu verarbeiten, doch sie stießen bei mir nicht auf negative Gefühle. Natürlich ist das nicht so gemeint, dass ich seine Probleme befürworten würde. Er tat mir Leid, aber ich konnte nicht sagen, dass es mich so stören würde, dass ich nichts mehr mit Noah zu tun haben wollte. Im Grunde machte es keinen Unterschied. Bisher war er mir nicht negativ aufgefallen, aber etwas anderes machte plötzlich Sinn...
 

„Deswegen fehlst du häufiger in der Schule“, stellte ich murmelnd fest.

„Ja... du brauchst aber keine Angst zu haben, dass ich dich bei irgendetwas anlügen würde, ich habe nur versucht zu erklären wie es mit mir ist. Ich erzähle dir das wahrscheinlich gerade, weil ich schon wieder viel zu emotional bin und daran ist nur Fynn Schuld.“ Er sprach nun leiser, damit sie uns unten nicht hören konnte. Einer der beiden Jugendliche auf der Couch musste wohl Fynn sein, ich hatte ihn nicht direkt erkannt, doch sie würden uns sicher nicht hören. Dafür war der Fernseher zu laut, außerdem sprachen sie laut miteinander.
 

„Was hat er denn gemacht?“, fragte ich und war ein wenig aufgeregt. Noah erzählte mir etwas Privates, etwas Geheimes, was in diesem Moment niemand anderes außer mir hören durfte. Ich schämte mich ein wenig dafür, dass ich mich darüber so freute, schließlich schien es Noah sehr nahe zu gehen.

„Er will nachher noch unbedingt mit Freunden weggehen, also feiern gehen. Ich habe ihm dann erst gesagt, dass mir das nicht so gut gefällt, weil Fynn und ich lange nichts mehr nur zu Zweit gemacht haben und eigentlich wollten wir die Nacht zusammen verbringen, was sich dann aber wieder erledigt hätte. Aber er ließ sich nicht umstimmen also habe ich gesagt wir könnten ja mitkommen oder später dazu stoßen oder so etwas, aber das wollte er dann auch nicht...“

„Wie das wollte er nicht?“, fragte ich verdutzt. Mir wurde unangenehm heiß. „Wollte er nicht, weil ich dann dabei bin?“

„Was?! Um Himmels Willen!“ Noah musste lachen und drückte meine Hand wie zum Trost. Ich brachte bloß ein gequältes Lachen zustande. „Nein, doch nicht wegen dir. Er will mich nicht dabei haben.“

„Aber du bist sein Freund“, sagte ich verwirrt.

„Ja und ich hab das Gefühl er ist mich momentan leid.“ Noah zuckte die Schultern, aber ich wusste, dass es ihm nicht so egal war.
 

Ich sah es daran wie er schluckte, er hatte diesen Kloß im Hals und er mied meinen Blick, damit ich die Tränen in seinen Augen nicht sehen konnte. Er versuchte so neutral wie möglich zu reden als ob es ihm gar nicht so wichtig wäre, aber jeder Vollidiot wusste wie sehr Noah in Fynn verliebt war. Man musste sie bloß einmal zusammen gesehen haben... vor dem Dreams sah Fynn ebenfalls noch ziemlich glücklich und verliebt aus. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er Noah so abweisen würde.
 

„Hast du ihm schon gesagt, dass du das so fühlst?“, fragte ich nach ein paar Sekunden des Schweigens.

„Ja und dann gab es Streit“, antwortete Noah erstickt. „Deswegen habe ich mich auch erst nicht gemeldet, weil das Ganze heute Mittag passiert ist. Am Ende habe ich dann natürlich nachgegeben und ihm gesagt es ist schon okay, wenn er ohne mich geht, nur damit ich ihn nicht verliere.“ Er lachte aufgesetzt. „Ich bin so ein Schwächling...“

„Red bitte nicht so über dich, du bist bestimmt kein Schwächling“, sagte ich etwas hilflos und überfordert mit der Situation. Beziehungen. Wenn Noah Probleme mit einem gewalttätigen Stiefvater hätte, hätte ich ihm besser helfen können, das hatte ich Jahre lang mit Simon mitgemacht, aber von Beziehungen hatte ich keine Ahnung.
 

„Was hat er denn zur Erklärung gesagt, warum er dich nicht dabei haben will?“, fragte ich.

„Dass er halt einfach mal etwas mit seinen besten Kumpel machen möchte, nur mit ihnen wie vor unserer Beziehung. Ich denke mir nur, wie wichtig bin ich ihm, wenn er solange auf Zeit zu Zweit verzichten kann und dann sogar danach verlangt?“ Noah verdrehte die Augen. „Das geht schon eine Weile so und Hannah sagt ich soll einfach Schluss machen, aber ich kann nicht. Ich bin zu schwach, um es alleine zu schaffen.“
 

„Was zu schaffen... und wer ist Hannah?“

Noah lachte gequält ehe er antwortete: „Das Leben zu schaffen.“ Danach richtete er sich auf und sagte lauter und wieder so fröhlich trällernd wie er mir stets entgegen kam: „Und Hannah ist die Tochter von der festen Freundin meines Vaters und sie sitzt da unten und zockt mit meinem Freund Call of Duty.“

„Ja, hier unten bin ich“, rief eine weibliche Stimme.

„Und am verlieren“, fügte Fynn hinzu und die beiden Zockenden lachten. Noah sprang vom Bett auf und ging die Wendeltreppe herunter. Ehe ich folgte, richtete ich mich langsam auf und blieb ein paar Sekunden mit dröhnendem Kopf sitzen.
 

Und eine Zeit lang, eine lange Zeit lang habe ich Sachen erfunden und erlogen aus Gründen, die ich mir selbst nicht erklären kann... Du brauchst aber keine Angst zu haben, dass ich dich bei irgendetwas anlügen würde... Du Lügner, Noah. Wie konntest du mir sagen, dass du alleine nicht leben kannst und Fynn als deine Stütze brauchst, eine Stütze, die du zu verlieren drohst und danach aufspringen und so tun als wäre deine kleine Welt perfekt?
 

Wenn ich daran dachte wie oft ich Noah für übertrieben freudig und glücklich gehalten hatte, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Wie oft schon hatte Noah vor mir gestanden und mich mit dieser Freude angelogen. Er war nicht glücklich und er war Lügner und meine gute Laune war am Ende.

Perfekt

Als Fynn fortging und Noah zum Abschied einen Kuss geben wollte, drehte dieser sein Gesicht weg und zeigte Fynn die kalte Schulter. Sein 'Tschüss' war ebenso kalt wie die Geste und Fynn machte einen missmutigen Ausdruck. Ich hätte ihn gerne gepackt und ihn angeschrien, dass dies der Moment war an dem er hätte merken müssen, dass ihm die Beziehung zu Noah aus den Fingern glitt, aber Fynn verabschiedete sich und verließ das Haus. Erst als die Tür ins Schloss fiel, seufzte Noah schwerfällig und jammerte: „Das hätte ich nicht tun sollen!“

„Doch, das war super“, entgegnete Hannah entschieden. Sie war achtzehn Jahre alt und ging wie wir in die elfte Klasse, jedoch einer anderen Schule. Sie war größer als Noah und fast so groß wie ich mit einem schlanken Körper und breiten Hüften. Ihr Gesicht war länglich und ihre Augen klein und blau. Ihre Haare waren von einem einfachen nussbraun, reichten ihr bis zu den Schultern und waren ziemlich zerstruppelte.
 

Wie sich herausstellte war Hannah schlecht in Ballerspielen, weil sie nicht gerne Gewalt sah und jedes Mal, wenn sie jemanden erschießen musste, machte sie solange eine Szene bis sie selbst erschossen wurde. Eine Zeit lang war es ziemlich lustig anzusehen gewesen, dann jedoch legten wir uns einen Comedy-Film rein und rauchten Shisha, nur Hannah verzichtete. Sie rauchte gar nicht, hatte es nie getan und wollte es auch nie tun. Wir unterhielten uns über dies und jenes und das Thema Fynn und sein blödes Problem damit seinen festen Freund mit auf Partys zu holen schien in der Luft zu schweben, aber niemand sprach es an, schließlich hatte Fynn bis eben höchstselbst in der Runde gesessen, doch nun war er weg und wir konnten endlich darüber sprechen.
 

Ich hatte schnell raus gefunden, dass Hannah nicht einfach nur die Tochter der festen Freundin von Noahs Vater war. Für Noah bedeutete sie viel mehr. Sie waren wirklich miteinander befreundet, viel besser als Noah und ich es waren, deswegen musste sie auf jeden Fall von Noahs Bedenken wissen.
 

„Er soll wissen, dass du verletzt bist“, stimmte ich Hannah zu. „Und wenn du ihn dafür abweisend behandeln musst, geht es wohl nicht anders.“

„Ich will nicht, dass er mich verlässt“, seufzte Noah.

„Das wissen wir“, sagte Hannah sanft und strich ihm über den Arm. „Aber er darf dich auch nicht behandeln wie er möchte. Eine Beziehung ist ein Geben und Nehmen und bisher hat er sich nur genommen. Es wird mal Zeit, dass du deinen Willen durchsetzt.“

„Tja, niemand kann eine so perfekte Beziehung haben wie du“, meinte Noah trotzig, doch mit einem scherzhaften Unterton. Hannah bekam sofort diesen verträumten Gesichtsausdruck, den ich von Alex kannte.
 

Bevor Julian versucht hatte sie zu vergewaltigen. Dass er dies tatsächlich versucht hatte, war mir erst Tage nach dem Ereignis bewusst geworden und ich wusste, dass eine Anzeige die richtige Art wäre damit umzugehen, aber dann war Alex dazu gezwungen vor Gericht auszusagen und das würde sie nicht tun. Ich kannte sie, sie war stur und ich hatte ihr versprochen niemandem davon zu erzählen und ich hielt meine Versprechen. Besonders die gegenüber meiner Schwester.
 

Denselben verträumten Gesichtsausdruck hatte Noah immer, wenn es um Fynn ging und nun saß er hier und jammerte darüber, dass seine Beziehung momentan alles andere als gut lief. Ich hatte selbst noch keine Erfahrung in der Liebe gemacht, aber wenn ich mir dies hier so anhörte, wollte ich vielleicht auch gar keine Beziehung...
 

„Dennis ist aber auch perfekt“, sagte Hannah und ich konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Die Beiden schauten mich an, beinahe vorwurfsvoll und ich wusste, dass ich mich besser zurück gehalten hätte. Ich presste die Lippen aufeinander, ehe ich mich zu erklären versuchte.

„Tut mir Leid, es ist nur... meine Schwester hat dasselbe von ihrem Exfreund gesagt und der war wirklich alles andere als perfekt und... niemand ist perfekt. Es gibt keine perfekten Menschen.“ Außer vielleicht Gaara.

„Dennis ist nicht perfekt“, sagte Hannah nun prompt.

„Eben hast du das Gegenteil behauptet.“

„Er ist nicht perfekt für dich und er ist nicht perfekt für Noah und nicht perfekt für irgendeinen anderen Menschen auf dieser Welt außer für mich. Für mich ist Dennis perfekt. Alles, was Leute an ihm auszusetzen haben, jeder Fehler, jede schlechte Charaktereigenschaft, die man bei ihm finden kann, machen ihn für mich zum perfekten Menschen, weil ich über seine Fehler hinwegsehe und nur ihn sehe, den kompletten Menschen. Meinen perfekten Menschen.“
 

Mein Mund stand ein wenig offen als Hannah geendet hatte. Ich war mir nicht sicher, ob das hochprozentiger Kitsch oder tiefgründigere Poesie war, irgendwie war es beides und irgendwie gefiel es mir.

„So geht es mir aber auch mit Fynn, ich kann ihm einfach alles verzeihen, egal wie verletzt ich bin“, klagte Noah und vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Wenn ich nur wüsste, dass ich es auch alleine schaffe, aber ich brauche ihn.“
 

Diese Worte versetzen mir einen Stich im Herzen, denn sie erinnerten mich an Dad. Ich brauche dich. Es war der einzige Satz, den ich ihm noch hätte sagen wollen bevor er gestorben war, doch die Möglichkeit war mir nicht geboten. Ich brauchte ihn so sehr und es war so hart gewesen ohne ihn leben zu müssen, aber es ging nicht anders. Es gab immer noch Tage und Nächte in denen es mich beinahe verrückt machte wie sehr ich ihn vermisste, aber irgendwie schaffte ich es trotzdem. Ich klappte meinen Mund auf und schloss ihn wieder. Einerseits wollte ich Noah diese Gedanken mitteilen, andererseits wollte ich es nicht. Es ist nicht dasselbe. Bei ihm ging es um Liebe, bei mir ging es... um meinen Vater... war das nicht Liebe, nur auf eine andere Weise?
 

„Ach egal, lenkt mich irgendwie ab“, sagte Noah und zog an der Shisha. „Erzähl Lukas von dem Hundeheim, Hannah. Wir könnten ihn demnächst mal mitholen.“

„Magst du Hunde?“, fragte Hannah und in mir kam eine Erinnerung hoch, die ich beinahe schon verdrängt hatte.

„Wir hatten mal einen Hund“, erinnerte ich mich. „Als ich noch klein war. Wir mussten ihn einschläfern als ich acht Jahre alt war, damals war das ganz furchtbar.“

„Das wäre mir heute noch furchtbar!“, sagte Hannah, die deutlich Mitleid in ihren blauen, kleinen Augen zeigte. „Ich habe einen Pudel namens Lucy und wenn sie eingeschläfert werden müsste -“

„Weltuntergang“, beendete Noah und reichte mir den Schlauch.

„Genau“, nickte Hannah zustimmend. „Aber wenn du Hunde magst, ist das schon einmal eine gute Voraussetzung. Es gibt außerhalb von Berlin, man muss da schon eine Weile hinfahren, einen Bauernhof auf dem auch ein Hundeheim ist. Dort kann man sich anmelden und die Hunde ausführen, sie füttern, mit ihnen spielen, solche Sachen eben. Dafür wird man nicht bezahlt, man hilft den Heimbesitzern einfach freiwillig, aber vorher müssen sie halt schauen, ob du ihnen überhaupt helfen darfst.“

„Aber die sind alle ganz nett, das sollte kein Problem sein“, sagte Noah überzeugt. „Hast du Lust da mal mitzukommen?“

„Wieso nicht.“ Ich zuckte die Schultern.
 

Ich hatte weder große Lust noch große Unlust zu diesem Hundeheim zu fahren. Vielleicht könnte es ganz lustig werden, momentan gingen mir jedoch Fynn und Noah nicht mehr aus dem Kopf. Ich fragte mich, warum Noah diese psychischen Probleme hatte. Vielleicht hatte es etwas mit der Trennung seiner Eltern zu tun... wenn ich mich recht erinnerte, hatte Noah bei dem Einkaufsbummel vor Weihnachten erzählt, dass er seiner Mutter seit Jahren keine Geschenke mehr kaufte. Ob sie ein ähnliches Verhältnis zueinander hatten wie Simon und seine Mutter?
 

Den Rest des Abends verbrachten wir mit Reden und irgendwann lief es auf das Thema Sex hinaus. Hannah erzählte schwärmerisch und gleichzeitig beschämt von einer Nacht in der Dennis ihr fünf Orgasmen beschert hatte. Bei der Zahl stutzte ich und danach war mir die Reaktion etwas peinlich, schließlich hatte ich keine Ahnung von Orgasmen. Aber Noah und Hannah hatten Ahnung. Der Junge sprach darüber als würde es sich um das Wetter handeln, total locker und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen und Hannah wurde immer etwas leiser, wenn sie ein schmutziges Wort benutzte als ob ihr jemand wütend sein könnte, wenn sie es aussprach. Irgendwie fand ich das an ihr beinahe niedlich. Sie war die Unschuld in Person. Aber sie hatte schon Sex gehabt und ich nicht.
 

Ich verschluckte mich am Rauch der Shisha als die Beiden anfingen über ihr erstes Mal zu sprechen. Ich hustete eine Weile und hörte nur halb wie Noah von seinem ersten Mal mit einem Mädchen erzählte.

„Es war so bescheuert und peinlich“, sagte er und lachte. „Sie war ne gute Freundin von meiner Schwester und ich bekam einfach keinen hoch, egal was sie gemacht hat. Eigentlich war es nicht wirklich mein erstes Mal gewesen, aber da habe ich schlussendlich gemerkt, dass ich schwul bin. Mein erstes Mal hatte ich dann mit Fynn... das macht die Probleme, die ich momentan mit ihm habe ehrlich gesagt nur noch komplizierter.“

„Mein erstes Mal hatte ich mit meinem Exfreund“, erzählte Hannah und nippte dabei an einer Cola. „Ich hatte Schiss wie sonst was, aber er ist echt sanft mit mir umgegangen. Es war trotzdem ne kurze und miese Beziehung.“

„Wenn du dir nen Kerl mit Drogenproblemen als deinen ersten Freund aussuchst, ist das auch kein Wunder“, lachte Noah und Hannah boxte ihm nicht sanft gegen den Oberarm. Der Junge zuckte heftiger zusammen als ich erwartete und zog die Luft scharf zwischen seinen Zähnen ein. Ich sah, dass Hannah ihn extrem skeptisch anblickte, während er sich mit schmerzerfülltem Gesichtsausdruck vorsichtig über den Oberarm stricht.
 

Dann war der seltsame Moment verflogen, den ich nicht mehr so richtig aus dem Kopf bekam und Hannah wandte sich neugierig mir zu.

„Und wie war dein erstes Mal?“

Ich verschluckte mich erneut am Shisha-Rauch, hustete eine Weile mit Tränen in den Augen und breitete dann entschuldigend die Arme aus.

„Ehm super?“, begann ich und wurde knallrot. Auf Noahs Lippen schlich sie ein freches Grinsen und er packte mich mit beiden Händen am Arm bevor er sagte: „Lukas, du bist noch Jungfrau!“

„Ich – hm -“ Darüber zu lügen war ziemlich dämlich, deswegen presste ich bloß die Lippen aufeinander und schaute zu, wie Hannah und Noah sich an kicherten als hätten sie einen Hundewelpen vor sich sitzen.
 

„Vergeude dein erstes Mal bloß nicht an irgendwen“, sagte Noah schließlich.

„Ja, an keinen drogenabhängigen Idioten mit dem du nach einem Monat wieder Schluss machst und der dann droht sich umzubringen, wenn du nicht wieder mit ihm zusammen kommst“, stimmte Hannah entschieden zu.

„Können wir vielleicht über etwas anderes reden?“, fragte ich bedrückt.

„Ist es dir peinlich?“, fragte Noah überrascht. „Es ist nicht schlimm mit 17 noch Jungfrau zu sein. Meine Schwester ist auch noch Jungfrau und es ist ihr nicht schlimm.“

„Ich war auch schon 17 als ich entjungfert wurde“, sagte Hannah und das beruhigte mich nun tatsächlich ein wenig. Trotzdem wollte ich nicht weiter darüber sprechen.
 

Es war schon drei Uhr nachts als Hannah sich in ihr Zimmer schlafen legen wollte. Sie bezog das Gästezimmer jedes Mal wenn sie hier war und Noah versuchte mich dazu zu überreden ebenfalls hier zu übernachten, doch ich wollte lieber nach Hause.

„Um diese Uhrzeit ist das aber eher gefährlich“, sagte Noah sorgenvoll als ich meine Schuhe anzog.

„Mir wird schon nichts passieren.“

„Ich begleite dich noch bis zur Straßenbahn“, entschied Noah und ich konnte ihn nicht dazu überreden es nicht zu tun. Gemeinsam gingen wir den langen Weg herunter und sprachen dabei wieder über Fynn.
 

In Nordrhein-Westfalen hätte ich bei Noah übernachten müssen. Dort wo ich herkam fuhren die Busse und Züge nachts nicht mehr, doch hier in Berlin fuhren an den Wochenenden die Straßenbahnen jede halbe Stunde. Es dauerte also nicht lange bis die Bahn kam und wir uns voneinander verabschiedeten.

„Halt mich mit Fynn auf dem Laufenden“, bat ich als ich einstieg und Noah sagte: „Ja, mache ich. Wir sehen uns Montag im Unterricht!“
 

Als die Tür zuging und sich die Bahn in Bewegung setzte, spürte ich etwas Ungewohntes: Vorfreude auf die Schule.

Ein Neuanfang

Mein Stundenplan hatte sich nicht geändert, nur bekam ich am schwarzen Brett eine neue, herausragend tolle Nachricht: Die Physikkurse waren wieder getrennt. Was nichts anderes bedeutete als, dass ich die Idioten im Unterricht endgültig los war. So hatte ich am Montag wieder die erste Stunde frei und ging danach in eine Stunde Erdkunde. Seltsamerweise war ich wirklich aufgeregt und irgendwie hatte ich auch Angst. Erst als ich in die Gesichter meiner neuen Mitschüler blickte, wurde mir bewusst, dass ich Angst hatte in dieser Stufe neue Idioten zu treffen. Neue Schüler, die mich mobben wollten, doch bevor ich diesem Gedanken so viel Konzentration widmen konnte, dass mein Herz schneller schlug, erkannte ich Gaara, dessen grün-braune Augen meinen Blick trafen. Ich hatte das Gefühl rot werden zu müssen, weshalb ich schnell weg schaute und Gaara sprang von seinem Platz auf und bat mir an mich neben ihn zu setzen.
 

Ich lächelte ein wenig schüchtern und wollte laut sagen: „Danke“, aber ich bekam nur irgendein Piepsen hervor, weil es mich so glücklich machte, dass Gaara mich darum bat, dass ich mich neben ihn setzte. Der Lehrer war bereits am Pult und packte seine Sachen aus. Eine Minute nachdem es geklingelt hatte und der Lehrer der Klasse erklärte, dass sie ab sofort einen neuen Mitschüler haben würden, ging die Tür zum Raum auf und ein Junge mit einer Kappe auf dem Kopf und einem kantigen, flachen Gesicht trat ein.
 

Obwohl draußen noch Schnee lag, war er braun gebrannt. Er hatte mandelförmige Augen, war ungefähr so groß wie ich, dafür jedoch viel männlicher und breiter gebaut. Lässig kam er herein geschlendert und unterbrach den Lehrer ohne jegliche Spur von Scham.

„Sorry für die Verspätung“, sagte er und warf einen kurzen Blick auf die Uhr neben der Tafel. „Ach, zwei Minuten, das ist ja kaum ne Verspätung.“

„Für deine Verhältnisse“, seufzte der Lehrer. Die meisten Schüler lachten und der Junge ging geradewegs auf die Reihe zu, in der ich zwischen Wand und Gaara saß. Erst als er direkt vor uns stand, schien ich ihm aufzufallen.
 

„Eh, was geht ab?“, deutete er auf mich. „Wer ist das denn?“

„Unser neuer Schüler“, erklärte der Lehrer. „Würdest du dich bitte setzen.“

„Der sitzt auf meinem Platz“, empörte sich der Junge und Gaara erwiderte: „Nein, er sitzt auf seinem Platz.“

„Wer behauptet das ist sein Platz?“

„Ich behaupte das ist sein Platz.“

„Du bist ein Vollhorst, Gaara“, motzte der Junge, bekam danach jedoch ein breites Grinsen auf die Lippen. Wieder lachten die Schüler und auf meine Lippen quälte sich ein nervöses Lächeln. Ich wollte mich nicht umsetzen, ich wollte hier in direkter Nähe bei Gaara sitzen. Ich saß gerne neben ihm und er war es gewesen, der mich hierher gesetzt hatte. Andererseits wollte ich es mir auch nicht gleich am ersten Tag mit einem meiner neuen Mitschüler vermiesen und es war unhöflich jemandem seinen Platz wegzunehmen...
 

„Ich kann mich auch umsetzen“, sagte ich leise und hätte mich dafür schlagen können.

„Nein, bleib sitzen“, winkte der Junge ab. „Wie heißt'n du eigentlich?“

„Könntet ihr das bitte in der Pause klären“, seufzte der Lehrer ehe ich antworten konnte und rieb sich die Schläfe. „Florian -“

„Nicht Florian“, fuhr ihn der Junge abrupt an und einige in der Klasse zogen scharf die Luft zwischen den Zähnen ein als hätte der Lehrer etwas sehr Schlimmes getan. Während er zu einem anderen Platz weiter hinten ging, sagte er noch immer mir zu gewandt: „Nenn mich bloß niemals Florian.“

„Er heißt Florian Schiffmann“, erklärte Gaara mir und jeder in der Klasse hörte es. „Und alle nennen ihn Schifti.“

„Und wenn du mich anders nennst, haben wir ein Problem miteinander“, sagte Schifti feierlich und suchte sich einen Platz aus neben dem links ein leerer Stuhl stand, damit er seine Füße hochlegen konnte.
 

Äußert genervt fuhr der Lehrer mit dem Unterricht fort und Schifti stellte sich als eine Art Klassenclown heraus und dabei war er wirklich witzig. Albern, aber witzig und unverschämt. Manche seiner Kommentare waren hart an der Grenze, ebenso fand ich es nicht gut, dass er den Lehrer mit dem Vornamen ansprach. In der Oberstufe mussten die Schüler zwar die Lehrer nicht mehr siezen, es war jedoch eine Form der Höflichkeit und außerdem war es nach zehn Jahren Schule schon so drin, dass einfach jeder die Lehrer weiterhin siezte. Abgesehen von Schifti.
 

Nach Erdkunde folgte eine Stunde Mathematik mit Kaito, Sam und Noah und sie stellten sich als der Haufen untalentierterster Mathematiker aller Zeiten heraus. Im Allgemeinen waren sie ein unglaublich schlechter Mathematik – Grundkurs und der Lehrer sah aus als würde er auf Wolke Sieben schweben als ich alle seine Aufgaben fehlerlos richtig machte. Als wir nach der Stunde zum nächsten Raum gingen, sagte Sam scherzhaft: „Mir scheint, du hast einen neuen Verehrer, Bambi. Herr Jakobs sah aus als wollte er dich am liebsten knutschen.“
 

„Was heißt hier neu“, grinste ich während Noah und Kaito lachten. „Der wäre mein erster Verehrer.“

Da warfen sich die Drei gegenseitig schiefe Blicke zu und Sam sagte: „Ach, wenn du wüsstest, Bambi.“

Natürlich konnte ich diesen Satz nicht mehr vergessen und ich nervte Samantha den gesamten Weg über und als wir mit der Gruppenarbeit in Physik anfingen, machte ich nur noch weiter. Als ich sagte „Das hat sich fast so angehört als hätte ich schon einen Verehrer“, machte Sam ein erschrockenes Gesicht und Gaara ließ die Glühbirne fallen, die er gerade Noah reichen wollte. Das Glas zersprang und vor Schreck stieß Kaito aus Versehen den Kasten mit den Utensilien um, die sich lärmend auf dem Boden verteilten. Direkt vor Noahs Füße, der mit einem Satz auswich und dabei beinahe einen anderen Mitschüler umgeworfen hätte.
 

Als das Chaos endlich verebbte, krächzte Noah auf Gaara deutend: „Das sehe ich als einen Anschlag!“

„Was sollte das, Mann“, beklagte sich Kaito, der heute wieder schlimm aussah mit den dunklen Augenringen und dem blassen Gesicht. Er zupfte ein paar Splitter der Glühbirne aus dem Ärmel seiner weiten Stoffjacke.

„Die ist mir aus der Hand gerutscht“, behauptete Gaara schnell und wandte sich dann Samantha und mir zu. „Lukas hat einen Verehrer?“ Gaara machte ein komisches Gesicht und grinste dabei schief. Irgendwie fand ich diesen Ausdruck seltsam, besonders weil ich ihn beim besten Willen nicht zuordnen konnte.

„Unseren Mathelehrer“, antwortete Samantha prompt.

„Ich habe gesagt er wäre mein erster Verehrer und sie hat gesagt 'Wenn du nur wüsstest'“, erzählte ich und in dem Blick den Sam mir schenkte lag etwas wie Wut. Sollte Gaara das nicht wissen? Ich fühlte mich plötzlich schuldig, dass ich ihm die Sache erzählt hatte.
 

„Ach so“, sagte Gaara angebunden. „Okay, davon weiß ich nichts.“

Wir räumten gemeinsam die Utensilien wieder weg und Kaito wischte mit einem Handkehrer die Glassplitter auf. Gaara besorgte uns eine neue Glühbirne. Ich hatte das Gefühl wir machten seit Monaten immer nur dasselbe Experiment mit denselben Aufgaben bloß anders formuliert und kamen nie weiter. Eigentlich hatte ich Physik immer gemocht, aber mittlerweile war der Unterricht nahezu langweilig geworden. Ich war froh, dass ich hier Leute zum Reden hatte und noch glücklicher darüber, dass ich heute noch keinen Idioten zu Gesicht bekommen hatte.
 

In der Pause war Gaara nicht mehr so redselig und zwischendurch entführte er kurz Samantha. Ich fand einen geeigneten Moment in dem ich Noah in aller Ruhe und ohne neugierige Zuhörer nach Fynn fragen konnte. Mir fiel auf, dass Noah heute nicht bunt und... nun ja... schwul aussah. Er trug eine ziemlich coole, lockere Jeans, seine Lieblingsstiefel und einen dicken Schal, durch welchen er noch kleiner und zierlicher wirkte. Das Outfit gefiel mir um einiges besser wie seine komischen Leggins, die er immer mal wieder trug.
 

„Ach das hat sich schon irgendwie wieder geklärt“, winkte Noah ab.

„Du bist heute viel weniger am Handy wie sonst“, stellte ich fest, der Junge schaute mich düster an.

„Dir entgeht nichts oder?“

„Nein.“ Mir war auch nicht entgegen, dass Noah nicht trällerte, nicht jeden umarmte, der ihm in den Weg kam und nicht über alles lachte, was in irgendeiner Weise lustig war. Mir war nicht entgangen, dass er ständig nervös mit seinem Fuß wippte und die Finger zitterten, aber darauf wollte ich ihn nicht ansprechen. Er sollte sich nicht allzu sehr konfrontiert vorkommen.
 

„Ist es dir nicht unangenehm Leute auf Probleme oder so etwas anzusprechen?“, fragte Noah ehrlich zweifelnd. „Die meisten Leute hassen es.“

„Ich kann es auch nicht unbedingt leiden“, gab ich zu. „Aber noch weniger mag ich es, wenn ich sehe, dass es Leuten, die ich mag, schlecht geht. Wenn sie nicht darüber reden, macht es das nicht besser. Wenn sie so tun als wäre alles super, macht das gar nichts besser. Dann zwinge ich sie eben mir die Wahrheit zu sagen. Bei meinem besten Freund musste ich das immer machen und dafür konnte er mich manchmal hassen.“

„Dein bester Freund kann sich echt glücklich schätzen“, sagte Noah murmelnd. „Du bist ein guter Freund.“

Ich hätte für diese Anmerkung rot werden können und spürte eine angenehme Zufriedenheit. Bisher hatte mir nie jemand gesagt, dass ich ein guter Freund war.
 

„Na schön.“ Noah seufzte. „Wir haben uns Sonntag wieder gestritten, dann hat Fynn gemeint er fährt jetzt nach Hause und er braucht mal ne Auszeit von mir, damit er nicht mehr wütend auf mich ist. Er hat gesagt, wenn er wütend wird, würde er manchmal Dinge sagen oder tun, die er danach total bereut und, die Leute verletzen können, die ihm wichtig sind. Er will mich nicht verletzen, also will er eine kurze Auszeit. Nicht mehr als eine Woche, eine Woche allerhöchstens, hat er gesagt und mir einen Kuss gegeben. Und genau das ist der Grund aus dem ich niemals mit ihm Schluss machen kann.“

„Entweder ist er doch ein guter fester Freund“, sagte ich langsam. „Oder er hat dich um den kleinen Finger gewickelt und weiß genau, was er tun und sagen muss, um dich zu manipulieren.“

„Du kennst ihn nicht!“, fuhr mich Noah nun wütend an und ich zuckte bei dieser Reaktion erschrocken zusammen.
 

Vermutlich sah er mir an, wie Leid mir meine Aussage tat und wie erschrocken und ängstlich ich für einen Moment tatsächlich war. Ängstlich, weil Noah und ich in einer Phase waren in der wir uns gut miteinander anfreunden und ich es auf gar keinen Fall kaputt machen wollte. Jedenfalls sagte Noah sofort nach seinem Ausbruch: „Tut mir Leid, das war zu heftig.“

„Mir tut es Leid, ich hätte das nicht über ihn sagen sollen“, meinte ich und beließ es dabei. Ich versuchte mich gar nicht erst zu erklären, das könnte in einem Streit enden. Hätte ich mich am Wochenende nicht mit Hannah unterhalten, wäre ich gar nicht erst auf die Idee gekommen, dass Fynn vielleicht ein Arschloch sein könnte. Und Julian war auch nicht ganz unschuldig. Obwohl ich ihn nie gemocht hatte, hätte ich ihm niemals zugetraut meiner Schwester so etwas Schlimmes anzutun. Vielleicht sah ich seit diesem Erlebnis überall Gespenster.
 

Noah und ich sprachen uns etwas aus. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er mir meinen Kommentar ganz verziehen hatte, doch zumindest nahmen wir gegenseitig die Entschuldigungen an und er bedankte sich bei mir, dass ich ihm weiterhin bei seinem Beziehungsproblem half.
 

Nun war eine Doppelstunde Deutsch an der Reihe. Ein halbes Jahr lang eine Höllentour dank der Idioten, doch nun saß ich neben Noah und neben ihm saß Kaito und niemand sagte auch nur ein dummes Wort gegen mich. Gleich am Anfang der Stunde fragte Noah Kaito, was wir Gaara eigentlich zum Geburtstag mitbringen sollten und es traf mich wie ein Schlag, dass ich noch kein Geschenk hatte. Ich bekam beinahe Panik. Was um Himmels Willen sollte ich Gaara schenken?!
 

„Bringt einfach Alkohol mit“, zuckte Kaito die Schultern. „Alkohol und Drogen, Gaara sind materielle Besitztümer nicht wichtig. Ihm ist es wichtiger, dass die Party gut wird und alle Spaß haben. Tolle Erlebnisse, davon hat er mehr wie von irgendwas Materiellem.“

„Bist du derselben Meinung?“, fragte ich, einfach weil ich von Kaito noch so gut wie nichts wusste, außer dass er ständig trank und Drogen nahm. Er grinste mich schief an und fuhr sich mit der Hand über den kahl geschorenen Kopf und die weiße Narbe, die sich von seinem Kopf bis auf seine Stirn schlängelte. Woher die kam interessierte mich ebenfalls...
 

„Gaara hat es einfach so zu denken, seine Eltern verdienen ein scheiß Geld.“ Kaito lachte dieses Lachen, das ich nur von ihm kannte. Es war nicht wirklich fröhlich, aber auch nicht aufgesetzt. Es schien nicht spontan zu kommen, mehr so als würde sich Kaito vorher überlegen, dass er jetzt lachen sollte. Einen Augenblick lang dachte ich er wäre genauso ein Lügner wie Noah, jemand der tat als ginge es ihm gut, obwohl es nicht der Fall war, aber so war es auch nicht. Kaito war seltsam. Ich verstand den Jungen einfach nicht.
 

„Meine Mum verdient nicht so viel Geld“, sagte Kaito. „Wenn ich was geschenkt bekomme, ist es was besonderes für mich, weil wir es uns normalerweise nicht leisten können. Alles, was du Gaara kaufen könntest, bekommt er mit einem Fingerschnippen von seinen Eltern gekauft. Darum bring einfach gute Laune mit. Du selbst reichst schon aus, um Gaara eine Freude zu bereiten.“

Ich sah, dass Noah Kaito mit dem Ellenbogen einen Stoß in die Rippen gab und der Russe lachte beinahe hämisch. Unauffällig bedeckte ich ein wenig mein Gesicht, denn ich war wieder rot angelaufen und außerdem hatte ich ein breites Grinsen auf den Lippen.
 

Verehrer. Ich hatte einen, das hatte Sam mir verraten und wenn ich mir das alles hier zusammen reimte, schien Gaara dieser Verehrer zu sein. Wenn es wirklich stimmte... aber das konnte es nicht. Ich hatte kein Glück. In meinem Leben ging es seit fast einem Jahr nur bergab und wenn es besser wurde, wurde es kurz danach wieder schlechter oder hatte ich die schlimmste Phase endlich überwunden? Ging es nun wieder bergauf? Wenn ja, dann war Gaara das beste Zeichen dafür. Mein Verehrer...
 

Mein männlicher Verehrer.
 

„Lukas, wie wäre es mit dir?“ Ich hatte schon fast vergessen, dass wir im Unterricht saßen und schaute die Lehrerin überrascht an als hätte ich sie just in diesem Moment zum ersten Mal gesehen. Sie war klein und hatte kurze, schwarze Haare und ihre Augen blickten mich unter ihrer Brille vorwurfsvoll an. „Erster Tag und schon am schlafen?“
 

Ein paar Schüler lachten und ich blickte bedrückt auf die Tischplatte. Bitte, sie durfte mich nicht vor der Klasse blamieren, nicht an meinem ersten Tag, nicht als ich gerade so glücklich war.

„Mach mal bitte die Kapuze von deinem Kopf“, verlangte die Lehrerin und ich reagierte sofort. „Und nun stelle ich die Frage noch einmal, weil du sie sehr wahrscheinlich nicht gehört hast: Was ist Onomatopoesie?“

„Lautmalerei“, antwortete ich sofort. Sie schien überrascht, dass ich die Antwort wusste.

„Was ist Lautmalerei?“, hakte sie weiter.

„Wörter wie 'klirren', 'krachen' und 'zischen'“, erklärte ich in meinem Gedächtnis wühlend. Vor gefühlten Ewigkeiten hatten wir das mal in der zehnten Klasse durchgenommen, ich war von mir selbst überrascht, dass ich mich daran noch erinnern konnte.
 

„Und was machst du mit diesen Wörtern?“, fragte die Lehrerin und nun war ich mit meinem Latein am Ende. Ich überlegte ein paar Sekunden, dann fragte ich vorsichtig: „Ich onomatopoesiere sie?“

Die Klasse lachte und auch die Lehrerin wurde nun lockerer und lachte mit.

„Nein, nicht ganz“, sagte sie und begann die richtige Antwort zu erklären, doch ich beachtete sie nicht mehr. Die Schüler hatten mich nicht ausgelacht, nicht darüber gelacht, dass mich jemand total blamiert hatte, hatten sich kein dummes Foto von mir angeschaut und darüber gelacht, nein, sie fanden das was ich gesagt hatte lustig. In diesem Moment war es das beste Gefühl überhaupt.

Hausparty Deluxe

Noah fehlte den Rest der Woche. Als ich ihm schrieb warum, antwortete er bloß, dass er krank war. Freitags blieb er ebenfalls zuhause und ich schrieb ihm eine SMS mit der Frage, ob er denn noch zu Gaaras Geburtstag kam und er antwortete schlicht: „Ich weiß es nicht.“ Auf meine Anrufe reagierte er nicht, deswegen ließ ich ihn erst einmal in Ruhe und war insgeheim aufgeregt.
 

Der Samstag konnte mir nicht schnell genug umgehen. Von Mum bekam ich eine Flasche Jack Daniels in die Hand gedrückt und Alex machte die ganze Zeit über Scherze, dass es meine erste Party war und nannte mich 'Partyjungfrau'.

„Du bist heute sehr nervig“, sagte ich irgendwann und meinte es vollkommen ernst.

„Morgen bist du ja keine Partyjungfrau mehr, dann höre ich auf“, grinste Alex schief.
 

Irgendwann verkroch ich mich in meinem Zimmer und beschloss, dass ich nicht genug Klamotten in meinem Kleiderschrank hatte. Nichts davon wollte mir wirklich gefallen und ich zog mich so oft um, dass ich nicht mehr sagen konnte wie oft. Am Ende trug ich wieder diese enge, schwarze Jeans und darüber einen grauen Pullover mit weitem Kragen und eine Lederjacke. Selbstverständlich durfte die neue Mütze von Alex nicht fehlen. Erst als ich das Haus mit Jackie in der Hand verließ, fiel mir auf, dass ich exakt dasselbe Outfit an dem Tag trug, an dem Gaara und ich uns kennen gelernt hatten. Warum mir das einfiel, wusste ich nicht, aber irgendwie hielt ich es für ein gutes Zeichen... für was auch immer.
 

Ich ging bis zu dem See, wo Kaito mich abholen würde. Nach nur wenigen Minuten tauchte ein dunkelgraues, kleines Auto neben mir auf und ich konnte Kaito hinter den geschlossenen Fenster erkennen. Schnell öffnete ich die hintere Tür und stieg zu zwei anderen Jugendlichen, die bereits auf ihren Plätzen saßen. Einer von ihnen war Schifti und den Anderen kannte ich ebenfalls aus der Stufe. Er hieß auch Florian, hatte jedoch keinen Spitznamen. Sie begrüßten mich, Kaito begrüßte mich und seine Schwester, die das Auto fuhr und von der ich ziemlich überrascht war.
 

Während der Fahrt nannte Kaito sie Aljona. Aljona sah ganz anders aus wie Kaito, ich konnte mich erinnern, dass Gaara gesagt hatte sie wäre Kaitos Halbschwester. Aber selbst Halbgeschwister sahen sich irgendwo ähnlich. Aljona hatte jedoch eine dunklere Haut. Ich vermutete ein Elternteil war Weißer und der Andere Schwarzer, anders konnte ich mir ihre Hautfarbe nicht erklären. Ihre Haare waren schwarz, lang und dick und ihr Gesichter flach und hübsch. Niemand würde jemals glauben die Beiden könnten miteinander verwandt. Nur ihre Augen waren gleich, wie mir auffiel. Sie hatten diesen unvergleichbaren Ausdruck...
 

„Dein Mitbringsel ist übrigens super“, ließ Kaito verlauten und schaute dabei über den Sitz zu mir nach hinten. „Gaara liebt Jackie.“

Neben mir gab es ein klirrendes Geräusch und Schifti verteilte Shotgläser, die er in einem Rucksack mit hatte, danach packte eine Flasche Jägermeister aus.

„Wir trinken uns schon mal an“, meinte er mit einem breiten Grinsen. Er trug eine Winterjacke über seinen breiten Schultern und eine Sonnenbrille auf seiner flachen Nase. Sie passte zu seiner braungebrannten Haut, nur wunderte ich mich, dass er überhaupt etwas sah.

„Wehe ihr verschüttet etwas!“, mahnte Aljona ohne den russischen Akzent, den ihr kleiner Bruder besaß.
 

Schifti schenkte jedem ein und wir stießen an. Ich zögerte noch, während die anderen Drei ihre Shots kippten. Florian schüttelte es danach.

„Kräuterzeug“, zischte er. Seine Augenringe waren fast so schlimm wie die von Kaito. Er trug immer eine Kappe, auch im Unterricht und hatte braune Augen und blasse Haut. Bisher kam er mir immer sehr zurückhaltend und freundlich vor.

„Trink, Lukas“, forderte Schifti.

„Okay“, sagte ich unsicher und wusste selbst nicht, warum ich nicht trinken wollte. Ich kippte den Shot und der Alkohol stieg mir sofort in den Kopf. Er machte mich ein wenig benommen.
 

Vielleicht wollte ich nicht trinken, weil ich Angst vor einem ähnlichen Dilemma wie in der Hasch-Nacht hatte. Im letzten dreiviertel Jahr hatte ich mir selbst einige Male bewiesen, dass ich zu Panikattacken und Zusammenbrüchen neigte und Alkohol machte dies nicht unbedingt besser. Dann ging mir die Sache mit den Drogen auf der Party nicht mehr aus dem Kopf und ich traute es Schifti zu, dass er Ecstasy in Alkoholflaschen warf. Und ich wollte nicht kotzen, wollte nicht früher heim, weil es mir schlecht ging, bewusstlos werden oder mich zum totalen Trottel vor Gaara machen. Doch wenn ich trank, wurde ich lockerer, konnte einfacher reden, tanzen und sicher auch besser mit Gaara umgehen.
 

Bei dem Gedanken ans Tanzen fiel mir Noah wieder ein und ich fragte in die Runde, die gerade den zweiten Gang von Schifti ausgeteilt bekam: „Was ist eigentlich mit Noah?“

„Was soll mit dem sein?“, fragte Florian, der seinen zweiten Shot verbittert anschaute.

„Er sagte er wüsste nicht, ob er kommt“, antwortete ich, doch mein Blick lag auf Kaito, der ziemlich ernst geworden war.

„Er hat mir geschrieben, er kommt ein wenig später“, sagte dieser und fügte dann finster hinzu: „Mit Fynn.“

„Klingt nicht so, als ob du den leiden könntest“, lachte Schifti und schüttete mir Jägermeister ein. Er hielt sein eigenes Glas hoch, damit wir alle anstießen und tranken die zweite Runde aus.

„Geht so“, gab Kaito schulterzuckend zu.

„Warum denn?“, fragte ich mit gerunzelter Stirn und er meinte: „Darüber können wir wann anders reden, das ist alles zu lang zum Erklären.“
 

Nach zwei weiteren Runde waren meine zweifelnden Gedanken beinahe wie weggewischt und ich wollte nur noch feiern und mit Noah tanzen wie wir es im Dreams getan hatten. Aljona hielt in einer Straße an, in der – wie bei Noah – nur große und tolle Häuser standen. Wie bedankten uns bei ihr und sie sagte Kaito noch etwas leiser: „Und du darfst sie nicht so ernst nehmen, das weißt du.“

„Das ist nur nicht so einfach“, murmelte Kaito. Sie lächelte matt, die Beiden verabschiedeten sich und ich hätte fast gefragt, wenn sie mit 'sie' meinte, dann jedoch sah ich Kaitos finsteren Blick als er merkte, dass ich zugehört hatte und ich ließ es lieber bleiben. Es ging mich schließlich auch nichts an.
 

Wir gingen eine Einfahrt hoch zu einem Haus, das Noahs in nichts nachstand. Gedämpft ertönte Musik, vom Garten her hörte man Stimmen, ebenso wie aus dem Haus. Da es bereits dunkel war, leuchteten in fast allen Fenstern Lichter. Wir brauchten nicht zu klingeln, die Tür konnte einfach geöffnet werden und kaum waren wir eingetreten, wurden wir vom Lärm unzähliger Jugendlicher überrumpelt. Ein starker Geruch von Shisha und Marihuana lag in der Luft, Gläserklirren ertönte und Musik dröhnte aus großen Boxen, die im Wohnzimmer standen.
 

Wenn man eintrat, stand man in einem riesigen Raum, der Wohnzimmer, Esszimmer und Küche gleichzeitig war, wobei man die Küche noch über eine Treppenstufe erreichen konnte. Eine Art Theke stand dort, direkt neben der Küchenzeile und zwei Mädchen mixten Cocktails und teilten sich dabei einen Joint. Es sah aus als hätten sie einen riesigen Spaß an der Arbeit. Ich war erstaunt darüber wie viele Leute hier herum liefen und saßen, doch scheinbar war ich dabei der Einzige.
 

Weder Kaito noch Schifti noch Florian zeigten Überraschung. Ich kannte kaum jemanden von den Partygästen und fühlte mich plötzlich fehl am Platz. Ich vermisste Simon, Genesis und Lynn. Mit ihnen würde ich mich auf keinen Fall so unsicher und einsam fühlen. Es dauerte nicht lange, da hatten die Gäste uns entdeckt und viele hoben grölend die Arme um Schifti zu empfangen. Andere begrüßten Kaito und drückten ihm auch sogleich eine Flasche Bier in die Hände und Florian traf Mädchen aus unserer Stufe mit denen ich bisher kaum ein Wort gewechselt hatte.
 

Und plötzlich war ich alleine auf der Party und wusste nicht, was ich tun sollte. Wenn doch nur wenigstens Noah hier wäre. Gerade wollte ich schon mein Handy raus holen und ihm eine Nachricht schreiben, da kam mir Samantha entgegen gerauscht.

„Hey Bambi, wie geht’s?“, begrüßte sie mich und umarmte mich sogar. Ich war ihr so dankbar, dass ich glücklich lächelte und wahrheitsgemäß antwortete.

„Ganz gut, nur fühle ich mich ein wenig alleine, weil ich kaum jemanden kenne.“

„Mit ein bisschen Alkohol wird das schon“, winkte Sam Augenzwinkernd ab. „Ich habe bisher noch nichts getrunken, weil es noch so früh ist, aber wollen wir gleich mal einen Cocktail trinken. Die Zwei mixen die echt gut.“

„Können wir machen“, sagte ich und dann wurde ich so leise wie der Lärm es mir erlaubte: „Lass mich nur nicht alleine, ich hasse es mich unsicher zu fühlen.“

„Mache ich nicht“, grinste Sam und wuschelte mir durch die Haare. „Ich lass mein Bambi nicht alleine im Wald stehen. Komm, wir gehen mal zu Gaara.“
 

Gaara saß in einem etwas kleineres Raum, der voll gestellt war mit Sitzsäcken und kleinen Couchs. Es gab fünf große Shishas um die Leute herum saßen und die Luft war dick, rauchig und roch beinahe süßlich. An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift „Shisha-Lounge“, aber ich erkannte auch ein paar Bongs zwischen den Sitzsäcken, die bisher noch keiner benutzt hatte. In der hintersten Ecke saß Gaara in einer großen Runde. Ich wurde von dem Rauch ganz benommen, besonders in Kombination mit dem Jägermeister, den ich bereits getrunken hatte. Als Gaara uns erblickte, blies er gerade den weißen Rauch aus und sein Gesicht wurde davon eingehüllt, trotzdem konnte ich das verwegene Grinsen erkennen, das sich auf seine Lippen schlich.
 

Dieses Grinsen, das ich so sehr an ihm mochte und mir wurde ganz warm im Bauch, wenn er mich so anschaute. Er reichte den Schlauch an jemanden weiter und stand auf. Samantha ließ sich auf einen freien Platz fallen. Ein paar der Leute im Kreis grölten als sie meinen Jack Daniels sahen und jemand rief: „Der kommt ja wie gerufen!“ Ehe ich die Flasche Gaara überreichen konnte, hatte sie mir jemand aus der Hand gerissen, die Leute lachten und Gaara umarmte mich zur Begrüßung.
 

Es dauerte nicht lange, vielleicht nur zwei Sekunden, ich hatte nicht einmal Zeit darüber nachzudenken wie seltsam es war, dass sich zwei Jungen zur Begrüßung umarmten, doch ich genoss diesen kurzen Moment. Wie es sich anfühlte von ihm berührt zu werden, mein Körper brannte so süß und als wir für den noch kürzeren Moment danach mit den Gesichtern nur wenige Millimeter voneinander entfernt waren, starrte ich seine schmalen, blutleeren Lippen an und wollte sie am liebsten küssen. Dann war der Moment verflogen und ich blieb mit einem Kribbeln im Bauch zurück.
 

Gaara wies mich an mich neben ihm zu setzen, was ich auch sogleich tat. Nach nur wenigen Minuten in denen ich die Anderen kennen lernte und mit ihnen Shisha rauchte, kamen Kaito und Florian hinzu. Irgendwann wurde unsere Runde kleiner. Gaara und ich teilten uns immer noch einen Sitzsack, obwohl mittlerweile genug Platz war und ständig berührten sich unsere Knie und Arme und jedes Mal bekam ich davon eine wohltuende Gänsehaut.
 

Samantha beanspruchte einen Sitzsack für sich, obwohl sie so schlank war und hatte es geschafft irgendeinen mir unbekannten Kerl dazu zu bringen ihr einen Cocktail zu bringen, den sie nun glücklich schlürfte. Besagter Kerl drückte sich irgendwo weiter hinten im Raum herum und warf ständig Blicke zu Samantha, mit denen er jede Faser ihres schönen Körpers aufsaugte, der heute durch ihre Klamotten wunderbar zur Geltung kam. Anscheinend hoffte er darauf heute bei ihr zu landen, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass es irgendein Kerl lange mit Samantha überleben könnte. Sie war einfach zu selbstbewusst, zu taff, zu dominant.
 

Kaito trank Jack Daniels und bereitete nebenbei eine Bong vor, Florian saß daneben und unterhielt sich mit Marc, einem Jungen, den Gaara aus der Nachbarschaft kannte. Er war älter als der Rest von uns, vielleicht 21 und trug ein kurzärmeliges Shirt bei dem man seine tätowierten Oberarme erkennen konnte. Sein Kiefer wurde von einem dichten braunen Bart geziert und er trug eine lockere Wollmütze über dem Haarschopf, die hinten ein wenig herunter hing. Auch er trank gut mit.
 

Wir unterhielten uns gerade ein wenig über Filme, die demnächst im Kino kamen und Gaara deutete an, dass ich doch mit ihnen in eine Vorstellung kommen könnte, da begann Marc schallend zu lachen und prustete: „Florian, du willst studieren? Nichts für ungut, aber du schaffst dein Abi nicht einmal.“

„Wieso sollte ich nicht?“, empörte sich Florian.

„Weil du's nicht kannst, darauf wette ich“, zuckte Marc die Schultern und Florian presste missbilligend die Lippen aufeinander. Zuerst dachte ich jetzt wird es Streit geben, doch Florian nahm es mit Humor: „Ganz ehrlich, Marc, und du schimpfst dich Bro?“

„Jap“, nickte Marc knapp und Gaara meinte schief grinsend: „Irgendwie muss er ja von seiner eigenen Inkompetenz ablenken.“

„Good one!“ sagte Florian und schlug mit Gaara ein, während wir anderen lachten. Auch Marc lachte, doch dann behauptete er: „Ich kenne diese Inkompetenz nicht.“
 

„Diese Inkompetenz?“, fragte Schifti, der wie aus dem nichts bei uns auftauchte. Er war bereits angetrunken und grinste über beide Gesichtshälften. Laut verkündete er dem gesamten Raum: „Marc hat sich gerade als Frau und als die Verkörperung der Inkompetenz bezeichnet!“

„Das ist nicht richtig“, widersprach Marc und Sam boxte Schifti nicht sanft gegen das Bein.

„Doch ist es“, erwiderte Schifti. „Du hast mit 'diese' aus dem Wort Inkompetenz eine Person gemacht, die in dem Fall weiblich ist und da es um dich geht, bist du dann die Dame Inkompetenz.“
 

„Genus ungleich Sexus“, schaltete ich mich rein ehe ich darüber nachdenken konnte. Sofort blickten mich alle an und aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass Gaara wieder dieses Grinsen auf den Lippen hatte.

„Kannst du das genauer erläutern?“, fragte Schifti ehrlich interessiert.

„Das grammatikalische Geschlecht lässt keine Rückschlüsse auf das physische Geschlecht. Und jetzt gebt euch wieder die Hand und habt euch lieb“, erklärte ich dumpf, die Runde lachte und Schifti kam halb über die Shisha gesprungen, dass Gaara neben mir erschrocken nach vorne zuckte, um das Teil fest zu halten.
 

Marc schrie erschrocken auf als sich Schifti auf ihn drauf fallen ließ und ihm einen fetten Schmatzer auf die Wange verpasste mit den gegrölten Worten: „Ich habe meinen Marc doch immer lieb!“

„Alter!“

„Gehen wir uns betrinken?!“
 

Keine Sekunde später waren die Beiden verschwunden und wir blieben noch lachend zurück. Kaito hatte seine Bong fertig und schob sie Gaara hin.

„Dem Geburtstagskind gehört der erste Zug“, sagte er und drückte ihm ein rundes Feuerzeug in die Hände. Gaara hatte die Bong schon fast am Mund, da blickte er plötzlich mich an und fragte: „Hast du schon mal Bong geraucht?“

„Nein“, antwortete ich.

„Ich zieh den Rauch durch das Rohr, dann musst du nur noch einatmen, einverstanden?“ Gaara grinste sein Grinsen und es war für mich unmöglich 'Nein' zu sagen. Dabei wollte ich doch nichts mehr mit Marihuana zu tun haben, nicht nach dieser Nacht, nicht nach dieser Panikattacke, aber Gaara sah so gut und cool aus wie er mit dem Feuerzeug das Gras entzündete und den Rauch ins Rohr hinein blies, bis es komplett weiß war.
 

„Schnell, schnell!“, machte er dann und hielt mir die Bong hin. Ich presste meinen Mund auf die Öffnung und Gaara gab mir Anweisungen wie ich es zu machen hatte. Als ich den Rauch einatmete, musste ich sofort von der Bong weg und heftig husten. Ich hörte die Anderen lachen, während sich bei mir alles drehte. Die Wirkung machte mich ganz benommen. Den Rest des Gras rauchte Gaara auf, er musste nicht husten, er machte die Lippen spitz und ließ den Rauch in einem weißen Strahl aus seinem Mund kommen.
 

Mir fiel einmal mehr auf wie gut er aussah, besonders heute mit diesem Shirt, das einen weiten Kragen hatte und die Hose, die er trug, war eine meiner Lieblingshosen von ihm. Normalerweise versuchte ich nicht so sehr darüber nachzudenken, aber der Alkohol und das Marihuana machten mich lockerer. Mich wunderte es ein wenig, dass keine kleinen Herzchen um meinen Kopf und in meinen Augen schwebten jedes Mal wenn ich ihn anschaute.
 

Jeder in der Runde zog an der Bong. Nach jedem zweiten Zug mussten sie das Gras wechseln und den Filter ein wenig säubern. Dann wollten sie gleich noch eine Runde machen.

„Soll ich den Rauch wieder hoch ziehen oder willst du es selbst einmal versuchen?“, fragte Gaara mich.

„Ich weiß nicht“, murmelte ich. „Eigentlich bin ich nicht so für Marihuana...“

„Doch, doch“, grinste Gaara. „Du brauchst dir keine Sorgen machen, ich pass schon auf dich auf, aber ich bin noch lange nicht mir fertig.“
 

Was sollte ich denn machen, wenn er so mit mir sprach? Ich wollte doch vor Gaara nicht wie ein Spießer aussehen, also zog ich weiteres Mal an der Bong.

Heads will roll

http://www.youtube.com/watch?v=Y_WVGWYocjA

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Noah kam mit Fynn und Hannah als ich bereits ziemlich lustig war. Gaara, Samantha und ich saßen draußen im Garten und lachten über alles, was auch nur ansatzweise witzig sein könnte. Unsere Dialoge waren keine richtigen Dialoge mehr und als Noah uns fand, behauptete Gaara Samanthas Finger sähen aus wie Penisse.

„Deine Mutter sieht aus wie ein Penis!“, rief Sam empört aus und wieder mussten wir lachten. Das Marihuana brannte in meinen Lungen jedes Mal, wenn ich lachte, doch das störte mich nur ein wenig.
 

„Was ist denn mit euch?“, fragte Noah zögernd. Gleichzeitig sprangen wir drei freudig schreiend von der Terrasse auf und umarmten Noah. Mir entging nicht Gaaras Arm, der über meinen Rücken geschlungen war. Zu viert torkelten wir ein wenig und wären beinahe umgefallen, Noah rief gespielt theatralisch um Hilfe bis wir uns voneinander lösten und der blonde Junge feststellte: „Ich muss sofort mit trinken anfangen.“
 

„Wir sind sogar noch rechtzeitig gekommen“, sagte Hannah, die von Samantha zur Begrüßung umarmt wurde. „Du hast noch vier Minuten lang Geburtstag, Gaara.“

„Na dann.“ Er streckte die Arme aus und die Beiden umarmten sich ebenfalls, danach wandte sich Hannah mir zu. Ich hätte nicht erwartet, dass sie mir ebenfalls eine Umarmung schenkte, da wir uns schließlich bisher nur einmal getroffen hatten, doch tatsächlich geschah genau dies. Fynn wurde herzloser begrüßt und mir fiel wieder ein, dass ich Kaito fragen wollte, warum er Fynn nicht leiden konnte.
 

Ich sagte den Anderen, dass ich kurz weg wollte und ging ins Haus, um nach Kaito zu suchen. Im Wohnzimmer wurde getanzt, in der Küche waren die Cocktails nicht mehr ansatzweise so gut gemixt wie am Anfang des Abends und ich torkelte ein wenig beim Gehen, was jedoch niemandem weiter auffiel, da alle ziemlich betrunken oder auf Drogen waren. Schifti musste sich Ecstasy oder so etwas eingeworfen haben, zumindest stand er halbnackt auf dem Esszimmertisch und grölte jedes Wort des Liedes mit, dessen Beat mir im Kopf dröhnte.
 

Vor der Toilette machten zwei Mädchen miteinander rum und ein paar Jungen standen pfeifend nicht weit entfernt und ich hörte den Kommentar: „Verdammt, jetzt brauche ich kein YouPorn mehr!“

Kaito fand ich im ersten Stockwerk im Flur, er hatte kein Shirt mehr an, trug jedoch eine dünne Stoffjacke über seinem Oberkörper, der ziemlich gut gebaut war. Man konnte jeden schlanken Muskel erkennen und ich fragte mich, ob Gaara vielleicht auch so aussah. Wenn ja, dann würde mir das nicht nur ein wenig gefallen.
 

Er unterhielt sich mit einem Typen, den ich nicht kannte und aus einem der Räume hörte ich andere, rockige Musik und die schiefe Stimme von Marc, die jedes Wort mit sang. Andere Jugendliche lachten, Gläser klirrten und Kaito wandte sich mir sofort zu als ich auftauchte. Kaum, da ich vor ihm stand, merkte ich, dass ich vergessen hatte, wofür ich überhaupt hergekommen war. Mit leicht geöffnetem Mund blickte ich ihn durch halb offene Augen an und machte „Äääääh.“

Kaito und der andere Typ lachten und ich sagte entschuldigend: „Ich hab vergessen, warum ich hier bin... Ach warte! Doch ich weiß es wieder!“

„Vielleicht solltest du aufhören zu kiffen“, grinste Kaito, ich schlug ihm ein paar Mal gegen den Oberarm, damit er aufhörte über mich zu lachen.

„Ich weiß es doch wieder, ich weiß es! Hör auf zu lachen bevor ich es wieder vergesse! Ich wollte fragen, warum du Fynn nicht leiden kannst?“
 

„Ich besorge mir glaube ich ein bisschen Koks“, meinte der andere Typ und verabschiedete sich mit einer lockeren Handgeste.

„Mach das“, murmelte Kaito, in seinem Blick lag beinahe etwas sehnsüchtiges ehe er sich wieder mir zu wandte und hörbar seufzte.

„Ich habe das Gefühl er würde Noah nur ausnutzen“, erklärte er schließlich. „Ich glaube nicht, dass Fynn es auch nur ansatzweise so ernst meint wie Noah und, dass er ihn mehr in einer Beziehung hat, weil er mit Noah schlafen will und er weiß, er wird keinen Sex mehr haben, wenn er mit Noah Schluss macht. Also keinen Sex mehr mit Noah, zumindest. Ich finde es halt schon ziemlich fies, dass er Noah so blöd zappeln lässt und dann ausgerechnet an dem Tag an dem Gaaras Geburtstag ist, sagt, dass wieder alles in Ordnung ist. Er schafft es immer alles so zu drehen, dass es am Ende aussieht als wäre es Noahs Schuld gewesen, dabei macht der überhaupt nichts Schlimmes.“

„Warum ausgerechnet an Gaaras Geburtstag?“, fragte ich verwirrt. „Ich meine, was ist daran besonders?“

„Ehm hallo?“, sagte Kaito und streckte feierlich die Arme aus. „Schau dir die Party an. Sag mir mal bitte, wer diese Party hier freiwillig verpassen würde?“
 

Ich konnte noch nicht richtig über diese Theorie nachdenken, da ging eine Tür gleich neben uns auf und ein Mädchen mit kurzen, braunen Haaren und stark ausgeprägten, weiblichen Rundungen kam heraus gehüpft. Auf ihrem Kopf befanden sich flauschige Hasenohren und sie hatte die Hände vor sich geknickt wie man es immer machte, wenn man ein Kaninchen imitierte. In kleinen Schritten kam sie zu Kaito gesprungen und wackelte dann neckisch grinsend mit dem Hintern.
 

„Das Betthäschen sucht sich seinen Betthasen“, verkündete sie. „Wen holt sich das Betthäschen?“

Eine Sekunde lang schaute sie mich mit ihrem flirtenden Blick an und ich hätte fast panisch gerufen „Nein, ich bin schwul!“, doch sofort drehte sie sich zu Kaito und packte ihn an seinem Gürtel, um ihn mit sich zu ziehen.

„Das Betthäschen hat seine Wahl getroffen“, grinste sie.

„Ich bin mit dieser Wahl sehr zufrieden“, gab Kaito zu und gemeinsam verschwanden sie im Zimmer.
 

Es dauerte nicht lange bis Noah gut angetrunken war und wir Beide wieder gemeinsam tanzten. Das ging lange, solange bis ich irgendwann merkte, dass mich Gaara beobachtete, während er einen Joint rauchte. Um ihn herum saßen Leute und unterhielten sich miteinander und auch mit Gaara, doch er schenkte ihnen keine Beachtung. Als er sah, dass ich ihn sah, lächelte er ohne Zähne zu zeigen und zwinkerte schnell. Mir wurde heiß und ich war froh, dass ich es auf das Tanzen schieben konnte.
 

Noah und ich tranken eine normale Cola gegen den Durst, doch danach mischte uns Schifti, der mittlerweile nur noch Boxershorts trug und die Theke übernommen hatte, da die beiden Mädchen so viele von ihren eigenen Cocktails getrunken hatten, dass sie leider nicht mehr dazu fähig waren Gläser zu füllen ohne die Hälfte dabei daneben zu schütten, die widerlichsten Cuba Libre, die ich je in meinem Leben getrunken hatte. Trotzdem trank ich mein Glas leer und Noah schnappte sich noch eine Flasche Berentzen saurer Apfel, die bereits bis zur Hälfte ausgetrunken war.
 

Obwohl es noch immer draußen eisig kalt war, gingen wir in den Garten. Zumindest hatten wir das so geplant, doch als ich im Garten stand, merkte ich, dass ich Noah auf halbem Weg verloren hatte. Verwirrt schaute ich durch die Fenster ins noch immer volle Gebäude und gerade als ich wieder reingehen wollte, kam mir Gaara entgegen. Er schloss die Tür hinter sich und hielt mir den Joint hin.

„Zieh mal, Süßer“, sagte er und nur weil er mich Süßer genannt hatte, machte ich es ohne zu zögern. Ich atmete den Rauch jedoch nicht ganz bis in die Lunge und hustete ihn schnell wieder aus. In Verbindung mit Alkohol könnte es bestimmt schlimme Folgen haben und nach Schiftis Cuba Libre fühlte ich mich als würde ich in einem Traum wandeln.
 

„Ich habe darauf gewartet mal endlich mit dir alleine zu sein“, sagte Gaara. Er schaute seinen Joint an, der nur noch ein kleiner Stummel war. „Hat dir schon mal jemand einen Shot gegeben?“

„Jägermeister“, antwortete ich und Gaara begann zu lachen.

„Nein“, schüttelte er den Kopf. „Nicht so ein Shot... hier, setz dich mal hier mit mir hin.“
 

Wir setzten uns auf eine Hollywood-Schaukel, die etwas abseits zwischen zwei Bäumen stand und Gaara begann zu erklären.

„Ein Shot ist ganz einfach. Ich nehme den Joint falsch herum in den Mund und blase, damit der Rauch durch den Filter raus kommt und du musst am Joint ziehen.“

„Wie soll ich am Joint ziehen, wenn du ihn im Mund hast?“, fragte ich und auf Gaaras Lippen schlich sich ein freches Grinsen. Erst dann verstand ich und wurde knallrot. In meinem Bauch kribbelte wieder alles und ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte.

„Soll ich dir einen Shot geben, ja oder nein?“, fragte Gaara leise nach. Ich traute mich kaum zu nicken so aufgeregt war ich.
 

Also drehte Gaara den Joint um und bis genau dort hin, wo der Filter anfing, dann beugte er sich vor und wir pressten unsere Lippen aufeinander bis keine Luft mehr reinkommen und Gaara mir den Rauch in den Mund blasen konnte. Aber das Marihuana war nicht wichtig, es war nicht ansatzweise so wichtig wie die Tatsache, dass sich unsere Lippen berührten. In mir brach ein Schwall von Glücksgefühlen los und mein Körper schien glühend heiß zu sein.
 

Wir lösten uns viel zu schnell wieder voneinander, doch nicht lange. Gaara nahm den Joint aus dem Mund und schnippte ihn weg, dann beugte er sich erneut vor und diesmal küsste er mich wirklich. Ich hatte noch nie in meinem Leben wirklich geküsst. Auf einer Klassenfahrt hatte ich mal ein Mädchen geküsst, aber das war nichts als Lippenberühren gewesen und hatte auf keinen Fall solche Gefühle in mir gelöst. Einfach alles war vergessen, der ganze Trubel, der ganze Stress, das ganze Chaos, es gab nur ihn und das Gefühl seiner Lippen auf meinen. Ich dachte nicht darüber nach, wie ich küssen sollte, sondern ließ einfach meinen Gefühlen freien Lauf. Am liebsten hätte ich den Mund geöffnet, damit sich unsere Zungen berührten, doch erst beließen wir es beim normalen Küssen.
 

Ich hatte meine Hände in seinem Schoß und er kraulte mir mit einer Hand in den Haaren. Ich konzentrierte mich auch auf diese Berührung und spürte wie mich das alles erregte. Es war so toll, so toll..... und dann hörte ich wie sich jemand in direkter Nähe übergab.
 

Der Moment war verfolgen, Gaara und ich lösten uns voneinander und er schaute entgeistert über meine Schulter.

„Super, Marc“, murmelte er. „Denkst du, du kannst ihn ignorieren?“

„Sollten wir ihn nicht nach Hause bringen?“, fragte ich und hätte mich erschlagen können. Warum war ich auch immer so besorgt um Leute, die ich gar nicht wirklich kannte und, warum musste ich immer so freundlich sein? Soll er sich doch die Seele aus dem Leib kotzen solange ich hier mit Gaara rummachen konnte! Aber Nein! Und Gaara sagte zu allem Überfluss dieser Idee auch noch zu.
 

Marc war schwerer als gedacht. Dass er kaum einen Schritt alleine gehen konnte, machte die Sache nicht besser. Ein Arm lag über Gaaras Schulter, der Andere über meiner, seine Füße schleiften auf dem Boden und er brabbelte in einer unverständlichen Sprache vor sich hin. Ab und zu konnte ich Sätze daraus verstehen. Als wir endlich bei seinem Haus ankamen, das nicht allzu weit von Gaaras entfernt war, sagte Marc deutlicher: „Ihr seid echt voll nett...“

„Du versaust mir gerade meinen Geburtstag“, grummelte Gaara. „Ich will kein Wort von dir hören. Hast du einen Schlüssel dabei?“

„Jackentasche...“
 

Als Gaara versuchte den Schlüssel aus der Tasche zu holen, verlor Marc endgültig den Halt und fiel auf mich drauf. Sofort stolperte ich und wir landeten gemeinsam auf dem Boden, Marc auf mir drauf, was viel zu schwer für meinen Körper war. Keuchend wurde alle Luft aus mir heraus gepresst und ich spürte einen stechenden Schmerz im Steißbein. Gaara zog Marc von mir herunter, damit er wenigstens nicht auf mir sondern neben mir lag und half mir auf die Beine. Da wir Beide ebenfalls betrunken und high waren, fielen wir fast noch einmal um, doch irgendwie schafften wir es uns gegenseitig festzuhalten.
 

Ich ließ den Kopf auf Gaaras Schulter sinken, während meine Hände in seine Seiten krallte und Gaara hielt mich fest umschlungen. Beinahe wäre wieder dieser Moment da gewesen in dem alles andere vergessen war, doch dann meldete sich Marc mit einem leise „Hilfe“ wieder zu Wort. Ungern ließen Gaara und ich voneinander ab, halfen Marc einigermaßen auf die Beine und Gaara kramte den Schlüssel aus seiner Jackentasche hervor. Ich war davon ausgegangen, dass wir Marc noch bis in sein Bett bringen würden, doch als die Tür auf war, schubste Gaara Marc rein, dass er stöhnend im Flur landete, warf den Schlüssel hinterher und schloss die Tür mit einem lauten Knall.
 

„Das wäre erledigt“, sagte Gaara und ich konnte nicht anders als zu lachen.

„Du bist echt gemein“, stellte ich fest.

„Das hat nichts mit gemein zu tun. Seine Schuld, wenn er zu viel trinkt“, zuckte Gaara die Schultern. „Lass uns wieder zurück gehen.“
 

Er nahm mich bei der Hand und wir suchten uns torkelnd den Weg zurück zu seinem Haus. Kurz bevor wir ankamen, zog Gaara mich jedoch weiter und ich folgte ihm ohne zu meckern. Wir gingen die Straße runter bis wir bei Bahnschienen anlangten, die sich über eine Brücke erstreckten. Er zog mich in die Unterführung, deren Wände mit Graffiti besprüht waren und sagte: „Auf der Party haben wir eh keine ruhige Minute. Ständig will jemand was von mir, aber hier können wir vielleicht eine viertel Stunde bleiben...“
 

Er zog mich an sich ran und presste mich danach mit dem Rücken an die Wand. Seine braun-grünen Augen fixierten meine Lippen, die so bereit für ihn waren. Nun hielt er mich an den Seiten fest, drängte sich dicht an mich, dass mein Körper zwischen seinem und der Wand beinahe eingequetscht war, doch ich liebte das. Schon diese Position erregte mich und als Gaara wieder anfing mich zu küssen, wurde es nur noch besser. Ich spürte wie er mit der Zungenspitze über meine Lippen fuhr und bereitwillig öffnete ich mich meinen Mund. Wieder dachte ich nicht darüber nach, was und wie ich es tat, gab mich nur diesem Kribbeln und dieser Hitze hin, die sich von meinen Mund über meinen ganzen Körper bis in meine Lenden ausbreiteten. Ich musste stark an mich halten, um nicht hart zu werden, irgendwie hielt ich das in diesem Moment für ziemlich peinlich.
 

In einer Sekunde in der wir uns lösten, keuchte Gaara mit heißem Atem: „Scheiße, küsst du gut.“ Und ich beugte mich direkt vor, um seine Lippen wieder zu beanspruchen. Wenn sich unsere Zungen umspielten, war es eine Explosion der Sinne und der Lust und es könnte Ewigkeiten so weiter gehen. Ich wollte nicht mehr aufhören, doch irgendwann lösten sich unsere Lippen voneinander. Wir blieben noch stehen, die Stirne aneinander gelegt und ich schloss die Augen, seinen Geschmack in meinem Mund und sein Körper an meinem bis wir uns entschieden zurück zu gehen.

Missverständnis

Eine der schlechtesten Ideen meines Lebens war es, diesen blöden Berentzen mit Noah leer zu trinken. Das Gesöff schmeckte schon beim ersten Schluck nicht, wurde nur noch schlimmer, dass ich mich ständig schüttelte und am Ende war mir dann schlecht. Gegen sechs Uhr morgens als fast alle Partygäste verschwunden waren und Schifti mittlerweile nackt im Wohnzimmer neben der Couch lag und munter schnarchte, saß ich gequält vor der Eingangstür und hatte ständig das Gefühl mich übergeben zu müssen. Ich wusste nicht warum ausgerechnet Kaito bei mir war, da ich alles, was nach Gaaras und meiner Rückkehr ins Haus passiert war, vergessen hatte, doch der Russe hockte neben mir und sprach mir ruhige Worte zu.
 

„Berentzen schmeckt auch mies“, sagte er. „Und es kann jedem mal passieren, dass ihm schlecht wird. Sechs Uhr morgens ist eine gute Zeit zum Kotzen, du solltest das Zeug aus deinem Magen los bekommen und danach viel Brot essen und Wasser trinken.“

„Ich will nichts essen“, klagte ich, dann merkte ich, dass es ein Fehler gewesen war den Mund aufzumachen. Ich neigte mich zur Seite und übergab mich in den großen Blumentopf, der gleich neben der Treppe stand.

„Ist besser, wenn du das Zeug auskotzt“, sagte Kaito und klopfte mir dabei auf die Schultern. „Ich weiß, dass es sich mies anfühlt. Ich habe auch schon oft genug kotzen müssen.“
 

Als ich fertig war, hielt mir Kaito ein Taschentuch hin mit dem ich mir den Mund abwischte und danach reichte er mir eine Flasche stilles Wasser. Erst wollte ich nichts trinken, doch Kaito drängte mich dazu und tatsächlich war es eine gute Entscheidung gewesen. Ich trank fast die komplette Flasche leer. Noch immer dröhnte mein Kopf und mein Magen verkrampfte sich von Zeit zu Zeit, doch mir ging es ein wenig besser als vor dem Kotzen. Schließlich half Kaito mir auf die Beine und sagte es wäre besser, wenn wir bei Gaara übernachten würden.
 

Im Haus sah es aus als wäre ein Tornado durch geweht. Überall lag Müll rum, auf einer Couch verteilte sich ausgeschütteter Alkohol, leere Flaschen und kaputte Flaschen zierten den Boden, Klamottenteile lagen hier und da herum und Samantha bedeckte gerade Schifti mit einer Decke, damit wir seinen Schwanz nicht länger sehen mussten, danach quetschte sie sich auf die Couch, die nicht vom Alkohol verschmutzt war, zu Hannah, die bereits in Decken eingehüllt schlief.

„Schlaf gut, Bambi“, sagte Sam, deren Augen rot geschwollen vom Marihuana waren, das sie über die Nacht verteilt konsumiert hatte. Kaito leitete mich in den ersten Stock in Gaaras Zimmer, welches der Junge für die Party abgeschlossen hatte, damit niemand rein ging.
 

„Eigentlich gibt es noch ein Gästezimmer, aber da kann man nicht mehr drin schlafen“, sagte Kaito mit einem schiefen Grinsen. „Und in das Schlafzimmer von seinen Eltern lässt Gaara niemanden.“

Wir betraten das Zimmer, in dem Gaara in seinem großen Bett schlief. Auf dem Boden lag eine Matratze, die Kaito für sich beanspruchte und mir sagte er, ich sollte mich einfach zu Gaara ins Bett legen. Etwas unsicher kletterte ich auf die untere Hälfte, wo nur Gaaras Füße waren, nahm mir eines der unzähligen Kissen mit denen der Junge schlief und schloss die Augen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich sofort einschlafen würde.
 

„Wer zum Teufel dachte es wäre eine gute Idee, die Tür zuzumachen?!“ Gaara trommelte gegen die verschlossene Eingangstür und Sam ließ sich mit zerzausten Haaren und kleinen Augen auf den Bürgersteig nieder. Eiskalter Wind riss an meinen Klamotten und ich schlang die Arme um meinen Körper, um ihm ein wenig Wärme zu spenden, doch meine nackten Arme waren vollkommen unterkühlt. Verbittert schaute ich dem großen Lastwagen hinterher, der Schuld daran war, dass wir hier draußen standen. Der Fahrer hatte laut gehupt und geflucht bis die halbe Nachbarschaft an den Fenstern war. Irgendeine Hauptstraße war gesperrt, weshalb der Laster durch die Nebenstraßen fahren musste und durch Gaaras Straße hatte er nicht gepasst, weil auf einer Seite ein Auto zu weit in der Mitte stand.
 

Der Fahrer des Autos war nicht Zuhause. Nachdem wir alle aus dem Haus gegangen waren, hatte Gaara bei dem Nachbarn geklingelt, doch es folgte keinerlei Reaktion. Wir schauten zu wie der Laster wieder rückwärts aus der Straße fahren und sich einen anderen Weg suchen musste. Erst danach fiel uns auf, dass die Eingangstür durch den Wind zugefallen und wir ausgesperrt waren. Schifti nahm das als Zeichen dafür, dass er nach Hause gehen musste. All seine Habseligkeiten waren bei ihm und die Klamotten wieder auf dem Körper. Ohne die Spur von Mitleid, jedoch mit einem breiten schadenfreudigen Grinsen auf den Lippen verabschiedete er sich und ging seiner Wege. Zurück blieben Kaito, Noah, Hannah, Samantha, Fynn, ich und natürlich Gaara, der jetzt zum Blumentopf ging, in den ich mich am frühen Morgen noch übergeben hatte.
 

„Was zum?“ Gaara zuckte zurück. „Welcher Spasti hat in den Blumentopf gekotzt?“

Ich merkte, dass ich rot anlief und wandte mich ein wenig von den anderen ab. Mein Blick fiel auf Kaito, der ein Grinsen nicht mehr von den Lippen bekam, doch als er meinen panischen Ausdruck sah, versuchte er das Grinsen zu verbergen und verriet Gaara nicht, dass ich dieser Spasti gewesen war.

„In dem Topf sind meine Ersatzschlüssel“, stöhnte Gaara. „Ich wette Schifti hat rein gekotzt. Ich bring ihn um.“

Er zuckte ein wenig mit den Händen als wollte er in den Topf fassen, ließ es dann jedoch bleiben.

„Ist der Gartenschuppen offen?“, fragte Kaito. „Vielleicht ist da ne Zange drin oder so etwas.“

„Kann sein... wir schauen mal, der Rest kann ja nach einem anderen Weg rein suchen“, schlug Gaara vor. Er drehte sich zu uns, dem unmotivierten, verkaterten Haufen und einige Sekunden lang machte niemand Anstalten sich auch nur ein bisschen zu bewegen.
 

„Jetzt kommt schon, ihr wollt doch nicht erfrieren!“, rief Gaara fordernd und wir bewegten uns widerwillig stöhnend. Kaum, da ich mich im Garten außer Sichtweite von Gaara befand, der versuchte gemeinsam mit Kaito in den verschlossenen Gartenschuppen einzubrechen, ließ ich mich auf dem nächstbesten Platz nieder und merkte erst ein paar Sekunden später, dass ich auf der Hollywood-Schaukel saß, auf der ich in der Nacht mit Gaara rumgemacht hatte. Bei dem Gedanken daran lief ich knallrot an und ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.
 

Ich hatte Kopfschmerzen, mir war schlecht und schwindelig, außerdem war ich müde und trotz der Kälte könnte ich hier und jetzt einschlafen, aber der Gedanke an Gaara und an das, was wir in der Nacht miteinander getan hatte, brachte mich zum Lächeln. Ich umschloss mit den Händen meinen Bauch in dem es kribbelte, lehnte mich zurück, schloss die Augen und genoss die Gänsehaut, die nicht nur von der Kälte herrührte. Solange bis sich die Hollywood-Schaukel plötzlich bewegte. Überrascht öffnete ich wieder die Augen und erkannte Hannah, die mit den Armen ihren frierenden Körper umschlungen hatte und ziemlich blass und müde aussah. Ihre nussbraunen Haare waren total zerzaust und ihre blauen Augen, die ohnehin schon ziemlich klein waren, schienen nur noch Schlitze zu sein. Das Blau konnte ich kaum noch erkennen.
 

„Ich friere mich hier zu Tode“, seufzte sie.

„Wenigstens hast du einen Pullover an“, zuckte ich mit den Schultern.

„Bist du nicht verkatert oder so etwas?“, fragte Hannah. Auf der anderen Seite des Gartens konnten wir nur wage den Schuppen erkennen, der mit dem Rücken zu uns gewandt stand. Sein Dach war mit einer dünnen Schicht Schnee bedeckt und Eiszapfen hatten sich am Dachrand gebildet, die auf die matschige Wiese tropften. Irgendwann heute früh hatte es ein wenig geschneit.
 

„Doch bin ich voll“, sagte ich und lachte stöhnend ehe ich mir den schmerzenden Kopf rieb. „Sehe ich etwa nicht so aus?“

„Du siehst fertig aus“, antwortete Hannah. „Aber dafür auch ziemlich glücklich.“

Ich ließ den Kopf in den Nacken fallen und schaute die Unterseite des Stoffdaches an, das sich über die Hollywood-Schaukel zog. In der Nacht hatte ich die Farbe der Schaukel nicht richtig erkennen können. Sie war dunkelblau.
 

„Weißt du, als wir uns bei Noah getroffen haben, sahst du nicht glücklich aus“, sagte Hannah. Alle anderen waren beim Gartenschuppen versammelt. Nur Samantha stand neben dem Schuppen und sah bloß müde aus, während die Jungen beim Eingang standen und diskutierten wie sie rein kommen könnten. Ihre Stimmen wehten nur gedämpft herüber und ich konnte keinen von ihnen wirklich verstehen.

„Du sahst ehrlich gesagt aus als würde... dich irgendetwas belasten.“

„Noah hatte mir da von den Problemen, die er mit Fynn hat, erzählt“, murmelte ich. Jetzt kam Fynn, als wäre mein Satz sein Einsatz gewesen, zu Samantha und schaute sich den Schuppen von der Seite an, dann von hinten. Noah tat dasselbe auf der anderen Seite. Als sie sich hinter dem Schuppen trafen, blieben sie stehen. Gaara rief von vorne etwas, Fynn rief zurück und Noah hatte die Arme um seinen Körper geschlungen und fror. Wenn ich Noahs Freund wäre, würde ich ihn in den Arm nehmen und wärmen. Wenn ich Noahs Freund wäre, würde ich meine Jacke ausziehen und sie ihm geben. Fynn hatte zwar nur eine dünne Stoffjacke an, aber das war immer noch mehr als Noahs T-Shirt.
 

„Ah okay“, machte Hannah bloß. Einige Minuten lang beobachteten wir die anderen. Kaito startete nun einen Versuch auf den Schuppen zu klettern, doch dies schien besonders schwierig dadurch, dass seine kalten Finger schmerzten, wenn er versuchte sich irgendwo festzuhalten. Ich konnte hören wie Gaara ihm sagte, dass er nicht auf den Schuppen kommen wird und wie Kaito erwiderte „Ich bin Russe, mir macht die scheiß Kälte nichts aus!“ Warum er überhaupt auf den Schuppen wollte, konnte ich mir nicht erklären...
 

„Hm“, meldete sich Hannah wieder. Ich war nun damit beschäftigt Gaara zu beobachten, der neben Samantha stand und genervt aussah. Selbst jetzt sah er gut aus. Er war blass, müde, seine Augen klein und seine Haare standen in sämtliche Himmelsrichtungen. Auch er trug nur ein Shirt und eine weite Jogginghose. Solche, die ich eigentlich nicht mochte, aber zu ihm passte sie. Als Kaito ein weiteres Mal abrutschte und mit einem Schmerzensschrei auf dem Boden landete, ließ Gaara den Kopf hängen und dann erst fiel ihm auf, dass Samantha bloß eine kurze Hose trug. Er zögerte nicht lange. Ich sah wie er ihr etwas sagte und sie den Kopf schüttelte. Wie sie versuchte ihn davon abzuhalten seine Jogginghose auszuziehen und sie ihm zu geben. Sie nahm doch an und nun trug Gaara nur noch eine Boxershorts.
 

Er hatte Beine wie jeder andere Junge. Normal behaart, nicht muskulöser oder dünner und trotzdem erregte mich der Anblick. Während ich ihn anstarrte, kamen nach und nach andere Gedanken in mir auf. Sie krochen langsam zwischen meine Glückseligkeit und das warme Kribbeln in meinem Bauch, schoben sich wie ein Brett zwischen mich und das tolle Gefühl, das ich mit Gaara hatte nachdem es mir solange so schlecht gegangen war. Diese Gedanken, geflüstert von einer kleinen Stimme, die mir bewusst machte, dass Gaara ein Junge war und ich auch. Ich hatte einen Jungen geküsst, wurde vom Anblick eines halbnackten Jungen erregt. Schämend fiel mir wieder ein, wie ich den Anblick von Kaitos Bauch- und Brustmuskeln gemocht hatte, dass ich Noah süß fand, dass ich Noah und Fynn gerne beim Küssen zugeschaut hatte. Und geschockt erinnerte ich mich daran, wie ich dem „Betthäschen“ beinahe gesagt hatte, dass ich schwul war. War ich schwul?
 

„Ist alles klar bei dir?“, fragte Hannah. Ich zuckte ein wenig zusammen und schaute sie überrascht an. Ich hatte sie schon fast vergessen. Sie hatte sich ein wenig zu mir herüber gelehnt und sah besorgt aus. Mir fiel auf, dass mein Mund leicht offen stand. Ich schloss ihn wieder und antwortete: „Jaa... mir ist nur kalt.“

„Ich hatte dich was gefragt“, sagte Hannah.

„Und ich hab geantwortet!“

„Nein, ich hatte dich davor schon etwas gefragt“, erwiderte Hannah und musterte mich weiterhin.

„Das hab ich nicht mitbekommen, tut mir Leid.“ Plötzlich fühlte ich mich überfordert mit der ganzen Situation. Alles schien über mir einzubrechen und ich wollte nur noch nach Hause und weg von den anderen und vor allem von Gaara. Ich musste in Ruhe darüber nachdenken, alleine.
 

„Ob Noah und Fynn wirklich der einzige Grund waren, warum du so belastet gewirkt hast?“, fragte Hannah also erneut und ich schaute sie verwirrt an.

„Warum solltest du so etwas fragen?“ Ich rieb mir die schmerzenden Schläfen.

„Okay, wenn du nicht darüber willst...“

„Warum kommst du überhaupt darauf, dass etwas anderes los ist, das ist -“ Ich stockte, denn plötzlich wurde mir bewusst worauf Hannah hinaus wollte und ich presste die Lippen aufeinander. Mein Herz pochte schneller und ich merkte, dass ich wütend wurde. „Noah hat es dir erzählt.“

„Was?“, fragte Hannah und schien plötzlich nervös. „Noah hat mir nichts erzählt.“ Sie war eine schlechtere Lügnerin als ich.

„Ich glaub's ja nicht!“ Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen und spürte etwas, was ich noch nie zuvor so stark gespürt hatte: Enttäuschung. „Ich dachte Noah würde das nicht rum erzählen, ich meine...“

„Bitte, sag's ihm nicht“, bettelte Hannah. „Ich hatte ihm versprochen es niemandem zu erzählen -“

„- und ich hab ihm vertraut -“

„- er hatte eh gesagt, dass es total offensichtlich wäre -“

„- nichts ist daran offensichtlich. Ich konnte es sogar vor meinen Freunden ein paar Tage geheim halten -“

„- er wollte nur nicht, dass ich es rum erzähle, weil er nicht die Bestätigung hatte -“

„- und nicht vor denen habe ich es geheim gehalten. Weißt du wie schwer es an manchen Tagen ist den Tod vom eigenen Vater geheim zu halten?“
 

In dem Moment in dem Hannah sämtliche Gesichtszüge entgleisten, ihre Augen sich vor Schock weiteten und ihr Mund offen stehen blieb, wusste ich, dass Noah nichts von meinem Vater erzählt hatte und Kaito hatte es geschafft auf den Schuppen zu klettern und reckte jubelnd die Arme in die Höhe. Ich fühlte mich als hätte mein Herz aufgehört zu schlagen. Auf der anderen Seite bekam Kaito Beifall geklatscht und Hannah presste sich beide Hände auf ihr Herz.
 

„Noah hat dir nicht erzählt, dass mein Vater gestorben ist“, stellte ich stumpf fest. Als ich merkte wie ich diesen Kloß im Hals bekam auf den meistens Tränen folgten, schaute ich zu Kaito und wie er sich am Dach zu schaffen machte. Dort befand sich ein Fenster und scheinbar konnte man es auch von außen öffnen. Ich schluckte gegen den Kloß und lachte verbittert auf. Nur ein Wort über meinen Vater, nur einen falschen Gedanken an ihn und ich könnte wieder anfangen zu weinen. Ich kam mir jämmerlich vor.
 

Hannah schüttelte noch immer erstarrt im Schock den Kopf, dann klappte sie den Mund wieder zu. Einige Sekunden lang schaute ich nur zu wie Kaito durchs Dach in den Schuppen kletterte. Die Anderen gingen wieder nach vorne. Langsam berührte Hannah mit ihren Fingern meine Hand, schloss sie sanft darum und ich erwiderte beinahe automatisch den Druck. Sie drückte fester zu. Wenn ich mehr Körperkontakt mit ihr bekäme, würde ich wieder anfangen zu heulen, darum war ich froh, dass es nur dabei blieb.
 

„Es tut mir so leid“, sagte sie leise.

„Sag das niemandem.“

„Werde ich nicht...“

„Was hat dir Noah dann erzählt?“, fragte ich. Mir kam nur das Mobbing in den Sinn. Das war offensichtlich, aber eine Bestätigung dazu brauchte Noah nicht. Die hatte er schon oft genug in der Schule bekommen, darum...

„Dass du in Gaara verliebt bist.“
 

Mein Herz blieb erneut stehen ehe es mir wie ein Stein in den Magen fiel und von der Kälte spürte ich nichts mehr. Mir war so heiß wie noch nie in meinem Blut, ich hörte nur das Blut in meinen Ohren rauschen, untermalt von Kaito, der stolz und laut verkündete: „Ich habe die Zange! Wer holt jetzt den Schlüssel aus der Kotze?!“

Batman

Seltsam. Nur ein paar Tage zuvor hätte ich noch alles gegeben, um so viel Zeit wie möglich mit Gaara zu verbringen und jetzt könnte ich schon bei dem Gedanken daran ihm wieder unter die Augen zu treten heulen. Ich schämte mich für das Küssen, ich konnte mich nicht mehr darüber freuen und das Wissen, dass Gaara wusste... oder dachte... oder wusste?... dass ich in ihn verliebt war, rundete das Chaos perfekt ab. Und hier wurde es dann wirklich kompliziert: Dachte er es oder wusste er es? War ich in Gaara verliebt oder nicht? Was hatte das mit dem Küssen überhaupt zu bedeuten? Lag es am Alkohol? Vielleicht konnte ich es auf den Alkohol und die Drogen schieben. Im Zweifelsfalls würde ich das tun und jedem erzählen, dass ich mich an den Abend nicht mehr erinnern konnte. Zwar war dies ebenfalls nicht gerade etwas für das man sich nicht schämen musste, aber ich würde damit besser Leuten unter die Augen treten können als mit der Verliebtheit-Geschichte.
 

Grummelnd legte ich eines der Tops meiner Schwester zusammen. Eins, das sie sich erst in Berlin gekauft hatte und ich überlegte für einen Moment es zu verstecken, damit sie es nicht mehr anziehen konnte. Bei dem Wetter momentan würde sie es ohnehin nicht anziehen, doch sobald es wärmer werden würde, würde sie dann bauchfrei herumlaufen. Selbstverständlich besaß Alex dafür die richtige Figur, sie würde sexy aussehen für jeden heterosexuellen Jungen und genau deswegen wollte ich ihr das Top nicht geben. So falsch es auch war, ich konnte nur an Julian denken. Natürlich sollte ein Mädchen ihren Klamottenstil nicht nach dem Gedanken „Ich könnte ja vergewaltigt werden, wenn ich mich zu knapp anzog“ richten, aber genau davor fürchtete ich mich. Ich hatte nie Angst davor gehabt, dass meine Schwester vergewaltigt werden würde. Im Allgemeinen hatte ich nie über das Thema sonderlich viel nachgedacht. Glücklicherweise blieb mir dies meine ganze Kindheit lang erspart und dann kam Julian. Wie dieser Idiot einfach nicht nur Alex verändert hatte...
 

Wütend legte ich ein Shirt meiner Mutter zusammen. Im Rücken spürte ich das sanfte Rauschen der Waschmaschine, die meinen ganzen Körper zum vibrieren brachte. Im Schneidersitz saß ich auf den Fliesen im Waschraum, ich spürte ihre Kälte an meinen nackten Füßen und ebenfalls ein wenig durch die Stoffhose hindurch, die ich trug. Darüber trug ich einen dicken Pullover und meine Haare waren noch vom Schlaf zerzaust. Ich hatte mir nicht einmal die Mühe gemacht mich nach dem Aufwachen umzuziehen, Zähne zu putzen, etwas zu essen. Doch weil ich es nicht aushielt, nichts zu tun, entschied ich mich dazu den Haushalt zu machen. Wenn ich schon so tat als wäre ich krank, könnte ich wenigstens meiner Mutter einen Gefallen tun.
 

Jetzt nahm ich die enge Jeans, die mir Lynn geschenkt hatte aus dem Korb und der Anblick versetzte mir einen Stich im Herzen. Er lenkte für einen Moment von all meiner Wut und meinen wirren Gefühlen ab. Seufzend vergrub ich das Gesicht in der Hose und roch daran, doch sie roch nicht nach Lynn, sondern nach frisch gewaschener Jeans. Hart schluckte ich gegen den verdammten Kloß und drängte die Tränen zurück. Lynn, Simon, Genesis. Wenn ich nur in Nordrhein-Westfalen geblieben wäre, wäre nie so etwas bescheuertes passiert. Einen Jungen küssen. Und all diese Gefühle in den Wochen davor. Ich war wirklich verliebt gewesen. So musste es sich anfühlen verliebt zu sein. Aber eigentlich kannte ich mich damit ja gar nicht aus, vielleicht interpretierte ich meine Gefühle bloß falsch. Wahrscheinlich tat ich das, ich dachte doch immer zu viel nach...
 

Schnell legte ich die Jeans zusammen, damit ich nicht anfing zu weinen. Die Sehnsucht nach meinen Freunden war unerträglich und es dauerte nicht lange bis meine chaotischen Gedanken zu Dad kamen. Doch es war das erste Mal seit er gestorben war, dass ich mir nicht wünschte, mit ihm reden zu können. Ich hielt in meiner Arbeit inne und ließ den Kopf gegen die Waschmaschine fallen. Der Aufprall schmerzte ein wenig, doch das interessierte mich nicht weiter. Viel mehr interessierte mich, was Dad zu Gaara und mir gesagt hätte. Er hatte mich immer in allem unterstützt. Egal, was es war.
 

Als Kind wollte ich nie Fußball spielen, ich hasste Fußball, interessierte mich auch nicht für irgendwelche Vereine und Spiele und Dad war es egal gewesen. Seine Brüder hatten ihn damit aufgezogen und erzählt, dass er unbedingt immer einen Sohn haben wollte, mit dem er seine Fußballsucht teilen konnte und Dad hatte geantwortet: „Das stimmt, aber jetzt habe ich Lukas. Und er ist der beste Sohn, den ich mir hätte wünschen können.“ Damals war ich zwölf Jahre alt gewesen. Eine Zeit lang hatte ich versucht mir den Fußball aufzuzwingen, weil ich Dad nicht enttäuschen wollte und als er diese Worte gesagt hatte, war ich so erleichtert und glücklich gewesen. Ich hatte den besten Dad, den man sich nur wünschen konnte...
 

Schluchzend blieb ich gegen die Waschmaschine gelehnt sitzen. Ich wollte nicht einmal mehr versuchen nicht zu heulen, sondern ließ all den Frust und die Verwirrung raus. Mein Herz schmerzte so sehr, dass ich mir auf die Brust fasste und vor jammerte. Ich spürte die heißen Tränen auf meinen Wangen, schmeckte das Salz auf meinen vollen Lippen, spürte wie sich mein Gesicht im Heulkrampf verzerrte und zog die Knie an meinen Oberkörper heran. Ich machte mich so klein wie ich nur konnte und heulte solange bis ich vollkommen erschöpft war.
 

„Schatz...“

Verschlafen und mit schmerzenden Augen setzte ich mich auf. Ich sah die blonden Haare bevor ich Mum erkennen konnte und das Schmunzeln auf ihren wohl geformten Lippen. Sie setzte sich neben mich aufs Bett und fühlte mit dem Handrücken über meine Stirn.

„Ich habe gesehen, dass du die Wäsche gemacht hast. Danke, Liebling. Geht es dir denn besser?“

„Ja“, log ich sogleich, doch meine Stimme war vom Heulen erschöpft und ich brachte nur ein Krächzen hervor.

„Dein Handy macht übrigens ziemlichen Radau in der Küche.“ Sie zog mein Handy aus ihrer Hosentasche und legte es mir in den Schoß. „Ständig schreiben dir Leute oder rufen dich an. Hast du deinen Freunden nicht Bescheid gegeben, dass du krank bist?“

„Warum sollte das Simon oder Lynn interessieren?“, fragte ich schulterzuckend. „Die sind doch eh nicht hier.“

„Nein, ich meinte deine neuen Freunde“, entgegnete Mum.
 

Für einige Momente blickte ich sie bloß erstarrt an, dann brachte ich es tatsächlich zustande mich mit Worten selbst zu verletzen: „Ich habe keine neuen Freunde.“

„Oh...“ Mum schaute betroffen auf das Handy. „Ich dachte mit diesem Noah würdest du dich gut verstehen. Du sagtest doch noch, du hoffst so sehr, dass er zum Geburtstag kommt.“

„Ja, aber er ist nicht mein Freund“, steigerte ich mich nur weiter hinein. „Ich verstehe mich nur ganz gut mit ihm...“ Danach biss ich mir auf die Unterlippe, um ihr nicht zu erzählen, wie sauer ich auf Noah war. Dabei wusste ich nicht einmal wieso. Ich hatte ihm in keinem Wort gesagt verliebt in Gaara zu sein oder ihn darum gebeten es niemandem zu erzählen. Wenn man es genau nahm, hatte er bloß eine dumme Behauptung aufgestellt, die eventuell, vielleicht, eher gar nicht oder wahrscheinlich doch, wahr war.
 

„Nun gut... in einer halben Stunde gibt es Abendessen“, sagte Mum und verließ wieder mein Zimmer. Widerwillig, aber irgendwie auch neugierig, entsperrte ich mein Handy und sah, dass ich verpasste Anrufe von Noah und einer unbekannten Nummer hatte. Außerdem hatte ich SMS von Noah, zwei unbekannten Nummern und von Simon. Letztere öffnete ich zuerst und mit jedem Wort, das ich las, hob sich meine Stimmung.
 

„Yoo broski. Hör mal, ich arbeite seit kurzem in einem Altenheim (Oh Gott, ich weiß xD), aber nur in der Küche. Wie dem auch sei verdiene ich da ganz gut Geld und außerdem ist mein Vater einverstanden mir noch Geld drauf zu geben, damit ich in den Osterferien zu dir kommen könnte? Wenn du Bock hast würde ich auch einfach die ganzen zwei Wochen bei dir bleiben. Was hältst du von? Uuund: Wie war der Geburtstag?“
 

Ich begann eine Antwort zu tippen, hielt jedoch nach nur wenigen Buchstaben inne. Sollte ich Simon von der Sache zwischen mir und Gaara erzählen? Vermutlich würde er dann fragen, ob ich schwul war und diese Frage konnte ich beim besten Willen nicht beantworten, außerdem hatte ich Angst wie Simon reagieren könnte. Mit Noah und Fynn war er ja gut klar gekommen, aber es war vielleicht noch mal etwas anderes, wenn der beste Freund plötzlich mit Kerlen rummacht. Vielleicht würde er Angst bekommen, dass ich etwas mit ihm anfangen will oder er würde es albern finden... ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen als von Simon verschmäht zu werden. Darum entschied ich mich auf seine zweite Frage bloß mit „War ganz lustig“ zu antworten und sagte seinem Vorschlag die gesamten Osterferien nach Berlin zu kommen zu. Genau das brauchte ich. Etwas, worauf ich mich in der Zukunft freuen konnte!
 

Nach dem Antworten sank meine Laune wieder ein wenig, denn nun ging es an Noah. Grummelig öffnete ich seine SMS und sah ein Foto von einer Babykatze mit großen, schwarzen Augen und schwarz-weißem Fell. Im Gesicht sah es aus als würde sie eine schwarze Maske über den Augen und den Nasenrücken tragen, da der Rest ihrer Nase und ihrer Schnauze weiß war. Darunter hatte Noah geschrieben: „Das ist Batman. Und Batman ist auf geheimer Mission, er ist nämlich eine Entschuldigungskatze. Immer wenn ich Mist baue, kommt Batman angeflogen und lässt ein Entschuldigungsfoto machen. Wenn der Mist zu groß ist, dann lässt sich Batman auch kuscheln, optional kann ich auch die betroffene Person umarmen, in der Hoffnung zeigen zu können, wie Leid es mir tut. Tut mir wirklich Leid. Wie geht es dir? Können wir reden?“
 

„Ich hasse dich“, flüsterte ich meinem Handy zu. Es war irgendwie einfacher gewesen sauer auf Noah zu sein als ihm augenblicklich zu verzeihen im Wissen, dass ich nun mit ihm reden sollte. Ich antwortete ihm, dass ich durch die Zeit im T-Shirt in der Kälte krank geworden war und mich mit ihm erst treffen wollte, wenn ich wieder gesund war, was jedoch schon in zwei bis drei Tagen der Fall sein könnte. Erstaunlicherweise fühlte ich mich mit dieser Lüge nicht schlecht. Meiner Meinung nach war sie sogar ziemlich plausibel und ich würde noch ein paar mehr Tage Timeout von der Schule brauchen, um mit mir selbst ins Klare zu kommen.
 

Plötzlich war ich ziemlich neugierig darauf, wem Noah noch alles von seiner Behauptung erzählt hatte. Was, wenn er es Kaito erzählt hatte und, der hatte es Gaara erzählt? Oder, wenn Noah es direkt Gaara erzählt hatte? Ich könnte mir nichts Schlimmeres vorstellen. Aber vielleicht war das nur ein dummes Gespräch zwischen Noah und Hannah gewesen. Die Beiden unterhielten sich doch ständig über Liebe und ich steigerte mich einfach viel zu sehr in diesen Mist hinein.
 

Ich schüttelte den Kopf und öffnete die erste unbekannte SMS und die war von Hannah: „Hallo, hier ist Hannah. Noah hat mir deine Nummer gegeben, ich hoffe das ist okay. Hör mal, ich hab Noah erzählt, dass ich dir das mit Gaara gesagt habe und ihm auch erzählt, wie fertig zu danach warst. Es tut mir echt Leid, dass ich dich darauf angesprochen habe. Ich wollte noch weiter mit dir reden, aber du warst so schnell weg gewesen... ich hoffe du denkst jetzt nicht Noah hat es sonst wo rum erzählt. Er meinte er hätte es nur mir gesagt. Er hat sich Sorgen gemacht, weil du ihn so pampig verabschiedet hast am Sonntag... hoffe alles ist okay... Liebe Grüße, Hannah.“
 

Ich antwortete irgendetwas davon, dass ich nur müde war, außerdem krank geworden bin und sauer gewesen war, weil er einfach lose Behauptungen aufgestellt hatte. Ich wäre ja schließlich gar nicht in Gaara verliebt und hätte keine Ahnung, wie er auf diesen Mist kam, doch nun wäre alles wieder geklärt. Und beim Absenden hoffte ich inständig, dass Gaara niemandem erzählt hatte, dass wir Beide miteinander rumgemacht hatten.
 

Die letzte unbekannte SMS ließ mich dann knallrot anlaufen und das Handy zitterte zwischen meinen Fingern, während ich die Worte las: „Hey Süßer. Schade, dass du Sonntag so schnell weg warst, hätte gerne noch mal mit dir gesprochen, um dir zu sagen, dass du meinen Geburtstag perfekt gemacht hast ;) Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich würde das Ganze zu gerne wiederholen. Hoffe du bist nicht allzu krank geworden. Irgendwie sind alle erkältet nachdem wir Sonntag ausgesperrt waren (Wen wundert's) Gute Besserung, Gaara.“
 

Ich versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben, aber in meinem Kopf drehte sich schon wieder alles und am liebsten würde ich aufspringen, im Kreis rennen und dabei ununterbrochen „Oh Gott, oh Gott, oh Gott“ sagen. Immer wieder las ich mir die Worte durch. Sie weckten wieder das warme Kribbeln in meinem Bauch, das ich versuchte zu unterdrücken, nur um zu merken, dass ich grinste. Verdammt noch mal! Ich könnte Gaara küssen und eine rein hauen, in der Reihenfolge oder andersherum oder gleichzeitig, Hauptsache ich zeigte ihm, wie gerne ich ihn hatte und gleichzeitig hasste, weil er solche Gefühle in mir weckte. Sollte ich nun darauf eingehen oder es ignorieren?
 

Wenn ich darauf einging, dann... dann war ich schwul? Ich hatte Angst davor darauf einzugehen. Ich wusste nicht wovor ich Angst hatte und ich wusste auch nicht, warum ich nicht darauf eingehen sollte. Er war ein Junge und ich war ein Junge, dies war das einzige Argument, das dagegen sprach und je näher ich darüber nachdachte, desto schwächer wurde dieses Argument. Ich behandelte Noah und seine Beziehungsprobleme vollkommen normal, wenn er mit einem Mädchen zusammen wäre, würde ich ebenso behandeln wie jetzt. Mir könnte es nicht gleichgültiger sein mit wem wer ins Bett stieg oder zusammen war oder rummachte, warum also machte ich bei mir ein so großes Drama raus? Dann hatte ich halt einen Jungen geküsst, änderte das irgendetwas an mir?
 

Wenn ich nicht darauf einging... wenn ich so tat als wäre das alles nie geschehen, dann verschreckte ich Gaara, vielleicht wollte er dann auf dieser Basis nichts mehr mit mir zu tun haben, wurde vielleicht sogar sauer und, wenn ich ihm sagte, dass das nie wieder geschehen durfte, machte ich alles nur noch viel schlimmer.
 

Ich tippte ein paar Worte ein, löschte sie wieder, tippte sie ein und löschte sie erneut. Dann schrieb ich endlich: „Danke. Jaa, bin ein wenig krank geworden, sollte aber in ein paar Tagen wieder besser sein. Wegen deinem Geburtstag...“ Einige Minuten lang überlegte ich wieder, dann entschied ich mich zum ersten Mal für die Wahrheit. „... ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, was passiert ist. Nicht, dass ich so viel getrunken und alles vergessen hätte, sondern... ich verstehe es eher nicht. Das kam ziemlich überraschend und ich brauche Zeit um darüber nachzudenken. In Ruhe, ohne von jemandem bedrängt zu werden... das ist nichts gegen dich, mit jedem anderen Kerl würde ich jetzt in derselben Gefühlslage sitzen.“
 

Das war vielleicht nicht ganz richtig, aber ich wollte ihn nicht glauben lassen, dass ich ihn besonders toll fand. Wenn er dachte, er wäre für mich ersetzbar, war das vorerst für mich besser. Ich las mir meine Worte mehrmals durch, dann schickte ich sie ab. In der Zwischenzeit hatte ich bereits Antworten von Simon und Noah bekommen. Simon freute sich einen Keks und Noah fragte, ob ich Freitag zum Treffen Zeit hätte und, ob ich nächste Woche mit ihm und Hannah zur Hundehilfe fahren wollte. Stimmt. Die Hundehilfe hatte ich bereits vergessen und irgendwie hatte ich Lust darauf mit Hundewelpen zu kuscheln und zu spielen und sie im Schnee spielen zu lassen, deswegen sagte ich zu.

Aber Gaara

Der Bauernhof, auf der die Hundehilfe lag, befand sich weit außerhalb von Berlin und Noah, Hannah und ich wurden von Hannahs Freund hingefahren. Dennis war kleiner als Hannah, mit kurzen, braunen Haaren und spitzem Gesicht. Ehrlich gesagt, fand ich ihn nicht besonders gut aussehend, aber, wenn er Hannah ansah, strahlten seine Augen und, wenn sie ihn ansah, strahlten ihren, deswegen waren sie tatsächlich das perfekte Paar. Dennis' Wagen war ein tiefergelegtes Auto mit einem Monsterbass im Kofferraum aus dem harter Techno dröhnte. Für meinen Geschmack war ich viel zu früh wach. Meine Stirn klebte an der kühlen Scheibe, ich beobachtete wie der letzte Schnee auf den Bäumen schmolz, während wir immer tiefer in die Pampa fuhren. Ich hatte geplant auf der zweistündigen Hinfahrt zu schlafen, stattdessen bekam ich von der lauten Musik Kopfschmerzen und meine Augen brannten vor Müdigkeit.
 

Bis tief in die Nacht hatte ich mit Gaara telefoniert – mal wieder. Nach meiner SMS hatte Gaara einige Gänge herunter geschaltet, wir schrieben auf freundschaftlicher Basis weiter und er erzählte mir, was für ein Krampf es gewesen war, das Haus wieder aufzuräumen. Tatsächlich hatten er und Kaito, der Einzige, der sich dazu bereit erklärt hatte zu helfen, fast drei Tage gebraucht bis alles wieder so aussah wie vor der Party. Trotzdem schwor Gaara den besten 18. Geburtstag gehabt zu haben und plante bereits die nächste Party. Zu welchem Anlass auch immer. Vermutlich zu gar keinem. Als ich ihm erzählte, dass mein bester Freund in den Osterferien nach Berlin kommen würde, versprach Gaara in den Ferien eine Party zu schmeißen, damit alle Simon kennen lernen konnten.
 

Einerseits hatte ich riesige Lust auf eine weitere große Party, vor allem mit Simon, doch andererseits hatte ich Angst, dass Gaara wieder mit mir rummachen würden. Irgendwo wollte ich es ja und mir gefiel der Gedanke, dass er auf mich stand, trotzdem hatte ich Angst vor diesem Neuland. Es war mal wieder oder eher gesagt immer noch kompliziert in meinem Leben und in meiner Gefühlswelt und ich wusste nicht, ob meine Freundschaft zu Gaara gut war oder nicht. Fakt war, dass wir uns absolut auf einer Wellenlänge befanden. Im ersten Moment alberten wir miteinander rum und gaben niveaulose und dumme Sprüche ab und im nächsten Moment führten wir eine Diskussion über Politik oder Physik. In den letzten zwei Wochen hatte ich Gaara ein wenig näher kennen gelernt und mein Eindruck so weit war: Er war gutaussehend, intelligent, hörte gute Musik, war mehr als nur diskussionsfähig, dickköpfig und besaß einen hervorragenden Humor. Außerdem war er rechthaberisch. Etwas, was mich ein wenig nervte, aber Kaito versicherte mir, dass man lernt damit umzugehen.
 

Kaito... auch ihn lernte ich näher kennen, was gar nicht anders möglich war, denn er und Gaara gehörten zusammen wie Zwillinge. In manchen Situationen erinnerten sie mich an Simon und mich und dann schmerzte es, dass mein bester Freund so weit weg lebte. Mittlerweile verstand ich mich besser mit Kaito – und mit Samantha und Noah blendend. Noah schien nun wieder vollkommen glücklich mit Fynn zusammen zu sein und von Sam erfuhr ich, dass sie noch nie eine Beziehung hatte, weil sie „keinen Bock darauf hat“.
 

Für den bekotzten Blumentopf machte Gaara weiterhin Schifti verantwortlich. In der Schule erzählte Gaara es zu allem Übel auch noch herum und nun dachte jeder Schifti hätte Gaara in den Blumentopf gekotzt und der konnte es nicht einmal abstreiten, weil er sich nicht mehr komplett an den Abend erinnern konnte. Mir war die Sache ziemlich peinlich, deswegen erzählte ich niemandem die Wahrheit und Kaito versprach mir Stillschweigen zu bewahren, auch wenn es ihm schwer viel nicht laut los zu lachen, sobald das Thema angesprochen wurde.
 

Mum und Alex war aufgefallen, dass ich viel mehr am Handy hing und ebenfalls mehr wegging, denn ich hatte mich in den letzten zweit Wochen vier Mal mit Noah getroffen. Beim ersten Mal, um die ganze Sache mit Gaara zu klären. Ich log so gut ich konnte und behauptete von Gaara absolut nichts zu wollen. Zwar machte Noah nicht den Eindruck mir zu glauben, doch schwor er mir nie wieder über meine Gefühle zu reden bevor er nicht zu hundert Prozent wusste, dass sie stimmten und, dass er darüber reden durfte. Die anderen drei Mal zockten wir zusammen, sprachen über dies und das, kuschelten mit Batman – Noahs Katzenbaby, das er am Tag nach Gaaras Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und waren in der Stadt unterwegs. Jedoch nicht lange, denn es wehte noch immer ein eiskalter Wind.
 

Auch heute hatte ich mich warm angezogen und als wir endlich nach zwei Stunden Techno ausstiegen und Hannah ihren Freund mit Küssen verabschiedete, dachte ich, ich müsste erfrieren. Auf dem Land war es ja noch kälter. Ich schlang meine Arme um meinen zitternden Körper und wandte mich Noah zu, der mal wieder SMS am Schreiben war. Seine Finger glitten so schnell über den Display, dass einem vom Zuschauen schwindelig werden könnte. Endlich fuhr Dennis fort und Hannah drehte sich mit geröteten Wangen und glücklich strahlend zu uns.
 

„Er holt uns auch wieder ab“, sagte sie. „Dennis ist einfach -“

„Schon gut!“, unterbrach ich sie etwas grob, was mir auch sogleich leid tat, doch ich konnte ihre Schwärmereien langsam nicht mehr ertragen. „Können wir zu den Hundebabys?“

„Ja, tut mir leid, ich weiß ich kann etwas nervig sein“, gab Hannah betreten zu und Noah lachte auf.

„Etwas? Du meinst etwas sehr!“, sagte er und streckte ihr im Scherz die Zunge raus. Sie boxte ihm nicht unsanft gegen die Schulter und meinte: „Es ist übrigens unhöflich bei einem Ausflug ständig am Handy zu hängen!“

„Aber Fynn“, setzte Noah zum schwachen Protest an.

„Nichts aber niemand, pack's weg“, verlangte Hannah und starrte Noah solange an bis er sein Handy tatsächlich in der Jackentasche verstaute. Über die Konversation hinweg lachte ich leise. Meine Finger zuckten ebenfalls immer in Richtung meines Handys, aber ich nahm mir Hannahs Worte zu Herzen. Ich könnte genauso argumentieren wie Noah, nur mit „Aber Gaara“ und das stimmte mich nachdenklich. Wie lange konnte ich die Auseinandersetzung mit meinen Gefühlen noch vor mir herschieben?
 

Auf kurzem Abstand folgte ich den Beiden auf einen großen Bauernhof, der ein wenig verlassen wirkte, da alle Tiere in ihren Ställen waren. Nur auf der Weide standen ein paar Kühe herum, die grasten. Wir gingen um einen großes Gebäude herum, aus dem es streng roch und gelangten auf einen großen Innenhof, der um einiges belebter war. Eine Gruppe kleiner Kinder spielten Fußball, gemeinsam mit einem Schäferhund, der bei jedem Schuss dem Ball nachjagte. Andere Hunde tollten mit Kindern und Erwachsenen und eine freundlich ausschauende Frau mit breitem Gesicht und kleinem Körper winkte uns lächelnd zu.
 

„Hallo Noah, Hannah!“ Sie breitete die Arme aus und drückte die Beiden nacheinander. „Und wen habt ihr da mitgebracht?“

„Das ist Lukas“, stellte Noah mich vor und die Frau streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff und während wir uns die Hände schüttelten, stellte sie sich als Anna vor. Anna war Leiterin der Hundehilfe und brachte uns sofort ins Gebäude hinein, wo im Eingangsbereich ein breiter Schreibtisch stand. Ein junger Mann saß dahinter am Computer und stellte mir ein paar Fragen zu meiner bisherigen Erfahrung mit Hunden. Scheinbar nahmen sie das Ganze nicht allzu streng, denn ich durfte sofort zu den Tieren.
 

„Wenn du einen kaufen willst, ist das etwas anderes“, erklärte mir Anna, während wir in den hinteren Bereich des Gebäudes gingen, in dem ein lauter Krach aus Bellen und Jaulen herrschte. „Dann schauen wir da schon viel strenger auf deine Lebenssituation, deinen Charakter, deine Wohnart, aber, wenn du hier nur aushelfen möchtest, ist das gar kein Problem.“

Sie öffnete eine große Tür und der Krach nahm ohrenbetäubende Ausmaße an. Tatsächlich hatte ich so etwas wie Zwinger erwartet, doch die Hunde befanden sich viel mehr in Pferchen, die richtig groß waren und ausgestattet mit einem Haufen Spielzeug, Decken und Kissen und einer Hundetür, durch die sie jederzeit raus und rein konnte. Viele Hunde liefen außerhalb der Pferche herum. Ich sah wie ein Golden Retriever von seinem Schlafplatz aufsprang, durch die Tür rannte und Schwanzwedelnd Noah begrüßte, der ihn sofort auf Knien herzte und drückte. Auch Hannah wurde von einigen Hunden begrüßt, die sie bereits kannte.
 

Ich wurde von einem Border Collie begrüßt, der mir glücklich am Bein hoch sprang. Anna musste mir ansehen, dass ich nicht ganz wusste, was ich tun sollte, denn sie nahm den Hund am Halsband von mir weg und zog einen kleinen Ball aus ihrer Hosentasche hervor, den er sofort in seine Schnauze nahm und damit glücklich herum hüpfte.

„Ich wollte euch unseren neuen Wurf zeigen“, sagte Anna laut über den Lärm hinweg. „Esther hat ihre Babys bekommen.“

„Ja!“ Noah klatschte freudig in die Hände und folgte Anna als Erster. Sie führte uns an den Pferchen vorbei durch eine weitere Tür, durch die man in einen Zwischengang gelangte. Ein Spitz schlüpfte mit durch den Spalt und wir brauchten eine Weile bis wir es schafften ihn wieder raus zu werfen, ohne, dass andere Hunde uns folgten. Endlich waren wir im kurzen Gang alleine und gingen durch die gegenüberliegende Tür, die in einen kleineren Raum führte, in dem ein niedriger Zaun gespannt war.
 

In der Mitte lag eine große Mischlingsdame und betrachtete stolz sieben Welpen, die herum tapsten. Noah und Hannah entfuhr gleichzeitig ein langgezogenes „Ooooh“ und ich musste mir auf die Zunge beißen, um es ihnen nicht gleich zu tun. Alle Welpen hatten lange Schnauzen und dunkle, große Augen, doch jeder hatte ein anders geflecktes Fell. Wie die Mutter hatte jedes Welpen Brauntöne, Schwarztöne und Weißtöne in der Fellfarbe, doch variierten die Muster. Anna stieg über den Zaun und näherte sich einem Welpen, um zu schauen, wie Esther reagierten, doch die blieb seelenruhig liegen und wedelte sogar mit dem Schwanz.
 

Vorsichtig durften wir nun ebenfalls über den Zaun steigen. Ich hatte ein wenig Angst, dass Esther auffahren würde, wenn wir uns ihren Babys näherten, doch sie blieb vollkommen entspannt und vertraute uns. Noah hatte bereits einen Welpen zwischen den Händen und streichelte ihn vorsichtig, während er aus seinen „Ooooh“s nicht mehr herauskam.

„Esther ist so ruhig“, stellte Anna kopfschüttelnd fest. „Auch bei der Geburt war sie total entspannt. Sie wird nur unruhig, wenn wir eines ihrer Welpen mit raus nehmen, um es zu untersuchen, dann läuft sie immer im Kreis und knurrt ein wenig, aber sie hat noch nie jemanden angegriffen oder so etwas.“

Ich streichelte einem Welpen vorsichtig über den Kopf, traute mich jedoch nicht ihn richtig anzufassen. Wir saßen alle Vier auf dem Boden und Hannah hatte ein Baby auf ihrem Schoß liegen, wo er über ihre Finger leckte und ein wenig daran nagte. Hannah kicherte und erkundigte sich nach den Namen.
 

„Die Kleine auf deinem Schoß heißt Lilo wegen ihrem schwarzen Kopf. Und Noah, die beiden Welpen bei dir heißen Micky und Taro. Die Zwei dort sind Rena und Bonie, dort drüben tapst Neil herum und der Kleine dahinten in der Ecke heißt Joker.“

„Was macht er dahinten in der Ecke?“, fragte Hannah. Ich schaute auf und erkannte Joker, der so weit weg wie möglich von uns war. Eine Seite seines Gesichts war dunkelbraun und schwarz, die andere Seite weiß und hellbraun. Er legte den Kopf ein wenig schief, doch schien er zu ängstlich zu sein, um näher zu kommen. Ich drehte mich ihm ein wenig zu und klopfte mit den Fingern auf den Boden, doch Joker rührte sich nicht. Stattdessen nagte Bonie ein wenig an meiner Hose und ich begann ihr hinter den schlaffen Ohren zu kraulen.
 

„Joker ist ziemlich ängstlich, wir wissen nicht wieso“, erklärte Anna. „Ist wohl eine Laune der Natur. Er traut sich auch nicht richtig mit seinen Geschwistern zu spielen und vor uns Menschen hat er total Angst. Manchmal schaut er neugierig, aber er kommt nie rüber und, wenn wir ihm zu nahe kommen, fängt er an zu fiepen. Kommen wir ihm weiter zu nahe, steht Esther auf und schiebt sich dazwischen, deswegen lassen wir ihn lieber. Wir hoffen nur, dass sich das bald ändert, bevor er sich daran gewöhnt, dann wird es schwierig ihn zu verkaufen.“

Während ihrer gesamten Erklärung hatte ich Anna angeschaut, erst als ich merkte, wie mir ein Welpe an den Fingern leckte, schaute ich runter und erkannte zur allgemeinen Überraschung Joker.
 

„Was hast du gerade gesagt, Anna?“, lachte Noah und deutete auf den Kleinen, der sich nun zwischen meine Beine legte. „Ich glaube Lukas ist vertrauenswürdiger als der Rest von uns!“

Ich kam nicht mehr als dem Lächeln heraus und stellte fest, wie überragend das Selbstwertgefühl gesteigert wurde, wenn ein Welpe, der vor allen Angst hat, ausgerechnet dir vertraut.
 

„Der ist wirklich süß“, stellte Gaara fest und nahm mir mein Handy aus der Hand. Auf dem Foto hatte Joker den Kopf ein wenig schief gelegt und die noch schlappen Ohren nach vorne geklappt, was besonders niedlich aussah. „Willst du ihn adoptieren?“

„Ich weiß gar nicht, ob ich darf“, sagte ich und verstaute das Handy wieder in meiner Hosentasche. Bisher hatte ich mich nicht getraut Mum nach der Erlaubnis zu fragen, denn ich hatte Angst vor der Antwort. Je öfter ich Joker besuchen fuhr, desto mehr wollte ich ihn haben, doch ich wusste um unsere finanzielle Lage und ein Hund würde teuer werden.
 

„Frag halt. Du kannst dir ja einen Nebenjob suchen und mit dem Geld sein Essen, Spielzeug und was weiß ich nicht alles, kaufen“, schlug Gaara Schulterzuckend vor und dabei berührte er mit seiner Haut meine, was ein süßliches, heißes Gefühl hinterließ. Wir saßen nebeneinander auf einer der Couchs im Aufenthaltsraum und unsere Schultern berührten sich ständig, ebenso wie unsere Beine und ich konnte unmöglich verleugnen, dass ich ihn noch mehr berühren wollte.
 

Gaara hatte seine Füße auf dem kleinen Tisch abgelegt und Kaito saß uns gegenüber auf dem Boden und kritzelte sich gestresst einen Spickzettel. Nach der Mittagspause wird er einen Kurztest in Informatik schreiben und, obwohl er dies bereits seit einer Woche wusste, kümmerte er sich jetzt erst darum wenigstens irgendetwas über das Thema zu wissen. Ich schaute zu, wie er die Notizen von einem Mädchen aus seinem Kurs durchging und daraus die wichtigsten Informationen auf den winzigen Zettel quetschte. Mir ging einfach nicht in den Kopf, warum er nicht in seinen Freistunden für den Test gelernt hatte, schließlich hatten wir davon mehr als genug.
 

„Du hättest lernen sollen“, murmelte ich als Kaito den Zettel voll geschrieben hatte, doch noch lange nicht alle Informationen drauf waren. Genervt schaute er mich an. Vor zwei Tagen hatte er sich wieder die Haare abrasiert, nun konnte man die weiße Narbe wieder perfekt erkennen, die sich von seiner Stirn bis auf seinen Kopf schlängelte und hinter seinem rechten Ohr klemmte eine Zigarette. Genauso, wie ich ihn zum ersten Mal in Physik gesehen hatte.

„Wenn ich Zeit gehabt hätte“, knurrte Kaito.

„Hattest du doch, in den Freistunden -“

„Lukas.“ Gaara unterbrach mich mit sanfter Stimme und legte eine Hand auf meinen Oberschenkel, was mich völlig durcheinander brachte. „Lass gut sein.“
 

Dies war der Moment in dem mir bewusst wurde, dass ich Kaito und Gaara nicht so gut kannte wie es mir lieb wäre, doch ich wollte nicht weiter nachfragen. Kaito sah so schon sauer genug aus, etwas, was ich gar nicht von ihm kannte. Er kam immer so gut gelaunt und gelassen rüber.

„Was schreibt der Sack auch jetzt schon einen Test“, grummelte Kaito vor sich hin. „Wir haben grade mal vor... nem Monat unser Halbjahreszeugnis bekommen.“

„Ja, aber echt ey, was fällt dem ein“, sagte Gaara mit einem breiten Grinsen und gehauchtem Sarkasmus. Kaito blickte für einen Moment von seinem Spickzettel auf, um seinem besten Freund das Lächeln zu erwidern, dann wollte er sich erneut mit Schreiben beschäftigen, wurde jedoch von einer Tasche unterbrochen, die nur Zentimeter an seinem Kopf vorbei flog und laut auf der Couch hinter Kaito landete.
 

Mit einem genervten Laut ließ sich Sam auf die Couch fallen und knallte ihren Ordner hörbar auf den Tisch. Noah und Schifti waren mit Sam in den Aufenthaltsraum gekommen und ein paar erschrockene Schüler, die in anderen Sitzecken saßen, wandten sich nach dem Lärm um.

„Ich bin gespannt auf diese Story“, sagte Schifti laut und setzte sich neben das Mädchen, die die Augen verdrehte. Noah ließ sich auf die Armlehne neben mir nieder und erklärte zu uns dumpf: „Sam dachte es wäre eine gute Idee mit dem Fahrrad zu fahren.“

„Was heißt hier bitte schön ich DACHTE das wäre eine gute Idee?!“, empörte sich Sam. „In...“ Sie drehte sich nach der Uhr um, die direkt über der Tür hing. „...sieben Minuten beginnt der Unterricht und wäre ich nicht mit dem Fahrrad gefahren, wäre ich zu spät gekommen.“

„Gehst du normalerweise nicht zu Fuß?“, fragte ich.

„Ja, Bambi, zu Fuß brauche ich ungefähr zwanzig Minuten, aber bei uns war so ein Chaos zu Hause, dass ich zu spät auf die Uhr geschaut habe und mit dem Fahrrad fahren musste und das war ein Fehler wegen diesen behinderten, kleinen Pisskindern.“

„Und genau auf diese Story bin ich gespannt“, sagte Schifti und faltete seine Hände zu einem Tipi.
 

Sam brachte sich in eine aufrechte Position und begann immer noch aufgebraucht an zu erzählen: „Ich fahr also mit ungefähr 50 Stundenkilometer durch die Straße und da sehe ich so eine zwölfjährige, pinktragende Vielleicht-Schlampe am Straßenrand stehen. Als ich etwa einen Zentimeter vor ihr bin, rennt die einfach rückwärts auf die Straße. Ich mache ne Vollbremsung und fliege voll runter, lande aber fast im Ninja-Style auf den Füßen, stoße mir den großen Zeh am Bordstein und meine Tasche fliegt durch ganz Berlin. Also: Zeh gestoßen, Fahrrad demoliert, die Tasche am anderen Ende von Berlin und ach ja: Zeh gestoßen! Jedenfalls gucke ich diese asoziale, Twilight-geschädigte, Wendy lesende Pferde-Bitch an und anstatt sich zu entschuldigen oder loszuheulen oder zu sterben wie ein höflicher Mensch es tun würde, guckt die mich kackendreist an, macht das Peace-Zeichen und sagt mit einem Pferdefressengrinsen: 'Yolo.'“
 

Selbst Kaito musste seine Arbeit unterbrechen, weil er vor Lachen kein ordentliches Wort mehr schreiben konnte.

„Geil. Wenn du dich aufregst, bringst du immer die besten Storys“, lachte Schifti und schlug in die Hände. Auch Sam musste grinsen, regte sich jedoch nun mehr gespielt weiterhin auf: „Ich glaube ich bilde so eine Partei, die sich gegen Klimaerwärmung, Ganztagsschulen und Yolo – Pisskindern einsetzt. Und die Gangstas mit ihrem Swag müssen ebenfalls weg. Die werden alle zusammengetrieben und erschossen und die Partei nenne ich dann Yolocaust. Im Herbst ist die Wahl, wer ist dabei?“
 

Sofort meldeten wir uns alle Vier, hörten jedoch noch nicht auf zu lachen. Als es zur nächsten Stunde klingelte und wir gemeinsam aufstanden, fragte Sam in die Runde, was denn jetzt mit Kino am Wochenende wäre und ich merkte wie mir die Freude erstarb. Von irgendeinem Kinobesuch hatte mir niemand etwas erzählt... aber wieso war ich darüber enttäuscht? Schließlich gehörte ich nicht wirklich in diese Clique. Ich war eher... ein Schulkamerad.
 

„Ach richtig!“, sagte Noah und stupste mir gegen die Schulter als ich an allen vorbei zu den Kunsträumen rauschen wollte. „Ich hab vergessen dich zu fragen, ob du mitkommen möchtest. Aber das Problem könnten wir so einfach lösen, wenn du dir ein Smartphone und WhatsApp zulegen würdest. Wir haben da nämlich eine Gruppe, in der wir Treffen ausmachen und miteinander Blödsinn schreiben.“

„Ah okay“, machte ich bloß und fühlte mich dumm, dass ich über eine Einladung zum Kino ein solches Drama machte. „In welchen Film wollt ihr denn?“

„In die Sneak“, antwortete Gaara.

„Was ist das?“

„In der Sneak kommt irgendein Film, du weißt erst welcher, wenn du im Kino sitzt und der Film anfängt. Aber es sind immer Filme, die erst in ein bis zwei Wochen in den Kinos kommen, deswegen hat man zumindest eine Auswahl“, erklärte mir Gaara. „Das Problem ist nur, dass man für die Sneak immer vorbestellen muss, die ist nämlich jedes Mal voll.“

„Genau, deswegen frage ich ja, wer jetzt alles mitkommen möchte“, sagte Sam und blickte mich an. „Wie ist es mit dir, Bambi?“

„Ja“, antwortete ich sofort.

„Super, ohne wissen zu wollen an welchem Tag, um wie viel Uhr und wie viel Geld es kostet“, sagte Sam grinsend und ich merkte wie ich scharlachrot anlief. Ich hatte doch nur direkt Ja gesagt, weil ich hier Freunde haben wollte...

„Solche Leute braucht das Land“, warf Schifti ein.

„Kommst du mit?“, fragte Sam und ehe Schifti 'Nein' antworten konnte, empörte sich Gaara mit: „Der kommt nirgends mehr mit, solange bis ich ihm wegen dem Blumentopf nicht mehr sauer bin.“
 

Kaito, der ein wenig abseits stand, weil er sich seinen Spickzettel noch mal durchlesen wollte, musste ein Lachen unterdrücken und ich war froh bereits knallrot zu sein, dann fiel es gar nicht auf, dass seltsamerweise immer ich beschämt war, wenn es um diesen bescheuerten Blumentopf ging.

Am Ende lief es nur auf Gaara, Kaito, Sam, Noah und mich hinaus und ich war mit dieser Zusammenstellung an Leuten sehr zufrieden. Wir machten noch aus, wie wir gemeinsam dorthin kamen und endeten damit, dass ich zu Gaara gehen würden, wir gemeinsam Kaito abholen und Sam und Noah direkt zum Kino fahren würden. Da ich nicht ganz genau wusste, wo Sam und Kaito wohnten, stellte ich diesen Plan nicht infrage.
 

Als der Tag gekommen war und an der U-Bahn-Station ausstieg, die Gaara mir genannt hatte, hatte ich keine Ahnung wie ich zu seinem Haus kommen sollte. Ziellos lief ich eine Weile in der Gegend herum, auf der Suche nach irgendetwas, an das ich mich erinnern konnte, bis ich mich dazu überwand Gaara anzurufen.

„Ich weiß nicht mehr, wo du wohnst“, sagte ich gedrückt als er abnahm und ich hörte, wie er auf der anderen Leitung anfing zu lachen.

„Wo bist du denn gerade?“
 

Ich nannte ihn einen Straßennamen und er führte mich durch das Viertel bis ich in der Unterführung landete, in der wir miteinander rumgemacht hatten. Bei dem Gedanken daran wurde mir ganz heiß und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Es hatte sich so gut angefühlt...

„Jetzt solltest du in der Unterführung sein, in der du mich sehr glücklich gemacht hast“, sagte Gaara nebensächlich und wollte mit seiner Erklärung fort fahren, doch mich ritt irgendetwas, was ich in der Sekunde darauf verfluchte, und sagte prompt: „Und hoffentlich wieder glücklich machen werde.“
 

Ich merkte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss und hätte am liebsten aufgelegt, das Handy weggeworfen und wäre nach Hause gerannt, aber dann stellte ich mir vor wie Gaara nun sein unvergleichliches Grinsen grinste. Wie er es so häufig mir gegenüber tat. Dieses verwegene, aber so gut aussehende Grinsen, das mich jedes Mal aufs Neue umhaute und ich konnte nicht anders als weiter zu gehen. Von hier aus kannte ich den Weg.
 

„Okay“, machte Gaara nur, doch anhand seines Tonfalls konnte ich erkennen wie ihm diese Aussage gefiel. Ich hatte ein wenig Angst, dass er sich nun andere Pläne ausdenken würde, dass er mit mir zusammen bei sich bleiben wollte, damit wir intimer wurden, aber Gaara stand abholbereit vor seiner Haustür und grinste. Für einen Moment hatte ich das Gefühl mich erklären zu müssen, doch Gaara ging nicht weiter auf meinen Kommentar ein, sondern umarmte mich zur Begrüßung und setzte dann zum Weg zu Kaito an. Schweigend folgte ich ihm.
 

Wir mussten erneut mit der U-Bahn fahren und stiegen in einem Viertel von Berlin aus, das mir so gar nicht gefallen wollte. Ich wusste, dass Kaito morgens lange bis zur Schule brauchte, weil er hier nicht zur Schule gehen wollte und dies verstand ich in dem Moment, in dem ich die heruntergekommenen Häuser sah. Überall standen volle Müllsäcke auf der Straße herum, Kinder fuhren uns beinahe mit alten Fahrrädern über den Haufen und ein altes Ehepaar stritt lauthals quer über die Straße.

„Ich habe zu viel zu tun, um dir zu helfen, Weib!“, brüllte der Mann aus dem Fenster, während sie unten die Straßen kehrte und wütend aufblickte gerade als wir an ihr vorbei huschten.

„Zu viel zu tun?! Du alter Säufer hast gar nichts zu tun außer du saufen!“, schrie sie. Ich versuchte die Beiden zu ignorieren und warf Gaara einen Blick aus großen Augen zu.
 

„Hier ist es furchtbar“, teilte ich ihm mit. Die Straßenlaternen waren bereits an, auch wenn die Sonne noch nicht untergegangen war und ein orangefarbenes Licht auf die Stadt warf.

„Nein, nachts ist es hier furchtbar“, entgegnete Gaara. „Jetzt ist es noch harmlos.“

„Warum wohnt Kaito hier?“, fragte ich. Gaara blieb vor einem Haus stehen, das eine graue Fassade hatte und klingelte im ersten Stockwerk. Auf meine Frage antwortete er nicht. Die Tür wurde aufgedrückt und ich zögerte einen Moment bevor ich hinein ging. Eigentlich wollte ich so schnell wie möglich wieder fort.

Alles was zählt, seid ihr.

Beeindruckt und überrascht zugleich betrachtete ich das Gemälde, welches bereits ein wenig eingestäubt war und ein wenig hinter Kaitos vollbeladenen, unordentlichen Schreibtisch stand. Darauf zu erkennen war ein buntes Chaos aus unterschiedlichen Motiven, die alle in sich eine Bedeutung hatten, doch erst gemeinsam ein fantastisches Bild ergaben. Ich merkte erst, dass mein Mund ein wenig offen stand, als Gaara mich an stupste und mir einen Malblock hin hielt.
 

„Schau dir die Portraits mal an“, sagte er und klappte das Cover auf. Das erste Portrait war eins von Samantha, man erkannte sie sofort. Alles mit Bleistift gezeichnet, doch wunderbar schattiert und detailliert, die kleinen Lichtflecken in ihren Augen ließen sie lebendig erscheinen. Wie konnte ich Kaito nun fast ein halbes Jahr lang kennen, ohne erfahren zu haben, dass er ein Künstler war? Und was für ein Künstler. Er konnte wirklich, wirklich gut malen und zeichnen. Seine Bilder waren fantastisch.
 

„Das hätte ich ihm niemals gegeben“, gab ich murmelnd zu, klappte Samantha um und erkannte als Nächstes Noah mit großen, glitzernden Augen und leicht geöffnetem Mund. Selbst seine Sommersprossen sahen so echt und gut aus.

„Ich weiß. Niemand glaubt, dass Kaito gut zeichnen kann“, sagte Gaara schulterzuckend und ließ sich auf dem Bett seines besten Freundes nieder, auf dem ein Haufen Klamotten herum lagen. Sein Zimmer war mit Abstand einer der Unordentlichsten, die ich je gesehen hatte. Leere Pizzakartons, Tüten von McDonalds, Videospielhüllen, alte CDs und DVDs, Klamotten, Schulsachen, leere Flaschen, alles lag kreuz und quer im kleinen Raum herum. Über der Stehlampe neben dem Kleiderschrank, der dem Fußboden zu urteilen nach vermutlich komplett leer war, hing eine Boxershorts. Kaito befand sich im Badezimmer, er war gerade erst mit Duschen fertig gewesen als wir kamen und so langsam dämmerte es mir, wer von den Beiden derjenige war, der zum Unterricht ständig zu spät kam und welcher einfach mit ging, weil es der beste Freund war.
 

Ich blätterte durch die Portraits und hielt bei einem von einer jungen Frau an, deren Hautfarbe dunkel war. Ihre Haare waren kräftig und tiefschwarz. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Ich überlegte ein wenig bis mir wieder einfiel, dass sie Kaitos Schwester war, die uns zu Gaaras Geburtstag gefahren hatte.

„Wie heißt sie noch mal?“, fragte ich und setzte mich neben Gaara, der sich eine Zigarette anzündete und einen bereits randvollen Aschenbecher vom Nachttisch auf die Decke stellte.

„Aljona“, antwortete Gaara.

„Ist sie seine Adoptivschwester?“

„Nein, Halbschwester. Sie haben unterschiedliche Väter.“

„Aber sie wohnt nicht hier, oder?“ Kaito lebte mit seiner Mutter in einer sehr kleinen Wohnung. Zwar hatte ich nur Flur und Kaitos Zimmer gesehen, doch das reichte vollkommen um einzuschätzen, wie klein hier alles war. Ganz anders als Noahs oder Gaaras Häuser, ganz anders als meine Wohnung.
 

„Nein, sie wohnt mit ihrem Freund zusammen. Die Zwei haben aber nie zusammen gewohnt. Aljona hat mit, ich glaube 16, Kontakt mit ihrer Mutter aufgenommen und dadurch dann auch Kaito kennen gelernt“, erklärte Gaara und ich blickte ihn verdutzt an. Nach ein paar Sekunde brachte er bitter hervor: „Sie hat Aljona direkt nach der Geburt abgegeben.“

„Warum hat sie das gemacht?“, fragte ich verwirrt. „Und warum hat sie das nicht bei Kaito gemacht?“
 

Ehe Gaara antworten konnte, ging die Tür auf und Kaito trat ein. Er wirkte gestresst, dabei hatten wir noch mehr als genug Zeit, um zum Kino zu kommen, abgesehen davon war Kaito nie gestresst. Erst wenn es darum ging noch etwa zehn Minuten zu einem Test zu haben, zu dem er nichts gelernt hatte, dann konnte er ein wenig in Panik geraten, doch ansonsten ging er alles entspannt an. Schnell zog er sich durchgetretene Sneakers an und warf eine Lederjacke über seine weite Stoffjacke, deren Kapuze er über seinen geschorenen Kopf zog. Auch ich hatte mich mal wieder in Kapuze gekleidet und mein Pony wuchs langsam aber sicher auf meine Augenbrauen zu. Ich war froh, dass es wieder länger war, ich mochte diese kurzen Haare nicht.
 

„Wir haben noch Zeit, Kaito“, sagte ich, als er seine Schultasche hektisch nach seinem Portemonnaie durchsuchte.

„Nein“, widersprach Kaito und drehte sich zu uns um, doch der Blick lag auf Gaara. „Sie ist wieder -“

Er stockte und dann passierte, was zwischen den Beiden beinahe ständig passierte: Sie kommunizierten mental miteinander. Ein einfacher Blickwechsel und Gaara verstand, was Kaito wollte und Kaito verstand, was Gaara dazu sagen würde. Anstatt weiter nach seinem Geld zu suchen, wollte Kaito das Zimmer verlassen und Gaara sprang vom Bett auf, um die Suche zu übernehmen, doch als der Russe die Tür aufmachte, stand dort schon jemand.
 

Im ersten Moment dachte ich eine fremde Frau hätte sich in die Wohnung verlaufen, erst im zweiten Moment verstand ich, dass dies Kaitos Mutter war. Und gleich darauf wurde mir klar, dass Kaito seinen Satz vermutlich mit dem Wort „zugedröhnt“ beendet hätte. Vor Entsetzen klappte mir der Mund auf und ich musterte diese Frau, die dafür, dass sie zwei Kinder hatte, noch recht jung aussah, doch so genau konnte ich das nicht beurteilen, denn sie war abgemagert. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, Schatten hatten sich darunter gebildet und die braunen Iriden waren kaum zu erkennen, denn die Lider waren zu Schlitzen verengt. Ihre braunen Haare waren zerzaust und buschig. In einer Hand hielt sie eine Zigarette, mit der Anderen hielt sie ihren Morgenmantel vorne zusammen.
 

„Ich habe einen neuen Penis-Witz“, brachte sie langsam und schwerfällig herüber. „Den hat mir Monika bei gebracht...“ Sie ließ ihren Morgenmantel los, der ein einfaches Nachthemd entblößte und hielt die Hand neben ihre rechte Wange. Mit der Zunge drückte sie gegen ihre linke Wange und fuhr mit ihr in dieselben Richtungen, in die sie auch ihre zur Faust geballten Hand bewegte. Nach ein paar Sekunden machte sie Würgegeräusche, tat dann so als müsste sie sich übergeben und verbeugte sich tief. Dabei wäre sie beinahe umgefallen, hätte Kaito sie nicht festgehalten.
 

„Vielen Dank, Annabell Petrov der Name, ich trete noch die ganze Woche auf“, sagte sie, während Kaito sie sanft aus dem Zimmer schob. Er sprach zu ihr leise auf russisch und sie behauptete: „Es ist unhöflich vor deinen Gästen nicht deutsch zu sprechen. Habe ich dich denn gar nicht erzogen?“

Doch Kaito redete weiter auf russisch. Ich verstand kein Wort, doch in seiner Stimme schwang deutlich Scham und Betretenheit. Erst als die Tür hinter den Beiden zuging, konnte ich meinen Blick abwenden und noch immer mit offenem Mund Gaara anschauen, der dort mit Kaitos Schultasche in der Hand stand und wie überfahren aussah. Verbittert zog er Kaitos Portemonnaie aus der Tasche, dann schaute er mich mit einem Blick an, als würde er mich auffordern über die Situation zu lachen, doch ich konnte mich nicht erinnern je etwas unlustigeres gesehen zu haben.
 

Nach einigen Momenten des Schweigens und Wartens machte Gaara vorsichtig die Tür auf und schaute in den Flur, dann drehte er sich zu mir und fragte, ob ich all meine Sachen hätte.

„Ja“, antwortete ich krächzend.

„Dann können wir gehen“, sagte Gaara.

Wir verließen die Wohnung, Kaito konnte mich nicht mehr ansehen und ich merkte zu spät, dass ich ihn anstarrte. Verlegen senkte ich meinen Blick, doch ich sagte nichts. Kaito sagte nichts, Gaara sagte nichts und wir sprachen nie wieder über dieses Erlebnis.
 

Am Mittwoch bekamen wir unseren ersten Physiktest des zweiten Halbjahres zurück und ich grummelte ein wenig über meine vierzehn Punkte. Nur einen Punkt mehr und es wäre eine Eins Plus, so hatte ich bloß eine glatte Eins und dann hatte ich diesen einen Punkt auch noch wegen zwei dummen Rechenfehlern einstecken müssen. Aus dem Augenwinkel erkannte ich auf Gaaras Test ebenfalls vierzehn Punkte. Er zeigte keinerlei Reaktion zu dieser Note, als wäre es ihm egal und verstaute das Blatt nach nur einem Blick darauf in seiner Umhängetasche.
 

Knurrend knüllte Kaito neben ihm den Test zusammen. Er schob das Kinn ein wenig vor, was seinem kantigen Gesicht einen aggressiven Ausdruck verlieh und murmelte etwas von „Dieses scheiß Arschloch“, womit er zweifelsohne unseren Lehrer meinte. Vorher hätte ich nun vermutlich gedacht, dass der Lehrer nichts dafür konnte, wenn Kaito nicht lernte, aber nun wusste ich, dass er eine drogenabhängige Mutter zuhause sitzen hatte, die von Hartz VI lebte. Rechtzeitig bemerkte ich, dass ich ihn schon wieder mitleidig anstarrte und blickte stattdessen rüber zu Noah, der traurig seinen Test betrachtete. Sam seufzte neben mir genervt: „Schon wieder nur drei Punkte.“ Am liebsten hätte ich sie alle Drei gleichzeitig in den Arm genommen und getröstet.
 

„Vielleicht sollten wir anfangen uns mehr zu helfen“, sprach ich einen Gedanken aus, der mir spontan kam. „Gaara und ich sind gut in Physik -“

„Gaara und du sind gut in allem“, entgegnete Sam Augen rollend. „Nichts für ungut, Jungs. Ich habe euch beide lieb, das wisst ihr, aber ihr könnt einem mit diesen guten Noten echt auf den Sack gehen.“

„Das sagst du“, lachte Noah sarkastisch auf. „Nur weil du in zwei Fächern schlecht bist, musst du nicht solche Reden schwingen. Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn man ständig schlechte Noten schreibt -“

„Und du auch nicht“, fuhr Kaito ihm hart ins Wort und ich spürte die wachsende Anspannung, die sich über die Gruppe legte. Sofort fühlte ich mich dafür schuldig, schließlich hatte ich mit dieser Diskussion angefangen.
 

„Können wir uns jetzt bitte nicht streiten“, sagte Sam. In der Klasse hatten sich überall Gespräche breit gemacht und der Lehrer diskutierte mit einer Schülerin über ihre Note. Sam wandte sich Kaito genervt zu: „Ich fände es super, wenn du mehr auf deinen Tonfall achten würdest und darauf wie du in letzter Zeit mit uns umspringst. Deine schlechte Laune ist unerträglich, ernsthaft.“

„Ich gebe mir schon Mühe“, entfuhr es Kaito. „Kann ich nichts für, wenn du so empfindlich bist!“

„Ich und empfindlich?“, fragte Sam spöttisch. „Mit euch als beste Freunde? Ich lass mich nur nicht gerne dumm anfahren!“
 

Kaitos Nervosität wurde schlimmer. Bei der Sneak hatte ich ständig aus dem Augenwinkel seine zuckenden Beine gesehen. Sobald er ruhig sitzen musste, trommelte er mit den Fingern und Füßen und jetzt, da er mit Sam stritt, wurde das Zucken nur noch schlimmer. Gaara saß nur daneben, hatte die Lippen aufeinander gepresst und sagte gar nichts. Stattdessen blickte er aus dem Fenster. Es schneite nicht mehr. Berlin war überzogen von einem Schleier getautem Schnee und langsam wurde es sogar wärmer.
 

„Ich fahre euch nicht dumm an“, erwiderte Kaito. „Ich rede ganz normal.“

„Machst du nicht“, sagte Sam entschieden und blickte mich an. „Oder Bambi?“

„Eh eh.“ Überrumpelt davon, dass ich in diese Diskussion einbezogen wurde, blickte ich von Sam zu Kaito und wusste nicht, was ich sagen sollte. Zum Glück schaltete sich Gaara nun doch ein und sagte beinahe lahm: „Zieh Lukas doch da nicht mit rein.“

„Ich brauche nur Unterstützung. Von euch Beiden kann ich die ja nicht erwarten“, meinte Sam und schaute erst zu Gaara und danach zu Noah, der verlegen auf seine Hände schaute.

„Ich finde schon, dass du ein bisschen fies bist in letzter Zeit“, gab er kleinlaut zu. So kannte ich Noah gar nicht und diese Streiterei kannte ich ebenfalls nicht. Doch wenn ich so nachdachte, dann war Kaito in den letzten paar Tagen tatsächlich sehr schlecht gelaunt und zynisch gewesen. Vermutlich war es mir nicht so sehr aufgefallen, weil ich ihn für seine Mutter noch immer bemitleidete und mich furchtbar fühlte, weil ich ständig so schlecht über ihn urteilte.
 

„Ihr sagt ihr wollt mich unterstützen, aber eigentlich macht ihr es nicht. Ich beschwert euch nur darüber, dass ich schlecht drauf an. Niemand hat gesagt, dass es einfach wird, wenn ihr mir dabei helfen wollt. Aber scheinbar wollt ihr nicht helfen“, zischte Kaito mit gedämpfter Stimme, damit nur wir es hören konnten. Verwirrt aber höchst interessiert verfolgte ich das Gespräch.

„Natürlich wollen wir das, aber ich habe dir schon gefühlte hundert Mal gesagt, dass es so nicht geht“, sagte Sam ebenfalls leiser. „Du hast es schon oft genug versucht. Nur, weil du älter wirst, muss das nicht heißen, dass du eine bessere Selbstbeherrschung erlangst. Alleine kannst du es nicht schaffen und wir sind keine Therapeuten. Herrgott noch mal, wir nehmen doch alle selbst Marihuana und werfen uns bei lauten Partys ne Tablette ein. Wie sollen wir da die beste Hilfe für dich sein?“
 

Kaito fuhr sich mit beiden Hände über das Gesicht, rieb sich die haselnussbraunen Augen und spreizte dann ein wenig die Finger, damit er Sam dadurch anschauten konnte. In seine Handflächen hinein murmelte er: „Ihr seid der einzige Grund wieso ich überhaupt einen Entzug machen möchte.“

„Es geht auch um deine Zukunft“, setzte Noah an, doch Kaito schüttelte den Kopf.

„Nein, ich denke nicht über die Zukunft nach. Wahrscheinlich schaffe ich mein Abitur nicht, wir haben ohnehin kein Geld um uns eine Uni zu leisten, ich bin perspektivlos, jetzt schon. Alles was zählt, seid ihr.“
 

Darauf folgte ein längeres Schweigen. Mir fiel auf, dass Kaito sich bei seinem letzten Satz Gaara ein wenig zuwendete als sei besonders er gemeint, was vermutlich auch der Fall war. Ich kam mir seltsam fehl am Platz vor, denn ich gehörte sicherlich nicht zu den wichtigsten Menschen in Kaitos Leben. Endlich sagte Gaara wieder etwas und es war nur ein Trockenes: „Das war ultra schwul.“

„Du bist derjenige von uns Beiden, der auch mal Männer fickt“, meinte Kaito und nahm die Hände wieder von seinem Gesicht. Sein Grinsen war wieder zurück und Gaara erwiderte es.
 

Es klingelte zur nächsten Stunde und auf dem Weg klärten Sam und Kaito ihre Unstimmigkeit. Eine genaue Lösung für Kaitos Entzug wurde jedoch nicht gefunden. Während wir vor dem Klassenraum warteten, wurde ich über die Situation aufgeklärt. Dass Kaito bereits seit Jahren von Koks abhängig war und immer wieder versuchte damit aufzuhören, doch ständig rückfällig wurde. Wenn er zu lange nicht mehr gekokst hatte, stellten sich bei ihm depressive Phasen, wie auch Wutphasen und lang anhaltende Nervosität und Schlaflosigkeit ein. Ich konnte mir vorstellen, dass auch eine drogenabhängige Mutter nicht gerade hilfreich war, um einen Entzug zu machen.
 

Ich kam mir mit Informationen überladen vor. Über den Rest des Tages hinweg, war die Geschichte wie abgeschlossen. Mir fiel Kaitos Nervosität und seine dunklen Schatten unter den Augen viel mehr auf als sonst, außerdem rauchte er beinahe so viel wie Gaara immer rauchte, doch alle Schüler verhielten sich ansonsten wie jeden Tag. Kaito lachte über Scherze, Gaara machte Scherze, Noah brachte seine lustigen, sarkastischen Kommentare, Sam zeigte ihre weibliche Dominanz und ihr Selbstbewusstsein. Sie verhielten sich wie immer und da fragte ich mich, ob dieses Problem mit Kaito vielleicht nur für mich etwas besonderes war und für sie Alltag.

BUM.

In der schlimmsten Phase von Kaitos Entzug übernachtete er ein paar Tage bei Gaara und nahm drei Kilogramm ab. Als er eines morgens nicht einmal mehr zur Schule kam, weil er sich schwach und depressiv fühlte, stürmte Samantha Gaaras Haus und hielt Kaito eine lange Rede darüber, dass er einen richtigen Entzug machen sollte, in einer dafür vorgesehenen Klinik mit professioneller Hilfe, doch Kaito fragte sie nur, wie sie ihm die Zeit wiedergeben könnte, die er dadurch verlor. Als sogar Gaara mit sich kämpfte, ob dieser eiskalte Entzug der richtige Weg war, ging es Kaito wieder besser. Dies war, als die Zeit sich den Osterferien näherte und ich mich über alles auf Simon freute. Wir telefonierten jeden Abend miteinander und unterhielten uns nur noch über die Dinge, die wir gemeinsam in Berlin tun würden.
 

In der letzten Woche vor den Ferien entschied sich Kaito dazu wieder einmal bei seiner Mutter zu schlafen. Er ging wieder zur Schule, hatte Farbe im Gesicht und würde bald gesünder aussehen als vor seinem Entzug und dies sorgte für eine allgemeine Hebung der Stimmung in der Clique. Erst als Kaito wieder normal war und richtig lachen konnte, merkte ich wie bedrückt die Vier in den letzten Wochen gewesen waren. Ehrlich gesagt, hatte ich das Gefühl sie wären mit ihrer Stimmung auf meine Ebene gekommen. Hier unten bei mir war man immer ein wenig schlecht gelaunt, ein wenig traurig und man sah viel mehr die negativen Dinge im Leben als die Positiven. Zum Beispiel konnte ich mich noch so sehr auf Simon freuen, es gab etwas anderes, was immer näher rückte und schwer in meinem Herzen lag: Der Todestag meines Vaters.
 

Jeden Morgen zählte ich die Tage, die mir noch blieben und wartete darauf, dass Mum vorschlagen würde, dass wir sein Grab gemeinsam besuchen fuhren. Ich hatte sein Grab nicht besucht seit der Beerdigung. Mum und Alex schon, als wir noch in Nordrhein-Westfalen gewohnt hatten, doch ich hatte mich nie dazu überwinden können. Scheinbar merkte man mir an, dass mir dieser Tag zu schaffen machte, denn drei Tage vor den Ferien sagte mir Noah in Deutsch, dass ich schweigsamer wäre als sonst.
 

„Ich meine, du redest noch weniger als sonst“, meinte er schulterzuckend. „Ist es wegen Joker?“

„Oh.“ Den Hund hatte ich in meinem Kopfchaos beinahe vergessen. In ein paar Tagen waren er und die anderen Welpen alt genug, um zur Adoption frei gegeben zu werden und ich hatte Mum immer noch nicht gefragt, ob ich Joker haben dürfte. Dass er von jemand anderem außer mir adoptiert werden könnte, nagte an mir. „Nein, aber danke, dass du den auch noch in mein Chaos einbringst.“

„Tut mir Leid“, sagte Noah erschrocken und ich fühlte mich sofort schlecht, dass ich ihm gegenüber so zynisch gewesen war, deswegen entschuldigte ich mich ebenfalls und rieb mir über die müden Augen. Schlafen war in den letzten Tagen auch nicht besonders angesagt in meinem Leben. Denn neben Dad und der Vorfreude auf Simon und der Angst vor den unangenehmen Gesprächen über Dad mit Mum und Alex und nicht zu vergessen den Prüfungen, die nach den Osterferien anfangen würden, gab es immer noch Gaara.
 

Wir verstanden uns immer noch blendend, konnten übereinander lachen, hatten sogar ein paar Insider gesammelt, doch nach meinem dummen Kommentar, der mir auf dem Weg zu ihm herausgerutscht war bevor ich von Kaito und seiner drogenabhängigen Mutter erfahren hatte, näherte er sich mir wieder auf sexueller Ebene. Er fasste mich nicht an oder versuchte mich in einem passenden Moment zu küssen, aber er grinste mich mit seinem gut aussehenden Grinsen an und ständig machte er Anmerkungen. Teilweise sogar welche, die nicht nur ich, sondern auch andere hören konnten. Dann konnte ich ihn nicht einmal schubsen und ihm mit hochrotem Kopf sagen, dass er aufhören soll. Da stand ich dann einfach nur mit hochrotem Kopf und versuchte mir ein Lachen auf die Lippen zu quälen.
 

Das Problem bei der Sache war, dass ich nicht einmal wirklich wollte, dass er damit aufhörte, denn eigentlich mochte ich ihn ebenfalls auf sexueller Basis und das machte mir beinahe noch mehr zu schaffen. Ich stand auf Kerle. Das konnte ich unmöglich weiterhin verleugnen. Ich fand Noah niedlich mit seinen Sommersprossen und seinen riesigen, blauen Augen und, wenn ich bei ihm zu Besuch war und er Fynn mit Küssen begrüßte oder verabschiedete, schaute ich den Beiden gerne zu und spürte, dass mich der Anblick erregte. Ich fand, dass Gaara mehr als nur gut aussah und spürte immer dieses warme Kribbeln in meinem Bauch, wenn er mich berührte oder einen seiner Kommentare abgab. Hieß das ich war schwul oder bisexuell? Stand ich überhaupt auf Mädchen? Irgendwie nicht.
 

Mir kam es einfach und gleichzeitig furchtbar kompliziert vor und ich bekam Kopfschmerzen, wenn ich zu lange darüber nachdachte. Ehrlich gesagt, würde mir bald der Kopf platzen, wenn ich nicht mit irgendwem über das ganze Chaos sprach. Aber vielleicht sollte ich gerade solange warten, dann müsste ich auch nicht den Todestag meines Vaters erleben.

Dass ich wirklich mit jemandem reden sollte, merkte ich in der sechsten Stunde. Noah und ich belegten gemeinsam Geschichte Leistungskurs und stellten voller Erschrecken fest, dass unsere Lehrerin einen Überraschungstest geplant hatte. Als alle Blätter lagen, herrschte absolute Stille im Raum, unterbrochen vom Kritzeln der Kugelschreiber und dem Wind, der durch die ersten Blätter des Frühlings wehte. Vögel zwitscherten in der Ferne und man hörte die Autos rauschen. Und die Uhr tickte. Nun gut, eigentlich war es überhaupt nicht still im Raum. Oder es war nur so laut in meinem Kopf, aber die Uhr störte wirklich.
 

BUM. BUM. Jede Sekunde schlug ein wie eine Bombe. BUM. 'Erläutern Sie folgenden Begriff: Dualismus von Landesherren und Landständen.' Das war gerade mal die erste Aufgabe und mein Kopf begann bereits zu schmerzen. Ich kritzelte ein paar Worte, strich sie wieder durch, schrieb wieder etwas, riss das Blatt raus und begann erneut meinen Namen und das Datum drauf zu schreiben. Wieder kam ich nicht weiter, deswegen widmete ich mich der zweiten Aufgabe. BUM. Diese blöde Uhr. BUM. 'Definieren Sie Feudalismus.' Das war einfach. Ich schrieb eine Definition und merkte danach, dass meine Sätze in sich keinen Sinn ergaben, weil ich Wörter vertauscht oder vergessen hatte. BUM. Ich schrieb die Definition neu, diesmal richtig und sorgte mich um die dritte Aufgabe.
 

Ich quälte mich durch die Aufgaben, brachte kaum drei Wörter hintereinander auf das Papier ohne mehrfach darüber lesen zu müssen. Schließlich hielt ich mir die Ohren zu und presste sie Augen fest zusammen, um mich besser konzentrieren zu können, doch eigentlich wollte ich nur dem Ticken entkommen. BUM. BUM. Noch eine Sekunde und noch Eine. Mir rannte die Zeit für den Test davon. Wenn die Zeit nur stehen bleiben könnte. Warum wollte ich unbedingt, dass dieses Ticken aufhörte? Ich schlug die Augen auf und wusste die Antwort: Mein Blick fiel durch Zufall auf das Datum neben meinem Namen. Ich hatte nicht das heutige Datum, den 23.03.2011 aufgeschrieben, sondern den 23.04.2011. Einen Monat später. Nur noch einen Monat bis zum Todestag...
 

Plötzlich war mir schlecht und ich spürte einen dicken Kloß, der in meiner Kehle heranwuchs und mir die Tränen in die Augen trieb. Zwei Reihen vor mir stand ein Mädchen auf, um ihren Test abzugeben und den Raum zu verlassen und ich entschied kurzerhand dasselbe zu tun. Schnell, etwas zu schnell, sprang ich auf, brachte das Blatt mit dem falschen Datum nach vorne und packte meine Sachen zusammen. Ich spürte Noahs verwirrten und besorgten Blick auf mir als ich mit zusammengepressten Lippen an ihm vorbei rauschte und den Raum verließ.
 

In ein paar Minuten würden die Gänge voll mit Leuten sein und ich überlegte, wo ich hingehen konnte, um meine Ruhe zu haben. Als ich noch das Mobbingopfer der Idioten gewesen war, hatte ich mich häufig auf einer Toilette eingeschlossen, dort gekotzt und ein wenig geheult, bevor ich mich wieder zusammengerissen hatte, aber das würde ich sicherlich nicht noch einmal machen. Ich wollte nicht kotzen, ich brauchte nur kurz meine Ruhe. Als einziger Ort fiel mir die Bücherei ein. Die meisten aus der Oberstufe gingen in der Mittagspause etwas essen und seitdem das Wetter wieder besser war, saßen auch viele draußen auf dem Schulhof.
 

Ich erklomm die Stufen ins oberste Stockwerk, rannte dort fast zwei Siebtklässlerinnen um, die kichernd von der Toilette kamen und riss endlich die Tür zur Bücherei auf. Etwas laut ließ ich sie hinter mir ins Schloss fallen und stellte erleichtert fest, dass niemand am Schreibtisch saß. Der befand sich gleich neben der Eingangstür und meistens saß jemand aus der 13. Klasse dort, um die Papiere zum Ausleihen ab zu stempeln. Glücklicherweise schien für die sechste Stunde mittwochs niemand eingeteilt zu sein. Kurz ließ ich meinen Blick über die Bücherregale schweifen, die in schmalen Gängen nebeneinander standen, doch ich konnte mich nicht dazu bringen nachzuschauen, ob jemand ganz hinten bei den Tischen saß. Und bevor ich danach lauschen konnte, fiel mir auf, dass auch hier eine Uhr tickte.
 

BUM. Ich fiel mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür. BUM. Langsam rutschte ich daran runter auf den Boden, bis ich mit einem weiteren BUM saß. BUM. Ich zog die Knie nahe an meinen Körper und schlang die Arme darum. BUM. Ich vergrub das Gesicht in meinen Knien und machte mich ganz klein. BUM. Ich hielt mir die Ohren zu. BUM. Fest biss ich die Zähne aufeinander, um einen Schrei zu unterdrücken. BUM. Noch eine Sekunde ohne Dad. BUM. Wieder eine Sekunde, in der ich ihn vermisste. BUM. BUM. BUM. BUM.
 

„Lukas?!“

Ich schlug die Augen auf und die Bomben waren nur noch ein leises Ticken. Vor mir sah ich die besorgten und entsetzten Gesichter von Florian und Kiaro. Der ruhige, soziale Florian, der immer etwas gedankenverloren war und immer müde aussah mit seinem blassen, weichen Gesicht und der Kappe über seinen kurzen, braunen Haaren. Er trug immer eine Kappe. Und daneben Kiaro mit seinem länglichen, gebräunten Gesicht und den kurzen Dreads, die mich immer an Genesis erinnerten. Natürlich hätte ich mir denken können, dass die Beiden hier waren.
 

Vor der elften Klasse waren sie auf unterschiedliche Schulen gegangen, doch gegen Ende des ersten Halbjahres waren sie beinahe unzertrennlich geworden. Sie waren das ungleiche Paar, denn Kiaro war intelligent und schrieb nur gute Noten, während Florian immer etwas verpeilt war und meist schlechte Noten schrieb. Kiaro war ein talentierter Musiker mit besonderer Begabung und Liebe zu Gitarren und Florians Fingerfertigkeiten bezogen sich auf das Benutzen eines Controllers. Doch Beide schienen irgendwie über Bücher miteinander verbunden zu sein. Florian las lieber Comics, Kiaro meist historische Romane, doch sie konnten sich stundenlang über Geschichten austauschen und brachten sich gegenseitig auf den Geschmack von neuen Genres. Sie waren in ihren Freistunden beinahe immer in der Bücherei, besonders, wenn es auf die Prüfungen zu ging.
 

„Ist alles okay bei dir?“, fragte Florian besorgt. Er kniete neben mir und hatte eine Hand auf meine Schulter gelegt. Kiaro kniete vor mir und sah ziemlich ernst aus. Jetzt erst merkte ich, dass ich zitterte.

„Geht schon“, versuchte ich möglichst sicher hervorzubringen, doch der Kloß schluckte meine Worte ein wenig.

„Lukas, du weinst“, sagte Kiaro. Ich fasste mir an die Wangen und meine Fingerspitzen wurden nass. Als ich sah, wie ein winziger, salziger Tropfen über die Kuppe lief, musste ich richtig weinen. Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen und schluchzte und mir war es beinahe egal, dass zwei Jungen vor mir saßen, die mich gerade mal aus der Schule kannten.
 

„Was ist denn hier los?“, fragte zu allem Übel nun auch noch eine dritte Stimme und das machte die Situation nur noch schlimmer. Ich wollte nicht aufschauen, um herauszufinden, wer mich jetzt auch noch heulen sah, ich wusste nur, dass es ein Mädchen war. Für einen kurzen Moment hoffte ich, es war Samantha. Sie verstand sich gut mit Kiaro und Florian, doch als das Mädchen ein weiteres Mal sprach, wusste ich, dass es nicht ihre Stimme war.
 

„Geht mal da weg, ihr Zwei und lasst Mama das regeln.“ Ich spürte wie Florian die Hand von meiner Schulter nahm, merkte wie die Beiden sicher von mir entfernten und für einen Augenblick fühlte ich mich verloren, dann spürte ich, wie sich das Mädchen neben mich setzte und deinen Arm um meine Schulter legte und sanft an mir rüttelte.
 

„Ganz ruhig, schau mich mal bitte an, Lukas. Es ist außer uns auch sonst niemand in der Bücherei“, sagte das Mädchen mit liebevoller Stimme. Widerwillig nahm ich die Hände weg und schaute sie mit wässrigen Augen an. Tamara. Von allen Tami genannt. Bisher hatte ich nur wenige Worte mit ihr gewechselt. Sie hatte kurze, blonde Locken, war klein und sehr pummelig. Ihr Stupsnase wurde von einem kleinen Glitzerstein geziert und ihre grünen Augen waren immer im Smokey-Eye-Look.
 

„Sollen wir jemanden holen oder jemanden anrufen?“, fragte sie und drückte dabei meine Schulter ein wenig stärker. Ich schüttelte den Kopf. „Sollen wir hier mit dir warten, dafür sorgen, dass keiner rein kommt bis draußen niemand mehr ist und dich dann raus bringen?“ Erneut schüttelte ich den Kopf. „Willst du mit uns reden?“ Und wieder war die Antwort ein Kopfschütteln. Mir rannen weiterhin Tränen über die Wangen, doch ich konnte mich durch hartes Schlucken besser beherrschen und schluchzte nicht mehr.
 

„Sollen wir dich alleine lassen?“

Ich schaute ihr direkt in die Augen und wusste, dass ich nicht alleine sein wollte. Am liebsten wäre ich jetzt bei meiner Mutter, nein, am allerliebsten wäre ich jetzt bei meinem Vater. Ich spürte, wie meine Unterlippe zitterte als ich herausbrachte: „Ich fühle mich so einsam.“

„Weil deine Freunde alle in Nordrhein-Westfalen sind?“, fragte Kiaro vorsichtig. „Wir haben mal darüber geredet, da hast du gesagt, dass es schon schwer wäre an einer neuen Schule niemanden zu kennen.“

„Darum geht es nicht“, sagte ich. Die Worte steckten in meinem Hals, sie lagen auf meiner Zunge und ich wollte es sagen. Ich wollte ihnen so unbedingt erzählen, wie sehr ich meinen Vater vermisste, dass er gestorben war, dass beinahe ein Jahr vorbei war und ich ihn immer noch so sehr vermisste wie am Anfang, wenn nicht sogar noch schlimmer. Dass ich mit ihm reden wollte, um herauszufinden, wie er zu meiner Sexualität stand, die ich nicht einmal selbst richtig kannte. Dass ich mich bei ihm ausheulen wollte wegen dem Mobbing, dass ich im letzten halben Jahr erleiden musste. Dass ich mich bescheuert fühlte, weil ich hier saß und heulte, während Kaito gerade einen kalten Entzug hinter sich hatte und seine Mutter ihm dabei sicherlich keine Hilfe war. Dass ich unbedingt Joker haben wollte, doch mich nicht traute zu fragen, denn wenn es dann hieß, dass ich ihn nicht haben durfte, würde ich ihn verlieren. Nicht so wie ich Dad verloren hatte, vielleicht eher so wie ich momentan Simon und Lynn verlor und ich glaubte nicht weitere Verluste ertragen zu können. Ich wollte ihnen von dem Brennen in meinem Herzen erzählen und dem warmen, süßen Kribbeln in meinem Bauch und den Schmerzen in meinem Kopf und den Uhren, die Bomben waren, doch ich schaute Tami an und sagte: „Egal. Es ist nichts.“

Fledermausland

Unglücklicherweise gehörte Tami nicht zu den Personen, die einfach etwas geschehen ließen und es danach schnell wieder vergaßen. Unglücklicherweise erzählte Noah den Anderen, dass ich total fertig Geschichte verlassen hätte und, dass ich nachmittags nicht mehr zu Sport auftauchte, machte das Ganze nur noch auffälliger. Unglücklicherweise waren Tami und Sam gut miteinander befreundet und so kam es, dass gegen Abend, als ich alleine in meinem Zimmer eingerollt in meinem Bett lag, die Türklingel ging.
 

Ich dachte nicht mal darüber nach aufzustehen. Aus Alex' Zimmer dröhnte dumpf Musik und ich hörte wie Mum zur Haustür ging und sie öffnete. Minutenlang lauschte ich nur den gedämpften Tönen irgendeiner Popdiva bis es an meiner Tür klopfte und Mum rief, dass ich Besuch hatte.

„Ich bin nicht da“, behauptete ich laut und zog die Decke über mein Gesicht, sodass ich komplett darunter verschwand. Es machte mich nicht einmal neugierig, wer da gekommen war.

„Das haben sie gehört“, rief Mum. Das Quietschen meiner Zimmertür ertönte, die Musik war nun lauter und wurde wieder gedämpft als die Tür leise zuging. Ich hörte Rascheln und Schritte, doch ich wollte nicht nachschauen. Vermutlich waren meine Augen ganz rot vom Heulen, ich fühlte mich schwach, kaputt und überhaupt verletzt.
 

Jemand tippte mir gegen die Schulter und dann hörte ich Sams Stimme: „Bambi, wir machen uns Sorgen.“ Vorsichtig zog sie die Decke von meinem Kopf, sodass ich dazu gezwungen war sie anzusehen. Sie und Noah und Kaito und Hannah und Gaara, die alle vor meinem Bett standen oder knieten, mich gleichermaßen besorgt oder tröstend anschauten.

„Noah hat da was erzählt“, gab Sam behutsam zu. Ich warf einen vernichtenden Blick zu Noah, der betreten den Kopf senkte und an den Bändeln seiner Jacke herum spielte.

„Ich habe mir Sorgen gemacht, da habe ich das von deinem Vater erzählt. Es tut mir echt Leid, aber ich dachte mir, vielleicht hat das etwas mit deinem Zusammenbruch zu tun. Tami hatte gesagt, du hast gemeint du wärst einsam, aber nicht wegen dem Umzug, deswegen... vielleicht... vermisst du ihn...“

„Das ist schon das zweite Mal, das du was von mir rum erzählst“, grummelte ich.

„Damit hast auch du gelernt, dass man Noah Geheimnisse nicht anvertrauen sollte“, sagte Kaito mit einem frechen Grinsen. Er setzte sich neben mich aufs Bett und schlug ermutigend auf meinen Rücken.
 

„Scheiße, Mann“, sagte er dann. „Das mit deinem Dad ist echt heftig, aber es so in dich hinein zu fressen, ist gar nicht gesund.“

„War noch etwas gewesen?“, fragte nun Gaara. Er saß direkt neben Sam, so nahe an meinem Gesicht und er sprach mit einer Sanftheit, die ich bisher nicht von ihm kennen gelernt hatte. Ich konnte mich in seinen grün-braunen Augen verlieren und wünschte plötzlich nur mit ihm in diesem Bett zu liegen, von ihm im Arm gehalten zu werden, solange bis es mir wieder besser ging. Und mit ihm würde es mir schnell wieder besser gehen.
 

„Wenn du lügst, box ich dich um“, warnte Sam, als ich zu einem „Nein“ ansetzte. Laut durchatmend rieb ich mir über die Augen, ehe ich leise antwortete: „Nur allgemein... Gefühlschaos... außerdem tendiere ich dazu zu übertreiben.“

„Ich finde es nicht übertrieben wegen deinem Vater weinen zu müssen“, nuschelte Noah. „Würde ich auch, wenn mein Papa plötzlich nicht mehr da wäre.“

„Wenn du nicht mit uns darüber reden willst, können wir das verstehen, aber wir fänden es alle toll, wenn du mit irgendwem darüber sprechen würdest“, sagte Hannah vorsichtig und die Anderen nickten eifrig.

„Mit deiner Schwester oder deiner MILF“, schlug Kaito schulterzuckend vor und Sam boxte ihm gegen die Knie, während Gaara mit einem Grinsen den Kopf schüttelte und Hannah die Augen verdrehte.
 

„Was ist denn eine MILF?“, fragte ich verwirrt.

„Ähm, nicht so wichtig“, winkte Sam ab und Kaito antwortete: „Deine Mutter ist eine MILF. Schifti muss die mal irgendwann sehen, der wird mir Recht geben.“

„Und was ist das genau?“, fragte ich mit gerunzelter Stirn und richtete mich ein wenig auf. „Wenn du meine Mutter beleidigst -“

„Tu ich nicht!“, sagte Kaito sofort. „Eigentlich ist das ein Kompliment. Es bedeutet nur, dass du deine Mutter gut aussieht.“

„Eine MILF ist eine 'Mother I like to fuck'“, erklärte Noah und als ich ihn immer noch ein wenig planlos anschaute, übersetzte er: „Eine Mutter, die ich ficken würde. Also nicht ich! Ich bin ja schwul, aber ähm...“ Er deutete auf Kaito, der verlegen grinste.
 

Ich setzte mich komplett auf und schubste ihn gegen die Schulter.

„Sag so etwas nie wieder über meine Mutter!“

„Das war doch nur ein Scherz. Als ob ich mit jemandes Mutter schlafen würde“, lachte Kaito entschuldigend. „Aber deine Mutter sieht für Alter schon gut aus.“

„Das tut sie tatsächlich“, sagte Gaara und fügte grinsend hinzu: „Jetzt weiß ich, woher du dein Aussehen hast.“
 

Und dann war ich wieder knallrot im Gesicht. Zum Glück übergingen die Anderen Gaaras Kommentar. Sie taten immer so als hätten sie es nicht gehört. Um das Thema zu wechseln, fragte ich sie, was Kiaro, Tami und Florian in der Schule erzählt hatten und ich erfuhr, dass Tami nur mit Sam gesprochen hatte, während die beiden Jungen Stillschweigen bewahrten.

„Könnte nur möglich sein, dass sie dich noch mal drauf ansprechen werden“, meinte Sam schulterzuckend. „Und jetzt.“ Sie schlug in die Hände und stand auf. „Werden wir alle zusammen zu Gaara gehen und uns einen lockeren Abend machen.“

„Morgen ist Schule“, stellte ich dumpf fest.

„Ja, der vorletzte Schultag“, sagte Gaara, stand ebenfalls auf, fasste mich am Handgelenk und zog mich aus meinem Bett heraus. „Den müssen wir nicht mehr so ernst nehmen. Außerdem müssen wir die Party für deinen Simon planen.“
 

Natürlich konnte ich nicht 'Nein' sagen. Ich schickte sie raus, damit ich mich umziehen und im Bad etwas frisch machen konnte und, während sie im Wohnzimmer wartete, unterhielten sie sich mit meiner Mutter und mit meiner Schwester, die etwas verwirrt war, als sie endlich mal ihr Zimmer verließ, um sich etwas zum Trinken zu holen. Als ich endlich fertig war, die enge Jeans von Lynn trug und einen meiner Lieblingspullover, war Gaara mit meiner Mutter per Du und verabschiedete Alex indem er ihr durch die Haare wuschelte. Perplex wandte ich mich ihm zu als wir die Straße runter zur U-Bahn-Station gingen.
 

„Gaara ist gut in so was“, meinte Sam. „Er ist auch mit meinen Eltern per Du und meine kleinen Brüder lieben ihn.“

„Und meine Mum hat mir ne Zeit lang vorgehalten, dass ich nicht so ein toller Sohn wäre wie Gaara für seine Mutter“, erzählte Kaito und Noah sagte: „Nur meine Mum kann ihn nicht leiden, weil sie denkt, er ist Schuld daran, dass ich schwul bin.“

Alle lachten und ich fragte verwirrt: „Warum kann sie ihn dann nicht leiden?“

„Du hast dich noch nicht gefragt, warum ich mich nicht gut mit meiner Mutter verstehe?“, fragte Noah. Betreten schüttelte ich den Kopf. „Naja, einerseits, weil sie meinen Vater betrogen hat und sie sich deswegen haben scheiden lassen und zum Anderen, weil sie mir ins Gesicht gesagt hat, dass Homosexualität unnormal wäre und ich deswegen zu einem Psychologen gehen soll.“

„Und, dass ich Schuld dran wäre“, fügte Gaara mit einem Augenzwinkern hinzu, doch ich blickte bloß entsetzt von ihm wieder zurück zu Noah, der mir auf die Schulter klopfte.

„Mittlerweile bin ich darüber hinweg und sie kann mir gestohlen bleiben. Ich habe meinen Dad und das reicht mir“, versicherte er mir, trotzdem dauerte es ein wenig bis ich diese Information verarbeiten konnte.
 

Als wir endlich bei Gaara Zuhause ankamen, stand das Haus mal wieder leer. Wir ließen uns im Wohnzimmer nieder, das ordentlich und sauber war und Kaito bereitete uns eine Shisha vor, während sich Sam ein paar Meter weiter in der offenen Küche einen Kakao mit Sahne und Schokostreuseln machte. Gaara setzte sich direkt neben mich auf die Couch, legte die Füße auf dem niedrigen Tisch ab und berührte leicht mit seiner Schulter meine. Anfangs hatte mir das mal gereicht um ein süßes Kribbeln hervor zu rufen und das Gefühl von verwirrter Zufriedenheit, mittlerweile wollte ich mehr. Ich fühlte mich noch angeschlagen, müde und erschöpft und mein Verlangen in Gaaras Armen zu liegen wurde nicht weniger. Ich wollte seine Wärme spüren, sein Herz schlagen hören und seine Lippen auf meinen spüren. Seine Lippen auf meiner Wange, meinem Hals... überall.
 

Der Gedanke erregte mich und ich versuchte mich so sehr wie möglich von Gaara abzuwenden, doch das war gar nicht leicht.

„Jetzt bräuchten wir noch ein bisschen Gras“, sagte Sam als sie mit ihrem dampfenden Kakao zurück kam und sich auf den Boden setzte, mit dem Rücken angelehnt an das Couchstück auf dem Noah saß und mal wieder fleißig auf seinem Handy tippte.

„Ich hab was in meinem Zimmer“, zuckte Gaara die Schultern. „Würde vielleicht sogar für uns alle reichen... aber nur, wenn keiner vor hat high zu werden, denn dafür ist es zu wenig.“

„Also ich rauche bestimmt nichts“, versicherte Hannah, drehte sich ein Stück zu Kaito und fügte besonders laut und langsam hinzu: „Und Kaito bestimmt auch nicht.“

Sie lachten ein wenig, ich eher gequält und Kaito sagte mit einem Grinsen und gleichzeitig einer bitteren Stimme: „Nein, ich muss erst mal eine Zeit komplett ohne Drogen aushalten.“

„Ich könnte was gebrauchen“, seufzte Noah.

„Dann hole ich es grade.“ Gaara stand auf und verschwand in den Flur des riesigen Hauses.
 

Wir begannen uns ein wenig über die Schule zu unterhalten. Eher gesagt, sprachen die Anderen und ich hörte bloß zu. Wie immer konnte Samantha all ihre Geschichten mit genau dem richtigen Humor erzählen, sodass sogar ich darüber lachte, ohne dieses Lachen erzwingen zu müssen. Ich merkte regelrecht wie es mir von Sekunde zu Sekunde mit der Clique besser ging. Gaara kam zurück und begann mit dem Gras, das er hatte, zwei Joints zu drehen. Während die Anderen herumalberten, erzählten und lästerten, hörte ich ihnen kaum noch zu, sondern beobachtete Gaara.
 

Er saß im Schneidersitz und hatte die Ärmel seines graublauen Pullovers bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt, was ich irgendwie attraktiv fand. Mal wieder trug er eine von diesen engen Jeans, die deutlich machten, dass auch seine Beine von schlanken Muskeln durchzogen waren und seine braunen Haare waren ein wenig länger geworden. Verwegen, wie immer, lagen Strähnen auf seiner Stirn, in seinem blassen Gesicht. Die blutleeren Lippen standen ein wenig offen. Konzentriert betrachtete er mit seinen grün-braunen Augen, was seine Hände geschickt und gekonnt mit den Utensilien machten, die er für zwei Joints brauchte.
 

Er hatte ein normales DIN-A 4 Blatt zu etwas zusammen gefaltet, was wie ein unfertiger Papierflieger aussah. Das Blatt ließ spitz zu und hatte eine Kuhle, in welche er das Gras streute, nachdem er es zerkleinert hatte. Danach nahm er zwei normale Zigaretten aus einer Schachtel, flammte die Tipps mit seinem Feuerzeug an bis sie fast schwarz waren und pustete ein wenig dagegen, damit sie abkühlten. Geschickt brach er die Zigaretten auf und streute den Tabak zum Gras. Langsam verstand ich, dass das Papier wie eine Art Trichter funktionierte. Gaara vermischte Tabak und Gras, nahm dann einen Tipp und verteilte dort die Hälfte seines Gemischs. Als Filter benutzte er eine abgelaufene U-Bahn-Karte, von der er einen Teil ausschnitt und ganz klein zusammen rollte. Problemlos drehte er den Joint und leckte die Klebestelle ab, was ich erneut irgendwie attraktiv fand. Er klebte den Joint zu, drehte den Tipp an der offenen Spitze zusammen, brannte den überschüssigen Tipp ab und betrachtete den fertigen Joint.
 

„Wie lange machst du das schon?“, fragte ich. Er schaute zu mir, wie ich dort neben ihm auf der Couch saß mit erschöpften Augen und den Kopf auf der Lehne liegen hatte, weil er mir viel zu schwer vorkam. Kaito, Noah und Sam rauchten Shisha und Hannah erzählte ihnen ausgiebig von einer Party mit ihrem Freund und dessen Freunde. Sie hörten uns nicht zu.

„Kiffen oder selbst drehen?“, erkundigte sich Gaara und begann mit dem Zweiten.

„Beides.“

„Mit dreizehn habe ich abgefangen zu kiffen und zu rauchen“, antwortete Gaara. „Wann ich das erste Mal selbst einen Joint gedreht hab, weiß ich gar nicht mehr so genau... ich glaube mit 15 oder 16.“

„Dreizehn“, wiederholte ich ungläubig. „Krass. In dem Alter war das Schlimmste, was ich gemacht habe, die Fensterscheibe der Nachbarn aus versehen mit einem Fußball einzuschießen.“

„Solche fiesen Sachen hast du gemacht?“, fragte Gaara mit einem schiefen Grinsen. „Das hätte ich aber nicht von der erwartet, Luki, echt gemein.“
 

Ich boxte ihm gegen die Beine und er lachte frech, dann fragte ich: „Wie kamst du dazu schon mit dreizehn zu kiffen? Kam das irgendwie mit Kaito?“

„Nein“, schüttelte Gaara den Kopf. „Kaito und ich kennen uns seit der dritten Klasse, er hat schon mit zehn Jahren angefangen zu rauchen, mit elf das erste Mal gekifft. Das kam einfach alles über seine Mutter, aber ich habe erst später mit dem Kram angefangen.“ Er zuckte die Schultern. „Ich hatte damals einfach viele Typen gekannt, die älter waren als ich und irgendwie wollte ich es einfach ausprobieren. Keine Ahnung.“

„Okay... darf ich dich noch etwas fragen?“

„Klar.“

„Warum sind deine Eltern nie Zuhause?“
 

Diesmal antwortete Gaara nicht direkt. Langsamer machte er den zweiten Joint fertig. Er steckte ihn in seinen Mund, zündete ihn an und zog einmal tief ein. Ein paar Sekunden lang behielt er den Rauch in der Lunge, dann blies er ihn in einer großen Wolke aus und antwortete knapp: „Arbeiten.“

„Um die Uhrzeit?“, fragte ich ungläubig.

„Jep.“

„Auch nachts, wie an deinem Geburtstag?“

„Jep.“
 

Er bedachte mich mit einem Blick, bei dem ich wusste, dass ich keine Fragen mehr stellen sollte und hielt mir den Joint hin mit den Worten: „Zieh ein paar Mal dran und deine Sorgen und Probleme sind weniger wichtig als das Gefühl im Fledermausland zu fliegen.“

Berlin und Alkohol und Simon und Dad

In dem Moment in dem Simon aus dem Zug gestiegen kam, war ich der glücklichste Mensch auf Erden. Alles war vergessen und ich schloss mit einem breiten Grinsen die letzten Schritte zu ihm. Meine Freude reflektierte sich auf seinem Gesicht und als wir uns umarmten, drückte ich ihn fest und wollte ihn nie wieder los lassen. Ich spürte seine schwarzen Haare auf meinem Gesicht kitzeln, wie sie es immer taten, wenn wir uns umarmten.

„Scheiße, hab ich dich vermisst“, kam es über meine Lippen.

„Ich dich auch“, sagte Simon. Wir lösten uns voneinander und er kam ebenso nicht aus dem Grinsen wie ich. Er hob die Reisetasche auf, die er für die Umarmung hatte fallen lassen. Zusätzlich zu ihr, hatte er noch einen Rucksack auf den Rücken geschnallt. Auch vollbeladen mit Sachen sah Simon wie immer unverschämt gut aus. Seine Haut besaß eine gesunde Bräune und seine tiefbraunen Augen waren groß und voller Motivation. Er sah immer aus als wäre alles in seinem Leben schön und spannend.
 

„Was hast du geplant?“, erkundigte sich Simon während wir durch den überladenen Hauptbahnhof gingen. Über den Lärm der Menschenmasse erklang ständig ein Lautsprecher, den ich weder auf englisch noch auf deutsch verstand. Ein Mann im Anzug rannte mich beinahe über den Haufen und in der Nähe vom McDonalds saßen ein paar Jugendliche auf dem Boden, die Kostüme von irgendwelchen Animes trugen. Es herrschte ein nettes Durcheinander an Menschen unterschiedlichen Aussehens, Herkunft und gesellschaftlichen Status und ich beobachtete Simon dabei, wie er besonders skurrile Leute anstarrte. Ob ich anfangs auch so gewesen war? Mittlerweile kannte ich Berlin so gut, ich machte keinen Unterschied mehr zwischen violetten oder braunen Haaren, Männern oder Frauen in engen Leggins und Röcken, Leuten, die aussahen als würden sie Drogen nehmen und Leuten, die tatsächlich nachts in der U-Bahn Drogen nahmen. Irgendwie waren alle gleich, denn das war Berlin.
 

„Es gibt eine Hausparty“, antwortete ich und hatte damit Simons ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Wie bei dir?!“, fragte er ungläubig.

„Nein.“ Ich lachte. „Nicht bei mir, bei einem Kumpel.“ Bei dem Kerl, mit dem ich rumgemacht hatte und mit dem ich gerne wieder rummachen würde und der meine komplette Sexualität auf den Kopf gestellt hatte. Aber für Simon sollte erst einmal die Bezeichnung Kumpel reichen. Da fiel mir ein, dass ich Gaara noch schreiben musste, dass er vor Simon keine doofen Andeutungen machen sollte. Ich wollte Simon mein Chaos selbst mitteilen und es ihn nicht so wissen lassen, dass Gaara mich vor ihm Süßer nannte oder so etwas.
 

„Aha“, machte Simon langgezogen und das Grinsen auf seinem Gesicht wurde wieder breiter. „Das klingt schon einmal sehr gut. Hast du schon mal etwas von diesem Kumpel erzählt? Oder ist das sogar der, den ich beim letzten Mal getroffen habe?“

„Nein, nicht Noah“, sagte ich. „Aber Noah triffst du auch noch mal... und dessen Freund. Ansonsten wirst du noch Joker kennen lernen, du weißt schon, der Hund von dem ich dir schon erzählt habe... hast du eigentlich echt die PS3 dabei?“

„Dreimal darfst du raten.“

„Du bist der Beste!“ Ich klatschte freudig in die Hände.
 

Am ersten richtigen Abend unserer Ferien zockten wir also. Irgendwann gegen zehn Uhr abends kam Alex von einer Freundin nach Hause und leistete uns Gesellschaft. Sie trug eine enge Jeansleggins und darüber ein Shirt, das ein wenig von ihrem flachen Bauch zeigte. Ja, Alex passte sich der angesagten Mode in Berlin ziemlich gut an. Sie schminkte sich häufiger und stylte sich ihre Haare, es machte sie selbstbewusster und erwachsener und natürlich auch attraktiver. Auf Facebook, dieser behinderten Seite, auf der ich mir sicher niemals einen Account machen werde, hatte ich einmal gesehen, dass unendlich viele Leute ihre Bilder mit einem 'Gefällt mir' versahen und viele Kerle drunter schieben, wie hübsch, süß oder heiß sie aussah. Gerne auch mal mit einem Kusssmiley. Als Alex gemerkt hatte, dass ich hinter ihr stand und über ihre Schulter auf ihren Laptop blickte, hatte sie ihn sofort zugeklappt. Sie kannte mich zu gut und wusste, dass mir das nicht gefiel. Alles, was sie sagte, war „Die sind nicht Julian.“
 

Normalerweise zockten Simon und ich gemeinsam bis in den Morgen hinein, doch mein bester Freund war kaputt von der Fahrt und dem frühen Aufstehen und schlief deswegen gegen Mitternacht auf meinem Bett ein. Ich übernahm also die Matratze, die neben meinem Bett auf dem Boden lag und simste Gaara meine Bitte die Kommentare in Simons Nähe zu unterlassen, dann versuchte ich ebenfalls zu schlafen.
 

Am nächsten Morgen hatte mir Gaara noch nicht geantwortet und Mum bereitete ein ausgiebiges Frühstück vor.

„So viel Mühe machst du dir normalerweise nicht“, stellte Alex fest als sie sich am Tisch nieder ließ. „Kann es sein, dass du Simon lieber hast als uns?“

„Ja, natürlich, ich werde euch auch wieder zurück nach Nordrhein-Westfalen schicken und ihn hier behalten“, meinte Mum scherzhaft. Wir lachten und begannen Rührei mit Speck und in Öl und Essig getränkte Tomaten mit Mozzarella zu essen. Nach einer Weile erkundigte sich Mum wie es momentan in Simons Leben lief, in der Schule, in der Liebe, mit seinen Eltern und Simon erzählte.
 

„Schule ist ganz okay“, sagte er schulterzuckend. „Mein Problemfach ist Physik, da komme ich gar nicht klar, ansonsten läuft's.“

„Welchen Lehrer habt ihr eigentlich?“, fragte ich und Simon antwortete mit verzogenem Mund: „Die Feix.“

„Kein Wunder, dass du da schlecht bist“, lachte ich. „Die hatte doch mal in Sexualkunde gemeint, dass wir anstatt Fremdwörtern auszuschreiben Zeichnungen machen sollten und hatte uns dann diese behinderte Tabelle gegeben, in der Wörter standen wie Eisprung. Die ist einfach nur daneben.“

„Ja ach ne“, sagte Simon. „Und in Physik legt die immer nur eine Folie auf, die wir abschreiben sollen, ansonsten machen wir echt nichts. Keine Experimente, keine Referate, keinen mündlichen Unterricht. Ich glaube die würfelt unsere Mündlichnoten immer.“
 

Wir schwelgten ein wenig in Erinnerung an schlechte Lehrer, dann kam Simon wieder auf die Fragen von Mum zurück und fuhr fort: „In Sachen Liebe, naja.“ Er zuckte die Schultern. „Ich habe keine Lust auf eine Beziehung. Ich lerne schon mal Mädchen kennen, aber nur für... ehm... nicht für eine Beziehung.“

„Nur zum Sex“, sprach Alex es aus und schaffte es damit Simon ein wenig verlegen zu machen.

„Ja, genau“, sagte er langsam.

„Das muss dir nicht peinlich sein, die Phase hatte ich in eurem Alter auch mal“, meinte Mum und Alex und ich riefen gleichzeitig empört: „Mum, nein!“

Simon lachte, Mum hob entschuldigend die Arme und ich wusste nicht, ob ich es peinlich oder lustig finden sollte. Zum Glück wechselte Simon schnell wieder das Thema und erzählte, dass auch mit seinen Eltern alles okay wäre, doch ich wusste, dass das nicht ganz stimmte.
 

Seit dem Vorfall mit seinem Stiefvater, bei dem dieser Simon geschlagen hatte und seine Mutter darauf zum wiederholtesten Male nicht reagierte, hatte er kaum noch Kontakt zu ihr. Sie rief häufig an, nur selten ging Simon ran und noch weniger selten ging eines ihrer Gespräche länger als fünf Minuten. Er meinte es ernst als er sagte, dass er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.
 

Nach dem Frühstück gingen Simon und ich zocken, worüber Mum nur den Kopf schütteln konnte, schließlich gab es in Berlin so viel zu sehen, doch wir ließen uns nicht beirren. Alex verabschiedete sich zum Shoppen mit Freundinnen. Je näher der Abend rückte, desto nervöser wurde ich, denn bereits für heute war die Party in Gaaras Haus geplant und der Junge antwortete mir nicht auf meine SMS. Ich schrieb eine Weitere, die ebenfalls gekonnt ignoriert oder übersehen oder vergessen wurde. Als wir dann mit dem Einbruch der Dunkelheit los gingen, merkte Simon an, dass ich anders aussehen würde.
 

„Inwiefern anders?“, fragte ich verwirrt, während ich alle zwei Sekunden auf mein Handy schaute.

„Andere Klamotten, anderer Ausdruck, einfach anders“, zuckte Simon die Schultern. „Seit dein Vater gestorben ist, bist du trauriger und verwirrter, aber jetzt scheinst du dich irgendwie wieder zu festigen und du festigst dich anders als du es vorher gewesen warst. Verstehst du, was ich meine?“

„Nicht ganz, aber tu mir den Gefallen und erwähne meinen Vater nicht noch einmal“, sagte ich. Erst danach fiel mir auf wie grob es geklungen haben muss und gleichzeitig so nebensächlich, da ich mehr Augen und Ohren für mein Handy hatte als für Simon. Bevor er etwas sagen konnte, verstaute ich das Gerät in meiner Hosentasche und entschuldigte mich.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, meinte Simon lediglich. „Es ist gut, wenn du das sagst. Du bist, was das angeht, ziemlich sprunghaft. Mal kannst du relativ normal darüber reden, mal tust du lieber so als wäre es nie passiert... heute verdrängst du es anscheinend lieber.“
 

Wir kamen dem Einkaufsladen immer näher. Er war nicht mehr lange geöffnet und eine Gruppe Penner hatte sich auf dem beinahe leeren Parkplatz gesammelt, um gemeinsam Alkohol zu trinken. In direkter Nähe befand sich eine fahrbare Würstchenbude, die gerade vom Besitzer geschlossen wurde und eine Baustelle erstreckte sich hinter dem Einkaufsladen bis auf die Straße, wo ein paar Autos sich wegen einer aufgebauten Ampel stauten. Jugendliche sammelten sich am Eingang und unterhielten sich möglichst laut über ihre bevorstehende, wilde Nacht, die ja so legendär werden würde, dabei triefte jedes ihrer Worte vor Dummheit, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Und wir waren noch eine halbe Straße von ihnen entfernt...
 

Sie lenkten mich ein wenig ab von Simons Worten, doch die brachten mich trotzdem zum nachdenken. Die Erinnerung an den Zusammenbruch kam zurück, auch an den an Weihnachten als Mum mich im Schlafzimmer gefunden hatte oder den bei Genesis, an den ich mich wegen der Drogen kaum noch erinnern konnte. Kaito hatte Recht. Es tat nicht gut, dass ich es so in mich hinein fraß. Ich spürte förmlich wie das Loch in meinem Herzen immer größer wurde und es wurde schmerzhaft größer.

Vor dem Parkplatz wurde ich immer langsamer und blieb schließlich stehen, Simon tat es mir gleich und als ich ihm in die Augen schaute, spürte ich, wie weit weg er von mir war. Ich dachte, wir könnten uns wochenlang nicht sehen und trotzdem noch beste Freunde sein, doch für einen Augenblick kam er mir seltsam fremd vor, dann fragte er: „Lukas, alles okay?“ und ich erkannte ihn wieder.
 

„Ehm...“

„Du verdrängst es, weil bald sein erster Todestag ist, oder?“ Simon kam einen Schritt näher. „Sei ehrlich, du hattest wieder einen Zusammenbruch oder etwas ähnliches und frisst es in dich hinein. Ich kenne dich doch.“

„Das tust du tatsächlich“, stellte ich fest und merkte, dass mich dies erleichterte. Ich war Simon scheinbar nicht fremd, obwohl es mir nicht gefiel, dass ich mich in seinen Augen veränderte. Ich wollte ihn nicht verlieren.

„Dann lass uns drüber reden“, sagte Simon beinahe fordernd. „Über alles, was bei dir los ist. Sag mir nur, was.“
 

Einige Sekunden lang suchte ich nach Worten, dann sagte ich: „Ich glaube, ich verliere dich.“

Zuerst reagierte Simon gar nicht, dann schüttelte er langsam den Kopf und in seinem Blick erkannte ich, wie sehr ihn meine Worte verletzten.

„Nein, nein, tust du nicht. Klar, ist die Entfernung schwer für unsere Freundschaft, aber bisher haben wir das geschafft und wir schaffen das auch weiterhin. Du hast nur Angst davor, weil der Verlust deines Vaters so hart war.“

„Damit hast du wahrscheinlich Recht“, gab ich zu.

„Richtig, aber mich verlierst du nicht so. Ich werde immer da sein. Lukas, du wirst mich niemals los“, sagte er nun mit einem leichten Grinsen. Ich musste ebenfalls lächeln und sagte: „Klingt wie eine Drohung.“

„Das war ein dummer Scherz, tut mir Leid. Sollen wir uns vielleicht irgendwo hinsetzen und darüber richtig reden -“

„Nein, ist schon okay“, schüttelte ich den Kopf. „Bald ist der... Tag und ich bin deswegen einfach durcheinander. Ich fühle ständig so dumme Sachen. Wir können einfach... lass uns einfach den Alkohol kaufen.“
 

Simon schien nicht wirklich überzeugt zu sein, schließlich kannte er mich zu gut und wusste vermutlich, dass dies eine dumme Ausrede war. Ich wollte Simon jedoch nicht mit meinen Problemen belasten und ihm die Stimmung vermiesen. Die Party heute galt ihm, auch wenn er das nicht wusste und er sollte einen möglichst fröhlichen und ausgelassenen Abend feiern und sich nicht mein dummes Heulen anhören. Wir gingen in den Einkaufsladen und holten zwei Jack Daniels und einen Jägermeister. Ununterbrochen flüsterte Simon mir zu, dass das nicht funktionieren würde, weil wir keine achtzehn Jahre alt waren, doch ich kannte die Kassierer und glücklicherweise war diese alte, dicke Frau da, die immer aussah als hätte sie auf absolut niemanden Bock. Sie war stets unfreundlich und kontrollierte nie die Ausweise.
 

Nach nur wenigen Minuten spazierten wir also mit hochprozentigem Alkohol in Richtung U-Bahn.

„Lukas, dass du dich so etwas traust“, sagte Simon kopfschüttelnd. „Das hätte ich niemals von dir erwartet und wie gelassen du warst. Als ich mir mit vierzehn Zigaretten gezogen habe, hast du fast angefangen zu heulen, weil du Angst hattest die Polizei könnte uns festnehmen.“

„Ich weiß“, lachte ich. „In Berlin findest du aber viele Läden, in denen sie die Ausweise nicht prüfen und bei den ersten paar Malen habe ich auch nur daneben gestanden und Panik geschoben, während Noah, Gaara oder jemand anderes Alkohol und Zigaretten gekauft hat. Mittlerweile habe ich dann auch keine Panik mehr.“
 

Wir begannen uns ein paar Geschichten zu erzählen, die wir in letzter Zeit erlebt hatten, fuhren dabei mit der U-Bahn bis zu Gaaras Station und gingen von dort aus durch die Unterführung. Da fiel mir dann wieder ein, dass ich noch immer keine Antwort von Gaara hatte und schaute auf mein Handy. 'Ok.' Das war alles. Mehr hatte er nicht gesendet und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass dies nicht ein 'Ok, ich reiße mich zusammen' war. Etwas nervös führte ich Simon bis zu Gaaras Haus, aus dem bereits gedämpft Stimmen und Musik drangen. Ich zögerte das Klingeln solange hinaus wie es möglich war, ohne, dass es seltsam wird und drückte dann kurz den Knopf.
 

Es dauerte nicht lange, da machte uns Gaara die Tür auf. Wie immer sah er gut aus. Er trug ein graues, langärmeliges Shirt, das einen runden Ausschnitt hatte und vorne Knöpfe besaß, die offen waren. Ich konnte ein wenig seiner Brustmuskeln sehen, was ich mal wieder an ihm attraktiv fand. Noch bevor ich ihn begrüßen konnte, sagte Gaara „Hi Süßer“, trat vor und gab mir einen Kuss auf die Lippen.

Wegen meinen Lippen

Wenn ich jemals in meinem Leben rot gewesen war, dann war das nichts im Vergleich dazu wie rot ich nun wurde. Zwar konnte ich mich selbst nicht sehen, doch mein Kopf glühte wie Lava und schien jeden Augenblick zu platzen. Mir wäre es auch am liebsten, wenn er einfach platzen würde, dann müsste ich mich nicht mit dieser Situation auseinander setzen. Obwohl man nicht gerade sagen konnte, dass ich mich überhaupt damit auseinander setzte. Gefühlte Ewigkeiten lang sagte niemand etwas und ich starrte bloß mit weit aufgerissenen Augen Gaara an, der dort frech grinsend vor mir stand. Wäre ich nicht wie gelähmt, würde ich ihm den Jägermeister auf dem Kopf zerschlagen. Endlich wurde das peinliche Schweigen beendet.
 

„Okaaay“, machte Simon langgezogen und schloss zu uns auf. Ich traute mich nicht, ihn anzuschauen, konnte jedoch spüren wie sein Blick abwechselnd von mir zu Gaara und wieder zurück flog.

„Hey.“ Gaara streckte ihm die Hand entgegen und sie begrüßten sich freundlich. „Ich heiße Gaara.“

„Ich bin Simon und... ehm... wer genau bist du?“, fragte er und ich spürte wie seine Blicke mich durchbohrten. Ich wollte ihn nicht anschauen. Ich hatte zu viel Angst davor wie er auf das Gesehene reagierte. „Ich meine, seid ihr... zusammen?“

„Oh, nein, leider nicht“, antwortete Gaara lässig und verstaute die Hände in den Hosentaschen. „Lukas ist noch zu schüchtern mit seiner Sexualität, aber es wird langsam.“

„Ich dachte ehrlich gesagt, dass er länger brauchen würde. Ich bekomme da unten in NRW aber auch nichts mit“, sagte Simon und nun schaute ich ihn doch an und zwar mit noch weiteren Augen als vorher und ebenfalls aufgeklapptem Mund. Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf, die sich überschlugen und gegenseitig anrempelten, doch kein Wort wollte über meine Lippen kommen.
 

„Habe ich es mir doch gedacht“, sagte Gaara und klang dabei triumphierend. „Lukas hatte mir geschrieben ich soll vor dir Spitznamen wie Süßer unterlassen und bloß keine Anmerkungen machen, wie ich es sonst immer tue.“

„Warum denn?“, fragte Simon und schaute mich ehrlich verwirrt an. „Dass ich anfangs ein wenig verwirrt gewesen wäre, klar. Eine Vorwarnung hätte aber gereicht. Wieso sollte er solche Kommentare ganz unterlassen? Denkst du, ich bin homophob?“

„Nein!“, keuchte ich. „Nicht – aber – du – ich – wir.“

„Vielleicht sollten wir auf den Schock einen trinken.“ Gaara nahm mich bei den Schultern und führte mich ins Haus, während ich noch vor mir her stotterte und aus dem Augenwinkel erkannte, dass Simon uns grinsend folgte.
 

Im Wohnzimmer rauchten Kaito, Samantha, Noah und Fynn gemeinsam Shisha. In der Küche standen Hannah und Tami, die zum ersten Mal auf einer Party in Gaaras Haus war, und bereiteten Zutaten für Cocktails vor. Tatsächlich kannten sich die beiden Mädchen erst seit einer knappen Woche, als sich herausstellte, dass Tami ebenfalls zur Hundehilfe aufs Land hinaus fuhr, verstanden sich jedoch bereits wie alte Freundinnen. Irgendwo im Haus konnte ich deutlich Schiftis Stimme hören und Marc saß an der Anlage, ein wenig entfernt von den Couchs und stellte eine Playlist auf seinem Handy zusammen. Zu meiner Überraschung stand Kiaros Gitarre neben der Anlage.
 

„Schifti hielt es für nötig Kiaro das Haus zu zeigen“, zuckte Gaara die Schultern als er meinem Blick folgte. „Ansonsten kommt später noch Florian. Ich habe nur Leute eingeladen, mit denen du besser befreundet bist und... naja... Marc konnte ich nicht davon abhalten zu kommen.“

„Was soll das denn heißen?“, fragte der 21-Jährige empört und schaute zu uns hoch. Sein Kiefer wurde geziert von einem braunen Bart, er trug eine lässige Mütze über seinem ebenfalls braunen Haarschopf. Auf seinem Shirt prangte der Name 'Suicide Silence' und sein rechter Arm war beinahe bis zum Ellenbogen voll mit Festivalbändchen und ab dem Ellenbogen begannen die bunten Tattoos. „Lukas und ich, wir verstehen uns fantastisch.“

„Die Zwei haben sich erst drei Mal getroffen“, erklärte Gaara an Simon gewandt. „An meinem Geburtstag und danach nur mal, wenn sie durch Zufall gleichzeitig bei mir waren. Marc wohnt hier direkt in der Straße.“

„Und an jedem Wochenende herrschen bei Gaara Tage der offenen Tür“, meinte Marc feierlich. „Es ist Tradition, dass ich hierher komme und mich grundlos besaufe.“

„Das stimmt allerdings“, nickte Gaara. Ich war immer noch zu perplex, um etwas zu sagen.
 

„Sag mal, Gaara, was hast du eigentlich gemacht, dass Bambi schon wieder knallrot ist?“, fragte Sam, die lässig auf der Couch saß. Ihre hellbraunen, buschigen Haare waren zu einem lockeren Dutt nach oben gebunden und ihre schlanke Figur ließ sie komplett unbetont in etwas weiteren Klamotten. Sie legte ihr herzförmiges, schmales Gesicht ein wenig schief und musterte Simon mit ihren bernsteinfarbenen Augen, wie sie jeden Neuling musterte, dann beugte sie sich vor, um ihm die Hand zu reichen.

„Ich heiße Sam.“ - „Simon.“ - „Hi, Simon, wir kennen uns schon!“ - „Noah, richtig?“ Simon war ein wenig überrascht als Noah aufsprang, um ihn zur Begrüßung zu umarmen. Von Fynn gab es nur ein knappes Nicken. Der Reihe nach stellten sie sich alle vor, dann kamen noch Schifti und Kiaro hinzu. Letzterer grüßte uns mit einer Verbeugung wie er es immer tat, fuhr sich dann mit den Fingern durch die schulterlangen Dreads.
 

Ich bekam das ganze Gerede und Begrüße nur halbwegs mit, denn meine Gedanken kollidierten und mein Herz hämmerte noch immer Blut in mein Gesicht, das nicht mehr abzukühlen schien. Als ich den Jägermeister zum restlichen Alkohol auf den Tisch stellte, merkte ich, dass ich sogar zitterte. Je länger die Begrüßungen dauerten, desto wütender wurde ich auf Gaara. Ich hatte ihm nur eine kleine Bitte geschrieben und er schien es für nötig gehalten zu haben, das genaue Gegenteil zu machen. Nicht nur das genaue Gegenteil, er hatte mich einfach geküsst. Nicht nur nach dem ich ihm geschrieben hatte, dass er so etwas unterlassen sollte, sondern auch, nach dem ich ihm geschrieben hatte, dass ich noch Zeit mit mir bräuchte, um meine Gefühle und Sexualität zu ordnen. Dieser dreiste, gutaussehende Sack.
 

Endlich sagte Gaara den Anderen, dass sie uns kurz entschuldigen sollten und führte Simon und mich raus in den Garten – zu allem Überfluss direkt auf die Hollywood – Schaukel. Erste Blüten besetzten die Zweige um die Schaukel herum. Ich setzte mich in die Mitte, rechts von mir Gaara, links von mir Simon, der sofort mit dem Fuß gegen den Boden tippte, damit wir ein wenig hin und her schwankten.

„Okay, mir fällt gerade auf, dass ich überflüssig bin“, sagte Gaara. „Ich denke, ihr klärt das besser miteinander.“

„Nein!“, sagte ich sauer und deutlich. „Du bleibst hier.“ Ich schenkte ihm einen vernichtenden Blick und konnte sehen, dass sein Selbstbewusstsein ein wenig zusammen schrumpfte.
 

„Jetzt sei nicht wütend auf ihn“, nuschelte Simon. „Es ist ja nicht so, dass ich keine Ahnung gehabt hätte.“

„Was, von ihm?“, fragte ich aufgebracht.

„Nein, aber davon, dass du eher solche Tendenzen hast. Ich meine... okay ich bin ehrlich, eigentlich waren das Genesis und Lynn“, seufzte Simon. „Das sind Frauen, die merken so etwas eher und scheinbar war denen irgendwie klar, dass du schwul bist. Genesis meinte sogar und ich zitiere 'Auch wenn er es selbst wahrscheinlich noch nicht weiß'. Anfangs dachte ich, die reden nur Blödsinn, weil Frauen doch häufig unbedingt einen schwulen, besten Freund haben wollen, aber mit der Zeit ist mir dann auch aufgefallen, dass das einfach zu dir passen würde. Spätestens als ich dich mit Noah und Fynn gesehen habe.“

„Warum sollte dir da so etwas auffallen?“, fragte ich. „Das ergibt doch alles keinen Sinn! Merkt man mir etwa an, dass ich schwul bin?!“

„Nein, nicht direkt“, sagte Simon. „Beruhige dich erst mal, ich verstehe überhaupt nicht, wo dein Problem liegt.“
 

Überfordert rieb ich mir über die Augen. Als ich meine Hände wieder herunter nahm, konnte ich aus dem Augenwinkel Gaaras freches Grinsen erkennen und ich blickte ihn säuerlich an.

„Was gibt es zum grinsen?“

„Du hast gerade zugegeben schwul zu sein“, zuckte er die Schultern. „Jetzt weißt du es selbst auch. Endlich.“

Ich hätte ihn dafür schlagen können, dass er mal wieder Recht hatte. Stöhnend vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen, lehnte mich ein wenig vor, damit ich die Ellenbogen auf den Knien abstellen konnte und spürte meinen Kopf hämmern.
 

„Du machst es dir zu kompliziert“, murmelte Simon.

„Nein...“

„Doch“, widersprach Gaara. „Als ich gemerkt habe, dass ich nicht nur auf Mädchen, sondern auch auf Jungen stehe, war ich fünfzehn und ich habe es einfach akzeptiert. Ich habe es nicht einmal richtig gemerkt, es war einfach da, als hätte es schon immer in mein Leben gehört. Warum machst du jetzt so ein Drama daraus?“

„Dann stehst du halt nicht auf Frauen“, sagte Simon schulterzuckend. „Ist das so schlimm?“

„Nein, ist es nicht, aber es ist auch nicht so einfach“, klagte ich.

„Doch, es ist ganz einfach“, seufzte Simon und lehnte sich ein wenig zu mir vor. „Du machst es dir nur zu kompliziert. Wie mit allem.“

Ein paar Momente lang ließen sie mir Zeit, um mein Gesicht mit meinen Händen zu bedecken und in meinen Gedanken zu versinken. Eigentlich sollte ich erleichtert sein, dass ich zumindest dieses Gefühlschaos scheinbar richtig geordnet hatte, doch das war ich nicht. Ich war noch zu überrumpelt von Gaaras Aktion. Mir war das alles zu plötzlich. Obwohl ich schon seit Wochen, nein, Monaten mit meiner Sexualität rang, war mir die Erkenntnis zu plötzlich gekommen.
 

„Ich kann gerade nicht darüber nachdenken“, sagte ich und die beiden Jungen stöhnten gleichzeitig auf.

„Manchmal raubst du mir jegliche Nerven“, meinte Simon. „Ich glaube ich gehe uns wirklich mal was zum Trinken holen.“

„In der Küche sind Shotgläser“, sagte Gaara als mein bester Freund aufstand und ins Haus verschwand. Ich lehnte mich in der Hollywood Schaukel zurück und blickte Gaara mit zugekniffenen Augen an.
 

„Schau nicht so böse“, meinte er und fuhr mit der Hand über mein Gesicht, doch ich blickte ihn weiterhin böse an. „Ich dachte mir schon, dass dein bester Freund eh weiß, dass du schwul bist. Wenn man mehr Zeit mit dir verbringt, merkt man es dir an.“

„Und warum?“, fragte ich. „Bin ich so wie Noah?“

„Nein, Noah ist offensichtlich schwul“, widersprach Gaara. „Er macht das manchmal gerne, dass er es in der Öffentlichkeit zeigt mit seinen Klamotten und seinem übertriebenen Verhalten. Manchmal macht er das, einfach, weil er Lust darauf hat... meistens jedoch, weil er mit seinen Depressionen kämpft, dann zeigt er seine Homosexualität wie ein Schild. Die Leute schauen ihn an und sehen nur dieses Schild, sie interessieren sich nicht für das, was darunter liegt, weil das Schild an sich interessant genug ist. Somit sieht auch niemand, was wirklich los ist. Aber du machst das nicht. Nicht zur Show und nicht als Schild.“

„Ich wusste nicht, dass er Depressionen hat“, stellte ich leise fest.

„Er meinte, er hätte dir das erzählt“, sagte Gaara stirnrunzelnd.

„Dass er psychische Probleme hat, ja, aber nicht, was genau...“ Ich wollte fragen, warum Noah Depressionen hatte, doch ich ließ es bleiben. In einem passenden Augenblick, könnte ich es ihn selbst fragen, außerdem wusste ich von Gaara, dass er über die Geschichten seiner Freunde Stillschweigen bewahrte.
 

„Und wie merkt man es mir dann an?“, fragte ich also stattdessen.

„Du bist sensibel, du gibst Schwächen zu ohne, dass es dir peinlich ist, du tust nicht so als wärst du super selbstbewusst... okay, ich weiß, das muss nicht alles heißen, dass du schwul bist, aber mir fällt ehrlich gesagt keine richtige Erklärung ein. Es gibt einfach Jungen, bei denen man es direkt merkt, Jungen, bei denen man es gar nicht merkt wie zum Beispiel Fynn -“

„Oder du“, warf ich dazwischen.

„- und es gibt Jungen, bei denen man sich nicht ganz sicher ist und so einer bist du. Jemand, der es nicht zur Show stellt, nicht so spricht oder sich so verhält, aber trotzdem denkt man sich: Der könnte schwul sein. Wenn dieses Gefühl nicht da gewesen wäre, hätte ich nie angefangen dich anzumachen. Wieso sollte ich auch heterosexuelle Männer anmachen?“

„Warum hast du überhaupt damit angefangen? Machst du dich an jeden Kerl ran, der bisexuell oder schwul ist?“, fragte ich und merkte wie mir dieser Gedanke überhaupt nicht gefiel.

„Ganz ehrlich, zu erst wegen deinen Lippen.“

„Wegen meinen Lippen“, wiederholte ich dumpf.

„Du hast so volle, schöne Lippen und dann ist mir aufgefallen, dass Sam dich zurecht Bambi nennt. Weil du diese süßen Rehaugen hast, dann ist mir aufgefallen, dass du im Allgemeinen ein gutaussehendes Gesicht hast und, dass es mir gefällt, dass du fast einen Kopf kleiner und zierlicher bist als ich. Und dann wurde klar, dass du ebenso verloren wie Bambi bist. An meinem Geburtstag habe ich erfahren, wie genial du küssen kannst. Und je mehr ich dich kennen lerne, desto mehr merke ich, dass du einen tollen Charakter hast und außerdem intelligent bist. Du besitzt einfach alles, was ich an Menschen positiv finde.“
 

Er schaute mich an und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war wohl wieder knallrot, peinlich berührt bis zum geht nicht mehr, verlegen, glücklich, verwirrt, erhitzt, mit einem gesteigerten Selbstwertgefühl von einhundert Prozent, gefolgt von der Frage, ob ich gerade träumte. Konnte ich überhaupt so viele positive Eigenschaften haben? Mir war danach zumute mit Gaara rumzumachen, doch ausgerechnet jetzt kam Simon zurück, der erstaunlich lange weggeblieben war und kopfschüttelnd lachte.
 

„Die sind alle echt witzig“, stellte er fest und verteilte an uns zwei Shotgläser. Als er sah wie rot ich war, fragte er: „Soll ich euch Zwei lieber alleine lassen?“

„Nein, jetzt ist glaube ich alles geklärt“, meinte Gaara und schenkte uns Jägermeister ein. Eigentlich wollten die beiden anstoßen, doch kaum, da mein Glas voll war, kippte ich es in einem Zug runter.
 

„Huch“, machte Gaara und Simon lachte.

„Wir haben dich echt fertig gemacht“, stellte Gaara fest. „Warte, ich schenke dir noch was ein...“

Diesmal stießen wir an und kippten den Shot gemeinsam. Ich merkte wie der Alkohol mir sofort in den Kopf stieg. Als Gaara eine zweite, oder für mich dritte, Runde ausschenkte, stieß Schifti die Tür zum Garten auf und brüllte: „Das ist der einzige Jägi, den wir haben! Kommt rein und besauft euch mit uns. Außerdem muss Gaara seine Bong holen. Los, los!“

Wir lachten ein wenig, standen auf und gesellten uns zu den Anderen ins Haus.

Du bist noch Jungfrau

Meine Brust und mein Kiefer taten weh und Simon liefen Tränen über die Wangen, während er keinen Laut mehr über die Lippen bringen konnte. Zusammen gekrümmt lagen wir nebeneinander auf dem Boden und konnten nicht mehr aufhören zu lachen. Anfangs hatte ich gelacht, weil Simon „Scheiß!“ anstatt „Scheiße!“ gerufen hatte, zwischenzeitlich wusste ich nicht mehr, warum ich eigentlich lachte, jetzt lachte ich, weil Simon nicht mehr aufhören konnte. Als ich das Gefühl hatte jeden Augenblick ersticken zu müssen, drehte ich mühselig von ihm weg und versuchte mich zu beruhigen, doch das war viel schwieriger als gedacht. Nur halbwegs nahm ich die Stimmen von Hannah, Tami und Sam wahr, die beieinander auf der Couch saßen und über uns lachten. Das Blitzen einer Kamera hellte über uns auf, kurz bevor ich mich endlich tief durchatmend beruhigen konnte.
 

Meine Wangen waren verkrampft und ich musste die Luft spitz durch den Mund ein und ausatmen. Ich drehte mich zurück zu Simon, sah ihn an und fing wieder an zu lachen. Seine Augen sahen so lustig aus, wenn sie nur kleine Schlitze waren und das Weiß dunkelrot.

„Halt die Klappe!“, rief Simon aufgebracht, doch mit einem breiten Grinsen auf den Lippen. „Ich kann nicht mehr! Ich sterbe!“

Ich wollte ihm beipflichten und sagen, dass ich ebenfalls starb, doch bekam gerade mal ein Nicken zustande.
 

Mir kam die Nacht unendlich lang vor. Immer wieder schaute ich nach gefühlten Stunden auf die Uhr und es waren gerade mal fünf Minuten vergangen. Tatsächlich lag ich zwischendurch fast zwei Stunden lang schweigend und unbewegt auf der Couch, während alle Anderen im Haus herum hüpften und sich unterhielten. Marc grölte mal wieder jedes Lied mit; Hannah, Noah und Sam tanzten gemeinsam; Fynn ging früh bereits Heim und Florian, Kiaro und Kaito unterhielten sich scheinbar über sehr ernste Themen, zumindest lachten sie nicht ständig sowie es alle anderen taten. Auch Schifti ging früher weg, weil er noch auf einen Geburtstag eingeladen war. Mit Simon verstanden sich alle prächtig. Das war beinahe immer der Fall, schließlich war Simon ein Sonnenschein und brachte einem schon gute Laune, wenn er bloß sein breites Grinsen zeigte.
 

Tami verabschiedete sich gegen halb drei nachts. Sie umarmte jeden und dann ging sie zu mir, beugte sich vor und gab mir einen spitzen Kuss auf die Wangen.

„Du bist so stark, Lukas. Falls du irgendetwas brauchst oder reden willst, ich habe immer ein offenes Ohr für dich“, flüsterte sie mir zu, sodass nur ich es hören konnte und verschwand dann mit wippenden, blonden Locken. Ihre Worte brachten mich aus meinem tranceartigen Zustand wieder zurück. Seufzend richtete ich mich ein wenig auf, stellte fest, dass ich die letzten zwei Stunden an nichts gedacht hatte und die Wirkung des Marihuana mittlerweile verflogen war.
 

Meine Augen brannten noch ein wenig und meine Lungen fühlten sich etwas rau an, ansonsten war ich bloß sehr müde.

„Hey Simon.“

Er hörte mich nicht. Die Musik war zu laut und er war gerade damit beschäftigt von Noah das Shuffeln beigebracht zu bekommen. Simon sah dabei aus als hätte er sehr viel Spaß, wie alle anderen in seinem Umkreis. Gaara befand sich an der Anlage gemeinsam mit Marc, sie prügelten und pogten aus Spaß, sangen dabei laut jedes Wort mit.

„Jungs, macht mal ein Lied an auf das man shuffeln kann!“, forderte Sam, Marc deutete zur Antwort auf ihr Gesicht und rief: „NEIN.“

„Oh doch“, erwiderte Sam. „Simon will shuffeln und dazu brauchen wir passende Musik und kein Metallica.“

„Simon ist der Gast“, sagte Gaara schulterzuckend und suchte nach einem Technolied.

„Ich bin auch ein Gast“, meinte Marc, doch Gaara lachte darauf bloß.

„Nein, du bist ein Parasit, das ist ein gewaltiger Unterschied!“
 

Eigentlich wollte ich nach Hause und schlafen, doch sie hatten so viel Spaß, dass ich sie nicht unterbrechen mochte. Ich riss mich am Riemen und rutschte rüber zu Kiaro, Florian und Kaito. Letzterer rauchte als Einziger noch an der Shisha, deren Kohlen so gut wie abgebrannt waren.

„Ah, er ist wach“, stellte der Russe fest. Seit sein eiskalter Entzug geglückt war, hatte er eine gesunde Hautfarbe erlangt und seine haselnussbraunen Augen schienen weniger in den Höhlen zu liegen, auch wenn sie durch ihre Größe in dem schmalen Gesicht noch immer hervorstachen. Die weiße, wulstige Narbe, die sich von seiner Stirn auf seinen Kopf zog, war nicht mehr so stark zu erkennen, da er seine braunen Haare nicht mehr abrasiert hatte und sie nun schlicht und kurz seinen Kopf bedeckten. „Wir hatten uns schon Sorgen gemacht.“

„Ich weiß auch nicht, was los war“, murmelte ich. „Die Bong hat mich umgehauen, jetzt bin ich nur noch fertig.“

„Fertig im Sinne von müde?“, fragte Kaito mit gerunzelter Stirn.

„Ja“, antwortete ich schnell. „Keine Angst, es wird nicht noch mal -“ Ich stockte und blickte peinlich berührt von Kiaro zu Florian.

„Okay, das wollten wir nur wissen“, sagte Kiaro, damit ich meinen Satz nicht zu Ende bringen musste. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und seufzte: „Jetzt bin ich viel länger geblieben als geplant, aber wenn ich mich beeile, bekomme ich die nächste U-Bahn noch. Wir sehen uns spätestens wieder in der Schule.“
 

Er klopfte mir auf die Schulter, verabschiedete sich von den anderen Beiden und dann von den Betrunkenen, ehe er das Haus verließ. Als er weg war, hielt ich es für den passenden Augenblick Kaito etwas zu fragen, was mir bereits auf der Zunge lag, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte.

„Wie bist du eigentlich zu deiner Narbe gekommen?“ Ich tippte gegen meine Stirn, auf die Stelle, bei der bei ihm die Narbe war. Reflexartig fuhr sich Kaito mit den Fingern über den weißen Riss und verlor sich für einen Augenblick in Erinnerung, dann lächelte schief, doch es war kein glückliches Lächeln. Mehr ein Verbittertes.
 

„Das hier ist wohl der Grund, warum Gaara Clubs so sehr hasst“, sagte Kaito und ich merkte die Neugierde in mir steigen.

„Darf ich fragen, was passiert ist?“

„Klar, ich habe kein Problem zu erzählen.“ Er zog noch einmal an der Shisha, doch blies keinen Rauch mehr aus. Ein wenig enttäuscht legte er den Schlauch zur Seite und begann zu erklären: „Als ich dann auch endlich 16 Jahre alt gewesen war, wollten Gaara und ich zusammen mit den ganzen älteren Jugendlichen, mit denen wir damals mehr oder weniger befreundet gewesen waren, in die Stadt feiern gehen. Es hat uns nicht wirklich gefallen. Die sind auf irgendwelchen Technopartys mit zweihundert Leuten und LSD vollkommen durchgedreht, deswegen sind wir Beide früher Heim und wurden kurz vor der U-Bahn-Station von ein paar Älteren überfallen und zusammen geschlagen.“ Er tippte auf die Narbe. „Die habe ich bekommen, weil mir einer von denen mit einer Bierflasche eine übergezogen hat. Ich war bewusstlos und Gaara hatte kein Handy und kein Geld mehr, weil sie uns alles geklaut haben. Irgendwann kam jemand mit seinem Hund vorbei, der ihm dann geholfen hat.“

„Krass“, war alles, was ich in meinem Entsetzen dazu sagen konnte. Beinahe automatisch glitt mein Blick hinüber zu Gaara, der sich gerade mit Simon über etwas scheinbar sehr Lustiges unterhielt. Es gab so vieles, was ich nicht über ihn wusste... und, wenn ich so darüber nachdachte, gab es so vieles, das ich über sie alle nicht wusste. So viele Geheimnisse, Erlebnisse und Beziehungen, von denen ich keine Ahnung hatte...
 

Warum waren Hannahs Eltern getrennt, warum hatte Noah Depressionen, warum waren Gaaras Eltern immer arbeiten, warum hatte Kaitos Mutter solche Drogenprobleme und, was gab es noch alles, von dem ich keine Ahnung hatte?

„Das muss dich jetzt nicht so traurig machen“, sagte Kaito und stupste mich an. „Das ist mittlerweile fast zwei Jahre her. Wir haben Monate später noch einmal versucht, feiern zu gehen und da hat Gaara dann KO-Tropfen ins Getränk gemischt bekommen. Eher gesagt, waren die Tropfen wohl für Sam gedacht, aber Gaara hat ihren Drink leer getrunken, weil sie keine Lust mehr auf den Alkohol hatte. Wenn Sam umgekippt wäre, wäre sie definitiv einfacher zu tragen gewesen.“

„Darüber macht man keine Scherze!“, fuhr ich ihn säuerlich an. „Wenn ihr nicht aufgepasst hättet und Sam wäre umgekippt... derjenige, der ihr die Tropfen gegeben hat, hätte sie vergewaltigen können!“

„Das war wohl auch sein Ziel gewesen, doch wir lassen Sam niemals alleine, wenn wir nachts rausgehen“, sagte Kaito. „Du brauchst dich auch nicht aufzuregen, es ist ja nichts passiert.“

„Es hätte aber etwas passieren können“, entgegnete ich.

„Warum regt dich das so auf?“, fragte Florian und mir wurde klar, dass die Antwort 'Alex' lautete.
 

Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Bedürfnis mir von der Seele zu reden, was Julian ihr angetan hatte und, wie sehr ich sie fragen wollte, wie es ihr damit ging. Manchmal, wenn ich hörte, dass sie bis tief in die Nacht wach war, fragte ich mich, ob sie wegen den Erinnerungen an die Nacht nicht schlafen konnte. Und ziemlich oft, stellte ich mir Julian noch einmal zu begegnen und mit ihm abzurechnen...

Doch ich hatte Alex versprochen es niemandem zu erzählen, deswegen antwortete ich: „Ich weiß nicht, so etwas regt mich eben auf. Ich finde eine Vergewaltigung ist das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Es ist einfach auf so vielen Ebenen falsch und ekelhaft... keine Ahnung...“

„Das hast du wohl Recht“, nickte Florian. Ich rieb mir über die Augen und sagte: „Außerdem bin ich tot müde. Ich schlafe gleich einfach hier ein.“

„Geh doch nach Hause“, schlug Kaito schulterzuckend vor.

„Nein, Simon hat noch so viel Spaß und alleine findet er niemals den Weg zurück“, murmelte ich.

„Dann leg dich bei Gaara schlafen.“ Kaito rief nach seinem besten Freund, der sofort heran geeilt kam. „Lukas ist müde, will aber um Simons Willen noch nicht Heim, lässt du ihn bei dir ein wenig schlafen?“

„Aber selbstverständlich!“
 

Gaara streckte mir die Hand entgegen. Für ein paar Sekunden zögerte ich, dann ergriff ich sie und ließ mich von ihm mit ziehen. Raus aus dem Wohnzimmer, in den langen, breiten Flur, die Treppe rauf, wo Gaara das Licht anknipste und hinein in sein geräumiges Zimmer mit dem riesigen Bett. Ohne zu zögern ließ ich mich rücklings auf die Matratze fallen, Gaara blieb an der Tür stehen und druckste ein wenig herum.

„Ich denke, du willst dann schlafen“, sagte er gedehnt. „Willst du eine bequeme Hose von mir anziehen? Wenn dir die Decke zu dünn ist, hätte ich noch zusätzlich eine Wolldecke -“

„Gaara, bleibst du bei mir?“ Ich war ein wenig überrascht, dass diese Frage über meine Lippen kam. Ja, ich war müde, aber ich erkannte trotzdem wie passend die Situation war, um meine Vorstellungen wahr werden zu lassen. Alles, was mir Gaara am Abend gesagt hatte und, dass Simon nun dachte oder eher gesagt wusste, dass ich schwul war... gerade kam es mir so einfach vor. Vielleicht, weil ich zu müde war, um es kompliziert zu machen.
 

Ich fand Gaara toll und wollte mit ihm rummachen und er fand mich toll und wollte mit mir rummachen. So einfach konnte man die Situation zusammen, in nur einem Satz.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte Gaara und schloss die Tür sanft hinter sich. „Du hast eben nur auf der Couch gesessen und nichts getan...“

„Das Marihuana“, winkte ich ab und lachte ein wenig. Ich setzte mich auf und blickte ihn von unten herauf an. „Es ist so einfach, oder?“

„Was ist einfach?“ Gaara setzte sich zu mir aufs Bett, zwischen unseren Gesichtern befanden sich nur noch meine angewinkelten Beine.

„Ich mache alles immer so kompliziert, aber diese Sache ist eigentlich einfach“, sagte ich und lachte bitter. „Es ist wohl alles einfach und ich verkompliziere es. Ich stehe auf Männer, ich vermisse meinen Vater, ich habe jetzt schon Angst das Abitur nicht zu schaffen, ich habe Angst, dass ich mich mit meinen Freunden aus Nordrhein-Westfalen auseinander lebe, ich glaube ich bin nur das Anhängsel eurer Clique. Irgendein... Rad, ich kann gerade nicht zählen wie viele ihr seid, aber ich bin nur das Reserverad. Tut mir Leid, ich bin echt durch.“

„Nein, nein“, sagte Gaara hörbar und sichtbar entsetzt. Er legte die Hände auf meine Knie und ich spürte das warme, süßliche Kribbeln auf meiner Haut. Wenn nur nicht die Jeans dazwischen wäre... „Ich glaube nicht, dass du Dinge verkomplizierst. Du denkst viel mehr über sie nach und Gefühle sind nie einfach. Deinen Vater zu verlieren war sicher nicht einfach, zu erkennen schwul zu sein, ist auch häufig für einen Jungen oder einen Mann nicht einfach. Abitur zu machen ist nicht einfach und Freundschaften auf weite Entfernung sind es auch nicht. Du hast echt einen Haufen Probleme, die kompliziert sind und mit denen du dich auseinander setzen musst, aber eine Sache kannst du in deiner Liste schon einmal streichen: Du bist kein Anhängsel.“
 

Er betonte die letzten vier Worte so deutlich, dass ich sie ihm sogar glaubte. Es ließ mein Herz ein wenig aufgehen und ich lächelte. Ein Anhängsel besuchte man auch nicht Zuhause, wenn es ihm schlecht ging, oder? Und dem besten Freund eines Anhängsels schenkte man keine eigene Willkommensparty, richtig? Dann hieß das, ich gehörte dazu.

„Hast du mich verstanden?“, fragte Gaara eindringlich.

„Ja, habe ich“, antwortete ich.

„Glaubst du mir auch?“

Ich nickte.
 

„Alles klar... willst du... ehm... über die anderen Sachen reden?“ Ich hatte ihn noch nie so unsicher erlebt wie gerade. „Ich bin ehrlich gesagt nicht gut darin über Probleme zu reden. Ich will dir gerne helfen, aber ich kann das echt schlecht und es ist immer schwierig, wenn es Freunden schlecht geht.. oder Leuten, die ich auf andere Weise gern habe.“

„Schon okay“, sagte ich. „Du hast mir gerade schon geholfen.“
 

Es folgte ein angenehmes Schweigen, indem ich mich in den Schneidersitz setzte und Gaaras Hände mit meinen ergriff. Wir beobachteten Beide, wie er mit seinen Daumen über meine Handrücken fuhr. Er setzte sich nun ebenfalls in den Schneidersitz und unsere Gesichter waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt.

„Tut mir Leid, dass ich dich vorhin mit dem Kuss so überrumpelt habe“, sagte Gaara leise als wolle er den Moment nicht zerstören. In mir war alles ganz heiß, mein Kopf drehte sich vor Glück und mein Herz machte kleine Hüpfer. „Das werde ich nicht noch einmal so machen, deswegen frage ich: Wäre es okay für dich, wenn ich dich küsse?“

„Sehr okay sogar“, gab ich zu. Wir beugten uns gleichzeitig vor und tauschten sanftes Lippenberühren, das zu zärtlichem Küssen wurde. Er stupste mit der Zunge gegen meine Lippen und ich öffnete sie. Seine Zunge war rau und schmeckte ein wenig nach Alkohol, aber das störte mich nicht im geringsten. Anfangs blieben auch die Zungenküsse zärtlich, Gaara nahm mein Gesicht zwischen seine Finger und sein Daumen fuhr über meine erhitzten Wangen. Ich krallte meine Finger in sein Oberteil hinein.
 

Ich merkte nicht, dass meine Hände weiter nach unten rutschten und irgendwann nur eine Haaresbreite über seinem Schritt ruhten. Die Finger seiner linken Hand vergruben sich in meinen Haaren und unsere Zungenküsse wurden wilder. Ich merkte, wie er sich mehr verbeugte und verhielt mich, wie es mir gerade in den Kopf ging. Ich löste meine Beine aus dem Schneidersitz, machte sie breit, damit Gaara mich aufs Bett nieder drücken konnte. Nun befanden sich meine Hände wieder an seinen Seiten. Für einen Augenblick hörten wir auf uns zu Küssen und ich konnte seinen heißen Atem auf meinen Lippen spüren.
 

„Du bist noch nicht bereit für mehr“, sagte Gaara leise. „Ich will dir nichts zumuten.“

„Und ich will nicht aufhören“, sagte ich und zog ihn erneut in Zungenküsse. Gaara lag auf mir und seine Hüfte presste sich gegen meine. Das Ziehen in meinen Lenden wurde stärker als ich seine Erregung spürte. Ich merkte, dass sich auch bei mir etwas tat.

Gaara fuhr mit seinen kühlen Händen unter mein Shirt und zog eine erregende Gänsehaut über meinen Bauch und meine Brust. Er krempelte das Shirt hoch bis mein gesamter Oberkörper frei lag, küsste sich dann von meinen Lippen herunter auf meinen Hals. Genussvoll schloss ich die Augen, spürte meine Lider zittern und stieß heißen, keuchenden Atem aus, während Gaara nun meine Brust küsste und sich dann an einer Brustwarze zu schaffen machte. Saugte daran, küsste und ich hätte nie gedacht, dass mich dies so sehr erregen würde.
 

Als ich ein erstes lauteres Keuchen ausstieß, machte Gaara weiter und küsste sich über meinen Bauch je näher er nach unten kam, desto mehr Aufregung verspürte ich. Von der Müdigkeit war nichts mehr zu merken, ich war hellwach, erregt und auch ein wenig nervös, doch ich wollte auf keinen Fall, dass Gaara aufhörte mit dem, was er gerade tat. Langsam öffnete er meine Jeans und zog sie ein Stück herunter. Ich hielt weiterhin die Augen geschlossen, doch merkte ich, dass meine Erregung sich deutlich durch den Stoff meiner Boxershorts drücken musste. Für einen kurzen Augenblick, nur eine Sekunde lang wurde mir bewusst, dass Gaara gleich sehen würde, was sich zwischen meinen Beinen befand und das zerstörte den Moment. Irgendwie hatte ich Angst, dass Gaara mich so nackt sah, doch er hatte schneller die Boxershorts runter gezogen als ich reagieren konnte.
 

Ich presste die Augen zusammen. Gaara hielt inne.

„Alles klar?“, fragte er. „Gerade warst du noch voll dabei.“

„Nein, ist schon – geht schon“, stammelte ich mit knallrotem Kopf. Er ließ meine Hosen weiterhin runter gezogen, kam jedoch wieder hoch, um mich frech anzugrinsen.

„Sag mir nicht, dass dich noch nie jemand nackt gesehen hat... außer deiner Familie natürlich.“

Ich antwortete nicht, sondern ließ meine Lippen fest zusammen gepresst.

„Ok, du bist noch Jungfrau.“ Gaara lachte. Mir verging die Lust.
 

Ich zog meine Boxershorts und meine Jeans wieder an und rutschte aus der Lage unter Gaara, der mich enttäuscht anschaute.

„Ich hab mich nicht über dich lustig gemacht oder so etwas -“, setzte Gaara an.

„Vielleicht hast du Recht, ich bin noch nicht bereit für mehr“, sagte ich möglichst sarkastisch und stand vom Bett auf, das Shirt rutschte automatisch wieder herunter.

„Nein, Lukas.“ Er fasste nach meinem Handgelenk. „Lass uns einfach... ein wenig küssen und reden und dann gehst du mit Simon Heim, aber verlass jetzt nicht so das Haus, sonst... ich will nicht, dass du wütend auf mich bist wegen irgendetwas.“

Eigentlich war ich aus irgendeinem Grund wütend auf mich selbst, doch das konnte ich nicht an Gaara auslassen, er hatte nichts falsch gemacht. Nur den Kommentar mit der Jungfrau hätte er ruhig lassen können. Also beugte ich mich vor und gab ihm einen Kuss auf die Lippen ehe ich sagte: „Lass mich erst mal mit der Erkenntnis homosexuell zu sein, klar kommen.“

„Sag Bescheid, wenn es soweit ist“, seufzte Gaara und ich verließ sein Zimmer.

Noah hat sturmfrei

Gegen Ende der Osterferien, als ich damit beschäftigt war, den Gedanken zu verdrängen, Simon in zwei Tagen wieder fahren lassen zu müssen, telefonierte Noah mit einer erfreulichen Nachricht rund: Er hatte über das Wochenende sturmfrei.

„Mein Dad fährt mit Hannahs Mum in Urlaub, das war sein Geschenk für ihren Geburtstag. Sie kommen Sonntag morgens wieder, das heißt bis dahin können wir bei mir Party machen“, erzählte er mir fröhlich am Telefon.

„Und du darfst das?“, fragte ich zögerlich.

„Natürlich nicht“, lachte Noah. „Aber solange es bis zu ihrer Rückkehr wieder so aussieht wie vorher, kann mir nichts passieren, oder?“
 

Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Theorie so absegnen konnte, doch Simon war von der Nachricht begeistert und meinte, das wäre der perfekte Abschluss für die perfekten Osterferien und damit hatte er zweifelsohne Recht. Nach ein paar Tagen hatte sich bei mir endlich die Erleichterung breit gemacht mich mir gegenüber geoutet zu haben. Das machte einiges einfacher und, da Simon dies ohne mit der Wimper zu zucken akzeptieren konnte und mich nicht ansatzweise anders behandelte als vorher, hatte ich auch keine Bedenken, dass irgendjemand anderes damit ein Problem haben könnte. Als wir vor zwei Tagen mit Noah, Fynn und Hannah in der Stadt feiern gewesen waren, hatte ich gegen drei Uhr morgens in betrunkenem Zustand die Entscheidung getroffen, Lynn anzurufen und ihr zu erzählen, dass ich schwul war. Tatsächlich hatte sie sogar äußerst verschlafen den Anruf entgegen genommen und nach meinem gelallten „Ich bin schwuuuuul“, gesagt „Schön.“ und wieder aufgelegt. Am nächsten Morgen rief sie mich dann zurück und fragte dumpf: „Hast du mich gestern Nacht angerufen und mir gesagt, dass du schwul bist oder habe ich das nur geträumt?“

Auch Genesis wurde via Skype in Kenntnis gesetzt, die bloß mit den Schultern zuckte und meinte: „Wusste ich bereits.“
 

Dass der erste Todestag meines Dads immer näher rückte, konnte ich in dem Chaos der Osterferien gut verdrängen. Jeden Abend und jede Nacht waren Simon und ich gemeinsam unterwegs, schliefen bis in den späten Nachmittag hinein, belagerten Mums Tiefkühltruhe mit Pizzen, die wir zuhauf in uns hinein schaufelten und verbrachten die Wartezeit bis wir uns mit den Anderen trafen mit zocken. Nicht nur einmal wachte ich vollkommen verkatert auf und behauptete eine Nacht Auszeit zu brauchen, nur um mich kurz vorher noch einmal um zu entscheiden und doch mit zu kommen. Dann nahm ich mir vor etwas weniger zu trinken und zu kiffen, aber daraus wurde im Endeffekt auch nichts. Simon ging es nicht anders. Er hatte sogar am letzten Wochenende mit einer Bekannten in Gaaras Gästezimmer Sex gehabt. Es handelte sich dabei um dasselbe Mädchen, das auch schon mit Kaito geschlafen hatte. Bisher hatte ich sie nur als „Betthäschen“ gekannt, ihr Name war jedoch Sheila und ich konnte sie nicht unbedingt leiden, denn sie schien nur zu leben, um mit jedem Jungen, der ihr in die Quere kam, Sex zu haben.
 

Als wir uns dann am Freitag, nur eine knappe Stunde nachdem Noahs Vater und Hannahs Mutter gemeinsam das Haus verlassen hatten, bei Noah einfanden, war Sheila ebenfalls anwesend. Sie schenkte mir keine Begrüßung, dafür aber Simon ein Augenzwinkern und warf ihre schulterlangen, braunen Haare zurück.

„Was macht die hier?“, fragte ich an Noah gewandt. Simon und ich brachten hochprozentigen Alkohol in die Küche. Mein Kopf brummte noch vom Vorabend... heute sollte ich weniger trinken, wenigstens heute. Noah bereitete auf dem Küchentisch eine Shisha vor. Obwohl Sheila irgendwo im Wohnzimmer herum lief, wusste Noah sofort, wen ich meinte.

„Ich habe einfach mal allen möglichen Leuten gesagt, dass ich sturmfrei habe“, antwortete er. „Und hör auf immer so negativ über sie zu reden, du kennst sie doch gar nicht.“

„Muss ich sie unbedingt kennen lernen?“

„Nur, weil jemand viel Sex hat, ist er noch lange kein schlechter Mensch“, sagte Noah und Simon pflichtete bei: „Ich habe auch viel Sex und mich kannst du leiden.“

„Darum geht es auch gar nicht, es gibt einfach Menschen mit denen man sich generell nicht gut versteht.“ Diese Aussage stimmte natürlich nur halb und Simon wusste das, das merkte ich anhand seines Gesichtsausdruckes, doch er sagte kein Wort mehr dazu.
 

Wie bereits die Nächte zuvor, kamen wir schnell in Fahrt und Sam präsentierte uns ein Trinkspiel, welches sie im Internet gefunden hatte: Ein Kartenspiel von Sieben bis Ass lag als normaler Stapel auf dem Tisch. Der Reihe nach musste jeder eine Karte aufdecken. Fynn begann und deckte eine Acht auf, was bedeutete, dass jeder außer ihm trinken musste. Danach kam Noah an die Reihe, der sich dicht an seinen Freund geschmiegt hatte und eine Zehn zog, was hieß, dass er einmal selbst trinken musste. Jede Zahl hatte ihre eigene Bedeutung, doch wirklich lustig wurde es erst, als Sam den König zog. Das machte sie zum Fragekönig und jedes Mal, wenn sie jemandem eine Frage stellte, musste man erst „Fick dich!“ sagen bevor die Antwort folgte.
 

Als sie Gaara also nach dem Wodka fragte und er antwortete: „Der steht in der Küche.“ begannen sofort alle zu lachen und er konnte sich einen weiteren Shot Jägermeister kippen. Ebenfalls lustig war die Dame. Hannah zog sie, was sie zum Daumenkönig machte. Irgendwann im Laufe des Spiels musste sie ihren Daumen an die Nase legen und jeder musste es ihr gleichtun, der Letzte musste trinken. Marc war wie immer ziemlich schnell betrunken und wir saßen beinahe zehn Minuten mit den Daumen an den Nasen bis er es bemerkte.
 

Nach vielen Runden dieses Trinkspiels waren alle ziemlich betrunken, außer Samantha, die das Spiel beherrschte wie sonst niemand. Sie gönnte sich mit ein paar Freundinnen eine Bong, während sich die gesamte Spielgruppe in die Winkel von Noahs Hauses aufmachte. Simon und ich tanzten erst ein wenig im Wohnzimmer, danach gingen wir raus um eine zu Rauchen. Mittlerweile war es bereits dunkel und ich konnte mich selbst lallen hören. Da ich mich nicht mehr sicher auf den Beinen fühlte, ließ ich mich am Straßenrand nieder und betrachtete die Sterne.
 

„Woow“, machte ich. „Normalerweise sieht man die hier in Berlin kaum... aah... ich bräuchte noch eine Woche Ferien, um mich von der Sauferei zu erholen.“

„Ich auch“, lachte Simon. „Aber es waren richtig geile Ferien.“

„Es ist aber mein Ernst, ich brauche wirklich eine Saufpause“, seufzte ich und presste eine Hand gegen meine Schläfe. Vielleicht sprach gerade auch nur der Alkohol aus mir, doch irgendwo spürte ich, dass ich die Wahrheit sagte. „Ich habe das Gefühl ich versuche damit Sachen zu verdrängen.“

„Ist das nicht der Sinn hinter Alkohol und Drogen?“, fragte Simon.

„Das ist aber keine Lösung“, sagte ich trotzig. „Jetzt hast du mich traurig gemacht...“

„War nicht meine Absicht.“ Erneut lachte er. „Das war auch nicht wirklich Ernst gemeint. Natürlich ist das keine Lösung, aber wir hatten doch in den zwei Wochen Spaß gehabt? Wozu sind die Ferien sonst da, wenn nicht dafür?“
 

Ich zuckte die Schultern. Für einige Sekunden breitete sich über uns die Stille, dann hörten wir in der Nähe Kichern und Flüstern und etwas, das klang wie Kussgeräusche. Wir lauschten ein wenig, dann bekam Simon ein breites Grinsen auf die Lippen und wandte sich der Stelle zu, aus der die Geräusche kamen. Die beiden Personen befanden sich gleich um die Ecke von Noahs Haus im Vorgarten, in Schutz von Sträuchern und dem hohen Gartenzaun. Langsam schlich Simon darauf zu.
 

„Was machst du da?“, zischte ich. Er presste einen Finger auf seine Lippen.

„Ich will nur wissen, wer da Spaß hat“, wisperte er. Ich schnippte meine Zigarette weg und folgte ihm mit zwiespältigen Gedanken. Einerseits war ich ebenfalls neugierig, andererseits wollte ich nicht irgendwem in die Privatsphäre eindringen. Wenn man Gaara und mich damals in seinem Garten beobachtet hätte, wäre mir das mehr als nur unangenehm und peinlich gewesen.

Vorsichtig lugte Simon um die Ecke und einige Momente lang verharrte er bloß, während die Kussgeräusche nun überhand nahmen. Man hörte ein Mädchen ein wenig keuchen und mir wurde es zu unangenehm. Ich wollte unbemerkt wieder zurück ins Haus gehen, da drehte sich Simon zu mir um und flüsterte geschockt: „Das sind Fynn und Sheila.“

„Was?“, fragte ich leise.

„Das sind Fynn und Sheila“, wiederholte er nun bestimmter.

„Bist du dir sicher?“ Ich hatte das Gefühl als würde mir jemand eine heiße Flüssigkeit über dem Kopf ausschütten, dich sich über und in meinem Körper verbreitete. „Ich meine, es ist dunkel und -“

„Ich bin mir sicher.“ Simon klang unumstößlich. Ich presste meine Lippen fest aufeinander, ehe ich fragte: „Was machen wir jetzt? Unterbrechen wir sie und reden Fynn ins Gewissen er soll die Sache Noah sagen oder gehen wir direkt zu Noah?“
 

Simon nahm mich beim Handgelenk und führte mich zurück auf die Straße, wo wir uns in normaler Lautstärke unterhalten konnte. Das Erste, was mein bester Freund von sich gab war: „Dieses Arschloch und diese behinderte Schlampe! Ich dachte, der Kerl wäre schwul!“

„Nein, er ist bisexuell“, widersprach ich. „Aber vollkommen egal. Was machen wir jetzt?“

„Wir unterbrechen sie und reden mit Fynn“, sagte Simon nach einiger Überlegung. „Er soll es Noah nicht sagen, wenn der sturzbetrunken ist, das endet nicht gut.“

„Das stimmt. Noah neigt ohnehin zu Depressionen, gemischt mit Alkohol könnte das echt schlimm werden... aber dann verbringen wir zu Viert den Rest dieser Party in sehr angespannter Stimmung“, stellte ich fest. „Wahrscheinlich kann ich Noah keine Sekunde anschauen ohne ihm erzählen zu wollen, was Fynn getan hat.“
 

Für einen Moment stellte ich mir vor, dass wir Gaara mit Sheila gefunden hätten und die Eifersucht, die sich in mir breit machte, war unerträglich. Schnell schüttelte ich den Gedanken ab und das Gefühl ersetzte sich durch tiefstes Mitleid. Wenn ich ein wenig mehr Alkohol intus hätte und Simon nicht vor mir gestanden hätte, hätte ich aus Mitgefühl für Noah angefangen zu heulen. Simon sah dahingegen einfach nur wütend aus.

„Komm, ich will die unterbrechen.“ Selbstbewusst ging er voraus und ich folgte ihm dicht. Als wir jedoch um die Ecke bogen, waren Fynn und Sheila wie vom Erdboden verschluckt.
 

Wir suchten sie eine Weile hinter dem Haus, wurden dort jedoch von Kaito aufgelesen, der uns eine halbleere Flasche Jackie in die Hand drückte und wieder zurück ins Gebäude schleuste. Von Fynn und Sheila fehlte jede Spur. In einem passenden Moment entwich ich dem Chaos aus Betrunkenen und Tanzenden und suchte nach den Beiden im Gästezimmer, wo jedoch gerade zwei andere, mir fremde, Personen anbandelten. Das Schlafzimmer war abgeschlossen und in Noahs Zimmer herrschte wie im Rest des Hauses ein heilloses Durcheinander. Schlussendlich entschieden Simon und ich die Sache Noah zu erklären, sobald wir und vor allem er, wieder nüchtern waren.
 

Leider war das überhaupt nicht einfach. Nach dem ich mir mit Samantha einen starken Joint gegönnt hatte, übermannte mich der Schlaf und ich nickte auf Noahs Bett ein. Als ich wieder aufwachte, war es bereits später Nachmittag und Musik dröhnte erneut aus dem Wohnzimmer. Sam, die neben mir geschlafen hatte, sah aus als hätte sie in eine Steckdose gefasst und wuschelte mir durch die Haare.

„Sieht aus als würde es direkt weiter gehen“, grinste sie.

„Jaa“, sagte ich langgezogen. Mein Kopf dröhnte schlimmer als zuvor und meine Augen brannten noch vor Müdigkeit. „Ich muss Simon suchen gehen.“

Ich fand meinen besten Freund in der Küche, gemeinsam mit einem blonden Mädchen, das er mit frechem Grinsen und einem Drink versuchte rum zu kriegen. Ohne viel Federlesen packte ich ihn am Handgelenk und zerrte ihn ins Esszimmer, wo wir leise und ungestört reden konnten.
 

„Was ist mit Fynn und Sheila?“, fragte ich sogleich.

„Du siehst absolut fertig aus“, stellte Simon fest. „Keine Ahnung, wo die hin sind, ich habe sie seit gestern Nacht nicht mehr gesehen.“

„Hast du schon mit Noah geredet?“

„Als ich wach geworden bin, war er schon wieder betrunken.“
 

Schwerfällig seufzte ich. Mein Kopf schmerzte so sehr, dass ich kaum über die Situation nachdenken konnte. Ich wägte unsere Möglichkeiten ab und suchte eine geeignete Lösung als Simon mich anstupste und ins Wohnzimmer deutete, welches man durch einen leeren Türrahmen sehen konnte. Dort auf der Couch saß Fynn und mit dem Gesicht zu ihm, auf seinem Schoß, Noah. Beide grinsten sich gegenseitig an und übersäten sich mit Küssen. Verständnislos schüttelte ich den Kopf.
 

„Das kann doch nicht wahr sein, jetzt macht er wieder mit Noah rum?“, empörte ich mich.

„Ich sag's nur ungern, aber der sieht nicht aus als würde er das zum ersten Mal machen“, murmelte Simon. „Ich glaube er betrügt Noah schon eine Weile...“

Kaum, da Simon diese Worte ausgesprochen hatte, wurde mir klar, dass er sie ernst meinte. Wie oft war Fynn schon mit dämlichen Ausreden Noah losgeworden, weil er mit irgendwelchen Freunden feiern gehen wollte oder mal eine Auszeit von seinem Freund brauchte? Die ganze Zeit über dachte ich, er würde das tun, weil es ihm auf die Nerven ging, dass Noah so klammerte, aber eigentlich ging es nur darum Zeit für Affären zu bekommen. Wenn das stimmte...
 

„Sollen wir die jetzt nicht unterbrechen und es Noah sagen?“, fragte ich angespannt.

„Das wird das totale Drama geben“, stellte Simon fest. „Und vor allen Leuten wird Fynn alles abstreiten und abgesehen davon, ist Noah betrunken und wir meinten doch, wir wollen die Sache klären, wenn er nüchtern ist.“

„Ich weiß...“ Ich war nicht scharf darauf Noah zu sagen, dass sein Freund ihn betrog. Eigentlich war ich sogar ganz froh, dass wir es noch ein wenig vor uns herschieben konnten. Aber der Anblick von Fynn machte mich nur noch wütend. Am liebsten wäre ich rüber gerannt, hätte Noah von dem Kerl heruntergezogen und Fynn ordentlich eine gepfeffert. Doch wir entschieden uns zu warten und ich entschied, dass ich das nur in Gaaras Gegenwart ertragen könnte.

Nur mit ihm

Es war einer dieser Träume, bei denen man wusste, dass man schlief, doch die sich so real anfühlten, dass man sie für nichts auf der Welt aufgeben wollte. In meinem Traum lag ich auf Gaaras Bett und sein gut aussehendes Gesicht mit grün-braunen Augen und dem verwegenen Grinsen auf blutleeren Lippen, nahm mein Blickfeld komplett ein. Dann spürte ich seine Lippen auf meinem Körper. Überall. Am Hals, auf dem Schlüsselbein, auf der Brustwarze, über dem Bauch, an den Innenseiten meiner nackten Oberschenkel und schließlich zwischen meinen Beinen. Küsste mich solange bis ich hart war und keuchte und ich fühlte mich wie im siebten Himmel. Doch plötzlich hörte er auf, erschien wieder über mir und sagte: „Ich kann nicht länger so tun als wäre nichts gewesen. Es tut mir Leid, Lukas, aber ich habe was mit Sheila am Laufen.“
 

Ich weiß nicht, was mich geweckt hatte: Der Schock, der mich im Traum übermannte oder das weibliche Stimmorgan, das kreischend die Luft zerriss. Überfordert wachte ich auf, mein Kopf dröhnte, meinen Augen waren noch nicht richtig aufgeschlagen, doch irgendwie fand ich mich stehend in Noahs Wohnzimmer wieder. Ich konnte nicht einmal sagen, ob ich die wenigen Stunden Schlaf auf dem Boden neben der Couch und gemeinsam mit Simon auf der Couch verbracht hatte. Seinen zerzausten Kopf und die vor Müdigkeit winzigen, tiefbraunen Augen waren das Erste, was ich wirklich wahr nahm, bevor ich die Frau erkannte, die an der Eingangstür stand und einen hochroten Kopf hatte.
 

„WIE UM ALLES IN DER WELT SIEHT ES HIER AUS?!“, kreischte sie völlig aus der Fassung. Donnernd ließ sie die Tasche fallen, die sie zuvor getragen hatte, dann blickte sie sich hektisch um und schrie uns an, dass wir das Haus verlassen sollten. Ich war noch nicht in der Verfassung dazu logisch nachzudenken. Sie holte sich in der Küche einen Besen und begann mit dem Stiel nach uns zu schlagen. Ich sah wie sie Kaito gegen den Hinterkopf traf als er überstürzt das Haus verließ. Um nicht ebenfalls getroffen zu werden, entschied sich Schifti kurzerhand dazu ein Fenster im Wohnzimmer aufzumachen und dort raus zu klettern. Simon und ich folgten ihm schnellst möglich.
 

Innerhalb weniger Sekunden war die Straße vor Noahs Haus gesäumt mit knapp fünfzehn Jugendlichen. Einige Momente lang wusste niemand, wo er hin laufen wollte, dann entschieden wir uns alle nach rechts zu rennen. Immer weiter weg von dieser durchgedrehten Frau, die uns noch hinterher schrie, dass sie beim nächsten Mal sofort die Polizei rufen würde und unsere Eltern würden auf jeden Fall von diesem Wochenende erfahren.

Erst als wir zwei Blocks zwischen uns und sie gelegt hatten, wurden wir langsamer und mir wurde jäh bewusst, dass ich barfuß war. Beinahe wäre es mir peinlich gewesen, doch dann schaute ich die Anderen an und erkannte, dass niemand die Zeit gefunden hatte sich anzuziehen. Keiner trug eine Jacke oder Schuhe, Kaitos Oberkörper war nackt, Sheila trug nur eine Unterhose und darüber ein weites Shirt, Sam hatte als Oberteil nur ihren BH und Schifti war bloß in Boxershorts. Zur Abwechslung war ich der Erste, der anfing zu lachen.
 

„Scheiße, bin ich durch“, prustete ich und die Meisten stimmten mit ein.

„Ich weiß überhaupt nicht, was gerade passiert ist“, klagte Marc. „Wer war das überhaupt?“

„Hannahs Mutter“, antwortete Kaito. Gaara zog neben ihm sein Oberteil aus, damit Sam es sich überziehen konnte. Der Anblick seiner nackten, schlanken Muskeln machte mich wuschig. Er bemerkte meinen Blick und grinste verwegen. Dieser Blödian.
 

„Oh“, machte Florian und verzog verlegen das Gesicht. „Eigentlich wollten wir noch alles aufräumen, bevor die Eltern wieder kommen, oder?“

„Das haben wir wohl irgendwie nicht geschafft“, stellte Schifti überflüssigerweise fest. „Aber wisst ihr was.“ Er schlug in die Hände und ging los. „Es geht mir am Arsch vorbei. Ich entschwinde nach Hause. Meine Sachen hole ich mir ab, wenn die Furie weg ist. Adios.“

„Du hast deine Schülerkarte für die S-Bahn gar nicht dabei“, rief Florian ihm hinterher, doch Schifti winkte bloß mit der Hand ab.

„Da wird doch eh kaum kontrolliert!“
 

„Also ich hätte meine Sachen schon gerne wieder“, sagte Simon als Schifti weg war. „Mein Zug fährt heute und ich habe keine Ahnung wie viel Uhr wir haben.“

„Stimmt ja.“ Die Worte klangen seltsam hohl, als ich sie aussprach. Seltsamerweise war mein Kater heute nicht so schlimm wie er sonst in den letzten zwei Wochen gewesen war. Vielleicht war ich auch noch nicht richtig wach, doch fühlte ich mich gerade als wäre ich vierzehn Tage lang in einer Traumwelt gewandelt und mit der Erkenntnis, dass Simon wieder nach Hause fuhr, wurde ich hart aufgeweckt. Die Realität verpasste mir mal wieder einen Faustschlag direkt ins Gesicht. Obwohl es gemein war, hoffte ich, dass Simon seinen Zug schon verpasst hatte, dann würde er wenigstens noch ein bisschen länger bei mir bleiben. Ich war nicht dazu bereit meinen besten Freund schon wieder gehen zu lassen.
 

„Sollen wir wieder zurück gehen?“, fragte jemand unsicher. Es waren noch Leute da, die ich vor Noahs langer Party noch nicht gekannt hatte, doch ihre Namen hatte ich schon wieder vergessen oder sie mir erst gar nicht gemerkt.

„Irgendwie wäre das schon peinlich“, stellte ein Mädchen fest.

„Ich will aber mein Handy wieder haben“, protestierte Samantha. „Lasst uns einfach zurück gehen!“
 

Wir schlurften zurück, denn insgeheim war es jedem von uns peinlich wieder halbnackt dort aufzukreuzen. Vor dem Haus saß Noahs Vater auf einem Trolli und begann zu lachen als er uns kommen sah. Man sah ihm sofort an, dass er mit Noah verwandt sein musste. Sie hatten die gleichen, blonde Haare, die gleichen, sanften Gesichtszüge und diese verblüffend blauen Augen.

„Ich müsste euch fotografieren“, grinste er. Hannahs Mutter hörte man bis auf die Straße toben. „Noah hatte eben versucht euch hinterher zu rennen, aber Regina hatte ihn schneller eingefangen als ich reagieren konnte. Ich habe mich noch nicht ins Haus getraut. Seid ehrlich, wie schlimm sieht es aus?“
 

Erinnerung an die letzten Nächte kamen hoch und mir fiel ein, dass wir uns Spaghetti Bolognese gemacht und dann eine Essensschlacht im Wohnzimmer veranstaltet hatten und, dass Schifti und Marc bei einer gespielten Rauferei die Gardinen herunter gerissen hatten, dass Teller zur Bruch gegangen waren und die mit Bier gefüllte Shisha – Vase im Flur in tausend Teile zerschellt war. Ich erinnerte mich daran, dass ich morgens um drei Uhr auf das Gäste – WC gehen wollte, doch dort bereits jemand damit beschäftigt gewesen war, die Badewanne voll zu kotzen. Und jemand kam auf die Idee man könnte betrunken dieses Spiel spielen, bei dem man sich ganz lange im Kreis drehen und dann zu einem bestimmten Punkt los rennen musste.
 

Jeder begann mit 'Äh's und 'Öh's und druckste ein wenig herum in der Hoffnung keine Antwort geben zu müssen.

„Ich würde ja selbst schauen gehen, aber ehrlich gesagt, habe ich gerade ein wenig Angst vor Regina. Eben meinte sie kurz, da Noah mein Sohn ist, soll ich ihn zusammen stauchen und jetzt schreit sie ihn doch an.“

„Sollten Sie das nicht irgendwie verhindern?“, fragte Marc.

„Nein, ich glaube schon, dass er das verdient hat, aber ich kann so etwas nicht. Ich bin wirklich schlecht darin meinen Kindern für irgendetwas Böse zu sein.“ Er stand seufzend auf und zögerte ein wenig. Ich wunderte mich erst, dass er 'Kinder' gesagt hatte, dann fiel mir wieder ein, dass Noah eine Zwillingsschwester hatte, die bei ihrer gemeinsamen Mutter lebte und sich hier nie zeigen ließ.
 

„Will nicht jemand von euch reingehen und nach euren Sachen fragen?“, wandte er sich uns zu. „Gaara vielleicht?“

„Ich glaube nicht, dass ich das überleben werde“, meinte Gaara nur dumpf.

„Na schön...“ Noahs Vater ging rein.
 

Nach wenigen Minuten hatten wir unser Zeugs zusammen, zogen unsere Schuhe und Jacken an, packten Handys und Brieftaschen ein und verabschiedeten uns von einem missgelaunten Noah und einer verlegenen Hannah. Als ich Noah zum Abschied umarmte, erinnerte ich mich auch wieder daran, dass Fynn und Sheila miteinander rumgemacht hatten.

„Ist Fynn schon früher gegangen?“, fragte ich Noah, der bestürzt drein blickte und ein wenig den Anschein machte am liebsten heulen zu wollen.

„Ja, der ist nur ein paar Minuten bevor die hier aufgeschlagen sind, Heim gegangen. Er wollte sich heute noch mit seinem Bruder treffen.“ Bruder oder Liebhaber? Aber die Frage sprach ich nicht aus. Betrunken wäre Noah in einem günstigeren Zustand gewesen, um ihm mitzuteilen, dass sein Freund ihn hinter seinem Rücken betrog.
 

Trotzdem hatte ich ein sehr schlechtes Gewissen als wir abzogen. Mit jeder Station in der S-Bahn wurden wir weniger, unsere Wege trennten sich beim Umsteigen. Als wir uns von Gaara und Kaito verabschiedeten, die gemeinsam zu Gaara gehen wollten, verabschiedete dieser mich mit einem sanften Kuss auf die Wange. Danach flüsterte er mir ganz nahe ins Ohr: „Bitte denk schnell nach.“

Ich spürte das süßliche Brennen auf der Wange und das Hauchen seines heißen Atems noch eine ganze Weile an meinem Ohr und eventuell schmunzelte ich sogar. Solange bis Simon fragte: „Was machen wir jetzt mit Noah und Fynn?“
 

Bevor ich antwortete seufzte ich schwer und ließ den Kopf gegen die ruckelnde Fensterscheibe fallen. Die Sonne hatte sich heute dazu entschieden breit über Berlin zu scheinen und ihre Strahlen tänzelnden wild in den Fenstern. Auf den Straßen herrschte das übliche Verkehrschaos.

„Ich weiß es nicht“, stöhnte ich und fühlte mich müde und erschöpft. „Ich habe weder Lust lange damit zu warten noch es Noah überhaupt zu erzählen.“

„Ich weiß, was du meinst“, sagte Simon. „Aber verheimlichen sollten wir es auf gar keinen Fall.“

„Natürlich nicht. Ich denke ich fahre direkt zu Noah, nachdem ich dich zum Zug gebracht habe... oder haben wir noch genug Zeit, dass du mitkommen kannst?“

„Dann hätten wir auch gleich da bleiben können“, murmelte mein bester Freund und warf einen kurzen Blick auf die Uhr auf seinem Handy. „Nein, dafür haben wir keine Zeit mehr. Wir müssen bei dir schnell meine Sachen zusammen packen und dann direkt los zum Bahnhof... meinst du deine Mutter könnte mich fahren?“

„Heute ist Sonntag, oder?“

„Ja.“

„Nein, sie hatte heute Nachtschicht, wahrscheinlich schläft sie und ich will sie ungern wecken.“

„Okay, dann muss es so gehen.“
 

Wir schwiegen uns den Rest der Fahrt in Müdigkeit und Erschöpfung an. Obwohl meine Augen schwach waren und ich am liebsten geschlafen hätte, arbeitete mein Kopf ohne Unterlass und malte sich aus, wie ich Noah am Besten von dem Gesehenen berichten sollte. Auf jeden Fall musste ich ihn anlügen und ihm sagen, dass ich es mit eigenen Augen gesehen hatte. Noah traute ich noch zu, dass er aus lauter Angst Fynn zu verlieren und verletzt zu werden, behauptet, dass Simon zu betrunken war, um zu erkennen, wer da knutschte. Vielleicht würde er das sogar über mich behaupten. Ich musste verhindern, dass wir über das Thema in einen Streit geraten, aber wie teilte ich Noah die Sache sanft mit? So oder so würde es ihn hart treffen, besonders nachdem er noch einen solchen Anschiss kassiert hatte. Okay, das Leben hatte mich wieder. Die letzten zwei Wochen Feierei war wirklich ein Urlaub gewesen, jetzt ging wieder das gewohnte Chaos los.
 

Endlich stiegen wir aus und gingen im Eilschritt die Straße entlang. Alex war Zuhause und machte einen dummen Scherz darüber, dass wir wohl anstrengende Nächte hinter uns gehabt hätten.

„Habt ihr überhaupt geduscht?“, fragte sie und schaute mich eindringlich an.

„Ja, habe ich.“ Gestern... aber auch nur, weil Schifti mir aus versehen einen Cocktail übergeschüttet hatte. Die Tür zum Badezimmer hatte ich natürlich abgeschlossen, aber irgendwie hatte ich die ganze Zeit über gehofft, dass Gaara trotzdem reinkommen und mit mir unter die Dusche steigen würde. Alleine der Gedanke brachte mich in helle Erregung. Aber davon erzählte ich Alex natürlich nichts. Ob sie sich auch schon dachte, dass ich schwul war? Sowie es sich Genesis und Lynn bereits gedacht hatten?
 

Wir packten Simons Koffer mehr schlecht als recht und waren schon halb aus dem Haus als uns einfiel, dass seine PS3 noch in meinem Zimmer stand, doch die Zeit reichte nicht mehr um sie abzubauen. Simon meinte, das wäre egal, ich könnte sie solange behalten bis entweder er noch mal her kam oder ich noch einmal zu ihm runter fuhr, doch ich wusste bereits jetzt, dass er diese Entscheidung spätestens morgen bereuen würde.

Den Weg zum Hauptbahnhof legten wir wieder in der Straßenbahn zurück und langsam bekam ich Hunger. Ich überlegte gerade mir etwas zum Essen am Bahnhof zu kaufen, da fragte Simon in leiser, verlegener Stimme: „Sag mal, Lukas, ehm... also... was ist denn eigentlich jetzt mit... Gaara und dir?“

„Was soll mit uns sein?“, fragte ich, obwohl ich genau wusste, was er meinte. Mein Herz pochte schneller und mir wurde ganz heiß.

„Naja, da läuft doch was“, sagte Simon mit einem schiefen Grinsen. „Ich hatte erst geplant zu versuchen dich irgendwie mit Genesis zu verkuppeln, aber jetzt, da ich zu hundert Prozent weiß, dass du schwul bist, finde ich, dass du lieber mit Gaara zusammen sein solltest. Er ist cool drauf, sieht gut aus, soweit ich das als Heterosexueller sagen kann, hat Humor und scheint sich sehr für dich zu interessieren. Wieso also nicht mit ihm zusammen sein?“

„I-Ich weiß nicht“, stotterte ich. „I-Ich meine, ich bin noch gar nicht – also – ich weiß doch nicht -“

„Doch, du weißt, dass du schwul bist“, betonte Simon bestimmt. „Du weißt es ganz genau, du hast nur irgendwie Schiss davor zuzugeben, dass du auf Gaara stehst.“

„Ich steh gar nicht -“, wollte ich mich empören, doch Simon unterbrach mich sofort.

„Ich habe doch gesehen wie du seinen Oberkörper angeschaut hast, als er Sam sein Shirt gegeben hat und als du und Gaara gemeinsam in seinem Zimmer verschwunden sein, habt ihr mit Sicherheit nicht nur miteinander gesprochen. Ich bin dein bester Freund, Lukas, du kannst mich nicht belügen.“
 

Er grinste mich überlegen an und ich gab mich griesgrämig geschlagen.

Am Bahnhof fanden wir Simons Gleis schnell und stellten fest, dass der Zug zwanzig Minuten Verspätung hatte. Somit hatte er noch einmal Zeit mich wegen Gaara zu fragen. Er quetschte mich nicht aus, er stellte gelegentlich die Frage in den Raum, ob ich bereit für eine Beziehung wäre. Nach einigem Überlegen antwortete ich: „Ja.“

„Mit Gaara?“, fragte er und ich sagte: „Nur mit ihm.“
 

Damit hatte ich meine Gefühle gegenüber Gaara geordnet. Über Lautsprecher wurde verkündet, dass der Zug einfuhr und Simon und ich blickten uns gleichermaßen blass und leer an. Gerade bereute ich, dass wir zwei Wochen lang durch gefeiert hatten. Gerade wollte ich die Zeit zurück drehen und jede dieser wertvollen Minuten nur mit Simon und mit niemand anderem verbringen und mit ihm Stunden um Stunden reden, bis wir gemeinsam unsere Probleme bewältigt hatten. Stattdessen hatte Simon mir nur gesagt, dass es doch beim Drogen nehmen und Alkohol trinken gerade darum ging, die Probleme beiseite schieben zu können. Aber danach kamen sie wieder. Das taten sie immer.
 

„Jaa, dann sehen wir uns“, sagte ich mit hohler Stimme. Ich konnte nicht sagen, wie ich mich fühlte. Doch, eigentlich fühlte es sich an als würde jemand gerade sehr langsam einen Teil von mir entfernen, in diesen Zug stecken und weit weg schicken. „Wir telefonieren oder skypen dann wieder und dann treffen wir uns spätestens in den Sommerferien, denke ich. Ich wollte auf jeden Fall noch mal runter kommen und ganz solange sind die Ferien ja nicht mehr hin... zwei Monate, drei Monate... ich weiß es nicht genau.“
 

Überrascht zuckte ich zusammen als Simon mich aus heiterem Himmel in den Arm nahm. Nicht kurz, wie bei einer Begrüßung oder Verabschiedung, sondern lange und fest. Ich erwiderte die Umarmung, spürte wie er das Gesicht in meine Schulter grub und merkte dann erst, dass er weinte.

„Simon, was ist denn?“, fragte ich bestürzt.

„Ich vermiss dich so, scheiße nochmal“, brachte er hervor und löste sich von mir. Mit dem Jackenärmel wischte er sich die Tränen von den gebräunten Wangen und atmete einige Male tief durch um sich zu beruhigen. Er war unglaublich gut darin seine negativen Gefühle zu unterdrücken und so hatte er die Tränen bekämpft als sie mir selbst in die Augen stiegen. Da ich anders als Simon war und jedes Weinen bei mir in einen ungesunden Heulkrampf überging, den ich nicht mehr kontrollieren oder stoppen konnte bis ich vor Erschöpfung keine Tränen mehr zu vergießen hatte, musste ich meine Gefühle im Keim unterdrücken.
 

„Ich dich ja auch“, sagte ich und spürte diesen verdammten Kloß in meinem Hals. „Aber wir ziehen doch bestimmt irgendwann wieder zusammen. Wenn das Abitur erst mal geschafft ist, haben wir alle Möglichkeiten, oder?“

„Ja, wenn ich das Abitur überhaupt schaffe“, meinte Simon und lachte verbittert. Mittlerweile stand der Zug neben uns und die ersten Fahrgäste stiegen ein.

„Klar, machst du das. Aber jetzt, bevor ich anfange zu heulen -“

„Ja, tut mir Leid.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“
 

Wir umarmten uns noch einmal, diesmal kurz, dann stieg Simon ein. Ich blieb noch solange mit einem zerrissenen Gefühl in der Brust am Bahnsteig stehen bis der Zug los fuhr. Mein Teil entfernte sich immer weiter von mir und hinterließ ein leeres Gefühl. So. Und zum krönenden Abschluss werde ich dann noch zu Noah fahren und ihm von Fynn und Sheila berichten.

Bitter, verzweifelt und düster.

Ich druckste noch eine ganze Weile vor Noahs Haus herum und war erleichtert als meine Mutter mich anrief und fragte, wo ich denn blieb. Kurz erklärte ich ihr, dass ich noch mal zu Noah musste und dann brach die Frage aus mir heraus, wie man am Besten jemandem das Herz brach.

„Warum willst du jemandem das Herz brechen?“, fragte Mum schockiert.

„Ich will ja gar nicht...“ Ich zögerte, dann erzählte ich ihr von Fynn. Einige Sekunden lang schwieg sie bloß, dann sagte sie: „Es wäre dumm zu sagen du sollst versuchen es ihm sanft mitzuteilen, es wird ihn so oder so hart treffen. Wichtig ist, dass du danach für ihn da bist und ihn tröstet. Wenn es zu lange dauert, schreib mir, dann komme ich dich abholen, okay?“

„Okay.“
 

Wir legten auf und ich widmete mich wieder der Eingangstür. Schwer seufzte ich bevor ich die Klingel betätigte. Nach wenigen Sekunden wurde die Tür von Noahs Vater geöffnet, dessen Stirn Stressfalten aufwies und, der recht müde und erschöpft aussah.

„Hallo, Herr Zöller“, grüßte ich freundlich. „Ich würde gerne mit Noah sprechen.“

„Er hat keine Zeit“, sagte er kopfschüttelnd. „Ich habe ihn dazu verdonnert das Haus aufzuräumen und das dauert noch eine ganze Weile.“

„Ehm... ich war bei der Party auch dabei“, sagte ich zögerlich. „Ich bin mit Schuld, dass es so aussieht. Vielleicht kann ich helfen und dabei mit ihm reden?“

„Ungern.“

„Aber es ist wichtig, dass -“ Ich seufzte schwer und ging einen Schritt vor, um es Noahs Vater leise zu sagen. „Es geht um Fynn.“

„Was ist denn mit ihm?“, fragte er ein wenig besorgt. „Ist ihm etwas passiert?“

„Nein, das nicht... noch nicht, würde ich fast sagen. Ich habe zusammen mit meinem besten Freund beobachtet, wie er Noah betrogen hat und würde das Noah gerne erklären. Ich platze noch, wenn ich damit länger warte.“
 

Für einen Moment entgleisten Noahs Vater sämtliche Gesichtszüge, dann machte sich deutlich Wut in ihm breit und er knirschte mit den Zähnen. Zuerst dachte ich, er würde mir die Tür vor der Nase zuschlagen oder mich anschreien, doch dann sagte er: „Du hast Recht, noch ist ihm nichts passiert. Komm rein.“
 

Im Haus sah es noch immer aus als wäre ein Wirbelsturm hindurch gefegt. Jetzt, da ich nüchtern war, erschien es mir sogar noch chaotischer. Noahs Vater leitete mich zu seinem Sohn, der in seinem Zimmer schlecht gelaunt Müll aufsammelte und in einen großen, blauen Plastiksack packte. Als wir gemeinsam eintraten, grummelte er ohne aufzuschauen: „Was willst du denn noch? Du hast schon erreicht, dass ich heule.“

„Noah.“ Obwohl sein Vater zuvor noch wütend ausgesehen hatte, sprach er nun ganz sanft. Das schien sogar Noah zu überraschen und er blickte auf. „Mir tut es Leid, dass ich laut geworden bin. Du weißt, dass ich nicht ernsthaft sauer auf dich sein kann. Wenn du mich brauchst, ich bin in der Küche und räume da auf.“ Er drückte seinem Sohn einen Kuss in die blonden Haare und verließ das Zimmer.
 

Leise schloss er die Tür hinter sich und wir blickten uns stumm an. Nervös rieb ich meine Finger aneinander und tippelte von einem Fuß auf den Anderen.

„Komisch. Ne Minute vorher meinte er noch ich soll alles alleine aufräumen“, murmelte Noah. „Ich meine, er entschuldigt sich immer schnell, wenn wir uns gestritten haben, aber so schnell nun auch wieder nicht... irgendwie habe ich das Gefühl, das hängt mit dir zusammen.“

„Jaa, er will dir wohl nicht noch mehr Probleme machen“, sagte ich zögerlich. „Am besten setzen wir uns.“

„Warum noch mehr Probleme? Was ist denn passiert? Ist was mit dir?“ Noah ließ den Müllsack los und kam besorgt zu mir. Seine strahlend blauen Augen war ein wenig rot und geschwollen vom Weinen, außerdem zogen sich dunkle Ringe unter seinen Augen. Ich biss mir auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf.
 

„Nein, aber was ist denn dann los? Du siehst so fertig aus, Lukas.“

„Es geht nicht um mich, sondern um dich“, sagte ich und merkte auch gleich, dass dies klang, als wollte ich ihm die Freundschaft kündigen. Schwer seufzte ich, nahm ihm am Handgelenk und zog ihn zu seiner Couch, die wieder einigermaßen sauber war. Ich zwang ihn dazu mich neben mich zu setzen und nahm seine Hände in Meine.

„Ist irgendjemand gestorben?“, fragte Noah halb aus Spaß, halb ernst gemeint. Ich lachte nervös und antwortete: „Vielleicht eher irgendetwas.“

„Und was?“

„Die Beziehung zu deinem Freund.“ Ich sprach so leise, dass Noah mich nicht verstand. Also musste ich es etwas lauter wiederholen und hängte direkt die Erklärung dran. Wie ich mit Simon rausgegangen war, wie er erfahren wollte, wer dort um die Ecke Spaß hatte und, wie er mich angeschaut und mir im Schock gesagt hatte, dass es Fynn und Sheila waren.
 

Einige Momente lang blickte mich Noah so entgeistert und verletzt hat wie ich noch nie von einem Menschen angeschaut wurde. Sein Mund stand immer noch leicht offen als er meine Hände los ließ und aufstand.

„Es tut mir so leid, Noah.“ Ich erhob mich ebenfalls und hielt ihn fest als er sich abwenden und weggehen wollte. Augenblicklich riss er sich los und blickte mich wutentbrannt und mit Tränen in den Augen an.

„Und das war wann, Freitag?!“, rief er zutiefst verletzt. Ich konnte ihm in den Augen ansehen, wie die vielen, feinen Nadeln sein Herz durchbohrten und das brachte mich beinahe ebenfalls zum Weinen. Nur schwerfällig konnte ich mich zusammen reißen. „Freitag, vor zwei Tagen? Und dann wartet ihr bis ich noch einmal mit ihm geschlafen habe, bis er mir noch einmal sagt, dass er mich liebt?!“ Das letzte Worte verschluckte er, weil seine Stimme brach und einen Schluchzer hervor brachte.
 

Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Eigentlich hatte ich mir denken können, dass Noah so reagieren würde, schließlich war er sehr emotional und konnte leicht verletzt werden und trotzdem war ich überfordert.

„Wir dachten das wäre besser so“, versuchte ich zu erklären, doch Noah unterbrach mich sofort: „Besser so? Sag mir bitte, was besser daran ist! Behellige mich, Lukas!“

„Du warst betrunken“, sagte ich nun ebenfalls unter Tränen. „Wir wollten es dir nicht sagen, wenn du betrunken bist, weil wir dachten das würde dich dann noch mehr treffen. Bitte, ich will nicht, dass du sauer auf mich bist. Ich hab doch nur -“

„Und das ist jetzt so besser?“, fragte Noah wütend. „Ja? Hast du es dir so vorgestellt? Nein, bestimmt nicht und jetzt hau ab.“

„Aber -“

„Verpiss dich!“ Er schleuderte mir diese beiden Worte ins Gesicht und sie trafen hart. Ich wollte mich erklären, mich entschuldigen, ihm sagen, dass ich für ihn da war, wenn er mich brauchte, doch ich beherzigte, was er verlangte und verließ sein Zimmer schleunigst. Nicht einmal bei seinem Vater hielt ich an, obwohl er den Mund aufmachte und mir etwas sagen wollte. Auf der Straße drehte ich mich noch einmal zum Haus um, überlegte für einen kurzen Moment, ob ich wieder rein gehen sollte, doch ich ging weiter zur Straßenbahn.
 

Montagmorgen nach den Ferien. Es war dieser Morgen bei dem man erst richtig wach wurde, wenn man bereits in der Schule saß und sich fragte, wie man hier gelandet war. Verwirrt fand ich mich in Erdkunde wieder und stellte fest, dass Gaara neben mir saß und nicht weniger müde aussah wie ich mich fühlte. Alle paar Sekunden schlossen sich seine grün-braunen Augen und sein Kinn fiel ihm auf die Brust, doch er wachte beinahe sofort wieder auf und setzte sich ein wenig anders hin in der Hoffnung, so wach bleiben zu können. Ich fand es beinahe niedlich und wollte nichts lieber als mit ihm in einem Bett zu kuscheln bis wir Beide gemeinsam einschliefen. Ich dachte an das zurück, was ich Simon gesagt hatte, dass ich nur mit Gaara zusammen sein wollte. Es stimmte. Ich spürte es. Und ich wusste, dass Gaara mich ebenfalls mochte. Wie sehr, konnte ich nicht sagen. Vielleicht versuchte er mich auch nur einmal ins Bett zu bekommen, vielleicht mochte er mich aber auch genauso wie ihn mochte. Wenn ich ihn wollte, musste ich ihm meine Gefühle sagen, aber ich hatte Angst. Bereits jetzt, wo ich nur hier saß und über Dinge nachdachte, die vielleicht einmal sein könnten.
 

„Das sollte verboten sein“, murmelte Schifti, der sich im Laufe der letzten Wochen den Platz neben Gaara ergattern konnte.

„Was? Nach den Ferien um sechs Uhr aufstehen zu müssen oder eine Dreiviertel Stunde komplett mündlicher Unterricht?“, fragte Gaara leise und Schifti antwortete: „Beides. Ich will wieder zu Noah und weiter feiern.“

„Ja, die Party war nicht schlecht“, seufzte Gaara. Von der Party wusste ich nur noch, dass Fynn mit Sheila rumgemacht hatte, ansonsten dachte ich ununterbrochen an die Auseinandersetzung mit Noah und mir graute es davor ihn heute wieder zu sehen, auch wenn ich mir gleichzeitig erhoffte mich noch einmal entschuldigen zu können. So, dass Noah mir verzieh und wir wieder Freunde sein konnten, denn ich wollte mich bestimmt nicht mit ihm zerstreiten.
 

„Nicht schlecht?“, wiederholte Schifti spöttisch. „Der Hammer, war die, der absolute Hammer. Obwohl der Sonntagmorgen echt bitter war. Halbnackt S-Bahn fahren ist nicht empfehlenswert. Ich wurde nach zwei Stationen vom Kontrolleur rausgeschmissen und dann hat so ne alte Oma die Polizei rufen wollen, aber ich bin rechtzeitig abgehauen und musste nach Hause gehen.“

Einen Moment lang schauten Gaara und ich ihn stumm an, dann brachen wir gleichzeitig in dumpfes Gelächter aus. Es war schwierig das Lachen zu unterdrücken und ich spürte die Blicke der Klassenkameraden auf uns liegen und schließlich hörte der Lehrer auf zu sprechen und schaute uns vorwurfsvoll an.
 

„Geht bitte draußen lachen, wenn ihr euch nicht unter Kontrolle habt.“

„Herr Lehrer, ich fühle mich gemobbt“, hob Schifti scherzhaft die Hand und deutete auf uns. „Die lachen mich aus.“

„Dann hör bitte auf sie zum Lachen zu bringen, Florian.“

Empört hob Schifti die Hände nach oben und nun fingen auch die anderen Schüler an zu lachen.
 

In der Pause trafen wir uns mit den Anderen auf dem Schulhof und stellten fest, dass Noah fehlte. Sofort war ich besorgt und mir wurde unglaublich heiß, obwohl eine kühle Morgenbrise durch meine hellbraunen Haare fegte und sie noch mehr zerzauste als sie ohnehin schon waren.

„Weiß jemand, warum er fehlt?“, fragte Sam, die ihre Deutschlektüre in den Händen hielt und im Schneidersitz auf dem Boden saß. Wir ließen uns zu ihr nieder und Gaara steckte sich noch im Setzen eine Zigarette an. Es war das Einzige, das ich nicht an ihm mochte. Er rauchte ständig und kiffte nicht nur auf Partys, sondern auch einfach so, weil er es zwischendurch einmal brauchte. Vielleicht war ein schlechter Umgang für mich... Gott, suchte ich gerade Ausreden, wieso ich nicht mit ihm zusammen sein könnte?
 

„Nope“, antwortete Kaito und zückte sein Handy. „Aber das ist ja schnell herauszufinden.“

Er verschickte eine SMS an Noah und Sam begann sich über die Lektüre aufzuregen. Nach einer Diskussion über Effie Briest, an der ich mich mit Interesse versuchte zu beteiligen, obwohl meine Gedanken um Noah kreisten und mich durcheinander brachten, blickte Kaito wieder auf sein Handy und runzelte die Stirn.

„Was hat er geschrieben?“, fragte Gaara. „Hat er wieder... eine Phase?“

„Nein“, antwortete Kaito langsam und blickte mich an. „Er hat geschrieben, ich soll Lukas fragen.“
 

Mir stieg das Blut in den Kopf als die Drei mich anschauten. Mir wäre es lieber gewesen, wenn Noah die Sache vorerst hätte geheim halten wollten. Gestern hatte meine Mutter mich noch stundenlang getröstet, weil ich von dem Streit so fertig war und nun müsste ich erneut zugeben zwei Tage mit dem Wissen um Fynns Betrug gewartet zu haben. Sie würden ebenfalls sauer sein. Alle Drei, denn Noah kannten sie länger und mit Noah waren sie besser befreundet, doch anlügen wollte ich sie auch nicht, das würde alles nur noch schlimmer machen.
 

„Ich ehm... es ist so, dass... ich weiß, dass... also...“

„Komm schon, Lukas, spann uns nicht auf die Folter“, forderte Kaito und ich atmete tief durch, ehe ich sagte: „Fynn betrügt Noah.“

Sam schnappte empört Luft und ließ den Mund offen stehen, Gaara legte verzweifelt eine Hand gegen seine Stirn und Kaito keuchte leise: „Ich wusste es.“ Dann wurde er lauter und wandte sich seinem besten Freund zu. „Ich habe es dir gesagt, an dem Kerl ist was faul. Genauso wie ich es euch damals mit Madeline gesagt habe und mit diesen komischen Typen vom Ferienlager. Jedes Mal sage ich euch, ihr dürft diesen Typen nicht trauen, die sind bescheuert und ihr glaubt mir erst, wenn sie es euch knallhart beweisen. Scheiße, Mann! Noah muss total am Arsch sein, wir müssen zu ihm!“
 

Er wollte aufstehen, doch Sam packte ihm am Ärmel und zog ihn sanft wieder auf den Boden. Erst als er saß, wandte sie sich mir zu: „Woher weißt du das?“

„Wir haben... also Simon und ich... wir haben es gesehen, wie er mit... mit Sheila rumgemacht hat. Schon am Freitag, bei der Party, aber -“ Bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, sprach ich lauter: „Aber wir wussten nicht, wie wir damit umgehen sollten. Wir wollten die Beiden unterbrechen, doch als wir zurück sind, waren sie schon weg und Noah war die ganze Zeit betrunken oder high. Wir hatten Angst, er macht sonst was, wenn wir es ihm in diesem Zustand sagen. Ich schwöre es, ich habe es nicht vergessen, ich wollte nur nicht – ich wusste nicht, wie ich es ihm – es war alles nur so -“

„Lukas, beruhige dich.“ Gaara legte mir besorgt eine Hand auf die Schulter und überraschenderweise beruhigte ich mich sofort. Eine Berührung von ihm genügte und die Tränen gingen zurück und meine Atmung wieder ruhiger. „Du brauchst deswegen nicht so aus der Fassung zu sein. Du hast es richtig gemacht. Auf der Party hätte es jeder mitbekommen, das wäre das totale Drama geworden und Noah ist schon so anfällig genug.“

„Ich kann mir aber nicht vorstellen, wie er noch krasser hätte reagieren können als gestern“, sagte ich ehrlich. „Er hat mich angeschrien und rausgeworfen.“

„Das klärt sich wieder“, meinte Kaito ernst.

„Ich meinte etwas anderes, Lukas“, murmelte Gaara. Sam blickte ihn undefinierbar an. Vielleicht so, wie man jemanden anschaute der kurz davor war etwas zu sagen, was er nicht sagen sollte. Missbilligend schob sie das Kinn vor und sagte: „Ich glaube das ist Noahs Angelegenheit, Gaara.“

„Er gehört aber jetzt zu uns und da sollte er es wissen. Es ist wichtig, wenn er mit Noah befreundet sein will“, behauptete Gaara fest.

„Viele, die mit Noah befreundet sind, haben keine Ahnung davon“, entgegnete Sam.

„Die gehören aber nicht in unsere Clique.“
 

Ich wusste nicht, warum, aber dadurch, dass diese Worte von Kaito kamen, hatten sie noch mehr Bedeutung für mich. Wenn Gaara sie gesagt hätte, wären sie nichts Neues gewesen und hätten immer noch die Frage in den Raum gestellt, ob er mich nur mit aller Gewalt ins Bett bekommen wollte, aber mit Kaito hatte ich mich anfangs am wenigsten verstanden. Mit Kaito hatte mich bisher am Wenigsten unterhalten, auch wenn er einer der interessantesten Menschen war, die ich je kennen gelernt hatte. Einen Moment lang ging mir das Herz auf, dann flatterte es wieder vor Angst und Neugierde. Obwohl die Angst deutlich überwog und mich fragte, ob ich überhaupt wissen wollte, was Gaara mit mitzuteilen versuchte.
 

„Na gut“, grummelte Sam. „Aber ihr badet es aus, wenn Noah sauer wird.“

„Ich nehme das auf meine Kappe“, sagte Gaara.

„Nein, sag es mir nicht, wenn Noah dann sauer auf dich wird. Es reicht, dass er enttäuscht von mir ist und es reicht, dass er enttäuscht von Fynn ist, da muss nicht noch einer seiner besten Freunde hinzu kommen. Erzähl es mir nicht.“

Gaara machte den Mund auf, doch ich wiederholte meine letzten Worte noch einmal und er presste die Lippen fest aufeinander.

„Na gut“, sagte er schließlich. „Vermutlich hast du Recht.“

„Warte, was?“ Sam klappte ihr Buch zu und schaute Gaara ungläubig an, auch Kaito stand der Mund offen.

„Hast du gerade?“, sagte er.

„Hat er gerade?“, fragte Sam.

„Zugegeben, dass jemand anderes außer dir Recht hat?“ beendete Kaito.

„Ja, aber das geht nur bei Lukas“, meinte Gaara und zwinkerte mir zu. Ich schmolz ein wenig.
 

Es klingelte zur dritten Stunde und wir diskutierten, was wir in Bezug auf Noah machen sollten. Kaito schrieb ihm, ob er Hilfe bräuchte und, ob jemand vorbei kommen sollte, doch der Junge antwortete, dass er momentan niemanden sehen wollte und, dass er in den nächsten paar Tagen auch keine SMS oder Anrufe beantworten würde. Damit bekam ich zum ersten Mal eine seiner Depressionsphasen richtig mit. Schon früher hatte er einige Tage am Stück in der Schule gefehlt und mir geschrieben, dass er Zeit für sich selbst bräuchte oder so etwas und auch, wenn ich immer besorgt gewesen war, hatte es sich anders gefühlt als jetzt. Jetzt fühlte es sich bitter an. Bitter, verzweifelt und düster.
 

„Mit Noah können wir also nicht reden“, grummelte Sam, dann drehte sie sich zu uns um und grinste breit und irgendwie auch ein wenig unheimlich. „Aber mit Fynn könnten wir ein wenig plaudern, was meint ihr?“

Wo sind deine Eltern, Gaara?

Glücklich hüpfte Joker an meinem Bein hoch und als ich mich auf den Boden setzte, sprang er mir in die Arme und ich streichelte und kuschelte ihn eine Weile lang. Müde vergrub ich mein Gesicht in seinem Fell. Ich hatte nicht viel geschlafen und nach dem ganzen Chaos war ich erschöpft, doch Joker schaffte es mir ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Noah sprach noch immer kein Wort mit mir oder irgendjemand anderem und das Gespräch mit Fynn hätte eigentlich darauf hinauslaufen sollen, dass er von Gaara, Kaito und Sam verbal fertig gemacht wird, doch alles, was dabei herauskam war, dass Noah noch nicht mit Fynn Schluss gemacht hatte.
 

Als Fynn erfahren hatte, dass Noah von seinem Betrug wusste, hätte er nicht weniger desinteressiert reagieren können. Das machte uns nur noch wütender und Kaito hatte ständig eine Hand zur Faust geschlossen und wir geöffnet. Schließlich waren wir abgezogen ohne, dass wir Fynn zusammen gestutzt hatten, dafür jedoch, hatten wir erreicht, dass er mit Noah Schluss machen würde.

„Wir wissen alle, dass er es nicht mit mir machen wird und ich habe keine Lust mit euch in die Quere zu kommen“, war seine Erklärung dazu gewesen.

„Du willst das nicht einmal wieder irgendwie in Ordnung bringen?“, hatte ich bestürzt gefragt und er antwortete darauf, er hätte mittlerweile ohnehin die Schnauze voll von Noah. Auf dem Weg zu Gaara hatte Kaito nicht mehr aufgehört auf Fynn zu fluchen, zuerst auf deutsch und, als ihm die Beleidigungen ausgingen, auf russisch.
 

Und heute... heute erschien alles nur noch schlimmer. Wenigstens war der Todestag meines Vaters nicht unter der Woche, obwohl es ebenfalls unerträglich war Zuhause zu sein, denn Mum sah aus als hätte sie die ganze Nacht lang geweint und Alex war sehr viel schweigsamer als sonst. Das Frühstück heute Morgen war dann ein Austausch von Höflichkeiten und unentwegt schwebte die Anspannung vom ersten Todestag in der Luft. Seltsamerweise hatte ich bisher nicht weinen müssen und mir war auch gar nicht nach weinen zumute. Lieber würde ich soweit weg laufen, dass ich vergaß, warum ich überhaupt am Laufen war. Eine unerträgliche Leere gähnte in mir und ich fühlte mich eher benommen als traurig oder verzweifelt. Und ohne Unterlass musste ich an Dad denken.
 

Das Lächeln erstarb auf meinen Lippen. Es fühlte sich plötzlich seltsam und falsch an, dass ich überhaupt gelächelt hatte. Heute war der erste Todestag meines Vaters, ich sollte nicht lächeln. Anna kam über den Hof zu mir und Joker wedelte erfreut mich dem Schwanz als er sie sah. Mittlerweile war der Hund viel aufgeschlossener und ließ auch andere Menschen an sich heran, doch niemanden so sehr wie mich.

„Joker ist seit knapp einer Woche zur Adoption frei gegeben“, sagte Anna mit ernster Miene. „Es gab bereits einen Interessenten, doch ich habe ihm gesagt, dass er noch ein wenig warten muss bis ich weiß, ob ich Joker abgeben kann. Ich halte ihn solange für dich frei wie möglich, aber warte nicht mehr zu lange mit dem Formular.“

„Ja, richtig. Ich bringe es dir in zwei Tagen ausgefüllt wieder.“ Vorhin hatte Anna mir ein Formular in die Hand gedrückt mit welchem man um einen Hund werben konnte. Bisher war ich nicht einmal dazu gekommen Mum um Erlaubnis zu fragen, doch, wenn ich Joker nicht verlieren wollte, musste dies sobald wie möglich geschehen.
 

Hannah wollte mit mir in zwei Tagen herfahren, heute war ich alleine gekommen. Mit dem Bus, was ziemlich umständlich war und lange dauerte, doch ich bereute es nicht. Hier war ich soweit von Zuhause weg, wie ich im Rahmen meiner Möglichkeiten nur sein konnte und ich war umgeben von Hundewelpen und netten Menschen. Eine Weile blieb ich noch und spielte mit Joker auf eine der Wiesen. Lustlos warf ich den Gummiball und er jagte ihm hinterher. Meine Gedanken waren nicht richtig beisammen, ich dachte an so vieles und gleichzeitig an nichts. Als ich Joker zurück ins Heim brachte, hatte ich nur noch wenige Minuten Zeit um zu meinem Bus zu kommen. Ein wenig hoffte ich ihn zu verpassen, doch ich kam rechtzeitig an. Seltsamerweise hatte ich, kaum, da ich im Bus saß, das Verlangen mich in meinem Bett zu verkriechen. In eine Decke eingerollt, abgeschottet von allen Menschen und der Welt.
 

Gedankenverloren blickte ich aus dem Fenster und schaute zu wie die Natur sich nach und nach in graue Häuserfassaden und hohe Wände verwandelte. Das Vibrieren meines Handys in der Hosentasche riss mich von dem Anblick los. Ich dachte es wäre meine Mutter, doch es war Simon, der anrief. Einen Augenblick lang überlegte ich den Anruf nicht anzunehmen, sondern ihn zu ignorieren, doch schon alleine bei dem Gedanken daran, was für Sorgen er sich machen würde, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Also klickte ich auf den grünen Button und sagte: „Hallo?“
 

Ich wunderte mich, wie rau und kratzig meine Stimme klang und hustete ein wenig.

„Hey, Lukas.“ Simon klang ganz anders als sonst. Er sprach vorsichtig als ob er Angst haben müsste, dass ich bei zu harten Worten zerbrach. „Ehm... ich wollte nur mal hören, wie es dir geht.“

„Gut“, kam es über meine Lippen ehe ich nachdenken konnte. Es war nicht einmal wirklich eine Lüge gewesen, denn ich konnte nicht sagen wie ich mich fühlte. Dafür, dass der Todestag meines Vaters war, fühlte ich mich, meiner Meinung nach, nicht verzweifelt genug. Eher zerrissen. Ja, das war ein richtiges Wort für meinen Gefühlszustand. „Naja gut... eher wie zerrissen.“

„Zerrissen?“, wiederholte Simon dumpf. „Das klingt aber nicht gut.“

„Ja...“

„Ehm... hör mal... Genesis und Lynn sind auch hier und wir wollten nur mal wissen, ob du Lust hast mit uns zu skypen oder, ob du mit jemandem von uns reden möchtest, egal über was. Wir sind für dich da, du brauchst nur was zu sagen. Willst du vielleicht mal mit einem von den beiden Mädels reden?“
 

Ich hatte lange nicht mehr mit ihnen gesprochen. Da ich Genesis noch nicht sehr lange kannte, machte es mir bei ihr weniger aus, doch Lynn war immer meine beste Freundin gewesen. Nun fühlte sie sich eher wie eine verloren gegangene beste Freundin an. Ich wusste noch, wie schlimm mir die Vorstellung gewesen war Simon und Lynn auf diese Weise zu verlieren, doch nun fühlte ich kaum etwas. War es mir egal geworden? Fakt war, dass ich nicht wirklich mit ihnen sprechen wollte. Höchstens aus einem schlechten Gewissen heraus.
 

„Nein, es geht schon, ich komme klar“, sagte ich und wusste nicht, ob es eine Lüge war. „Ich melde mich die Tage noch einmal.“

„Okay... Lukas... du schaffst das.“

„Danke.“

„Dann... tschüss.“

„Tschüss.“
 

Noch nie hatte ich ein so seltsames Gespräch mit Simon geführt. Ich hatte das Gefühl ich würde neben mir stehen, hätte zugeschaut und zugehört wie jemand anderes dieses Telefonat geführt hatte. Erneut schaute ich aus dem Fenster, um Berlin zu betrachten. In der Nähe der Innenstadt musste ich in die S-Bahn umsteigen. Mir kam sie heute sehr trostlos vor und als eine Gruppe von Mädchen laut lachte, klang es nach Geräuschen, die aus einer anderen Welt stammten. Vielleicht konnte man sagen, dass ich mich wie in einem Traum fühlte... aber es ein seltsamer Traum, ganz anders als sonst. Ach, ich wusste nicht, was mit mir los war. Zerrissen... das war bisher die beste Beschreibung gewesen, denn irgendwie wollte ich in mein Bett und wollte es auch nicht, wollte mit meiner Mutter und meiner Schwester reden und wollte ihnen aus dem Weg gehen, wollte weglaufen und hierbleiben, stundenlang S-Bahn fahren und aussteigen, mit Simon, Lynn und Genesis reden und sie ignorieren. Nur in einer Sache war ich mir einig: Ich wollte meinen Dad wieder haben.
 

Bei der nächsten Station stieg ich aus, obwohl es bis zu mir nach Hause noch eine weitere Station gedauert hätte. Schneller trugen mich meine Füße über die Straßen, durch die Unterführung, rechts hoch und dann noch einige Häuser weiter. Ich konnte nur hoffen, dass er heute keinen Besuch hatte. Wenigstens noch nicht um diese Uhrzeit, wir hatten doch erst 18 Uhr. Ich betätigte die Klingel und wartete, wartete zu lange und klingelte ein weiteres Mal. Als ich schon dachte, er wäre nicht Zuhause, ging die Tür auf. Gaaras braune Haare waren zerzaust und seine grün-braunen Augen schmal und verschlafen, er trug ein enges, schwarzes Shirt und eine lockere Jogginghose. Überrascht erkannte er mich. Noch während ich die nächsten Worte sagte, begann ich zu weinen: „Heute vor einem Jahr ist mein Vater gestorben.“
 

In der ersten Sekunde blickte er mich bloß mit offenem Mund an, dann ging er einen Schritt vor und schloss mich in seine Arme. Ich vergrub das Gesicht in seiner Schulter und ließ mich von seinen starken Armen halten. Er roch so gut, nach nichts bestimmten, sondern nach einem Ort an dem man gerne sein wollte, gemütlich und liebevoll. Er strich mir mit einer Hand über den Hinterkopf und es jagte mir eine Gänsehaut über den Körper. Mein zerrissenes Gefühl verließ mich, stattdessen spürte ich deutlich die Trauer und die Verzweiflung über Dads Tod und gleichzeitig fühlte es sich so gut an von Gaara umarmt zu werden. Mir wurde klar, dass es genau das gewesen war, was ich heute gebraucht hatte.
 

Eine Weile standen wir so auf der Türschwelle, dann sagte Gaara sanft, dass ich herein kommen sollte. Er führt mich ins Wohnzimmer, wo er auf der Couch geschlafen hatte. Die Wolldecke lag dort zusammen geknüllt und es war noch etwas von seiner Wärme übrig als ich mich neben die Kissen setzte.

„Ich habe dich geweckt, es tut mir Leid“, jammerte ich.

„Nicht schlimm“, winkte Gaara ab. Er setzte sich neben mich und ich ließ meinen Kopf sofort gegen seine Schulter fallen. Sanft legte er einen Arm um mich und drückte mich an sich, gab mir einen Kuss in die Haare.

„Ich will dich nicht belästigen -“

„Du kannst solange hier bleiben wie du willst“, versicherte mir Gaara.

„Wirklich?“

„Ja.“

„Kann ich auch hier schlafen?“

„Auch das.“ Gaara lächelte ein wenig.

„Aber nur, wenn du für heute Abend noch nichts vor hattest.“ Ich wollte Gaara nicht auf die Nerven fallen. Für heute war ich sicherlich nicht die angenehmste Gesellschaft und ich wusste wie gerne er feierte und lachte.

„Und selbst wenn, das hier ist ein Notfall, dafür würde ich alles absagen“, sagte Gaara.

„Aber -“

„Ich hatte für heute noch nichts vor.“ Ich konnte nicht sagen, ob er das Ernst meinte oder nur sagte, damit ich kein schlechtes Gewissen bekam. Egal wie, ich war ihm dankbar. Ich zog Jacke und Schuhe aus, die Beine auf die Couch und die Knie an meinen Körper heran, kauerte mich so klein zusammen wie es mir nur möglich war und lehnte mich gegen Gaara.
 

Den ersten Teil des Abends verbrachten wir nur auf der Couch. Wir machten irgendeinen Film rein, bei dem ich, obwohl er nicht zum Heulen gedacht war, trotzdem weinte. Gaara saß gegen die Armlehne gelehnt, sodass er seitlich zum Fernseher saß und ich lag zwischen seinen Beinen. Seine Arme umschlangen mich und ich fühlte mich beschützt, geborgen und mit der Zeit ging es mir sogar besser. Er lenkte mich ab. Der Film brachte mich kaum auf andere Gedanken als Dad, doch wenn ich mich ganz auf die Berührungen konzentrierte, dann konnte ich meinen Vater in den Hintergrund drängen. Dafür bekam ich mit der Zeit ein schlechtes Gewissen. Ich sollte ihn nicht verdrängen...
 

Nach einem zweiten Film, den wir im Fernsehen entdeckt hatten, kam irgendeine dumme Talkshow und Gaara machte den Ton leiser, damit wir uns unterhalten konnten. Erneut spürte ich wie er mir einen Kuss auf den Kopf gab, dann fragte er, ob ich Hunger hätte und vielleicht Lust hätte Shisha zu rauchen.

„Beides nicht“, murmelte ich. „Aber ich sollte mal etwas essen, das habe ich den ganzen Tag lang noch nicht gemacht.“

„Dann solltest du wirklich etwas essen“, stellte Gaara besorgt fest, doch wir blieben Beide sitzen. Nach einer Weile sagte er leise: „Ich will dich nicht mehr loslassen.“

„Und ich will nicht, dass du mich los lässt.“

„Aber du solltest etwas essen...“

„Und du auch, dein Bauch spricht mit mir.“
 

Das brachte uns Beide ein wenig zum Lachen. Schließlich standen wir doch auf und machten uns eine Fertiglasagne. Während ich auf der Theke saß, an der bei Partys immer jemand Cocktails mixte, und Gaara an der Zeile gelehnt stand, fiel mir auf, dass der Herd sehr unbenutzt aussah. Im Allgemeinen sah die Küche seltsam leer aus als würde sie normalerweise niemand nutzen.

„Isst du häufig so einen Fast Food Kram?“, fragte ich.

„Meistens bestelle ich mir was“, zuckte Gaara die Schultern. „Aber dafür ist es mittlerweile zu spät und diese Lasagne ist gar nicht mal soo mies.“

„Kocht deine Mutter nicht?“
 

Darauf antwortete er erst einmal nicht, sondern kaute scheinbar auf den Innenseiten seiner Wange herum bis er sie los ließ und seufzte. Bei der Antwort blickte er seine Füße an: „Nein, sie kann nicht kochen.“

Er klang bitter.

„Okay...“ Einige Sekunden lang blieb ich stumm, doch diesmal siegte die Neugierde vor dem guten Anstand und ich fragte ihn: „Du bist ständig alleine, oder?“

„Nein, bin ich nicht“, sagte Gaara. „Kaito ist beinahe immer bei mir, ansonsten lade ich mir häufig Leute ein, schmeiße Partys oder gehe irgendwohin, übernachte auch mal bei Anderen.“

„Und deine Eltern?“
 

Er machte eine Geste, die scheinbar das ganze Haus umfassen sollte. Auffordernd blickte er sich um und fragte mich dann: „Wie sieht es hier für dich aus? Was für Leute würden in so einem Haus wohnen?“

„Welche mit viel Geld“, antwortete ich betreten. Ich kam mir von ihm ein wenig verarscht vor, doch vermutlich hatte ich es verdient. Schließlich wusste ich, dass dies ein empfindliches Thema für ihn war und bohrte trotzdem darin herum.

„Jap und das machen meine Eltern“, erklärte Gaara knapp. „Arbeiten und das seit ich denken kann im Ausland. Mein Vater leitet eine Firma, meine Mutter arbeitet für ein Modemagazin und wohnt in New York. Sie reist überall hin, nur nicht hierher. Mein Vater hat seit knapp vier Jahren auch ein richtiges Haus in den U.S.A. und er klang so zufrieden als er mir von seinem neuen 'Zuhause' erzählt hat.“

„Die müssen verdammt viel Geld verdienen“, stellte ich fest. „Warum gehst du nicht auf eine Privatschule oder wohnst bei einem von ihnen?“

„Als ich ein Kind war, hieß es, dass ich sie bei der Arbeit nur stören würde und irgendwie hat es sich fest gefahren, dass ich kein richtiger Teil ihres Lebens bin. Anfangs bin ich auf eine Privatschule gegangen, doch ich habe mich mit den anderen Kindern nicht richtig verstanden. Ich möchte nicht sagen, dass ich ein schwieriger Schüler war und in der zweiten Klasse rausgeschmissen wurde, aber ich war ein schwieriger Schüler und wurde in der zweiten Klasse rausgeschmissen. Stattdessen wollte ich auf eine stinknormale öffentliche Schule und habe Kaito und Samantha kennen gelernt... Lukas, du brauchst mich nicht so schockiert anzuschauen.“
 

Betreten schloss ich den Mund, der mir offen stand und versuchte weniger mitleidig zu schauen, doch ich konnte nicht anders. Mich wunderte es nicht, dass Gaara nicht gerne über seine Eltern erzählte, sie mussten ihn furchtbar enttäuscht haben. In seiner Erklärung wirkte er wie ein ungewolltes Kind.

„Und wie oft siehst du deine Eltern?“, fragte ich nach einigen Sekunden des Schweigens.

„Hmm.“ Gaara überlegte kurz, dann antwortete er: „Meinen Vater habe ich das letzte Mal an Weihnachten gesehen und meine Mutter war das letzte Mal vor ungefähr einem halben Jahr in Deutschland. Ich telefoniere fast jede Woche mit meinem Dad. Bei ihm habe ich das Gefühl, dass er wenigstens ein schlechtes Gewissen hat, dass sie mich immer alleine lassen. Mit meiner Mutter habe ich das letzte Mal vor einem Monat telefoniert, denke ich.“

„Oh...“ Mehr wusste ich nicht zu sagen. Stattdessen dachte ich daran wie alle groß von Gaaras Party sprachen, wie oft wir uns bei ihm trafen und, wie häufig er sich für das Wochenende das Haus voll einlud und mir wurde klar, dass er das nicht nur machte, weil er gerne seine Freunde um sich hatte, sondern auch und vor allem, weil er sich einsam fühlte. Mir lag es auf der Zunge ihn zu fragen, ob meine Vermutung stimmte, doch ich hatte zu große Angst, dass es ihn verletzen könnte. Außerdem war so eben die Lasagne fertig geworden und er bat darum ab sofort über andere Dinge zu sprechen.
 

„Falls du über etwas reden willst, dann kannst du das jederzeit tun“, sagte Gaara als wir schon beinahe mit Essen fertig waren. Obwohl ich zuvor keinen Hunger gehabt hatte, verschlang ich die passabel schmeckende Lasagne geradezu und spülte sie mit Cola herunter. Gaara ernährte sich wirklich nicht gerade gesund, dann noch die ganzen Zigaretten, das Marihuana, der Alkohol...

„Du solltest dich gesünder ernähren“, meinte ich ernst. Anscheinend so ernst, dass es schon wieder albern klang, denn Gaara begann zu lachen.

„Du brauchst mir jetzt nicht die Mutter zu ersetzen, nur, weil ich im Grunde keine habe“, sagte er und blickte mich an, wie man vielleicht einen niedlichen Hundewelpen anschaute. „Du bist wirklich süß, Lukas...“

„Nein, das ist mein Ernst.“ Ich überging seinen Kommentar mit hochrotem Gesicht. „Wenn du dich weiterhin so ungesund ernährst, wirst du schnell Probleme bekommen. Jetzt bist du noch jung, da geht das, aber irgendwann könntest du davon wirklich krank werden.“

„Keine Angst, Kaito ist doch so gut wie immer hier“, zuckte Gaara die Schultern und auf meinen verwirrten Blick hin, fügte er hinzu: „Kaito kann kochen.“

„Jetzt echt?“

„Jetzt echt. Und sogar ziemlich gut und, da ich ein mega Taschengeld von meinem Dad bekomme, weil er immer so ein schlechtes Gewissen hat, kann sich Kaito davon alle möglichen Zutaten kaufen. Ich bin nur zu faul, um das Kochen zu lernen, deswegen bestelle ich mir meistens was. Tiefkühlkost esse ich wirklich nicht allzu häufig. Du kannst also beruhigt sein.“
 

Er betonte die letzten Worte so, dass es mir wieder die Röte ins Gesicht trieb, die kaum fort gegangen war. Wir aßen zu Ende, verstauten die Teller in der Spülmaschine und setzten uns erneut auf die Couch. Diesmal einfach nur nebeneinander, näher als zwei Menschen normalerweise auf dieser großen Couch gesessen hätten, doch mit der Zeit ließ Gaara seinen rechten Arm um meine Hüfte gleiten und seine Hand lag auf meinem rechten Oberschenkel. Gleichmäßig ließ er den Daumen über immer dieselbe Stelle kreisen und es brachte mich völlig aus der Bahn. Wir schauten uns irgendeine Serie an, von der ich kaum etwas mit bekam, weil ich nach einer Möglichkeit suchte mich Gaara noch mehr zu nähern. Erst, als in der Serie jemand einen Herzinfarkt bekam, wurde ich komplett von Gaara und seiner Berührung fortgerissen.
 

Entsetzt schaute ich zu, wie die Person starb. Es war sicherlich nicht das erste Mal, dass ich in einem Film oder einer Serie jemandem an einem Herzinfarkt sterben sah und dabei an Dad denken musste, doch diesmal war es anders. Diesmal war es schlimmer und schickte mir schmerzliche Nadeln durch mein Herz. Verletzt presste ich die Lippen aufeinander und spürte Tränen in meine Augen steigen. Wie immer kam der Kloß zusammen mit dem Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Es fühlte sich beinahe so an wie die vielen Zusammenbrüche, die ich bereits erleiden musste. Panisch versuchte ich durch blinzeln die Tränen fort zu bekommen, doch ich machte es nur noch schlimmer und eine kullerte über meine Wange. Dabei hatte ich doch gerade erst aufgehört zu weinen...
 

„Lukas...“ Gaara nahm mich in den Arm, diesmal fühlte es sich an als würde ich dadurch weniger Luft bekommen.

„Nein, nein.“ Ich drückte ihn weg und sagte schnappartig: „Ich – bekomme – keine – Luft.“

„Doch, tust du.“ Er nahm mein Gesicht zwischen meine Hände und streichelte mit einem Daumen die Träne von meiner Wange. „Du hast Angst, Lukas und das ist okay. Aber es gibt nichts, außer deiner Angst, die zwischen dir und der Luft steht.“

„Ich – habe – keine – Angst“, keuchte ich und deutete auf den Fernseher. „Ich – habe -- die Person – ich -“

„Du hast Angst dich deinen Gefühlen zu stellen“, sagte Gaara mit leiser, ruhiger Stimme. „Du staust sie in dir auf bis sie explodieren und du so einen Zusammenbruch erleidest, wie vor den Ferien in der Schule als dich Kiaro, Flo und Tami gefunden haben.“
 

Er hatte Recht. Ich wusste, dass er Recht hatte und die Erkenntnis half. Meine Zusammenbrüche wurden immer dadurch schlimmer, dass ich mir nicht erklären konnte, woher sie kamen, doch, was Gaara gerade gesagt hatte, ergab Sinn. Trotzdem atmete ich noch stoßweise und zitterte am ganzen Leib. Vorsichtig beugte Gaara sich vor und gab mir einen sanften Kuss auf die Lippen. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf das Gefühl, das der Kuss in mir auslöste. Dieses süßliche, brennende Gefühl... Wieder küsste Gaara mich. Auf die Lippen, auf die Wange, auf die Stirn und wieder auf die Lippen. Immer wieder, bis ich mich beruhigt hatte und in seine Arme sank.
 

Eine Weile lang hielt er mich, dann erzählte ich erstaunlich ruhig: „Mein Vater ist an einem Herzinfarkt gestorben. Komplett ohne Vorwarnung.“

„Heftig“, sagte Gaara leise.

„An seinem 50. Geburtstag als alle Gäste gegangen waren“, fügte ich hinzu und hätte wieder weinen können, doch ich riss mich zusammen. „Ich war im Wohnzimmer und ich habe gehört wie er in der Küche umgefallen ist. Mum hat den Krankenwagen gerufen, aber die konnten ihm nicht mehr helfen. Ich weiß noch, wie Mum und Alex geweint haben. Ewigkeiten lang, Wochenlang, bei der Beerdigung und Nachts und Morgens und Abends, aber ich nicht. Ich habe wochenlang gar nicht geweint. Es hat sich so falsch angefühlt...“

„Jeder geht anders mit so einem Verlust um“, sagte Gaara behutsam. „Dass du anfangs nicht geweint hast, muss nicht heißen, dass dich sein Tod nicht verletzt hat, sonst würdest du wohl kaum jetzt hier sitzen und deswegen so fertig sein. Vielleicht hast du länger gebraucht, um es zu realisieren.“

„Habe ich auch“, nickte ich. „Das habe ich aber erst dann gemerkt, als ich es realisiert habe...“
 

Wir landeten bei einem Gespräch über unsere Familien Ich erzählte ihm lustige Erlebnisse mit meinem Vater und Gaara erzählte mir Geschichten aus seiner Kindheit. Bei nahezu jeder Geschichte war Kaito dabei und je länger er erzählte, desto mehr merkte ich, dass seine Eltern weniger seine Familie waren als Kaito es war. Eine Erzählung blieb mir besonders im Kopf hängen, weil ich sie so traurig fand. Er war zwölf Jahre alt gewesen und gemeinsam mit Kaito auf einem Spielplatz in der Nähe von Kaitos Viertel. Es war bereits dunkel, alle anderen Kinder durften von ihren Eltern aus nicht mehr draußen sein, doch den beiden Jungen waren nie solche Grenzen gesetzt wurden. Beim Klettern rutschte Gaara ab und brach sich das Handgelenk. Er hatte vor Schmerzen geschrien wie am Spieß und Kaito brachte ihn panisch zu seiner Mutter, die jedoch gerade auf irgendeiner Droge war. Welche, wussten die Jungen nicht, sie wussten nur, dass sie ihnen unmöglich helfen konnte. Sie hatte nicht einmal verstanden, dass es überhaupt ein Problem gab und die Tür vor den Jungen zugemacht, weil Gaara ihr zu laut gejammert hatte. Also ging Kaito noch einmal in die Wohnung, um einen Stadtplan zu holen und suchte den Weg zum nächsten Krankenhaus heraus. Als sie dort ankamen, erklärte ihnen eine sehr freundliche Krankenschwester, dass sie auch den Krankenwagen rufen könnten, wenn ihnen sonst niemand helfen kann. Kaito musste ihr erklären, warum kein Erwachsener zur Stelle war und log sie an, dass seine Mutter zu viel Alkohol getrunken hätte. Über Gaaras Eltern sagten sie die Wahrheit: Sie waren arbeiten.

Nur wenige Tage später stand das Jugendamt vor Kaitos Haustür.
 

Laut wunderte ich mich darüber, dass sie nichts unternommen haben. Schließlich war eine drogenabhängige Mutter nicht gerade die ideale Erziehungsberechtigte, doch Gaara erzählte mir locker, als sei es gar nichts besonderes, dass das Jugendamt ständig bei Kaito gewesen und nie etwas unternommen hätte.

„Sie haben immer nur ein wenig gedroht, sage ich mal“, meinte er schulterzuckend. „Als er ein Kleinkind war mehr als später, da hatte sie ihn sogar noch geschlagen.“

„Oh scheiße!“ Entsetzt setzte ich mich auf. „Du meinst, Kaito wurde von seiner Mutter misshandelt?“

„Misshandelt klingt so krass“, stellte Gaara mit schiefem Mund fest. „Aber eigentlich war es das schon, ja.“

„Wie kannst du darüber so normal reden?“, fragte ich empört.

„Es tut mir Leid“, sagte Gaara. „Ich habe auch schon in der Grundschule gewusst, dass Kaito von seiner Mutter geschlagen wird. Ich bin damit sozusagen aufgewachsen. Das heißt nicht, dass ich nicht wüsste, dass das heftige Erlebnisse sind, die kein Kind machen sollte, aber es ist einfach so... es ist nicht unnormal für mich... ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll...“

„Wie mit Simon und seinem Stiefvater“, wurde mir plötzlich alarmierend bewusst. Ich hatte es auch immer gewusst und einfach hingenommen. Natürlich war ich wütend gewesen, natürlich hatte es mich aufgeregt, natürlich hatte ich immer gewusst, dass es falsch war, doch ich hatte nie etwas dagegen unternommen.
 

Nach meiner Aussage musste ich Gaara auch noch von Simon und seinen Familienproblemen erzählen, danach hatten wir erst einmal genug von solchen traurigen Geschichten, denn es schockierte uns Beide, dass scheinbar niemand eine stabile Familie besaß. Als wir uns dazu entschieden in Gaaras Zimmer zu gehen, merkte er an, dass Sam eine normale Familie hatte und ich nannte Lynn als zweite Person mit glücklich verheirateten Eltern und Geschwistern mit denen sie sich (meistens) verstand.
 

„Wenigstens Zwei“, grinste Gaara. „Willst du was Bequemes zum Anziehen?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete er seinen breiten Kleiderschrank und zog eine dunkelblaue Jogginghose hervor.

„Ich kann dir auch noch ein anderes Shirt zum Schlafen zu geben, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass die dir alle zu groß sind...“ Er stöberte in seinem Schrank, während ich die Hose annahm.

„Das stört mich nicht“, sagte ich und merkte, dass ich nichts lieber täte als in Gaaras Klamotten zu kuscheln. Er schenkte mir ein verwegenes Grinsen und drückte mir ein einfaches, graues Shirt in die Hand. Ich legte die beiden Kleidungsstücke über seinen Schreibtisch und begann mich, ohne weiter zu Überlegen, auszuziehen. Als ich nur noch in Boxershorts da stand und die Jogginghose anziehen wollte, hielt mich Gaara am Handgelenk fest.
 

Überrascht wandte ich mich zu ihm, schloss jedoch wie automatisch die Augen als er mir einen Kuss auf die Lippen gab. Ich war derjenige, der mit der Zungenspitze gegen seine Lippen stupste, damit wir in einen Zungenkuss verfallen konnten. Die Hose fiel aus meinen Händen zu Boden und Gaara hielt mich an der Hüfte fest, fuhr dann mit seinen kühlen Händen über meinen nackten Rücken, was mir eine süßliche Gänsehaut bereitete. Ich schlang die Arme um seinen Nacken und Gaara berührte mich überall, wo er mich berühren konnte. Schließlich ließ er eine Hand unter meine Boxershorts gleiten und ließ sie auf meinem Hintern ruhen. Ich spürte wie mich das alles erregte.
 

Gaara leitete mich zum Bett und erst als ich die Kante in meiner Kniekehle spürte, hörten wir auf uns zu küssen und er nahm die Hände von mir weg, damit ich mich auf die Matratze fallen lassen konnte.

„Diesmal hören wir aber nicht einfach auf“, sagte Gaara mit einem Grinsen und liebkoste mit der Zunge meine Brustwarze wie er es schon in den Ferien vor knapp drei Wochen getan hatte. Erneut stieß ich heißen, keuchenden Atem aus, legte den Kopf in den Nacken und genoss es.
 

Ich musste an Gaaras Worte denken. Daran, dass ich zu viel Angst hatte mich mit meinen Gefühlen auseinander zu setzen. Ich hatte auch zu viel Angst mich ihnen hinzugeben, doch genau dies würde ich jetzt tun. Meine Angst überwinden und sehen, dass es etwas Gutes war, denn es konnte nur gut, wenn es sich so anfühlte wie gerade. Gaara küsste sich weiter nach unten, zog meine Boxershorts herunter und küsste mein erregtes Glied. Er übersäte es mit kleinen, spitzen Küssen, saugte hier und da, leckte ein wenig und nahm es schließlich in den Mund. Und ich genoss es laut.

Lukas' MILF hat keine Umzugskartons mehr

Es war Hannah, der ich als Erstes von meinem Erlebnis mit Gaara erzählte. Nach dem Orgasmus war ich recht schnell eingeschlafen und hatte eine Traumlose, erholsame Nacht. Am nächsten Tag fühlte ich mich wie der glücklichste Mensch der Welt, doch verging dieses Gefühl als ich Zuhause ankam und die, noch immer, niedergeschlagenen Gesichter meiner Mutter und meiner Schwester sah. Augenblick hatte ich ein schlechtes Gewissen bekommen. Wenn ich Gaara sah, begann ich reflexartig verlegen und glücklich zu grinsen, sobald er fort war, schalte ich mich dafür, dass ich eigentlich traurig und schlecht gelaunt sein musste. Schließlich war der erste Todestag meines Vaters gerade mal zwei Tage her.
 

Auch dies erzählte ich Hannah, während wir mit Joker, Hannahs brauner Pudel Lucy und einem riesigen Schäferhund namens Fluffy spazieren gingen. Während der Schule hatte es geregnet und es nieselte noch immer ein wenig. Wir beschritten einen matschigen Weg, rechts von uns erhob sich ein Wald, dessen Blätter im Regen raschelten und links von uns erstreckte sich ein Kornfeld soweit das Auge reichte. Bevor wir los gingen, hatte Anna erzählt, dass es im Kornfeld Hasen gab, auf die viele Hunde mit einem Jagdinstinkt reagierten, darum durften wir sie nicht von der Leine nehmen. Joker wedelte glücklich mit dem Schwanz, Fluffy blickte immer wieder neugierig auf das Feld hinaus und Lucy stolzierte wie eine richtige Dame.
 

„Ich wusste, dass sich zwischen euch Beiden etwas entwickeln wird! Eigentlich wusste das jeder, schließlich hat Gaara seine Zuneigung recht offensichtlich gemacht. Oh Mann, Kaito wird vor Freude tanzen.“ Hannah grinste breit. Durch den Regen war es recht kühl und sie trug eine Mütze über ihren braunen, schulterlangen Haaren.

„Warum Kaito?“, fragte ich verdutzt.

„Weil Gaara ihm ständig mit dir in den Ohren gelegen hat“, antwortete Hannah. „Aber egal. Zu deinem schlechten Gewissen: Ich kann es nachvollziehen, doch brauchst du wirklich kein schlechtes Gewissen zu haben. Genug Leute können bezeugen wie nahe dir der Tod deines Vaters geht und du hast definitiv ein Recht darauf mal wieder richtig glücklich zu sein. Verliebt zu sein ist eines der schönsten Gefühle, die es geben kann. Lass dich darauf ein.“

„Und dann habe ich Angst verletzt zu werden“, gestand ich. Wir blieben stehen, damit Joker Wasser lassen konnte. Kaum, da er fertig war, pinkelte Lucy genau auf dieselbe Stelle, um seinen Geruch zu übertünchen und somit ihr Territorium zu markieren. Sie markierte so ungefähr alles als ihr Territorium.

„Du darfst doch noch nicht jetzt darüber nachdenken“, sagte Hannah. „Außerdem wirst du vielleicht gar nicht verletzt. Vielleicht verletzt du ihn eines Tages oder aber Gaara ist bereits die Liebe deines Lebens und ihr werdet euch nie wieder trennen.“

„Die Wahrscheinlichkeit ist höher, dass ich verletzt werden“, murmelte ich und während ich so darüber nachdachte, kam mir der düstere Gedanke in den Sinn, dass Gaaras Bemühungen um mich nur dazu da waren mich ins Bett zu bekommen. „Ich bin schlecht darin zu glauben, dass ich es verdient hätte, glücklich zu sein.“

„Aber warum denn?“, fragte Hannah entsetzt. Ja, warum eigentlich? Vor dem Tod meines Vaters hatte ich sicher noch nicht so gedacht, nein... es war später... bevor ich in der Schule gemobbt wurde, hatte ich noch nicht so gedacht. Es war zu viel gewesen und hatte mein Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen kaputt gemacht und, wie es nun einmal immer war, war es einfacher Dinge kaputt zu machen als sie wieder zu reparieren.
 

„Ich weiß auch nicht so genau... aber ich werde Gaara nicht weg stoßen, auch wenn ich Angst habe“, versprach ich. Ich wollte lernen meine Ängste zu überwinden. Anderen Leuten von meinen Gefühlen und Problemen zu erzählen war der erste Schritt und er war gar nicht so schwer wie anfangs gedacht. Der zweite Schritt wäre Gaara selbst und das würde mir vermutlich schwieriger fallen.

„Das ist die richtige Einstellung“, sagte Hannah und klopfte mir auf die Schultern. „Ich bin froh, dass ihr Zwei zueinander findet, denn ihr seid wirklich ein niedliches Paar.“

„Danke... apropos Paar... wie sieht es mit Noah und Fynn aus? Hast du da irgendwas gehört? Noah meldet sich nicht mehr bei mir und Gaara, Sam und Kaito wissen auch nichts.“ Wir hatten Hannah von der Sache erzählt und sie hatte mit Tränen reagiert.

„Oh ja, ich war am Sonntag mit meiner Mum da gewesen. Ursprünglich wollte ich das ganze Wochenende da bleiben, aber mein Freund ist mit mir auf ein Konzert gefahren, dann waren wir noch mit ein paar Leuten feiern und – naja egal, als ich Sonntag da war, hatte sich Noah in seinem Zimmer eingesperrt. Sein Vater meinte er würde kaum mal zum Essen raus kommen seit Fynn mit ihm Schluss gemacht hat. Ich habe mich an seine Zimmertür gesetzt und bestimmt zwei Stunden lang auf das Holz eingeredet bis Noah endlich die Tür aufgemacht und mich reingelassen hat. Er sieht echt fertig aus und meinte, er wäre sauer auf euch.“

„Auf uns?“, fragte ich verdutzt. „Du meinst auf mich, oder nicht?“

„Nein, auch auf Gaara, Kaito und Sam“, schüttelte Hannah den Kopf. „Er meinte, wenn ihr nicht mit Fynn gesprochen hättet, hätte er auch nicht Schluss gemacht.“

„Das stimmt, aber Noah wollte doch ohnehin nicht mehr mit ihm zusammen sein.“ Auf Hannahs zögerlichen Gesichtsausdruck hin, fragte ich beinahe verzweifelt: „Oder?“

„Ehrlich gesagt doch“, sagte sie kleinlaut als wäre es ihre Schuld. Stöhnend schlug ich mir eine Hand vor die Stirn und schüttelte verständnislos den Kopf.
 

Wir begannen über Noah und Fynn zu diskutieren. Ich merkte nicht wie Fluffy großes Interesse an etwas draußen im Feld hegte. Erst als er plötzlich los rannte und mich von den Beinen riss, wusste ich es. Mir glitt die Leine aus der Hand, noch während ich vorwärts im Schlamm landete und sah wie sich Fluffy ins Feld stürzte. Sofort rannte Lucy hinterher, während Joker anfing zu bellen. Hannah warf mir seine Leine zu und folgte den Hunden, während sie schrie: „Halt deinen Hund fest!“
 

Zum Glück war Joker nicht annähernd so stark wie Fluffy. Aufgeregt hüpfte und bellte er neben mir. Mühselig stand ich auf, von oben bis unten mit Schlamm beschmutzt, selbst meine Haare hatten etwas abbekommen. Hannah und die Hunde waren weit im Feld, doch ich konnte erkennen, dass Lucy und Fluffy in unterschiedliche Richtungen liefen. Etwas überfordert blieb Hannah stehen und entschied sich dann Fluffy zu folgen, der scheinbar einen Hasen entdeckt hatte. Widerwillig lief ich ebenfalls aufs Feld, Joker dicht hinter mir, der vor Aufregung kaum still bleiben konnte. Ich stellte mich Fluffy in den Weg, der daraufhin einmal um mich herum rannte. Verzweifelt versuchte ich seine Leine zu packen, doch da sie voller Schlamm war, glitt sie mir aus den Händen. Nun versuchte Hannah ihr Glück und diesmal stürzte sich Fluffy einfach direkt auf sie drauf und warf sie somit zu Boden. Ich hörte es Platschen als Hannah auf dem schlammigen Boden landete. Hell schrie sie auf, während Fluffy ihr Gesicht ableckte und freudig mit dem Schwanz wedelte. Lucy gesellte sich bellend zu uns.
 

Schon bevor sich Hannah endlich aufsetzen konnte und wie gerupft aussah, weil ihre Haare in alle Himmelsrichtungen ab standen, war ich am Lachen. Auch sie brach in Gelächter aus als sie mich sah und wir kriegten uns auf dem Weg zurück zur Hundehilfe kaum ein. Anna betrachtete uns ein wenig schief, sagte jedoch nichts. Wohingegen Dennis, Hannahs Freund, der uns mal wieder abholen kam, anfing zu lachen als wir vor seinem Auto standen. Auf seine Frage hin, was geschehen sei, antworteten wir jedoch nicht.

„Das wird Lukas' und mein Geheimnis“, sagte Hannah. „Und zur Erinnerung machen wir ein Foto.“

Sie zückte ihr Handy. Normalerweise hasste ich Fotos, doch auf dieses ließ ich mich breit grinsend ein.
 

Zwei Tage später schaute Hannah nach der Schule bei mir Zuhause vorbei und drückte mir das Foto in die Hand. Sogleich pinnte ich es an die Wand mit den anderen Bildern, die Alex so schön aufgehangen hatte. Hannah schaute sich die Fotos an, lachte dann und wann mal bis wir uns bei einer Tasse Tee und dem alltäglichen Nachmittagsfernsehen auf meinem Bett nieder ließen.

„Wie verstehen Gaara und du dich eigentlich jetzt?“, erkundigte sich Hannah.

„Ich werde jedes Mal rot, wenn er mich anschaut“, gestand ich und sie begann zu lachen. „Ansonsten verstehen wir uns aber besser als je zuvor. Er versucht mich immer mit einem Kuss zu verabschieden, aber ich will das in der Öffentlichkeit nicht so sehr. Und wir schreiben ständig darüber, dass wir uns am Wochenende wieder treffen wollen, aber wir finden keine Zeit...“

„Dafür ist doch immer Zeit“, meinte Hannah Augenzwinkernd.

„Ich schreibe nächste Woche Geschichte und Mathematik und in letzter Zeit kam ich nicht dazu mich irgendwie zu konzentrieren. Ich muss das Wochenende dringend zum Lernen nutzen.“ Ich seufzte schwerfällig und schaute zu wie der Beutel in meinem heißen Wasser schwamm und es rot färbte. „Viel lieber würde ich mir von Gaara noch mal einen blasen lassen.“

„Ohh, Lukas, seit wann bist du so direkt?“, fragte Hannah lachend und ich wurde ein wenig rot.
 

Nach und nach kamen wir wieder auf Noah zu sprechen, der noch immer der Schule fern blieb und sich bei niemandem meldete. Hannah ließ verlauten sich mittlerweile ernsthafte Sorgen um ihn zu machen und, dass sie es furchtbar fände nichts tun zu können, schließlich wollte er ja nicht. Noch während sie dies aussprach, wusste ich, dass es falsch war. Noah sagte, dass er nicht wollte, aber das hieß nicht, dass er wirklich keinen Kontakt wollte. Wenn ich daran zurück dachte, wie ich den Zusammenbruch in der Bücherei hatte... Hätte mich die Clique vorher angerufen und gefragt, ob sie vorbei kommen sollen, hätte ich mit absoluter Sicherheit Nein gesagt. Doch ihr Überraschungsbesuch hatte mir an diesem Tag wirklich gut getan, auch wenn ich total erschöpft gewesen war. Wieso sollte es Noah nicht genauso gehen? In seiner Lage würde ich mich im Stich gelassen fühlen...
 

„Wir sollten zu Noah fahren“, entschied ich und unterbrach dabei Hannah, die gerade davon erzählte, dass ihr Freund geschworen hatte er würde Fynn eine runter hauen, wenn er ihn noch einmal sah.

„Was? Aber -“

„Kein Aber. Wir sollten zu ihm fahren und uns irgendetwas ausdenken, wie wir ihn aus seinem Tief zurück holen können...“ Mit einem Mal war ich auf den Beinen und schaute mich in meinem Zimmer Inspirationssuchend um. Verwirrt richtete Hannah sich auf.

„Er hat doch gesagt, er will alleine sein... was, wenn er uns anschreit oder wütend auf uns wird?“

„Dann haben wir es wenigstens versucht.“ Ich erblickte die Kanten der zusammen gefalteten Umzugskartons, die ich hinter meinem Kleiderschrank verstaut hatte und mir kam eine Idee. Mit einem stummen Lächeln zog ich die Kartons hervor und hielt sie Hannah unter die Nase.

„Und genau damit lassen wir uns was einfallen.“
 

Spät am Abend fuhren wir zu Noah und bis zu seiner Haustür waren wir uns unserer Idee ganz sicher, doch als wir auf der Türschwelle standen und klingelten, wurden wir nervös. Hannah kaute auf der Unterlippe und ich spürte, dass ich ganz hibbelig wurde. Hoffentlich öffnete nicht Noahs Vater. Wenn er seinem Sohn zurief, dass jemand ihn besuchen kam, würde er uns vermutlich wegschicken ohne überhaupt an die Tür zu kommen. Wir hatten Glück und es war Noah, der die Tür öffnete. Im matten Licht der Laternen, die Noahs Vorgarten erhellten, sah er recht blass aus. Er setzte eine undefinierbaren Blick auf als er uns erkannte. Demonstrativ hob ich das erste Schild hoch, das wir gebastelt hatten. Darauf stand in schwarzen Lettern: „Wir sind nicht so gut im reden, darum schreiben wir.“
 

Hannah zückte das zweite Schild und Noah las leise: „Wir wissen, dass du uns eigentlich gar nicht sehen willst, doch -“

Ich drehte das Erste um und es erschien: „- wir wollen dich sehen, darum sind wir trotzdem her gekommen.“

Nun drehte Hannah das Zweite um: „Und weil wir dir unbedingt sagen wollten, dass -“

Nun hob ich ein drittes Schild hoch: „- wir dich lieb haben, egal was passiert und -“

Hannah nahm das Vierte: „- dass wir immer für dich da sind und da sein werden.“

Ich drehte das Dritte um: „Wenn du uns brauchst, musst du es nur sagen.“

Nun drehte Hannah noch das vierte und letzte Schild und die letzten Worte erschienen: „PS.: Lukas' MILF hat keine Umzugskartons mehr.“
 

Erst musste Noah ein wenig lachen, dann schossen Tränen in seine Augen und er bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Etwas hilflos schauten wir zu, wie er anfing zu weinen, dann brachte er hervor: „Ihr seid doch so doof! Ich hab euch auch lieb.“

Er kam über die Schwelle und umarmte uns gleichzeitig. Wir ließen die Schilder fallen und erwiderten es. Ich merkte, wie mir tausend Steine vom Herzen fielen und, dass ich Noah tatsächlich vermisst hatte.

Ich will eine kunterbunte Party!

Ab Montag ging Noah wieder zur Schule und hatte das Wochenende bereits damit genutzt sich bei jedem für sein Verhalten zu entschuldigen. Niemand war ihm böse und alle bestanden darauf, dass er es nicht nötig hatte sich zu entschuldigen, denn, wenn man von der Person, die man liebte, auf diese Weise verletzt wurde, konnten die Gefühle schon einmal mit einem durchgehen. In der Schule zeigte sich Noah ruhiger als vorher, doch, wenn Gaara und Kaito miteinander herumalberten, brachte er ein ehrliches Lachen zustande. Mir lagen Fragen auf der Zunge, wie es Noah momentan ging und, wie das Schluss machen mit Fynn gelaufen war, doch ich behielt sie vorerst bei mir, denn wir schrieben diese Woche Mathematik und Geschichte und das raubte Noah sämtliche Nerven.
 

„Du kannst das doch“, versuchte Sam ihn sanft zu motivieren. Sie sprach so ruhig, wie sie noch nie gesprochen hatte. Wir saßen gemeinsam im Aufenthaltsraum, nur noch wenige Minuten vor der ersten Stunde und somit vor unserer Geschichtsklausur. Das erste Halbjahr der elften Klasse zählte im Grunde nichts. Die Noten waren irrelevant für unser Abitur, erst ab dem zweiten Halbjahr wurden die Noten wichtig. Wenn wir am Ende des Halbjahres nicht auf mindestens fünf Punkte kamen, erhielten wir für das betroffene Fach einen Unterkurs. Bis zur dreizehnten Klasse, sprich vier Halbjahren, da die dreizehnte Klasse nur ein halbes Jahr lang war, durften wir in den Leistungsfächern insgesamt zwei Unterkurse haben und in den Nebenfächern insgesamt fünf. Obwohl noch keine einzige Note wirklich fest stand, hatten bereits die meisten Leute unserer Stufe Angst zu viele Unterkurse zu erhalten. Sollte dies passieren, musste ein Jahr wiederholt werden. Und, wenn man es danach nicht schaffte, dann hatte man das Abitur nicht geschafft.
 

Gedämpft klang Noahs verzweifelte Stimme an meine Ohren, die ich mir fest zuhielt. Stur blickte ich auf meine Notizen und versuchte sie auswendig zu lernen, doch jeder Satz glitt mir durch den Kopf und verschwand im Nichts, ohne eine Information hinterlassen zu haben. Ohne es zu wollen, hörte ich auf Sam und Noah. Und Kaito lenkte mich ebenfalls sehr ab, dabei saß er einfach nur schlaftrunken mir gegenüber und nickte immer wieder ein. Er schrieb heute keine Klausur, zum Glück. Denn er sah furchtbar aus. Dunkle Ringe zierten seine Augen und sein Gesicht war blass. Für einen Moment ging mir der grässliche Gedanke durch den Kopf, dass er wieder Drogen genommen hatte. Mein Blick glitt zu Gaara, der für Mathematik lernte. Wir schrieben übermorgen, er schrieb bereits morgen, da er dieses Fach im Leistungskurs hatte.
 

Seine Augenbrauen waren fest zusammen gezogen und mir fiel auf, dass sich seine braun-grünen Augen nicht bewegten. Er las nicht. Auch er war zu abgelenkt, um zu lernen und ich fragte mich wovon. Vielleicht von besorgten Gedanken, die er Kaito schenkte? Ich schüttelte den Kopf und schaute wieder auf meine Notizen. Ich musste lernen und mir diesen ganzen Kram merken, davon hing mein Abitur ab und von meinem Abitur hing meine Zukunft ab.
 

„Ich hatte überhaupt keine Zeit zu lernen!“, klagte Noah lauter und ich entschied es aufzugeben. Am Wochenende hatte das Lernen recht gut geklappt. Ich hatte mich mehr auf Geschichte fokussiert, da Mathematik im Grundkurs mehr als nur einfach war. Vielleicht wird das für eine annehmbare Note ausreichen.

„Ich meine, eigentlich hatte ich Zeit, aber ich es ging nichts in meinen Kopf. Es geht immer noch nichts in meinen Kopf.“ Er schob das Buch von sich weg, verschränkte die Arme auf dem Tisch und vergrub das Gesicht in ihnen. Sam umarmte ihn leicht, soweit dies möglich war und sagte ihm, dass er das schon schaffen würde.

„Nein, tue ich nicht“, erwiderte Noah. „Ich habe zwei Wochen lang gefehlt und alle Wiederholungsstunden verpasst und habe in dieser Zeit absolut nichts gelernt. Ich habe gerade mal am Sonntag angefangen und konnte mir einfach nichts merken.“

Ich war mir nicht sicher, ob Noah weinte. Seine Stimme klang als würde er jeden Augenblick damit anfangen.
 

„Scheiße, Mann“, schaltete sich Kaito ein, der sich verschlafen über das Gesicht rieb. Gaara ließ neben ihm sein Buch auf den Tisch fallen und seufzte schwer. „Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen, ich glaube die Arbeit verkackst du.“

„Kaito!“, entfuhr es Sam sauer.

„Er hat doch Recht.“ Noah schaute nun auf und ihm liefen tatsächlich Tränen über die sommersprossigen Wangen. Er zog die Ärmel seines Pullovers bis zu seinen Fingern und wischte sie sich weg. „Ich habe keine Lust mehr zu weinen. Ich bin nur noch am Weinen... wieso versuche ich überhaupt mein Abitur zu machen? Ich schaffe das doch eh nicht.“

„Ich auch nicht“, sagte Kaito schulterzuckend. „Aber man kann's ja versuchen. Besser als nichts zu tun, ich wüsste nämlich nicht, was ich sonst machen sollte.“

„Ihr seid doch Beide doof“, meinte ich und packte meine Notizen zusammen. Andere Schüler unseres Geschichtskurses nahmen ihre Sachen und verließen den Aufenthaltsraum. Es wurde auch höchste Zeit.

„Vielleicht schwänze ich die Arbeit und schreib sie nach“, überlegte Noah, der im Gesicht ganz rot war vom Weinen.

„Nachschreibearbeiten sind immer schwerer, außerdem liegen die immer so bescheuert, dass man dann drei Arbeiten in der Woche schreiben muss“, wandte Gaara ein.

„Gaara hat Recht“, stimmte Kaito zu. „Du verkackst Geschichte, aber doch nur die Klausur. Wenn du dich immer noch so viel meldest wie in der Mittelstufe, bekommst du eine gute Mündlichnote und kannst dich vor dem Unterkurs retten. Ab nächstem Halbjahr wird es dann besser.“

„Aber nicht in Mathe“, jammerte Noah weiter. „In Mathe werde ich nur Unterkurse haben.“

„Und dann hast du immer noch einen Unterkurs für einen anderen Grundkurs frei“, sagte Gaara und als Noah ihn klagend anschaute, grinste er verwegen. Kopfschüttelnd wischte sich Noah die letzten Tränen weg und begann seine Sachen zusammen zu packen.
 

„Ihr habt die dümmsten Methoden einen aufzumuntern“, stellte er fest als er aufstand.

„Ich würde das nicht aufmuntern nennen, wir sagen nur die Wahrheit“, grinste Kaito. „Viel Glück beim Verkacken.“

Noah ließ sich von Sam drücken und aufmunternd über den Rücken streichelnd und beim Vorbeigehen boxte er Kaito gegen die Schulter. Danach wünschten die Drei mir Glück. Ich ließ meinen Blick ein wenig länger auf Gaara liegen, als würde sein Anblick mir irgendwie Kraft spenden und folgte Noah dann zur Geschichtsklausur.
 

Überraschenderweise hatten meine Bemühungen vom Wochenende gereicht. Fließend gingen die Worte aus meinem Kugelschreiber hervor und ich konnte noch jede Frage beantworten. Anfangs musste ich ständig an meinen letzten Geschichtstest denken bei dem ich früher abgegeben und einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Gedankt wurde mir dafür mit null Punkten. Zum Glück hatte es sich dabei nur um einen einfachen Überraschungstest gehandelt, dessen Note nicht weiter wichtig war. Heute schrieb ich die wirklich wichtige Arbeit und sie fiel mir gerade zu leicht. Pünktlich gab ich ab, auch Noah schrieb bis zum Schluss, sah aber alles andere als glücklich aus. Auf seine verbitterte Frage hin, ob es wenigstens bei mir gut gelaufen war, antwortete ich verlegen mit „Geht so“, weil ich Angst hatte, dass er sich noch schlechter fühlen könnte.
 

In der Mittagspause versuchte Schifti ununterbrochen Gaara dazu zu bewegen am Wochenende eine Party zu veranstalten, doch er wehrte sich dagegen.

„Erst, wenn wir wieder einen Grund dafür haben“, sagte Gaara, woraufhin Schifti die Armen ausbreitete und den Rauch seiner Zigarette hinaus blies. Grinsend fragte er: „Ist das Leben nicht Grund genug?“

„Nein“, antwortete Noah, der deprimiert auf dem Boden saß und die Arme um seine Knie geschlungen hatte.

„Kein Wort von dir, du wurdest von deinem Freund verlassen“, sagte Schifti, wofür er von Noah einen bösen Blick geschenkt bekam. Auch Tami und Sam schickten ihm ihre besten Todesblicke und ließen sich zu beiden Seiten von Noah nieder, um ihm ein wenig Trost zu spenden.

„Na gut, hat denn nicht irgendwer in nächster Zeit Geburtstag?“, fragte Schifti und schaute in die Runde. „Lukas, wann hast du Geburtstag?“

„Im Juli...“

„Das ist mir zu weit hin. Kaito?“

„Auch Juli, aber Sam hat bald Geburtstag“, antwortete der Russe und nickte zum Mädchen, die die Arme in die Luft streckte und spielerisch rief: „Und ich will eine kunterbunte Party!“

„Die bekommst du, meine Süße“, grinste Schifti.

„Wie hast du mich gerade genannt?!“
 

Lachend schauten wir zu, wie Sam sich auf den, um anderthalb Köpfe größeren, Jungen stürzte. Sie schrie spitz auf als Schifti sie sich locker über die Schulter warf, die Zigarette in seinen Mund steckte und in Richtung Schule stolzierte. Gerade rechtzeitig zum Schlagen der Klingel. Tami nahm Sams Sachen an sich und wir folgten den Beiden.

Nach der Schule gingen wir in einer großen Gruppe zur Straßenbahn. Noah verabschiedete sich noch immer betrübt. Zu Aufmunterung wollte ich ihm die Schulter drückte, traf jedoch stattdessen seinen Oberarm und er zuckte erschrocken zusammen. Schmerz blitzte kurzzeitig über sein Gesicht, dann normalisierte es sich wieder und er lächelte mich schwach an.

„Treffen wir uns noch mal die Tage außerhalb der Schule?“, fragte er. „Zusammen mit Hannah vielleicht? Ich würde euch Beide gerne öfters sehen, besonders dich, Hannah treffe ich ja schon häufig.“

„Ja klar“, sagte ich, noch etwas konfus. „Gerne.“

„Danke.“ Wir umarmten uns kurz, dann stieg er in seine S-Bahn und fuhr gemeinsam mit ein paar anderen Schülern davon. Auch Sam verabschiedete sich, die zu ihrem Haus zu Fuß gehen konnte. Sie meinte, wenn sie noch länger bliebe, würde ihre Mutter wieder sauer sein, dass sie das Abendessen verpasste.
 

Gaara, Kaito und ich stiegen gemeinsam in eine Straßenbahn und teilten uns einen Viersitzer.

„Noah geht es immer noch nicht besser“, stellte Kaito irgendwann fest. „Ich würde Fynn am liebsten zusammen schlagen.“

„Ja, ich auch. Sheila hat ihn voll verteidigt -“

„Kein Wunder“, grummelte ich dazwischen.

„- von wegen er wäre nicht dazu in der Lage mit seinen Gefühlen oder den Gefühlen von Anderen richtig umzugehen, weil er so eine beschissene Kindheit hatte“, beendete Gaara und verdrehte die Augen.

„Ich hatte auch eine beschissene Kindheit, wenn ich das mal so sagen darf“, empörte sich Kaito. „Aber ich würde niemals meine feste Freundin betrügen.“

„Warum hatte Fynn...?“, setzte ich zur Frage an. Aber wollte ich das überhaupt wissen? Am Ende würde ich noch Mitleid mit ihm haben, sowie ich mich kannte und mich dann schlecht fühlen, dass ich Mitleid mit ihm hatte und in ein totales Gefühlschaos gelangen, wie es bei mir immer der Fall war. Doch bevor ich die Schlussfolgerung ziehen konnte, dass ich nichts von Fynns Kindheit wissen wollte, antwortete Kaito: „Sein Vater ist ein Arschloch und seine Mutter an Krebs gestorben.“

„Fynn wohnt mit seinem älteren Bruder zusammen“, fügte Gaara noch hinzu. „Und der ist total freundlich, höflich, zuvorkommend, einfach nur ein netter Kerl und dann ist da Fynn. Keine Ahnung, wie die Beiden so unterschiedlich werden konnten.“

„Oh.“
 

Mehr sagte ich nicht. Ich hatte Mitleid mit Fynn und hasste mich dafür ein wenig. Schnell rief ich mir wieder in Gedanken, wie er auf unsere Konfrontation reagiert hatte, was für herablassende Sachen er über Noah gesagt hatte und ich konnte wieder anfangen ihn zu hassen. Mein Mitleid hielt sich tatsächlich in Grenzen und ich versuchte nicht daran zu denken, dass es ihm mit dem Tod seiner Mutter ebenso schlecht gehen könnte wie mir mit dem Tod meines Vaters.
 

Bei meiner Station stieg ich aus. Kaito würde wieder mal mit zu Gaara fahren und ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht zu fragen, was mit ihm los war. Vielleicht hatte er einfach nur schlecht geschlafen. Ich musste ja nicht direkt den Teufel an die Wand malen. Als ich bereits auf dem Bahnsteig stand, spürte ich wie mir jemand gegen die Schulter tippte. Ich drehte mich um, sah noch Gaaras Gesicht von ganz nahem und spürte in der nächsten Sekunde seine Lippen auf meinen. Und für eine Sekunde der Ewigkeit blieb die Welt stehen.
 

Er löste sich von mir mit seinem verwegenen Lächeln und entschwand in die Straßenbahn. Die Türen gingen zu und ich schaute noch hinterher bis ich die Bahn nicht mehr sehen konnte. Danach sprang ich ein paar Mal mit breitem Grinsen und hochrotem Kopf auf der Stelle herum und spürte dieses süßliche, brennende Kribbeln in meiner Magengegend, das sich in meinem Körper komplett ausbreitete. Ich war so verliebt, verdammt noch mal! Glücklich machte ich mich auf den Weg nach Hause, doch nach keinen zwei Metern spürte ich mein Handy in meiner Hosentasche vibrieren. Anna war der Anrufer und ich ging ohne über den Sinn ihres Anrufes nachzudenken, ran.
 

„Hallo?“

„Hallo, Lukas, ich habe schlechte Nachrichten.“

Das fühlte sich an als wäre ich gerade aus dem siebten Himmel auf den Erdboden gefallen und zwar sehr schmerzhaft. Nein, keine schlechten Nachrichten von Anna, bitte nicht, denn das konnte nur bedeuten...

„Ich habe versucht meinen Chef zu überzeugen, aber er ist der Meinung, dass Joker bei dir nicht in den besten Händen wäre. Und daran bist nicht du Schuld... du wohnst sehr in der Stadt und nach deinen Angaben, hat nicht immer jemand Zeit sich um den Hund zu kümmern, was besonders bei einem Welpen absolut wichtig ist. Besonders du hast viel um die Ohren. Er meinte ein etwas älterer Hund würde besser in eure Familie passen. Ein Tier, das man auch mal alleine lassen könnte. Joker kommt vermutlich in eine Großfamilie, die auf dem Land wohnt. Die haben bereits zwei Hunde groß gezogen und reichlich Erfahrung und Joker hat sich in den letzten Wochen als sehr kinderfreundlich erwiesen. Es tut mir wirklich Leid, aber du bekommst ihn nicht.“

Hör auf so perfekt zu sein

In den ersten Tagen stand ich Annas schlechte Nachricht tapfer durch, doch als mich Noah und Hannah bei einem nachmittäglichen Treffen fragten, ob wir mal wieder zur Hundehilfe fahren wollten, schluckte ich hart und spürte den Kloß, der mir Tränen in die Augen trieb. Noah, der rücklings auf seinem Teppich lag, den Laptop auf seinem Bauch und ein dickes Kissen im Nacken, merkte davon nichts, doch Hannah und ich saßen im Schneidersitz gleich nebeneinander und sie sah meine Tränen.

„Was ist los, Lukas?“, fragte sie bestürzt.

„Nichts“, log ich mit piepsiger Stimme.

„Nein, das ist nicht nichts“, erwiderte Hannah. Noah legte den Laptop beiseite und richtete sich auf.

„Was ist passiert?“, fragte er ernst und blickte mich aus seinen verblüffend blauen Augen heraus besorgt an. Ich seufzte schwer, dann erklärte ich ihnen die Situation und hätte am liebsten angefangen zu weinen. Wegen einem Hund, es war bescheuert.
 

„Ich finde es nicht bescheuert“, sagte Hannah, die ehrlich entsetzt war. „Joker sollte dir gehören, das ist einfach unfair.“

„Ja, der Chef hat doch gar keine Ahnung, wie wichtig Joker dir ist und, wie sehr der Hund an dir hängt“, pflichtete Noah bei. „Wir sollten wirklich noch mal hinfahren und versuchen sie zu überzeugen.“

„Sam wollte übrigens mal mitkommen“, warf Hannah ein. „Sie meinte, Hundewelpen wären mal eine nette Abwechslung zu Alkohol und Marihuana, die es bei Gaara und Kaito ständig gäbe. Außerdem würde Gaara in letzter Zeit weniger Leute bei sich einladen.“ Sie zwinkerte mir zu und sagte sarkastisch: „Ich frage mich ja warum.“

„Hä, warum denn?“, fragte Noah verdutzt.
 

Hannah und ich wechselten stumme Blicke. Ohne auch nur ein Wort zu wechseln, konnte ich in ihrem Gesichtsausdruck ablesen, dass sie von mir wollte, dass ich Noah von der Sache mit Gaara erzählte und ich gab ihr schweigend zu verstehen, dass ich mir deswegen nicht sicher war. Eigentlich wusste ich doch noch gar nicht, was zwischen Gaara und mir lief, ich wusste nur, dass ich verdammt schwer in ihn verliebt war.

„Lukas weiß das am Besten“, zuckte Hannah die Schultern und rührte in ihrem Tee. Sofort blickte Noah mich mit einem breiten Grinsen an.

„Zwischen dir und Gaara läuft was?“, fragte er. „So etwas verpasse ich also, wenn ich mich zwei Wochen in meinem Zimmer verstecke.“

Ich spürte wie ich knallrot wurde und murmelte etwas davon, dass man so pauschal noch nicht sagen konnte. Natürlich versuchte Noah mich auszuquetschen. Als er mich soweit hatte, dass ich ihm das vom Blasen erzählte, begann er zu kichern wie ein 14-Jähriges Mädchen, als wenn er das noch nie gemacht oder gemacht bekommen hätte. Zum Glück klingelte sein Handy, gerade als er mich ausfragte, wie es sich denn für mich angefühlt hätte und, ob Gaara gut darin wäre.
 

Um in Ruhe zu telefonieren, entschwand Noah in den Flur. Kaum, da er weg war, begann Hannah zu lachen.

„Er führt sich manchmal auf wie ein pubertierendes Mädchen“, kicherte sie. „Aber du auch. Ich glaube ich habe noch nie jemanden so rot gesehen.“

Ich glaubte auch nicht, dass mir jemals so heiß gewesen war. Es fühlte sich an als würde mein Gesicht glühen.
 

Nach wenigen Minuten kam Noah zurück und sagte uns, dass Kaito angerufen hatte.

„Er und Gaara haben Sam gesagt, sie soll keine Party planen, weil wir das gemeinsam übernehmen würden. Sie hatten die Idee, sie nehmen ihre Aussage auf dem Schulhof ernst. Das mit der kunterbunten Party“, erklärte Noah. „Wir sollen mal rum telefonieren, wer alles mitmachen würde. Je mehr Menschen Geld dazu werfen, desto größer kann die Party werden.“

„Fuck, da fällt mir ein, dass Simon auch bald Geburtstag hat“, stöhnte ich und schlug mir die Hände vors Gesicht. „Ich hatte schon zu Weihnachten kein Geschenk für ihn. Ich bin so schlecht darin für ihn Geschenke zu finden.“

„Wir helfen dir schon. Wann hat er denn Geburtstag?“, fragte Hannah.

„Zwei Tage vor Sam.“

„Oh, okay. Egal, zusammen finden wir etwas“, ermutigte sie mich. „Fährst du denn dann runter?“

„Nein, sein Geburtstag ist mitten in der Woche. Das würde meine Mutter niemals erlauben. Ich glaube, ich schreibe an dem Tag sogar eine Arbeit.“

„Dann hast du ja wenigstens noch etwas mehr Zeit“, stellte Noah fest, doch ich hatte bereits jetzt das Gefühl wieder kein Geschenk für ihn finden zu können. Oder zumindest kein Geschenk, das gut genug für ihn war.
 

An diesem Wochenende trafen wir uns mit einem Haufen Leute bei Gaara. Schnatternd und lachend versammelten wir uns im Wohnzimmer und ich wurde ein wenig nervös, weil Gaara es mal wieder zustande gebracht hatte, dass wir nebeneinander auf der Couch saßen. Nicht, dass es mich stören würde, aber ich spürte ständig die Blicke von Noah auf mir und sein breites Grinsen sprach mehr als tausend Worte. Deswegen wurde ich rot und, weil Gaara mich viel häufiger berührte als er es hätte tun müssen. Ich konnte nur froh sein, dass hier so ein heilloses Durcheinander herrschte, ansonsten hätte es wohl jeder gemerkt.
 

Als endlich alle versammelt waren, brachte Gaara Ruhe in das Chaos und richtete sich ein wenig auf. Kaito saß auf der anderen Seite neben ihm, sah blass und ziemlich fertig aus und rauchte eine Zigarette. Noah und Hannah saßen aneinander gequetscht auf dem Sessel, Florian, Marc und Kiaro hatten sich auf dem Boden breit gemacht und Tami saß auf der Couchlehne. Ihre kurzen, blonden Locken sahen heute wieder schön flauschig aus. Sie hatte ein kleines, spitzes Gesicht und wie immer waren ihre blauen Augen tief schwarz geschminkt. Um ihren pummeligen Körper zu kaschieren, trug sie dunkle Klamotten, doch meiner Meinung nach passte dieses Pummelige zu ihr. Ich könnte sie mir nicht anders vorstellen.
 

Natürlich war auch Schifti da. Aus Gründen, die etwas mit Alkohol zu tun hatten, hatte er sich die Haare komplett abrasiert, wodurch sein flaches Gesicht und die lange Nase deutlicher zum Vorschein kamen. Obgleich die Sonne noch nicht viel draußen gewesen war, war sein langer Körper braun gebrannt. Andere Freunde und Bekannte von Sam waren ebenfalls mit von der Party. Einige kannte ich aus der Schule, andere waren mir vollkommen fremd wie zum Beispiel ihre Cousine und ihr Cousin, die ungefähr in unserem Alter waren. Man sah ihnen die Verwandtschaft mit Sam an. Vor allem ihre Cousine hätte genauso gut ihre Schwester sein können.
 

Alle begannen Ideen durch die Gegend zu werfen. Hannah schwärmte von den Farbrausch Festivals in denen mit Farbe herum geworfen wurde und Gaara erinnerte sie daran, dass die Party in seinem Haus stattfinden würde und er schon nach seinem Geburtstag große Mühe gehabt hatte aufzuräumen. Schifti meinte, wir bräuchten unbedingt Schwarzlicht und Marc murrte sarkastisch, wir könnten ja noch versuchen eine Nebelmaschine zu organisieren, wenn wir schon dabei waren. Nach langem hin und her, sagte Florian wir sollten einfach mal ins Industriegebiet fahren und schauen, was wir überhaupt so bekommen und, wie viel es kostet. Dort gab es wohl einen Laden in dem man sich alles kaufen konnte.
 

Gesagt, getan. Irgendwie organisierten wir genug Autos und gegen Nachmittag kamen wir auf dem riesigen Parkplatz vor dem Laden an. Er sah aus wie eine Art Baumarkt, ein riesiger, grauer Klotz, den unzählige Menschen besuchten und wieder verließen. Es dauerte ewig bis wir einen Parkplatz gefunden hatten. Noah, Hannah und ich waren mit Hannahs Freund Dennis gefahren und parkten relativ Nahe am Geschäft. Wir waren die Ersten, die vor dem gewaltigen Eingang warteten.
 

Heute war ein besonders schöner Frühlingstag. Keine einzige Wolke zeigte sich am Himmel und die Sonne strahlte. Es war so warm, dass man im T-Shirt herum laufen konnte. Hannah trug sogar nur ein Top und zeigte den Schmuck, den sie gerne um den Hals trug und im Winter kaum auffiel. Eine Lederkette mit einer Silbermarke auf die das Geburtsdatum ihres Hundes gedruckt war und eine silberne Kette mit ein paar Motiven als Anhänger. Ihr Freund hatte ihr diese Kette geschenkt.
 

„Ist dir nicht warm?“, fragte ich nach einigem Warten an Noah gewandt, der in einem Kapuzenpullover neben mir stand.

„Doch“, murmelte er.

„Warum ziehst du den Pulli dann nicht aus?“

Er schaute mich komisch an, beinahe entschuldigend als hätte er etwas Verbotenes getan, dann antwortete er gedrückt: „Ich habe keine Lust den zu tragen.“

„Du kannst ihn in mein Auto legen“, schlug Dennis schulterzuckend vor. Er hielt Händchen mit Hannah und war um wenige Zentimeter kleiner als er. Ich fand immer noch, dass er ein wenig aussah wie eine Maus. Mit einem spitzen Gesicht und dünnem, braunen Haar auf dem Kopf. Hannah hatte einen seltsamen Geschmack... aber sie waren glücklich miteinander und das war das Wichtigste.
 

„Nein, geht schon“, winkte Noah ab. Dennis und ich wechselten verwirrte Blicke, sagten aber nichts mehr dazu.

Nach und nach tauchten auch die anderen Fahrgemeinschaften auf. Schließlich waren wir versammelt und betraten das Gebäude. Wir entschieden uns dazu uns in unterschiedliche Abteilung aufzuteilen, da es ansonsten Stunden dauern würde bis wir durch waren. Wie zu erwarten war, geriet ich in dieselbe Gruppe wie Gaara.
 

Gemeinsam mit Schifti, Marc und Kaito suchten wir die Abteilung mit dem Alkohol auf. Dabei kamen wir an Möbeln vorbei, an einer Lebensmittelabteilung, an einem Klamottengeschäft und einem Stand mit gebrannten Mandeln und Zuckerwatte, der einfach mitten im Flur vor den großen Fenstern stand, die die gesamte rechte Wandseite ausmachten. Vor dort aus hatte man einen guten Überblick über den Parkplatz und erfasste das Durcheinander noch mehr. Schließlich kamen wir in der richtigen Abteilung an. Es roch so stark nach Alkohol, dass wir alleine vom dem Duft betrunken sein müssten. Die Flaschen standen in Deckenhohen Regalen und Schifti ging theatralisch auf die Knie.
 

„Ich habe den Himmel gefunden“, breitete er die Arme aus. Marc tat es ihm gleich und begann zu beten. Ein paar Mädchen, die in der Nähe standen, mussten darüber lachen. Leider hörten das die beiden Jungen und fühlten sich in ihrem albernen Verhalten positiv bestätigt. Gaara kickte Marc in die Seite.

„Kommt schon, steht auf“, grinste er. „Wir suchen nach Alkohol, der bunt ist.“

„Ob wir da was finden“, murmelte Kaito.
 

Es dauerte nicht lange, da hatten wir uns gegenseitig verloren und ich fand mich mit Gaara bei den fünf Liter Flaschen Jack Daniels wieder. Stumm überlegte ich mir, wie viel Promille man wohl intus hatte, wenn man fünf Liter Whiskey alleine an einem Abend trank, da durchbrach Gaara meine Gedanken.

„Lukas, was da letztens zwischen uns passiert ist...“

Und ich wurde wieder rot.

„...wir reden immer davon, dass wir es wiederholen wollen, aber bisher hatte ich das Gefühl du würdest dich davor drücken. Für jedes Wochenende und jeden Tag hast du eine andere Ausrede, warum du nicht kannst. Berichtige mich, wenn ich falsch liege, aber... es ist seltsam, weil es dir doch offensichtlich gefallen hat, oder?“ Zweifelnd schaute er mich an. Etwas entsetzt reagierte ich: „Wie kommst du darauf, dass ich Ausreden suchen würde? Das sind keine Ausreden!“

„Ich habe nur Angst, dass ich deine Situation irgendwie ausgenutzt habe“, gab Gaara verlegen zu. „Mir hat es gefallen, aber danach habe ich mich schlecht gefühlt, weil es dir psychisch wirklich nicht gut ging. Du hast deinen Vater vermisst und hast nach Geborgenheit gesucht und ich habe das ausgenutzt...“

„Nein, rede doch nicht so!“ Und hör auf so perfekt zu sein. „Du hast gar nichts ausgenutzt. Ich wollte dir so nahe kommen, wirklich... und will es immer noch.“
 

Erstaunlicherweise wurde ich diesmal nicht rot. Einen Augenblick lang blickte mich Gaara bloß Augen blinzelnd an, dann spielte sich ein Lächeln auf seine Lippen. Aber nicht sein typisches, verwegenes Lächeln bei dem es schien als habe er düstere Hintergedanken, sondern ein ehrliches, erleichtertes Lächeln, das mich nicht wuschig machte, sondern für Wärme in meinem Herzen sorgte. Er war so nahe bei mir. Einen Schritt zu ihm und ich könnte ihn küssen. Noch einmal seine blassen Lippen auf meinen genießen, seine Zunge mit meiner tanzen lassen und seinen heißen Atem spüren, wenn wir zwischen den Küssen eine Pause machten. Ich verlor mich in den Gedanken und wäre beinahe diesen einen Schritt vor gegangen, da ertönte Lärm am Ende des Ganges.
 

Überrascht blickten Gaara und ich uns um und erkannten, wie Schifti einen Einkaufswagen schob, in dem Kaito saß. Die langen Beine über den Rand geklappt und die Arme in die Luft gestreckt. In beiden Händen hielt er jeweils eine Flasche grünen Alkohol.

„Wir haben Absinth gefunden!“, verkündete Kaito als sie neben uns zum Stehen kamen. „Aber der ist gar nicht mal so billig, außerdem gibt es den nur in Grün und, wenn wir nur Absinth kaufen, kotzt bei dem Geburtstag einfach jeder ab.“

„Das stimmt, der ist mehr als nur Hochprozentig“, bestätigte Schifti. „Darum dachten wir uns, wir schauen mal, dass wir klaren Alkohol kaufen wie zum Beispiel Wodka und den versuchen einzufärben. Meint ihr das klappt?“

„Wenn wir uns flüssige Lebensmittelfarbe kaufen, warum nicht?“, zuckte Gaara die Schultern.
 

Hinter uns tauchte Marc auf, der zwei Kartons Klopfer trug und meinte, da Sam so gerne Trinkspiele spielte, sollten wir dafür geeignetes Material kaufen.

Wir sammelten Unmengen an Alkohol und wurden nicht nur von der Kassiererin schief angeschaut. Irgendjemand murmelte hinter uns verächtlich „Die Jugend von heute...“ und noch mehr dumme Sprüche und Blicke verfolgten uns, während wir den Wagen über den Parkplatz schoben. Wir wollten erst einmal alle Flaschen verstauen bevor wir die Lebensmittelfarbe kaufen gingen.
 

Natürlich dauerte es Ewigkeiten bis wir die passende Abteilung fanden. Zuerst waren wir in einer Kunstabteilung, aus der wir Kaito nur schwer wieder heraus bekamen und danach kam der Russe auf die Idee, dass die Lebensmittelfarbe beim Backzeug sein könnte. Dort fanden wir sie schließlich auch. Kaito kaufte noch ein paar Backzutaten, um Sam einen bunten Geburtstagskuchen zu backen. Beim Bezahlen kam Marc dann die Idee, dass wir versuchen könnten den Shisha-Rauch einzufärben.
 

„Davon sieht man überall Bilder im Internet, vielleicht geht das ja“, überlegte er.

„Die sind doch alle von Photoshop“, widersprach Gaara. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass man den Rauch wirklich einfärben kann.“

„Was sagt unser Physikgenie?“, fragte Schifti und er musste mich anstupsen, damit ich verstand, dass er mich meinte.
 

„Ehm, ich – keine Ahnung -“ Ich überlegte kurz, dann antwortete ich: „Ich denke nicht, dass es möglich ist. Man muss es irgendwie hinbekommen, dass bei der Verbrennung oder Verdampfung ein farbiger Stoff freigesetzt wird, der bei den hohen Temperaturen selbst nicht verbrennt. Damit fallen im Grunde sämtliche unschädlichen Produkte weg und die einzigen Möglichkeiten, die mir da einfallen, sind giftig und schädlich. Vielleicht sollten wir uns lieber Lichter für die Shisha-Ecke besorgen. Dadurch könnten wir coole Effekte hinbekommen.“

„Schwarzlicht, sag ich doch!“, sagte Schifti und schlug auf das Kassenband, wobei die arme Kassiererin erschrocken zusammen zuckte.
 

Nachdem Einkauf kehrten wir vor den Eingang zurück und warteten auf den Rest der großen Truppe. Nach und nach trudelten sie ein, plauderten miteinander und zeigten, was sie gefunden hatten. Unmerklich zupfte Gaara an meinem Shirt und zog mich ein wenig von den Anderen weg.

„Wann hast du denn Zeit?“, fragte er leise. Ich überlegte kurz.

„Wir wäre es am Freitag? Am Samstag können Hannah, Noah und ich übrigens Sam mit zur Hundehilfe holen. Dann habt ihr genug Zeit zum Schmücken“, antwortete ich.

„Ja, gute Idee. Aber auf Freitag freue ich mich jetzt mehr.“

Festivalliebe/Sperma schmeckt bitter und scheiße

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Wir sind hier wegen Joker

Bereits bevor wir die Hundehilfe erreichten, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Im Grunde wusste ich schon, dass es mich nur traurig stimmen würde, Joker noch einmal zu sehen, mit ihm zu schmusen und zu spielen und zu wissen, dass er mir niemals gehören konnte. Hannah, Samantha und Noah waren dahingegen optimistischer eingestellt. Als ich Trübsal blasend aus dem Fenster schaute – Mal wieder fuhr uns Hannahs Freund Dennis – boxte Sam, die auf der Rückbank zwischen Noah und mir saß, gegen meine Schulter.
 

„Hör auf so traurig zu schauen, Bambi“, verlangte sie. „Heute ist mein 18. Geburtstag und niemand darf da traurig sein.“

„Ja, ich weiß.“ Ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. „Geht schon.“

„Ich kann dich aber verstehen“, sagte Noah mitleidig. „Wir werden jetzt aber alles versuchen, damit du Joker bekommst. Kann ja nicht angehen, dass Anna ihn einfach jemand anderem gibt.“

„Sie kann ja auch nichts dafür“, murmelte ich. So sehr ich die Bemühungen meiner Freunde schätzte, machte ich mir absolut keine Hoffnungen, dass ich den Hund bekommen würde. Das Urteil war gefallen und diese Großfamilie würde Joker kaufen, wenn sie dies nicht sogar schon getan hatten...
 

Meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich wenige Minuten nachdem wir bei der Hundehilfe ankamen. Diesmal blieb Dennis mit uns dort, denn Hannah hatte ihm versichert, dass es nicht allzu lange dauern würde und damit behielt sie wohl Recht: Joker war bereits verkauft.

„Tut mir wirklich Leid, Lukas“, sagte Anna mitleidig. „Ich habe der Familie von dir erzählt und die Mutter hat darauf bestanden, dass ich dir Telefonnummer und Adresse gebe, damit du Joker jederzeit besuchen kannst.“

Sie händigte mir ein Blatt Papier aus auf dem die genannten Informationen standen, doch ich konnte nicht einmal so tun als würde mich dies erfreuen. Es war freundlich gemeint, bereitete mir jedoch bloß Kummer. Sie wollten den Hund keinesfalls abgeben, das haben sie alleine durch diese Geste bewiesen.
 

„Sehr gut, wir haben eine Adresse.“ Samantha riss mir das Blatt aus der Hand und hielt es Dennis unter die Nase. „Denkst du, du findest das?“

„Ehm ja“, antwortete er zögerlich. „Aber haben wir dafür überhaupt Zeit?“

„Natürlich!“

„Ich will da nicht hin“, murmelte ich leise. „Können wir nicht einfach wieder zurückfahren?“

„Nein, Bambi, zuerst reden wir mit diesen Eltern persönlich. Vielleicht können wir einen guten Preis aushandeln und dann bekommst du Joker doch.“
 

Eine Widerrede war zwecklos. Auch Hannah und Noah fanden Samanthas Idee grandios und so blieb mir gar nichts anderes übrig als mitzufahren. Einige Male verfuhren wir uns, bis Noah das Navigationssystem in seinem Handy anschaltete, dann dauerte es nicht mehr allzu lange bis wir auf den Hof eines abgelegenen Einfamilienhauses fuhren, an dessen Fassaden sich Efeu entlang schlängelte. Der Vorgarten war nicht umzäunt und kaum als Vorgarten auszumachen, weil er wild und natürlich sprießte. In den kleinen Bäumen glänzten weiße Blüten im Sonnenlicht und eine massive Holztreppe führte mit wenigen Stufen auf eine Art schmale Terrasse, ehe der Eingang folgte.
 

Etwas nervös stand ich hinter Samantha, die die Klingel betätigte. Dennis blieb lieber bei seinem Wagen, Noah und Hannah standen hinter mir und schoben mich ein Stück nach vorne, damit ich der Erste sein konnte, den die Familie sah, wenn sie die Tür aufmachten. Gerade als ich schon hoffte, es wäre niemand Zuhause, wurde die Tür geöffnet und eine recht große Frau mit kastanienbraunem Haar blickte mir entgegen. Ihre Gesichtszüge waren die einer Frau, die viel mitmachen musste, doch zeigten ihre blauen Augen Herzlichkeit und Wärme. Das lange Haar hatte sie zu einem strengen Zopf geflochten. Sie trug einfache Kleidung und musterte uns einen nach dem Anderen verwirrt wie auch neugierig.
 

„Was kann ich für euch tun?“, fragte sie.

„Ich – ehm – also – ehm“, begann ich zu stottern und war froh als Samantha das Wort ergriff.

„Wir sind hier wegen Joker“, antwortete sie und auf den schmalen Lippen der Frau bildete sich ein Lächeln. Ihr Blick fiel wieder mir zu.

„Bist du Lukas Pannek, der den Hund zuerst haben wollte?“

„Ehm... ja...“

„Freut mich, dich kennen zu lernen.“ Sie streckte mir ihre Hand entgegen. „Ich heiße Katharina. Bitte, kommt rein. Joker spielt im Wohnzimmer mit meinem Jüngsten.“
 

An dieser Stelle war im Grunde bereits alles für mich vorbei gewesen. Schließlich konnte ich nicht einfach einem Kind den Hund wegnehmen. Wäre ich alleine gekommen, hätte ich vielleicht schon versucht wieder zu fahren, denn Joker zu sehen und zu wissen, dass er mir niemals gehören wird, wird mir nur Schmerzen bereiten. Doch ich war mit Samantha, Noah und Hannah und sie schoben mich hinter Katharina durch die Tür.
 

Sie lebten in einem schönen Haus mit dunklen Balken und großen Räumen. Im Wohnzimmer war in der Mitte viel Freiraum gelassen. Helle und dunkle Felle säumten den Boden vor einem Kamin, in dem ein kleines Feuer knisterte. Mittendrin saß ein Junge, der mindestens fünf Jahre jünger war als ich. Sein Gesicht war schmal und er hatte unverkennbar die Augen seiner Mutter geerbt. Nur seine Haare waren von einer dunklen, kräftigen Farbe und sahen total durcheinander aus. Mir blieb der Eindruck der Junge würde echt traurig schauen, während er versuchte Joker 'Sitz' beizubringen, was entgegen meiner Erwartungen sogar funktionierte.
 

Als wir eintraten, blickten die Beiden gleichzeitig auf und augenblicklich begann Joker zu fiepen, sprang auf und rannte mir entgegen. Ich ging in die Hocke. Schwanzwedelnd vergrub Joker seinen Kopf in meinem Bauch, wie er es immer tat, wenn wir uns trafen und ich rubbelte über seinen Rücken.

„Ich habe dich auch vermisst“, sagte ich leise. Joker sprang an mir hoch und leckte über mein Gesicht.
 

„Bist du hergekommen, weil du ihn mitnehmen willst?“, fragte der Junge.

„Felix!“, zischte seine Mutter ermahnend. „Du darfst zu Gästen nicht unhöflich sein!“

„Darüber wollten wir mit euch reden.“ Samantha trat vor. „Ich heiße Sam, das sind Noah und Hannah. Wir sind mitgekommen, weil Lukas zu schüchtern ist, um selbst zu sprechen.“

„Haha“, machte ich lahm.

„Stimmt doch“, zuckte Sam mit den Schultern. Sie drehte sich zu Felix, der noch immer auf dem Boden saß. Mit einem der Felle bedeckte er seine Beine. „Wir sind nicht hier, um dir deinen Hund wegzunehmen. Wir wollten nur fragen, ob es momentan noch für dich möglich wäre, Bindung zu einem anderen Hund aufzubauen.“

„Als wir zum ersten Mal mit Lukas bei der Hundehilfe waren, waren Joker und seine Geschwister erst wenige Tage alt“, begann nun Noah zu erzählen. Joker nahm den Ärmel meiner dünnen Jacke in sein Maul und begann daran zu ziehen. Kriechend folgte ich ihm, bis ich in unmittelbarer Nähe zu Felix saß, der mit seinen traurigen mich statt Noah anblickte, der weiter erzählte: „Alle Welpen sind direkt zu uns gekommen, nur Joker ist. Er hatte zu viel Angst. Nicht einmal Anna oder die anderen Pfleger konnten zu ihm, besonders nicht, weil die Mutter dann nach ihnen geschnappt hat. Bevor wir gegangen sind, hat sich Joker doch getraut und ist zu Lukas gegangen. Es hat Wochen gedauert bis er sich zu jemand anderen als Lukas getraut hat und bei niemandem freut sich der Hund so sehr wie bei ihm.“
 

„Das hat uns Anna auch erzählt“, sagte Katharina. „Darum haben wir auch Nummer und Adresse dagelassen... bitte, setzt euch doch auch. Ihr braucht nicht zu stehen. Kann ich euch etwas zum Trinken anbieten?“

Samantha setzte sich neben mich, die anderen Beiden ließen sich auf den Couchs nieder. Obwohl wir sagten, dass wir nichts zu Trinken brauchten, brachte Katharina uns Wasser und Tee aus der Küche, die sich gleich neben dem Wohnzimmer befand. Wir tranken etwas Wasser, Sam bereitete sich einen Tee zu und Katharina fuhr fort: „Uns hat man gesagt, Lukas hätte keine Möglichkeit Joker zu bekommen, selbst, wenn wir ihn ihm übergeben würden. Ehrlich gesagt, hatte ich dies auch zuerst vor gehabt. Wir hätten sicherlich auch einen anderen Hund für Felix gefunden. Anna versicherte uns jedoch, dass Lukas ihn auf keinen Fall bekommen könnte.“

„Ja, da hat Anna aber noch nicht mit mir gesprochen“, sagte Sam grantig.
 

„Und du sagst Gaara ist der Dickkopf“, murmelte ich ihr zu. Sie schenkte mir ein freches Grinsen. Lauter sagte ich: „Das ist auch richtig so. Ich wurde dazu gezwungen mit zu fahren.“

„Wolltest du ihn nicht besuchen?“, fragte Felix.

„Nein, das tut nur weh.“

Für einen Moment zuckte etwas wie ein Lächeln über Felix' Lippen. Nicht eines, das sagte, dass es ihm gefiel, dass es mir Schmerzen bereitete, sondern eines, das Verständnis zeigte. Wären die Rollen vertauscht, würde es Felix ebenso gehen wie mir.
 

„Ich bin der Jüngste“, sagte Felix mir. „Ich habe zwei ältere Schwestern und einen älteren Bruder und jeder von ihnen hat mit zehn Jahren ein Haustier bekommen. Chris hat einen Hund bekommen, der schon vier Jahre später gestorben ist. Er hat dann nur wenige Monate später einen Saarlooswolfhund gekauft bekommen. Und Mia hat eine weiße Katze und Ella einen Shiba Inu. Ich bin jetzt schon elf Jahre alt. Zuerst hat Mum gesagt, ich darf gar kein Haustier bekommen wegen dem Unfall. Jetzt habe ich Joker ein Jahr später bekommen. Ich mag ihn nicht mehr abgeben, ich habe schon ein Jahr gewartet bis ich ihn bekommen habe.“

„Vier Tiere im Haus sind aber anstrengend“, stellte ich fest, entschied mich dazu seine Erwähnungen des Unfalls zu ignorieren. Mein Gefühl war wie damals, als Gaara und Kaito von Fynns schwieriger Kindheit erzählten. Einerseits war ich neugierig, andererseits wollte ich es gar nicht so genau wissen. Damals hatte ich gefragt und es bereut, diesmal würde ich nicht fragen. Wenn Felix es mir von sich aus erzählte, konnte ich nichts dagegen unternehmen, doch heraufbeschwören musste ich es nicht unbedingt.
 

„Ja, das hat Mum auch gesagt.“ Felix schaute auf zu Katharina, die um zehn Jahre älter und um einiges erschöpfter schien.

„Und es ist teuer“, seufzte sie. „Seit mein Mann gestorben ist, muss ich wieder arbeiten gehen, habe weniger Zeit für meine Kinder oder die Tiere. Zum Glück hilft uns mein Bruder, sonst würde ich das alles vermutlich nicht schaffen. Und Chris natürlich... er hilft ebenfalls sehr und dafür bin ich dankbar. Ich möchte Felix Joker nicht wegnehmen, doch ich bin mir sicher, dass wir nicht immer Zeit finden werden auf ihn aufzupassen. Darum kommt uns deine Bindung zu Joker sehr gelegen. Wenn du immer mal wieder auf ihn aufpassen könntest, wäre das eine große Hilfe für uns. Wie viel Lohn du dafür nehmen möchtest, können wir noch mal besprechen.“
 

Dröhnende Stille schien sich auszubreiten. Ich blickte in die blauen, traurigen Augen von Felix, in denen ich dieselbe Verletzlichkeit erkennen konnte, die ich auch in mir trug. Dieselbe Trauer, dieselbe Wut über den Verlust seines Vaters, die auch ich spürte. Als ich merkte, dass ich zu lange nichts gesagt hatte, öffnete ich den Mund, klappte ihn wieder zu, versuchte nachzudenken, doch mein Kopf war wie leer gefegt. Joker leckte sanft über meine Hand und Felix begann ihm hinter den Ohren zu kraulen. Endlich fand ich Worte, doch es waren keine von denen ich erwartet hätte, dass sie über meine Lippen kommen.
 

„Ich habe meinen Vater auch verloren.“

Felix, Noah, Hannah und Samantha blickten mich überrascht an.

„Erst letztes Jahr... ich helfe euch gerne, aber ich will dafür bitte kein Geld haben.“ Nun war es Katharina, die mich mitleidig anblickte. Sie sprach mir mein Beileid aus. Felix erzählte, dass sein Vater bereits seit zwei Jahren tot war. Bei einem Autounfall gestorben, bei dem Felix selbst im Auto gesessen hatte. Ich gab Katharina meine Handynummer und gestand ihr, dass ich noch keinen Führerschein hatte, daraufhin sagte sie, dass sich schon eine geeignete Lösung finden würde. Sie bot uns noch selbst gemachte Kekse an. Wir erzählten, dass wir alle Vier momentan unser Abitur machten, Samantha ließ nebenbei anmerken, dass sie heute ihr achtzehnter Geburtstag war und ihre Freunde ihr nichts geschenkt hatten.
 

„Uns Geschenk kommt noch!“, schnappte Noah beleidigt. „Du denkst doch nicht ernsthaft wir hätten es vergessen, oder?“

„Ich wette mit euch, Gaara und Kaito suchen eben in diesem Moment verzweifelt nach irgendeinem Scheiß, weil ihr es doch vergessen haben“, sagte Sam, jedoch mit einem leichten Grinsen, sodass sich erkennen ließ, dass sie es nicht ganz so ernst meinte. „Wundern würde es mich nicht.“

„Mich auch nicht“, meinte Hannah prompt. „Zumindest von Gaara und Kaito nicht.“

„Aber wir haben es nicht vergessen!“, klagte Noah. „Und du wirst dich wundern, Sam.“

„Ich bin gespannt.“

„Leute...“ Ich warf einen Blick auf die Uhr in meinem Handy. „Vielleicht sollten wir langsam wieder fahren... bevor Dennis ohne uns fährt.“

„Sitzt etwa noch jemand im Auto?“, fragte Katharina entsetzt. „Wieso sagt ihr das denn nicht? Er kann doch auch rein kommen. Wir haben noch Tee und sehr viel Kekse.“

„Nein, nein, ist schon gut“, winkte Hannah lachend ab. „Mein Freund ist in solchen Dingen irgendwie komisch. Der kann nicht so gut mit Fremden.“
 

Es dauerte noch einige Minuten bis wir tatsächlich aufstanden und gehen wollten. Katharina umarmte jeden von uns zum Abschied, dann zupfte Felix an ihrer Hose und bat sie darum ihm zu helfen.

„Es ist unhöflich Gäste im Sitzen zu verabschieden.“

„Du wirst aber immer schwerer. Irgendwann ist Chris der Einzige von uns, der dich heben kann.“ Sie griff ihrem Sohn unter die Arme und zog ihn hoch. Das Fell rutschte von seinen Beinen und mein Herz blieb für einen Moment stehen als ich sah, dass sie leblos waren. Obwohl er eine weite Jogginghose trug, konnte ich erkennen wie dünn sie waren. Er hatte keine Muskeln mehr an den Beinen und sie baumelten an seinem Körper wie etwas, was dort nicht hingehörte. Seine Mutter hielt ihn fest und er schüttelte jedem von uns die Hand.
 

Mir fiel zu spät auf wie ich ihn anstarrte. Ich wandte den Blick ab und erkannte, dass Samantha, Hannah und Noah ebenso starrten wie ich. Entsetzt, geschockt und mitleidig. Sicherlich musste Felix diese Blicke Leid sein. Ich hatte mich bereits gefragt, ob ihm nicht auch etwas bei diesem Autounfall geschehen war... Katharina setzte ihren Sohn wieder ab und brachte uns noch zur Tür. Auch Joker folgte. Gerade als wir das Haus verließen, hielt neben Dennis, der mit seiner Musik Nachbarschaftsbeschallung abhielt, ein schwarzer Geländewagen.
 

Getrockneter Schlamm zierte Reifen und Seiten des Wagens. Kaum, da der Wagen stand, sprang die Beifahrertür auf und ein junges Mädchen hüpfte heraus. Oder war es ein Junge? Nein, ein Mädchen. Oder ein Junge mit langen Haaren...? Von der Fahrerseite stieg ein junger Mann aus mit dunklen, gekräuselten Haaren und einem Drei-Tage-Bart. Soweit ich es als Kerl beurteilen konnte... nun, ich war schwul, also konnte ich es durchaus beurteilen – Jedenfalls sah er ziemlich gut aus. Seine Schultern waren breit, sein Körper gut gebaut. Er öffnete die Tür zur Rückbank und zwei Hunde sprangen hintereinander heraus. Ein cremefarbener Shiba Inu und ein grau-weißer Wolf. Vermutlich war es der Saarlooswolfhund. Demnach waren die Beiden Chris und Ella.
 

Ella kam mit ihrem Shiba Inu zu uns herüber gerannt. Sie sah sehr jungenhaft aus, was besonders durch ihre Kleidung so wirkte. Doch ihre Haare waren lange, dunkle Locken und sie hatte die blauen Augen ihrer Mutter. Ganz im Gegensatz zu Chris, der dunkelbraune Augen besaß. Sie hatten wenig von der Wärme und Herzlichkeit seiner Mutter, wenig vom der Trauer und dem Gebrochenen von Felix und auch nichts von der wilden Neugierde, die Ella besaß. Seine Augen waren die eines Mannes, stark und ernst, doch als er seine Mutter begrüßte, zeigte er ein ehrliches Lächeln.
 

„Wer seid ihr?“, fragte Ella, stemmte die Hände in ihre Hüften.

„Neue Freunde“, antwortete ihre Mutter. „Wir hatten bereits über Lukas gesprochen, er kam Joker besuchen.“

„Kommst du auch in Zukunft wieder?“, fragte das Mädchen.

„Ja.“ Ich nickte knapp.

„Danke.“ Chris ergriff meine Hand und schüttelte sie. „Du bist uns dadurch eine große Hilfe.“

„Ich mache das doch gerne“, sagte ich verlegen.
 

Hannah zeigte sich fasziniert vom Saarlooswolfhund, der stolze siebzig Zentimeter groß war und von Chris dazu erzogen wurde nur auf ihn und sonst auf niemanden zu hören. Katharina erzählte uns, dass der Hund ununterbrochen jaulte und jammerte, wenn Chris fort war und jeden an knurrte, der auch nur ein krummes Wort zu Chris sagte. Er hing auch sehr an dem Rest der Familie, besonders gegenüber Felix hatte der Hund einen großen Beschützerinstinkt entwickelt.

„Im Grunde wie Chris selbst“, schloss Katharina ihre Erklärung.

Auch Ellas Shiba Inu suchte sich seine Aufmerksamkeit. Die Hundedame war nicht so gut erzogen. Als Ella uns zeigen wollte, wie toll ihr Hund Tot spielen konnte, sprang sie das Mädchen einfach um.
 

Schließlich stiegen wir zu Dennis ins Auto und fuhren los. Einige Zeit lang schwiegen wir zum Ton von lauter Techno Musik, dann sagte Sam: „Bambi. Wenn du das nächste Mal zu ihnen fährst, komme ich mit.“

„Warum? Ich meine – klar, gerne, aber warum?“

Sie blickte mich an, als hätte ich sie etwas absolut Dämliches gefragt. „Hast du Chris gesehen?“

„Jaah.“

„Dann weißt du, warum. Den Kerl brauche ich.“

„Wir sollten ihn warnen“, meinte Noah scherzhaft und bekam dafür von Sam einen Klaps gegen den Hinterkopf.

„Bevor ihr euch bei mir einmischt, bekomme ich erst mein Geschenk“, grinste sie.

„Dahin sind wir unterwegs“, sagte Dennis. „Du darfst gespannt sein.“

Million Voices

Ich ging dicht hinter Sam und hielt ihr die Augen zu, wodurch wir nur im Gänsemarsch voran kamen. Meine Vorfreude darauf ihre Reaktion zu sehen, war so groß, dass ich über beide Gesichtshälften am Grinsen war. Abgesehen davon, war ich gespannt darauf, wie Gaaras Haus nun aussah. Doch zuerst ging es in den Hinterhof. Dort standen alle in einem großen Halbkreis, alle mit einem stummen Grinsen auf den Lippen und Plastiktüten mit unterschiedlichem Farbpulver in den Händen. Auch Noah, Hannah und Dennis hatten sich jeweils eine Tüte geschnappt und warteten darauf, dass ich mit Sam in der Mitte des Kreises zum Stehen kam.
 

„Da wären wir“, sagte ich. „Viel Spaß.“

Kaum, da ich meine Hände von ihren Augen genommen hatte, schleuderten alle die Tüten um sich und wir wurden in einen bunten Rausch aus Farbe gehüllt. Ich konnte spüren wie das Pulver in meine Lungen eintrat, während ich lachte und Sam erschrocken aufschrie und die Hände über dem Kopf zusammen klatschte. Einige Sekunden lang sah ich nichts außer einem grauen Mischmasch, dann legte sich der Staub ein wenig und nach und nach tauchten die Schemen der Anderen auf. Sie bewarfen sich gegenseitig mit den Resten in den Tüten. Lautes Lachen erfüllte die Luft. Sam war von oben bis unten mit Farbe überzogen. Ihre Haare und ihr Gesicht waren grün und blau, ihr rechtes Bein hatte rote Farbe abbekommen, ihr Oberkörper war eine Mischung aus Gelb, Rot und Blau. Vermutlich sah ich nicht besser aus. Ich warf einen Blick auf meine Hände und Arme und erkannte, dass ich eine gute Ladung Rot abbekommen hatte.
 

„Was ist denn hier los?!“, rief Sam durch den Lärm. Gaara war der Erste, der sie umarmte und ihr gratulierte.

„Das ist deine kunterbunte Party, Schatzi“, rief Schifti, umarmte sie als Zweites. Nacheinander traten alle vor. Hannah und Tami umarmten Sam gleichzeitig und schwankten lachend hin und her. Noah gab ihr einen Kuss auf die Wange, Marc hob sie ein Stück vom Boden hoch, viele andere, die ich nicht kannte, umarmten und küssten sie. Ich schaute lachend zu.
 

Marc und Schifti bewaffneten sich mit den letzten Tüten, die sie noch heute Morgen gekauft hatten, verteilten sie an ein paar Leute und machten aus, dass sie gleichzeitig die Farben herum schleudern wollten. Auch Sam bekam zwei Tüten, wobei sie die Erste sofort über Schiftis Kopf ausschüttete.

„Lukas...“ Gaara tippte mir gegen die Schulter. Marc begann von fünf runter zu zählen. Noch immer mit einem Grinsen wandte ich mich Gaara zu, der sich vorbeugte und mich genau in dem Moment küsste, in dem um uns herum erneut die Farben geworfen wurden. Ich spürte wie ich von allen Seiten eingedeckt wurde, schloss die Augen und genoss seine blassen Lippen auf meinen.
 

Ab diesem Zeitpunkt konnte die Party nur noch gut werden und das wurde sie. Selbst Kaito, der in letzter Zeit erschöpft und kaputt ausgesehen hatte, schien heute vollkommen glücklich. Wie auch bei Gaaras Geburtstagsparty, hatten sie bei Samanthas eine Shisha – Lounge in einem Nebenzimmer eingerichtet, in der die Jungs kleine Lichtkugeln an die Wände montiert hatten. Sie warfen bunte Fäden Licht in den Raum. Wenn dieser mit Rauch der Bong, Joints, Zigaretten und Shishas erfüllt war, konnte man die Strahlen genau erkennen.
 

An der Küchentheke wurden wieder Cocktails gemixt, außerdem gab es bunten Alkohol. Grüner Waldmeisterlikör, rote Erdbeerlimes, blauer Curacao, goldener Tequila und die selbst eingefärbten Schnäpse. Ebenso gab es Jägermeister und Jack Daniels, die Beide auf einer guten Party nicht fehlen durften. Kiaro und Florian hatten noch kleine Dosen Körperfarben besorgt. Nun waren die Mädels damit beschäftigt herum zu laufen und jeden anzumalen. Die feste Freundin irgendeines guten Freundes von Samantha malte mir Herzchen auf die Arme, Tami malte mir Schnurrhaare und eine Katzennase und Schifti schrieb mit 'Penis' auf die Stirn. Gaara bekam das Wort 'Vagina' ab.
 

„Dann erkennt jeder, dass ihr zusammen gehört“, meinte Schifti schulterzuckend. „Ich hätte vielleicht lieber bei Gaara Penis und bei Lukas Anus schreiben sollen, dann hätte auch jeder verstanden, was gemeint ist.“

Für den Kommentar bekam er von mir gegen die Schulter geboxt, doch Gaara lachte bloß und schenkte mit sein verwegenes Grinsen, das mich nur noch röter werden ließ.
 

Abgesehen von den Körperfarben, gab es auch Knicklichter, die wir uns zahlreich um die Arme hängten. Besonders Sam deckte sich mit den leuchtenden Stäben ein. Irgendwoher hatte Marc ein kleines Schwarzlicht besorgt mit dem Sam in der Gegend herum lief und jeden an leuchtete. Die Musik wurde laut aufgedreht, wir sangen und tanzten. Anfangs tanzte ich viel mit Samantha, Hannah und Noah, irgendwann gesellte sich Gaara dazu und wir tanzten eng an eng. Im Laufe des Abends landeten wir in der Shisha – Lounge, wo wir uns mit Florian und Kiaro unterhielten, bis die Beiden kurz rausgehen wollten und uns alleine ließen. Mittlerweile hatte ich schon gut getrunken. Gaara drehte uns einen Joint, den wir uns teilten und ich erzählte ihm von Felix und seiner Familie und dem Deal, den wir mit Joker ausgemacht hatten.
 

Als der Joint nur noch ein Stummel war, grinste mich Gaara schief an.

„Darf ich dir einen Shot geben? Ist auch kein Jägermeister.“

Ich wurde ein wenig rot, dann antwortete ich: „Ne, ich habe genug geraucht. Außerdem stört der Stummel doch zwischen den Lippen nur, wenn wir uns küssen.“

„Da hast du Recht...“ Gaara drückte den Joint im Aschenbecher aus, beugte sich vor und begann mich zu küssen. Ernst sanft, dann mit Zunge und wir blieben lange dort sitzen und machten nur miteinander herum. Gaara ließ seine rechte Hand über meinen Oberschenkel wandern und ein paar Mal fuhr sein Daumen über die Stelle, an der sich unter meiner Jeans mein Geschlechtsteil befand. Er musste spüren, dass ich schon wieder hart wurde.
 

Nach gefühlten Ewigkeiten, die aber noch ewig hätten weiter gehen können, hörten wir auf und blieben, die Stirne aneinander gelehnt, sitzen.

„Lass uns miteinander schlafen“, flüsterte Gaara. „Ich verspreche dir, ich werde ganz vorsichtig sein. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn du als passiver Part nicht sanft behandelt wirst.“

„Ich weiß nicht, ob ich dazu bereit bin.“ Irgendwie war der Gedanke mir peinlich von Gaara dort hinten rein... andererseits erregte es mich auf eine besonders starke Art und Weise und es reizte mich, es auszuprobieren. Aber nicht heute. Heute war Samanthas Geburtstag und es war zu früh sich von der Party zu entziehen. Auch dies sagte ich Gaara und er gab widerwillig zu, dass ich damit Recht hatte.

„Aber ein Andermal“, versprach ich. „Ich will auf jeden Fall mit dir schlafen.“

„Ich habe mich bisher noch nie zum Sex verabredet“, lächelte Gaara. „Du bist wirklich was Besonders, Lukas Pannek.“
 

Sams kunterbunte Party war ein Highlight meines Oberstufenlebens. Niemand musste sich übergeben, niemand betrank sich bis in die Bewusstlosigkeit, niemand ging vor den Anderen Heim. Selbst diejenigen, die nichts tranken, weil sie fahren mussten oder einfach nichts trinken wollten, blieben bis zum Schluss und dieser Schluss war zehn Uhr morgens. Alle halfen gemeinsam beim Aufräumen und Sam bedankte sich bei jedem Einzelnen für diese unvergessliche Party. Dennis bot an das Altglas noch wegzufahren, damit Gaara es nicht wieder zu Fuß tragen musste – Schließlich hatte er keinen Führerschein. Hannah und Noah kamen mit und fuhren direkt danach nach Hause. Danach verabschiedeten sich alle, bis nur noch Gaara, Kaito, Marc und ich übrig blieben. Samantha ging mit ihrer Cousine und deren fester Freund nach Hause.
 

„Das war mit Abstand die beste Party aller Zeiten“, seufzte Marc und klang beinahe sehnsüchtig. „So etwas könnte nur noch ein Festival toppen... apropos, bald ist Southside.“

„Southside ist erst in den Sommerferien“, unterbrach Kaito, der in der Küche stand und eine Pizza in den Ofen schob. Danach wischte er noch einmal über die Küchentheke.

„Sag ich ja, bald“, meinte Marc schulterzuckend. Seine Arme waren bis zu den Ellenbogen tätowiert und sein brauner Haarschopf wurde nahezu immer von einer Stoffmütze verdeckt. „Kommt ihr mit?“

„Aber natürlich“, sagte Gaara. „Und Lukas kommt bestimmt auch mit.“

„Ich kenn das Festival irgendwoher...“ Ich überlegte ein wenig, während Marc prustete, dass man dieses Festival selbstverständlich kennen müsste. Endlich kam ich drauf: Genesis, Simon und Lynn hatten Karten dafür.

„Meine Freunde fahren da hin!“, stellte ich fest. „Ich meine, meine Freunde aus Nordrhein-Westfalen... okay, dann komme ich auf jeden Fall mit. Egal, was für Musik läuft.“

„Und egal wie viel es kostet?“, fragte Gaara grinsend. „Hast du denn so viel Geld, Süßer? Wenn du dir jetzt ein Ticket kaufst, kostet es immer noch mindestens achtzig Euro.“

„Oh...“ So viel Geld hatte ich nicht und meine Mutter wollte ich mit finanziellen Dingen nicht belasten. Sie hatte mir in letzter Zeit schon häufiger Geld vorgestreckt, weil ich beim Feier so viel ausgab und Noah schuldete ich auch schon Geld. Als Simon gemerkt hatte, dass er nicht genug Geld für seine Freizeit hatte, hatte er angefangen in einem Altenheim zu arbeiten. Vielleicht sollte ich mir auch irgendwo einen Job suchen...
 

„Ich kann's dir vorstrecken“, bot Gaara an. „Oder wir schenken dir das Ticket zum Geburtstag... wann hast du Geburtstag?“

„18. Juli.“

„Passt perfekt“, nickte Marc. „Dann sind wir uns ja einig. Southside wird der absolute Hammer. Nur das wird die Party heute toppen!“
 

Scheinbar war es schwierig sich für Sex zu verabreden, zumindest, wenn man ihn mit mir haben wollte. Nachts träumte ich davon. Ein paar Mal wachte ich mit einem Steifen auf und mir blieb nichts anderen übrig als mir selbst einen runter zu holen, um nicht hart in die Schule gehen zu müssen. Ich war so bereit entjungfert zu werden, doch, jedes Mal, wenn wir kurz davor waren es zu tun, kam irgendetwas dazwischen oder ich machte doch einen Rückzieher. Man sah Gaara die Verzweiflung an und Kaito strafte mich eines morgens in Deutsch mit Todesstarren. Als es mir zu unangenehm wurde, bat ich ihn, damit aufzuhören.
 

„Lass dich endlich von Gaara vögeln, ich halte sein Geheule nicht mehr aus“, zischte Kaito. „Du verwandelst meinen besten Freund in ein 14-Jährigen, verknalltes Mädchen.“

„Tut mir Leid, ich brauche Zeit“, flüsterte ich. Noah unterdrückte neben mir ein Lachen.

„Wenn du einmal Sex hattest, wirst du dich dafür hassen, es nicht früher getan zu haben“, versicherte er mir. „Glaub mir, du wirst es nicht bereuen.“

„Das ist aber nicht irgendetwas“, sagte ich zögerlich.

„Natürlich ist es nicht irgendetwas, aber du willst es doch, oder?“, fragte Kaito leise. „Und Gaara will es auch und ich will es auch, ganz unbedingt! Und danach seid ihr am besten sofort ein Paar, damit er endlich mal wieder über etwas anderes spricht. Ich weiß schon nicht mehr, über was wir uns eigentlich unterhalten haben, bevor wir dich kennen gelernt haben. Ganz ehrlich, schlafe mit ihm!“

„Mache ich ja noch“, grummelte ich. Wir wurden von unserer Lehrerin ermahnt leise zu sein.
 

In Physik bereiteten wir uns auf unsere morgige Kursarbeit vor. In Ethik wurden Referate verteilt, danach folgte eine Freistunde, in der ich mit Schulkameraden auf dem Schulhof saß und mein Geschichtsreferat noch einmal durchging, ehe ich es in der sechsten Stunde hielt. Und danach folgte das wöchentliche Dilemma: Drei Freistunden ehe in den letzten Beiden Sportunterricht anstand. Ich ging in die Bücherei und bekam beim Anblick der Tür ein mulmiges Gefühl. Genau dort hatte ich meinen letzten richtigen Nervenzusammenbruch gehabt. Ich wandte den Blick ab, ging an einen der Computer, die für jeden Schüler frei zugänglich waren und arbeitete mein Referate für Ethik aus. Dann lernte ich für Physik... Nun ja, ich lernte nicht wirklich dafür, da ich bereits alles konnte.
 

Einige Zeit lang unterhielt ich mich mit Florian und Kiaro, die wie immer in der Bücherei waren. Nach und nach kamen mehr Schüler hinzu. Auch ein paar aus dem anderen Gebäudeblock, Schüler, mit denen ich früher in einer Stufe gewesen war und, die mich ausgelacht oder nichts getan haben, wenn mich die Idioten gemobbt hatten. Als ich es nicht mehr ertragen konnte, in diese Gesichter zu schauen, die mich nun anlächelten und mit mir sprachen, als wäre nie etwas gewesen, ging ich runter zu den Kunsträumen und gesellte mich zu Kaito.
 

Er hatte Kunst Leistungskurs und eine absolute entspannte Lehrerin. Solange alle ihre Arbeit taten, durften auch Schüler, die nicht ihren Kurs belegte, jederzeit in den Klassenraum kommen. Ihre Schüler durften sich normal unterhalten, Musik hören und auch mal herumalbern. Hauptsache, sie schafften ihr Projekt bis zum Abgabetermin. Heute war nicht Kaitos Tag. Seit ich das letzte Mal bei ihm im Kunstunterricht gewesen war, hatte sich an seinem großen Gemälde nichts geändert. Er versuchte nicht am Hyperrealismus, in Form von einem Tropfen, der ins Wasser fiel. Auch Sam war bei ihm, saß entspannt auf einem Stuhl und hatte die Beine auf dem Tisch abgelegt, gegen den Kaitos Gemälde gelehnt war. Er selbst saß im Schneidersitz auf dem Boden, starrte die Leinwand an und tippte mit dem Pinsel gegen seinen Schuh.
 

„Alles klar?“, fragte ich und setzte mich neben ihn.

„Naja“, murmelte er. „Du schläfst nicht mit Gaara.“

„Jetzt hör doch mal auf damit!“

„Okay... nein, das Problem ist, ich habe keine Bindung zu diesem Bild. Ich wollte einfach mal etwas Neues ausprobieren und jetzt fühle ich nichts, wenn ich dieses Gemälde anschaue. Es ist vollkommen nichts aussagend. Ich dachte einfach nur, wenn ich es richtig hin bekommen, wird es cool aussehen.“

„Das wird es auch“, sagte Samantha. Sie war damit beschäftigt eifrig SMS zu tippen. Vor einigen Tagen hatte ich das erste Mal gemeinsam mit ihr auf Joker aufgepasst. Chris, der älteste Sohn der Familie, in der Joker nun lebte, hatte den Hund zu mir gefahren und Sam hatte es tatsächlich geschafft ihm seine Handynummer zu entlocken. Nun verwandelte sie sich in Noah 2.0 und schrieb unablässig mit Chris. Bald wollten sich die Beiden sogar treffen.
 

„Aber es wird nichts über mich aussagen“, murmelte Kaito. Seine Haare waren so kurz wie es nur möglich war und seine Narbe stach weiß hervor. „Ich habe das hier angefangen nachdem ich dachte mein Entzug hätte funktioniert. Da fühlte sich alles so einfach und locker an, aber jetzt gehen mir hundert Sachen durch den Kopf und nichts davon ist so einfach wie ein Tropfen, der ins Wasser fällt. Ich würde viel lieber.. ich habe ganz andere Ideen, die ausdrücken, wie es mir momentan geht.“

„Was meinst du mit, als du gedacht hattest, der Entzug wäre geglückt?“, fragte ich bestürzt. Ich hatte es befürchtet. Eigentlich war es nur die logische Schlussfolgerung gewesen, doch wahrhaben wollte ich es kaum. Kaito blickte mich mit zusammen gepressten Lippen an.

„Bin ich nun nicht mehr die Einzige, die sich sicher ist, er soll einen richtigen Entzug machen?“, fragte Sam und blickte von ihrem Handy auf. „Bambi, du musst über uns noch einiges lernen, scheint mir. Erstens: Ich habe immer Recht. Zweitens: Jedes Mal, wenn Kaito rückfällig wird, rasiert er sich die Haare ab. Das war der Deal. Damit er es vor seinen Freunden nicht geheim halten kann. Und bisher hat er sich daran gehalten.“

„Aber, du hast doch... ich dachte...“, stotterte ich entsetzt und plötzlich hatte Kaitos rasierter Kopf eine vollkommen neue Bedeutung. „Warum hat es denn nicht funktioniert?“

„Zuerst war es furchtbar“, murmelte Kaito. „Ich dachte ich kriege Depressionen oder so etwas. Dann wurde ich krank, keine Ahnung, ob das was mit dem Entzug zu tun hatte... zumindest hatte ich in der Zeit tatsächlich keine Lust zu koksen. Dann ging es wieder bergauf. Ich hatte zwischendurch das Verlangen, konnte es aber unterdrücken. Nur irgendwann...“ Er seufzte schwer. „Ich besitze einfach keine Selbstbeherrschung.“

„Darum sollte er einen richtigen Entzug machen.“

„Ich sollte einen über die Sommerferien machen“, überlegte Kaito leise und fügte noch leiser hinzu: „Aber dann verpasse ich Southside.“

„Das ist natürlich wichtiger als deine psychische und physische Gesundheit“, grummelte Samantha. „Bambi, was sagst du dazu?“
 

Betreten blickte ich von ihr zu Kaito, wieder zu Sam und zurück zu Kaito und sagte dann: „Ich habe keine Ahnung.“

„Du bist uns wirklich eine Hilfe“, seufzte Sam sarkastisch. „Aber ist okay, eigentlich hast du Recht. Ich weiß auch nicht mehr, was ich mit ihm tun soll.“

„Rede nicht von mir als wäre ich nicht da. Du würdest mir mega helfen, wenn du einfach mal mit Gaara vögeln würdest“, sagte Kaito mit einem Augenzwinkern. „Und hör auf so ein Gesicht zu ziehen. Du brauchst dir keine Sorgen, um mich zu machen. Ich mache das mit den Drogen jetzt schon seit ein paar Jahren mit und bisher hat es mich nicht kaputt gemacht.“

Spezialkapitel - Kaitos Sicht

Silencio stand in weißen, kleinen Buchstaben in der rechten, oberen Ecke der Kaffeemaschine, aber sie war alles andere als leise. Ich war schon kurz davor den Stecker zu ziehen, weil die ratternden Geräusche meine Kopfschmerzen auf Hochtouren brachten. Grummelnd rieb ich mir die Schläfen und sagte mir heute Abend sollte ich mal weniger oder direkt gar nichts trinken. Nachdem Gaara mit Lukas verschwunden war, drängte Marc alle zu einem dämlichen Trinkspiel, das weniger aus Spielen und mehr aus Trinken bestanden hatte. Gestern hatte ich noch nicht das Gefühl gehabt komplett betrunken gewesen zu sein, doch der Kater heute behauptete das Gegenteil. Als Silencio endlich Ruhe gab, nahm ich mir meinen Kaffee und trank ihn schwarz. Gaara schlief noch. Ich war immer vor ihm wach und schlief nie länger als höchstens sechs Stunden.
 

Um mir die Zeit zu vertreiben, schaltete ich den Fernseher an, nahm mir Block und Bleistift und begann zu zeichnen. Anfangs nichts Bestimmtes, nur Entwürfe für Graffiti-Kunst, etwas, was ich schon immer mal ausprobieren wollte, bisher jedoch noch nie zustande gekommen war. Was schon verwunderlich war, wenn man bedachte, wie viel Mist Gaara und ich in unserer frühen Jugend verbockt hatten. Als mein Kaffee fast leer war, begann ich jedoch das Portrait einer unbestimmten Person. Eines Mädchens mit rot unterlaufenen Augen und eingefallenen Wangen. Ihre Haare, dünn und zerzaust, ihr Lippen rissig. Ich schattierte die Zeichnung und wurde besonders im Bereich der Augen detailreich, denn die zeichnete ich stets am liebsten. Ich mochte es die kleinen, weißen Punkte in die Iriden zu malen und wie ich mit wenigen Strichen eine Wirkung von Leben hervorrufen konnte. Bei diesem Mädchen achtete ich jedoch darauf, dass ihre Augen leblos wirkten. Als das Portrait fertig war, kritzelte ich in dicken, schwarzen Buchstaben darunter 'DROGENHURE'.
 

Einen Moment lang schaute ich das Bild nur an, dann erinnerte es mich an meine Mutter und ich wurde sauer. Ich riss das Blatt aus dem Block, knüllte es zusammen und warf es schwungvoll hinter die Küchentheke. Gerade rechtzeitig als sich im Flur etwas regte und Gaara verschlafen auftauchte. Seine grün-braunen Augen waren zu Schlitzen zusammen gekniffen, seine braunen Haare zerzaust und er trug eines meiner Shirts, die ich bei ihm mit vielen anderen Klamotten bunkerte, da sein Haus mein zweites Zuhause war. Mir gehörte sogar ein Teil seines Kleiderschrankes.

„Ja, mach doch einfach noch mehr Müll“, grummelte Gaara, ging in die Küche und hob das Blatt auf. Mir fiel an der Art wie er sprach und sich bewegte auf, dass er schlecht gelaunt war. Gestern, nachdem Lukas und Simon gegangen waren, hatte Gaara recht enttäuscht gewirkt, jedoch nicht darüber reden wollen. Wenn es um seine Gefühle ging, konnte ich genauso gut mit Silencio reden und würde nicht weniger erfahren.
 

Gaara entfaltete und inspizierte meine Zeichnung.

„Sie sieht gut aus“, sagte er.

„Sie soll nicht gut aussehen.“

„Ich meine die Zeichnung, nicht das Mädchen. Du willst das nicht behalten?“

„Erinnert mich an meine Mutter.“

Damit war alles gesagt. Widerwillig warf Gaara das Blatt weg. Schon früher hatte ich meine Zeichnung direkt nach ihrer Fertigstellung wegwerfen wollen und Gaara hatte sie behalten. Mittlerweile wusste er auch nicht mehr wohin damit und doch fiel es ihm jedes Mal schwer sie nicht aufzubewahren. Dabei waren sie nicht einmal soo gut, es gefiel mir einfach nur zu zeichnen. Der Prozess war mir nicht wichtig, nicht das Ergebnis.
 

„Soll ich uns mal etwas zum Essen machen?“, fragte ich und erhob mich von der Couch. Zur Antwort murmelte Gaara etwas unverständliches. „War das ein Ja oder ein Nein?“

„Mir egal“, zuckte er mit den Schultern und ließ den Blick über das Chaos schweifen, dass seine Gäste ihm letzte Nacht hinterlassen hatten. Aus einer Schachtel, die auf der Küchentheke lag, nahm er sich eine Zigarette, zündete sie sich an und setzte sich auf die Couch, während ich in die Küche ging, um uns ein wenig Rührei zu machen.
 

„Was machen wir heute Abend?“, fragte ich. Zur Antwort murmelte Gaara etwas unverständliches. „Bleiben wir bei dir oder gehen wir zu jemand anderem?“

Gaara zuckte die Schultern.

„Egal, was wir machen, wir sollten gleich erst mal aufräumen“, stellte ich fest, auch wenn ich absolut keine Lust darauf hatte. Diesmal reagierte Gaara gar nicht. Am liebsten würde ich sein Desinteresse einfach ignorieren, denn wenn ich nur ein Wort in diese Richtung verlieren würde, würde es in den nächsten paar Tagen wieder nur um dieses eine Thema gehen, dass uns nun schon seit Monaten begleitete: Lukas Pannek.
 

Ich mochte ihn. Er war eine angenehme Gesellschaft, ruhig, intelligent, vorsichtig, nicht einmal unter Drogen- oder Alkoholeinfluss drehte er auf, sorgte für Chaos oder wurde laut. Auf seine Weise hatte er Humor, auch wenn es meist ein recht intelligenter Humor war, machte nicht häufig Scherze, lachte aber gerne. Genauso gerne schien er seine Laune zu wechseln und seit er in der Schule einen Nervenzusammenbruch hatte, bereitete er mir auch Sorgen. Ich hatte versucht so viel Verständnis wie möglich für den Tod seines Vaters aufzubringen, doch konnte ich mich mit diesem Problem kaum identifizieren. Ich hatte nie einen Vater und, wenn meine Mutter sterben würde, wusste ich nicht einmal, ob ich lange trauern würde. Natürlich wäre ich traurig, schließlich war sie meine Mutter, aber dann wiederum... wenn ich an die Misshandlungen in meiner Kindheit dachte...
 

Zurück zu Lukas. Wie gesagt, mochte ich ihn, nur eine Sache störte mich gewaltig: Wie verdammt lange er brauchte, um sich einzugestehen, dass er schwul war. Jeder Vollidiot konnte sehen, dass er Gaara nicht nur ein wenig mochte und jeder noch dümmere Vollidiot konnte sehen, dass Gaara Hals über Kopf in ihn verliebt war. Trotzdem schienen die Beiden Ewigkeiten zu brauchen, um zueinander zu finden. Ich hatte schon gehofft mit gestern hätte sich die Sache endlich geklärt, doch scheinbar war etwas schief gelaufen und die Frage, was, schwebte in der Luft. Auch wenn Gaara wie ein nasser Sack auf der Couch hing und kaum Laute von sich gab, wusste ich, sobald ich Lukas ansprechen würde, kämen die Worte wie ein Wasserfall aus seinem Mund. Und darauf hatte ich kein Bock. Ich wollte mir nicht mehr jeden Tag dieses Gejammer anhören!
 

Als das Rührei fertig war und ich es auf den Couchtisch stellte, hörten wir, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Da Gaaras Eltern wieder sonst wo im Ausland unterwegs waren, konnte es sich bei dem Besucher nur um eine Person handeln: Marc. Gaara hatte ihm und mir einen Haustürschlüssel machen lassen, da wir seine häufigsten Besucher waren und halb bei ihm lebten. Schwungvoll trat der junge Mann ein, zog seine Schuhe aus und warf sich auf die andere Seite neben Gaara auf die Couch, der missgelaunt Rührei mampfte.
 

„Hi“, grüßte Marc, ich grüßte zurück, Gaara grummelte.

„Ehm...“ Marc schaute sich ein wenig um. Wie immer trug er eine Wollmütze über seinem braunen Haarschopf, ein dichter Bart zierte seinen schlanken Kiefer und seine Arme waren bis zu den Ellenbogen tätowiert. Etwas, worauf ich neidisch war. Wenn es nicht so viel kosten würde, würde ich mir auch ein Tattoo stechen lassen. „Ich scheine noch zu früh gekommen zu sein. Hier ist ja noch voll das Chaos.“

„Kannst uns ja gleich beim Aufräumen helfen“, schlug ich vor.

„Am Arsch.“ Marc griff nach der nächstbesten Colaflasche, in der noch ein wenig etwas drin war und trank davon. „Was geht eigentlich heute Abend? Ich hab gehört, The Eternal Story soll im Zenit auftreten. Ich glaube Fynn wollte hin, Samantha, Connor, Flo, Jan, Fabian... Larissa glaube ich auch... und Blondie überlegt es sich, obwohl die eh nicht mitkommen wird. Ist einfach so gar nicht ihre Musik. Was sagt ihr?“

„Wäre geil mal wieder was mit der alten Clique zu machen, aber es ist auch nicht meine Musik“, antwortete ich. „Außerdem fehlt Noah.“

„Soweit ich weiß, macht er was mit Hannah, Simon und Lukas.“
 

Und das war er. Genau da war er. Der dramatische Fehler, den niemand hätte tun sollen, den Marc gerade getan hatte und das Ende meiner Nerven bedeutete. Er hatte den Namen Lukas erwähnt.

„Ich komme nicht mit!“, entfuhr es Gaara laut, stellte den Teller mit dem Rührei hart auf der Tischplatte ab und verschränkte die Arme vor der Brust, ehe er sich gegen die Couchlehne fallen ließ. Marc und ich wechselten stumme Blicke. Ich gab ihm schweigend zu verstehen, dass ich ihn für die Erwähnung des Namens, der nicht genannt werden durfte, hasste und er gab mir zu verstehen, dass er sich jeden Augenblick wieder verpissen würde, um dieses Leid nicht ertragen zu müssen.
 

„Ich hab alles verkackt! Ich hätte ihn gestern beinahe gehabt. Beinahe hätte ich ihm einen geblasen und dann ist es nur noch ein kurzer Schritt zum Sex und ein etwas größerer Schritt zu einer Beziehung, oder? Oder? Aber ich versaue alles, weil ich dachte, ich müsste mich darüber lustig machen, dass er noch Jungfrau ist. Bin ich denn geistesbehindert?! Es ist nicht einmal auch nur annähernd etwas schlimm oder lustig daran mit 17 Jahren noch Jungfrau zu sein. Darüber sollte er froh sein! Dass er wartet und nicht mit dem erstbesten Kerl ins Bett hüpft, der ihm erzählt der Sex geht auch ohne Vorbereitung, das würde überhaupt nicht weh tun – Hör auf zu lachen, Marc!“

„Tut mir Leid.“ Marc versuchte sein breites Grinsen zu unterdrücken. „Ich finde die Geschichte immer noch witzig.“

„Daran war überhaupt nichts witzig. Hast du ne Ahnung, wie höllisch weh das tut?!“

„Alter, du warst 15. Sogar ich wusste mit 15, dass Schwulensex nicht ohne Vorbereitung geht und ich bin nicht einmal schwul.“

„Ist doch auch egal, oder?“, fragte Gaara aufgebracht und ließ den Kopf verzweifelt hängen. „Ich habe alles kaputt gemacht...“
 

„Was hat er denn gesagt bevor er gegangen ist?“, fragte ich und versuchte zu verbergen wie genervt ich war.

„Dass er Zeit braucht“, murmelte Gaara.

„Er braucht wirklich lange Zeit“, stellte Marc fest. „Aber was soll's, das wird schon noch. Bringt auch nichts darüber zu reden, oder? Wollt ihr dann heute Abend mit auf das Konzert oder lieber nicht?“

„Ne, danke“, sagte Gaara, stand auf und ging in Richtung seines Zimmers. „Ich werde mich jetzt in mein Bett legen und in Selbstmitleid versinken.“
 

Und damit war er verschwunden. Einen Moment lang wechselten Marc und ich einen Blick und er verstand, was ich von ihm wollte, bevor ich es aussprechen konnte.

„Vergiss es, ich helfe nicht aufräumen!“ Marc legte die Füße auf dem Couchtisch hoch, machte den Fernseher lauter und ignorierte mein Fluchen. Somit räumte ich alleine auf. Irgendwann bekam Marc scheinbar doch so etwas wie ein Gewissen, spülte die Shisha und staubsaugte sogar das Wohnzimmer. Als wir fertig waren, bat er mich jedoch darum Gaara nichts davon zu erzählen.
 

„Sonst denkt der noch, ich würde das öfter machen... können wir nach dem Konzert hier vorbeischauen?“

„Gaara sieht nicht aus, als wäre er in der Stimmung dazu, aber kommt einfach.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ablenkung ist immer das Richtige. Vielleicht kann ich Noah dazu überreden, dass sie auch vorbei kommen, dann kann Gaara es noch mal mit Lukas versuchen.“

„Wenn die es in nächster Zeit nicht auf die Reihe bekommen, zwinge ich Lukas dazu mit Gaara zusammen zu kommen. Und, wenn es dann nicht klappt, wandere ich aus. Gaara wird immer unerträglicher.“
 

Wir verabschiedeten uns und ich ging nach Gaara schauen. Es war unmöglich ihn dazu zu motivieren, irgendetwas zu machen, nicht einmal zocken wollte er. Selbst als ich ihm drohte seinen Spielstand in Black Ops II zu löschen, bewegte er sich keinen Zentimeter. Ich versuchte ihn dazu zu bringen mal wieder etwas auf seiner Gitarre zu spielen und zu singen. Er tat dies meistens alleine oder nur in Gegenwart von mir und Marc. Selten, wenn Samantha und Noah dabei waren und niemals in Anwesenheit von anderen Leuten. So selbstbewusst Gaara auch war, er schien keine Ahnung zu haben wie talentiert er war. Schließlich gab ich es komplett auf und sagte ihm, dass ich Heim fahren werde.
 

„Ich besorge uns noch ein wenig Marihuana, dann können wir den Abend gechillt angehen, okay?“

„Hm.“ Wow. Das war wohl mehr Reaktion als ich erwarten konnte. Schnell zog ich mir Schuhe und eine graue Kapuzenjacke an, darüber eine Jeansweste, auf deren Rückseite ein weißer Stoff genäht war. Darauf stand in schwarzen Buchstaben Life sucks and then you die. Geschwind ging ich zur Straßenbahn, rauchte dabei eine Zigarette und überlegte grummelnd wie ich Gaara endlich aus seinem Liebeskummer heraus bekommen könnte. Er hatte sich noch nie verliebt. Eigentlich hatte er auch immer behauptet Liebe sei etwas für Kinder und, dass es sie nicht wirklich geben würde. Eine Aussage, die bei ihm nicht seltsam war, wenn man bedachte, welche Art von „Liebe“ seine Eltern auslebten. Manchmal glaubte ich, die einzige Nacht, in der die Beiden gevögelt hatten, war die, in der sie Gaara gezeugt haben. Selbst während der Schwangerschaft war Gaaras Mutter ständig am Arbeiten und auf Reisen. Gerade mal die letzten beiden Monate hatte sie Zuhause und in einigermaßen Ruhe verbracht. Bereits wenige Wochen nach der Geburt begann sie wieder zu Arbeiten, nahm den Mutterschaftsurlaub nicht einmal wahr. Ihr war die Karriere immer wichtiger gewesen als Gaara. Eigentlich war ich froh, dass er sich in Lukas verliebt hatte. Das änderte Gaaras Einstellung, was Liebe und Beziehungen angeht, gewaltig, doch die Situation momentan war unerträglich.
 

Als ich bei meiner Station ausstieg, zog ich mir die Kapuze über den Kopf, fuhr dabei vorsichtig mit den Fingern über meine Narbe. Meistens, wenn ich hier in dieser Wohngegend war, fühlte ich mich unwohl, doch manchmal glaubte ich, es sei genau der Ort an den ich gehörte. Ich hatte Angst davor so zu enden wie meine Mutter, fühlte mich jedoch manchmal wie Zuhause, wenn ich durch die heruntergekommenen Straßen ging. Das Ehepaar, das bei uns direkt um die Ecke wohnte, stritt mal wieder so laut, dass man sie auf der Straße hören konnte. Ein Junge, nicht älter als zehn Jahre, lief an mir vorbei und sein linkes Auge wurde von einem großen, blauen Fleck geziert. Ein paar 14 – 15 – Jährige standen in einem engen Kreis am Straßenrand und tuschelten wild, dabei reichten sie sich gegenseitig etwas herum und es handelte sich dabei mit Sicherheit um Drogen.
 

Ich ging zu unserem Haus, schloss die Tür auf und betrachtete die bekritzelten und beschmierten Wände, während ich die Treppen hochging. Einige dieser Zeichnungen und Sprüche hatte ich selbst dort hingeschrieben. Mit neun Jahren hatte ich direkt neben unsere Tür mit einem Edding die Worte „Annabell Petrov ist eine Schlampe“ geschrieben und behauptet, dass ich das nicht gewesen wäre. Natürlich hatte meine Mutter meine Schrift erkannt und mir dafür ein paar kräftige Schläge verpasst. Da der Edding nicht mehr abging, musste ich an der Stelle mit einem Messer die Tapete abschaben. Als ich fertig war, hatte ich meiner Mutter gesagt, dass sie wirklich eine Schlampe war.
 

Ich schloss unsere Tür auf und trat in die stickige Wohnung. Mal wieder hatte meine Mutter es nicht für nötig gehalten, die Fenster zu öffnen. Der Zigarettenrauch stand in der Luft und aus der Küche drang ein Geruch von Essen, das zu lange herum stand. Heute würde ich aber nicht aufräumen. Lieber blieb ich solange bei Gaara bis sie es selbst machte, auch wenn es dann wieder hieß, ich würde nichts für sie tun. Ich hoffte, dass sie nicht da war, ich einfach mein Geld holen und zu meinem Ticker gehen könnte, wurde jedoch enttäuscht. Mum war im Wohnzimmer, hatte eine Zigarette in der Hand und trug Kleidung, die sie meiner Meinung nach nicht tragen sollte. Einen kurzen Rock, ein enges Top und eine Kunstfelljacke im Leopardenmuster. Wie immer waren ihre Haare zerzaust, ihr Gesicht blass und ihre Wangen eingefallen. Sie sah aus als hätte sie mehrere Tage nicht geschlafen. Auf dem Couchtisch lag eines meiner Bilder: Das Portrait von Aljona.
 

„Das gehört mir!“, entfuhr es mir auf meiner Muttersprache und ich riss das Bild vom Tisch herunter. „Wieso gehst du ständig an meine Sachen?“

„Ich wollte einer Freundin deine Bilder zeigen“, antwortete Mum lahm, und ebenfalls auf russisch. Wir unterhielten uns immer in unserer Muttersprache. Ihre Augen waren nicht größer als Schlitze und ihre Lippen rissig. Sicherlich hatte sie sich wieder irgendetwas eingeworfen. In letzter Zeit hatte ich Sorge sie würde nun auch noch Crystal Meth nehmen. Zumindest wirkte ihr Äußeres so. „Wieso zeichnest du nicht mal mich?“

'Habe ich heute morgen', hätte ich beinahe gesagt und dachte dabei an das Bild der Drogenhure. Stattdessen presste ich jedoch die Lippen aufeinander, antwortete dann: „Weil ich dich nicht zeichnen will, ganz einfach.“

„Und warum nicht? Kannst du nicht wenigstens das für mich machen?“

„Das sagst du so, als wäre ich dir irgendetwas schuldig“, stellte ich fest.

„Das bist du mir auch, ich bin deine Mutter.“

„Du bist eine beschissene Mutter.“
 

Darauf folgte ausnahmsweise mal keine Widerrede, was meine Vermutung, dass sie etwas genommen hatte, bestätigte. Ich brachte mein Bild wieder zurück in mein Zimmer, holte das Geld, das ich versteckte, da Mum es mir ansonsten klaute und wollte schnell wieder gehen.

„Kannst du mir ein Glas Wasser bringen?“, fragte Mum, gerade als ich an der Wohnungstür ankam. Widerwillig ging ich zurück in die Küche und rümpfte beim Anblick der versauten Küchentheke die Nase. In einem der ungewaschenen Töpfe bildete sich sogar schon Schimmel. Es war unmöglich ein Glas zu finden, das noch nicht benutzt wurde, deswegen spülte ich schnell eins und schüttete ihr etwas Wasser ein. Scheinbar aus der letzten Plastikflasche. Wenn ich nicht einkaufen ging, machte das hier niemand. Momentan hatte sie wieder den totalen Abrutscher.
 

„Kannst du auch einen Aschenbecher mitholen?“, fragte sie aus dem Wohnzimmer. Ich blickte mich um und konnte nur einen Aschenbecher finden, der bis zum Rand voll war. In unserer Küchentheke war eine Tür eingelassen, hinter der sich unser Mülleimer befand, doch als ich diese Tür öffnete, stutzte ich. Darin stand ein neuer Mülleimer – Nein – einer alter Mülleimer. Einen, den ich bereits vor Jahren weggeworfen hatte, weil ich ihn hasste. In mir keimte Wut auf und etwas, das sich anfühlte wie damals, als ich noch ein Kleinkind war und Angst vor meiner Mutter hatte. Schnell schüttete ich den Aschenbecher im Mülleimer aus, schloss die Tür und brachte Becher und Glas meiner Mutter.
 

„Was ist mit dem anderen Mülleimer passiert?“, fragte ich dumpf.

„Kaputt gegangen... ich habe einen neuen gekauft... ich glaube den hatten wir schon einmal“, zuckte Mum die Schulter und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. „Bleibst du heute Nacht hier?“

„Nein.“

„Gut, ich werde nämlich Besuch haben.“

„Du ziehst dich an wie eine Hure. Kommt jemand, der dich für Geld vögelt?“
 

Mit einem Mal war meine Mum auf den Beinen, schneller, als ich es erwartet hätte. Ehe ich reagieren konnte, hatte sie mir mit der flachen Hand eine Backpfeife verpasst. Scharf zischte ein Brennen durch die getroffene Stelle und einen Augenblick lang fühlte ich mich wieder wie das ängstliche Kleinkind. Für einen Moment war sie nicht einen halben Kopf kleiner als ich, sondern wieder doppelt so groß und mehr als doppelt so stark. Dann kehrte ich in das Hier und Jetzt zurück und spürte, wie es in meinen Fingern zuckte, den Schlag zurück zu geben. Das tat es immer, doch natürlich ging ich diesem Verlangen nicht nach. Im Gegenteil, ich schämte mich jedes Mal dafür. Schließlich war sie Mutter. Wie krank musste man sein, seine eigene Mutter schlagen zu wollen?
 

„So redest du nicht mit mir!“, keuchte Mum und schwankte dabei bedrohlich. „Ich bin deine Mutter! So redest du nicht mit mir! Ich bekomme Besuch von einer Freundin, wir werden hier feiern.“

„Bringt sie Crystal Meth oder Heroin mit?“, fragte ich. Zuerst dachte ich, sie würde wieder zuschlagen, dann jedoch zischte sie: „Scher dich weg. Verpiss dich sofort aus meiner Wohnung.“

Und als ich nicht sofort reagierte, packte sie den Aschenbecher. Eilig flüchtete ich zur Tür, Mum warf den Aschenbecher trotzdem und er zerschellte über meinem Kopf am Türrahmen. Sie schrie mir hinterher, dass ich ein Arschloch wäre, dann war ich aus der Wohnung verschwunden und knallte die Tür hinter mir zu.
 

Wild auf russisch fluchend verließ ich das Haus, zog erneut die Kapuze über meinen Kopf und ging die Straße runter. Diese blöde Hure erinnerte sich nicht einmal daran, was damals mit dem Mülleimer gewesen war. Manchmal glaubte ich, sie sah unsere gemeinsame Vergangenheit anders als ich. Vermutlich stimmte dies auch. Vermutlich hatten Eltern eine andere Einbildung von ihrer Erziehung und dem, was ihren Kindern wirklich in Erinnerung geblieben ist. Für sie war diese Zeit nicht anders als ihr Leben davor oder danach, wahrscheinlich nur anstrengender, da sie ein kleines Kind groß ziehen musste. Doch für ein jeden Menschen war die Kindheit die Zeit, die wirklich prägend war und, wenn Eltern dies nicht erkannten, konnten sie ihre Kinder leicht falsch erziehen. Meine Mutter hatte es nicht erkannt. Sie war drogenabhängig und hat herum gehurt, ihr erstes Kind abgegeben und ihr Zweites – leider Gottes – behalten, im Glauben das Richtige zu tun. Doch mit dem Feiern und den Drogen und den Männern hatte sie nie aufgehört. Ich war einfach nur das nervige Anhängsel. Ihr Leben war ein ständiges Ab. An Tagen, die besonders schlimm waren – was häufig vorkam – ließ sie ihre Wut und Frustration gerne an mir aus.
 

Ich konnte nicht älter als vier Jahre gewesen sein als sie mich eines Abends vollkommen wütend gepackt und in diesen Mülleimer gesetzt hatte. 'Das ist es was du verdienst! Dort gehörst du hin! Und du wirst nicht rausgehen bis ich etwas anderes sage!' Am nächsten Morgen hatte ich aus Angst immer noch im Mülleimer gesessen. Beinahe noch schlimmer war es als ich sechs Jahre alt gewesen war und Mum diesen behinderten Macker hatte, der halb bei uns eingezogen war. Er pflegte es mich zu schlagen oder mich dazu zu zwingen seine Drogen an seine Käufer zu bringen. Eines Tages hatte er mich Grün und Blau geprügelt, ich versteckte mich in der Badewanne, weil ich wusste, wohin. Als meine Mutter endlich nach Hause kam, streckte ich die Arme nach ihr aus, heulte und wollte bloß von ihr im Arm gehalten und getröstet werden. Ich wollte, dass mich endlich sieht. Dass sie erkennt, dass sie ein Kind hat, um das sie sich kümmern muss, doch sie war auf Droge. Damals wusste ich das noch nicht, doch heute kann ich mir ganz sicher sein. Sie redete etwas davon, wie kompliziert alles sei und warf ihren Zigarettenstummel zu mir in die Badewanne. Und das war es, was ich ihr wert war, ein abgebrannter Zigarettenstummel.
 

Missgelaunt kam ich bei meinem Ticker an. Es gab in der Nähe eine heruntergekommene Bar in einem alten Keller, die nicht sonderlich gut lief und fragwürdige Getränke hatte. Angeblich schüttete der Barkeeper K.O.- Tropfen in die Getränke der Mädchen. Mein Ticker ging hier ein und aus und selbstverständlich fand ich ihn flirtend an der Bar. Im Keller war es dunkel, nur ein grünliches Licht schimmerte hinter der Theke, beleuchtete die schmutzigen Flaschen und Gläser. Es waren nur eine handvoll Gäste da und der Rauch stand stickig im Raum. Ich lehnte mich an die Bar und zückte mein Geld.
 

„Reicht für vier Gramm“, sagte ich ihm. „Aber Gutes, nicht die Scheiße vom letzten Mal.“

Ich sollte mir einen neuen Ticker zulegen, das sagte mir Gaara schon seit Ewigkeiten, doch momentan war es schwierig irgendwo Gras auszutreiben. Alle Ticker, die neben dem Drogen verkaufen ein stabiles Leben führten, mit Job, Freundin und einer Zukunft, konnten momentan nichts bieten. Da musste man sich schon tiefer auf die schiefe Bahn trauen, um an Zeug heran zu kommen. Domme war einer dieser wenigen Kontakte, die noch einigermaßen vertrauenswürdig waren. Leider hatte er ein Fabel für Crystal entwickelt und überlegte sich nur noch mit dieser Droge zu handeln. Zum Glück gab es sie dafür jedoch viel zu selten.
 

„Was denn vier Gramm?“, fragte Domme und rückte sich die schwarze Stoffmütze zurecht. Er sah älter aus als es war, sein Gesicht wirkte auf eine gewisse Weise faltig, besonders in diesem grünlichen Licht. Sein Mund war breit und er setzte nicht allzu viel auf Hygiene. Das Mädchen, das auf der anderen Seite neben ihm saß, sah noch relativ normal aus...

„Marihuana“, antwortete ich. „Mach schnell, ich habe kein Bock lange hier bleiben zu müssen.“

Domme begann in seiner Jackentasche zu kramen und zog eine kleine Plastiktüte mit weißem Pulver hervor – Koks. Mein Körper wurde von einem mulmigen Gefühl durchfahren, mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich starrte die Tüte an, während Domme in seinen Taschen nach dem Gras suchte, spürte die Sehnsucht danach mir das Pulver durch die Nase zu ziehen, zu spüren wie die Glückshormone durch meinen Körper pumpen. Zu merken, wie all die Erinnerungen und die Gefühle, verbunden mit meiner Kindheit und meiner „Familie“ belanglos wurden und sich nichts schöneres als das Leben vorstellen zu können. Ich wollte unbedingt – nein, ich brauchte es wieder.
 

„Hier, Digga.“ Domme legte mir ein Tütchen Marihuana auf den Tresen. Ich riss mich vom Anblick des Kokses los, ehe Domme es wieder verstauen konnte. „Sind drei Gramm und auch nicht so gutes Zeug, besser als vom letzten Mal. Aber, hey, eventuell kann ich nächste Woche ein bisschen Amnesia besorgen. Ein Kumpel von mir macht sich ab nach Amsterdam und wird nächsten Donnerstag wieder zurück sein, er hat vor was mit zu schmuggeln. Wenn der Preis gut ist, bekommt ihr was ab.“

„Amnesia haut rein“, war alles, was ich dazu sagen konnte. Ich legte ihm Geld auf den Tisch und packte das Marihuana in meine Hosentasche. Unwillkürlich zählte ich die verbliebenen Scheine nach. Vielleicht reichte es für ein Gramm Koks, allerhöchstens, wenn Domme ein Auge zudrückte.
 

Nein, nein. Ich durfte nicht. Es hatte doch alles geklappt. Wieso wurde das Verlangen in letzter Zeit wieder stärker? Es wäre beinahe fort gewesen! Samantha würde mir eine Standpauke halten, die ich noch in zehn Jahren in Erinnerung hätte und Gaara würde mich mit diesem enttäuschten, klagenden Blick anschauen, der schlimmer war als alles, was er sagen konnte. Außerdem erinnerte ich mich daran, was meine Mutter einmal gesagt hatte, als sie mich mit Koks erwischte: „Du bist eben doch mein Sohn. Genau wie ich.“

Ich wollte keinesfalls genau wie sie sein, wollte meinen Körper nicht zerstören, ständig krank werden, Dinge vergessen, meine Karriere schleifen lassen, wollte nicht gleichgültig werden und Menschen, die ich lieben sollte, wie Dreck behandeln, während ich mich an Leute klammerte, die ich meiden sollte.
 

„Willst du noch was?“, fragte Domme. „Hab bisschen Crystal.“

„Vergiss es!“ Wenigstens darin war ich mir sicher. Crystal würde ich niemals probieren. „Ich bin fertig. Bis dann.“

Und damit verschwand ich und machte mich auf den Weg zu Gaara. Jetzt war mir ebenfalls danach im Selbstmitleid zu versinken...

Tag der guten Nachrichten

Mein Geburtstag fiel auf den Tag, an dem das Dreitägige Festival startete, weshalb ich mein Ticket bereits Wochen vorher bekam. So viele kauften sich eines, dass ich das zählen aufgab und mich zufrieden schätzte zu wissen, dass die mir wichtigsten Personen mit kamen. Simon, Lynn, Genesis, Lynns ältere Schwester und ihr Freund, Kaito, Samantha, Noah, Hannah, Schifti und andere aus unserer Schule, Marc und natürlich Gaara. Über ihn freute ich mich beinahe am meisten, nur über Simon freute ich mich mehr, doch das war kein Wunder. Schließlich war er mein bester Freund und nicht einmal der Junge, mit dem ich endlich mein erstes Mal hatte, konnte dies toppen.
 

Nach etlichen Anläufen und Rückziehern, lud mich Noah eines Abends zu sich nach Hause ein. Wir rauchten Shisha, schauten Filme und irgendwann erzählte er mir davon, dass Kaito eine ganze Woche bei ihm gewohnt hatte, weil er es weder bei seiner Mutter noch bei Gaara mehr aushielt. Sein bester Freund raubte ihm die Nerven, weil er unentwegt darüber jammerte, dass ich nicht mit ihm schlafen wollte. Und dann begann mir Noah genau zu beschreiben, wie Schwulen-Sex funktionierte, wie seine ersten Erfahrungen waren und, wie er nun damit umging.
 

„Ich komme langsam wieder dorthin, dass ich mir vorstellen kann mit einem anderen Mann als Fynn zu schlafen. Ehrlich gesagt, habe ich ihn anfangs trotz allem vermisst. Wenn er sich entschuldigt hätte, wäre ich sogar wieder mit ihm zusammen gekommen“, erzählte mir Noah kleinlaut. Mein Blick verdüsterte sich daraufhin.

„Zum Glück kam es nicht dazu“, murmelte ich.

„Ja, denke ich mir mittlerweile auch“, gab Noah zu. „Fakt ist, dass ich gerne wieder Sex hätte und, wenn du nicht bald mit Gaara schläfst, dann mach ich es.“

Dafür boxte ich ihm scherzhaft gegen den Oberarm. Er lachte, doch ich erinnerte mich daran, wie ich ihm einmal in der Straßenbahn an den Oberarm gefasst und er das Gesicht vor Schmerzen verzogen hatte. Draußen wurde es immer wärmer, der Frühling war schon lange angebrochen, doch Noah bevorzugte es Pullover zu tragen. Häufig dünne, die er bis zum Ellenbogen aufwickelte, doch aus irgendeinem Grund wollte er keine T-Shirts mehr tragen.
 

„Was versteckst du eigentlich?“, fragte ich und Noahs Lächeln schmolz dahin. Langsam fasste er sich mit der rechten Hand an den linken Oberarm und tastete mit den Fingern darüber. „Ich glaube, seit Fynn mit dir Schluss gemacht, versteckst du etwas.“

„Das habe ich schon vorher“, sagte Noah leise. „Seit Fynn aber erst am Oberarm...“ Seine ungewöhnlich blauen Augen blickten mich traurig an und ihm fiel es schwer Worte zu finden. Noch bevor er anfing zu reden, glaubte ich, er müsste gleich anfangen zu weinen. „Du weißt ja, ich habe die anderen erst in der siebten Klasse kennen gelernt. Davor war ich auf einer anderen Schule gewesen. Und mal ganz abgesehen davon, dass meine Eltern sich in der Zeit haben scheiden lassen, haben mich meine Mitschüler sind besonders gut behandelt.“

„Du wurdest gemobbt?“, fragte ich entsetzt. Ich dachte an das erste Halbjahr der elften Klasse zurück, in dem ich heftige Mobbingattacken hatte erleiden müssen und bekam augenblicklich Mitleid. Und Noah war noch viel jünger gewesen, da hielt man um einiges weniger aus.
 

„Ja... weil ich schon damals etwas... schwul... wirkte und, weil ich im Schulchor gesungen habe und, weil ich aussah wie ein Mädchen mit kurzen Haaren. Alle haben immer gesagt, man könnte mich und Naomi nicht voneinander unterscheiden, weil wir Beide aussähen wie kleine Mädchen. Naja, es war dumm, aber für mich war das damals ziemlich schlimm gewesen. Als dann auch noch raus kam, dass meine Mutter meinen Vater betrogen hat, brach bei mir alles zusammen... ich weiß, mittlerweile glaube ich, dass ich übertreibe. Vermutlich bin ich einfach so schwach, dass ich Depressionen bekommen habe. Wie viele andere Kinder mussten ähnliches erleben? Mobbing und die Scheidung der Eltern sind die Dinge, die viele Kinder durchmachen müssen und ich habe so ein Drama daraus gemacht.“ Er lachte bitter. „Ich war in der Zeit so wütend gewesen. In der Schule habe ich nie ein Wort gegen meine Mitschüler sagen können und zuhause habe ich alles an meiner Familie ausgelassen. Dass ich das so gemacht habe, hat mich selbst so wütend gemacht. Eines Tages habe ich in einer Art Kurzschlussreaktion einfach ein Cutter Messer genommen und -“ Er stoppte und schluckte hart.
 

Für einige Augenblicke kehrte Stille ein und ich bemerkte, dass ich ihn mit geöffnetem Mund anstarrte. Schnell schloss ich ihn. In meinem Kopf herrschte Durcheinander und mein Herz pochte schwer gegen meine Rippen. Unwillkürlich stellte ich mir vor wie Noah sich ritzte und ich versuchte den Gedanken los zu bekommen, doch er fraß sich in mir fest. Natürlich hatte ich mir schon gedacht, dass es das war, was er verstecken wollte. Da er Depressionen hatte, war es gar nicht mal abwegig, dass er sich selbst verletzte, doch nun zu wissen, dass meine Vermutung tatsächlich stimmte, war schlimmer als erwartet. Und aus irgendeinem Grund überraschte es mich doch. Als ich panisch nach Worten suchte, fuhr Noah mit seiner Erzählung fort. Mittlerweile standen ihm Tränen in den Augen.
 

„Wenn es um Kaito und seine Sucht geht, halte ich mich immer zurück“, sagte er, versuchte die Tränen zurück zu halten. „Samantha hält ihm gerne ihre Standpauken, aber sie würde sich das niemals bei mir und meinem Problem trauen, dabei ist es auch nur eine Sucht, oder? Wenn ich das Gefühl habe zu ertrinken, reicht ein einfacher Schnitt, damit ich wenigstens für eine Sekunde durchatmen kann. Und danach fühle ich mich meistens noch schlechter als vorher, doch für diese eine Sekunde war es das wert.“

„Fühlen sich Depressionen so an?“, hörte ich mich leise fragen. „Als würde man ertrinken?“

„Oder in der Dunkelheit versinken, in einem tiefen Loch.“

„So habe ich mich nach Dads Tod gefühlt“, stellte ich murmelnd fest.

„Es könnte gut möglich sein, dass du in eine kurzweilige Depression verfallen bist“, sagte Noah. „Viele Leute, die Schicksalsschläge erleiden müssen, haben zeitweise eine depressive Phase, aber die kann vorüber gehen. Andere führen ein ganz normales Leben in einer stabilen Familie und erkranken an langanhaltenden Depressionen. Es muss nicht immer eine Ursache dafür geben. Hauptsache, du fängst nicht an dich selbst zu verletzen. Fang niemals damit an, Lukas.“
 

Noch Tage lang musste ich an unser Gespräch denken und an die Narben, die mir Noah schlussendlich zeigte. Nachts träumte ich davon und in den Prüfungen kamen mir ungewollt Bilder in den Kopf. Trotzdem absolvierte ich irgendwie jede Kursarbeit und als ich alle meine Leistungskurse hinter mir hatte, fand ich endlich keine Ausrede mehr mich nicht alleine mit Gaara zu treffen.

„Wenn du ihm absagst, weil du für die Sportprüfungen Situps machen möchtest, dann töte ich dich“, drohte Kaito mir als wir gemeinsam mit der Straßenbahn von der Schule fort fuhren.

„Nein, mache ich nicht“, sagte ich peinlich berührt. Kaitos Haare waren ein wenig gewachsen. Seit dem ich wusste, dass er sie sich bei jedem Rückfall abrasierte, fürchtete ich jeden Tag ihn wieder mit minimalen Stoppeln zu sehen, doch bisher hielt er sich wacker. Dafür rauchte und kiffte er mehr und hatte drei Mal den Unterricht verlassen müssen, weil er vor Nervosität nicht sitzen bleiben konnte. Ebenfalls hatte er sich für eine Woche krank schreiben lassen, weil er sich nicht dazu in der Lage gesehen hatte aus dem Bett aufzustehen. Noah hatte mir daraufhin erzählt, dass viele Koksabhängige beim Nicht-nehmen der Droge in eine Art Depressionen verfielen, denn die Hauptwirkung von Koks war es Glückshormone auszuschütten. Die Menschen wurden gesprächiger, offener, motivierter und schienen mehr Energie zu besitzen. Wenn sie das Koks nicht mehr nahmen, bekamen sie häufig das Gefühl ohne die Droge nicht mehr richtig glücklich sein zu können.
 

Auch diese Gedanken beschäftigten mich. Wenigstens musste ich mir keine Sorgen um Samantha machen. Sie traf sich mit Chris, häufiger als ich auf Joker aufpasste, und die Beiden schienen so gut wie zusammen, was erstaunlich schnell gegangen war für Miss Ein-Freund-steht-mir-nur-im-Weg. In den letzten Wochen hatte ich ebenfalls eine gute Bindung zu Felix aufgebaut. Dafür, dass er erst elf Jahre alt war, war er ziemlich intelligent und man konnte sich mit ihm unterhalten wie mit einem Erwachsenen. Wir unterhielten uns häufig und lange über alles mögliche. Er wusste, dass ich schwul war. Als ich ihn fragte, was er nun von mir hielte, sagte er mir: „Genau dasselbe wie vorher. Es ist doch egal, wen du liebst. Hauptsache du bist glücklich.“ Danach fragte er mich, was meine Mutter zu meiner Sexualität sagte und mir wurde jäh bewusst, dass weder sie noch Alex eine Ahnung davon hatten.
 

Oder sie hatten doch eine Ahnung, wie auch schon Lynn und Genesis und Hannah und Noah und sowieso alle außer mir selbst, vor ihnen. Doch mit diesem Problem wollte ich mich erst später befassen, zuerst und viel wichtiger war, dass ich mich endlich alleine mit Gaara traf und unsere Verabredung zum Sex tatsächlich vollzogen werden sollte. Die Woche zuvor waren wir tatsächlich soweit gekommen, dass mir Gaara zwei Finger in den Anus geschoben hatte. Da er mehr als genug Gleitgel benutzte hatte, hatte es nicht geschmerzt, doch trotzdem fühlte es sich eher unangenehm an, weshalb ich mich über die nächsten Minuten darum bemühte aus der Lage herauszukommen. Kaito begrüßte mich am nächsten Tag mit seinem besten Todesblick.
 

Diesmal ließ ich es jedoch zu. Erneut fühlte es sich unangenehm an von Gaara gedehnt zu werden. Er küsste mir dabei die nackte Brust und ich versuchte mich ganz auf seine Lippen zu konzentrieren. Ich versuchte das Denken abzuschalten, doch konnte nicht umhin mich zu fragen, was ich gleich überhaupt tun sollte. Blieb ich einfach liegen? Sollte ich mich bewegen? Musste ich irgendetwas machen, damit es Gaara gefiel? Würde es ihm überhaupt gefallen? Würde ich unsere Beziehung gleich damit versauen eine absolute Null im Bett zu sein? Scheinbar merkte man mir die Besorgnis an, denn Gaara sagte: „Entspann dich einfach, Süßer. Sonst klappt es nicht.“

„Das ist nicht so einfach“, jammerte ich.

„Vertraue mir.“
 

Er machte weiter und als ich mich an das Gefühl gewöhnt hatte, hörte er auf und zog sich ein Kondom über. Ich schaute zu wie er erneut ausreichend Gleitgel benutzte. Noch einmal ging er mit den Fingern hinein, dann bat er mich darum mich umzudrehen.

„Für das erste Mal ist es in der normalen Position besser“, sagte er und lächelte verwegen. „Auch, wenn ich dann deinen panischen Gesichtsausdruck leider nicht mehr sehen kann.“

„Haha“, machte ich, augenblicklich dunkelrot im Gesicht. Ich drehte mich um, kniend, die Hände am Bettrand abgestützt und kam mir dämlich vor, wie ich ihm meinen Hintern entgegen streckte. Gaara fuhr mit seinen Fingern über meine Oberschenkel, dann spürte ich wie er vorsichtig eindrang. Ich war überrascht als mir ein Keuchen entwich und noch überraschter als ich merkte, dass mir selbst das leichte Ziepen gefiel, das entstand je tiefer Gaara ging. Ich ließ ein Stöhnen zu und von dort an war alles perfekt und meine Sorgen waren fast verschwunden.
 

Sie kamen noch einmal wieder als wir fertig waren und erschöpft Arm in Arm lagen.

„War es okay?“, fragte ich vorsichtig. Gaara lachte.

„Es war perfekt“, antwortete er. „Aber ich glaube, uns Beiden wird das nicht annähernd so gut gefallen wie Kaito.“

Darin lag er nicht unbedingt falsch. Kaito küsste mir die Hände als er erfuhr, dass wir endlich unser erstes Mal hatten.

„Gepriesen sei der Herr!“, entfuhr es Marc theatralisch als er es einige Tage später erfuhr. Hannah und Noah quetschten mich um jedes Detail aus und Samantha sagte etwas davon, dass ihr kleines Bambi endlich groß wurde.
 

Schließlich erzählte ich es auch Simon am Telefon, obwohl ich ursprünglich eine ganz andere Frage an ihn hatte. Und was hieß 'ich erzählte es ihm'. In dem Moment, in dem er abhob und sich mit „Hallo?“ meldete, sagte ich: „Ich habe mit Gaara gevögelt.“

Für einen Moment herrschte Stille, dann sagte Simon verwundert: „Ich dachte, das würdest ihr schon länger machen?“

„Nein!“

„Ich dachte ihr hättet das schon vor den Osterferien gemacht...“

„Nein, erst letzte Woche.“

„Okay... na dann: Herzlichen Glückwunsch! Ich hoffe, es hat gefallen?“

„Jap. In der ersten Woche der Sommerferien komme ich übrigens zu dir und dann fahren wir gemeinsam zum Festival.“

„Ist heute Tag der guten Nachrichten?“, fragte Simon und ich konnte mir sein Grinsen dabei bildlich vorstellen. „Oh Mann, ich kann die Sommerferien kaum erwarten!“

Lieblings-Schwuler

Da ich die nächsten drei Tage in Hildesheim bin, um mir dort eine Uni anzuschauen, lade ich das neue Kapitel bereits heute hoch. Viel Spaß beim Lesen. :) Über Reviews freue ich mich wie immer sehr! :D

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Es war der Abend vor der Zeugnisvergabe und in der Schule ging es um alles mögliche nur nicht mehr um die Schule. Vorgestern mussten wir das Sportfest mit organisieren und ausgerechnet Schifti machte den Moderator. Den ganzen Tag lang saß er an dem kleinen Tisch, den man am Rand des Sportplatzes im Schatten eines Baumes aufgestellt hatte und schwatzte Unsinn ins Mikrofon. Nicht nur einmal kam unsere Deutschlehrerin zu ihm gerauscht, um ihn darum zu bitten wenigstens irgendetwas zu sagen, das mit Sport zu tun hatte. Leider hielt er sich nicht an die Bitte und irgendwann war es den Lehrern auch egal geworden. Jedes Mal, wenn er jemanden aus unserer Stufe erspähte, gab er blöde Kommentare ab.
 

„Und da kommt Samantha. Wunderschöne, junge Frau, meine lieben Leute. Schaut sie euch an und staunt, sie möchte leider immer noch mit ihr schlafen. Wenn sie meines Penis sehen würde, würde sie es sich anders überlegen.“

„FLORIAN SCHIFTMANN!“, ertönte die schrille Stimme unserer Deutschlehrerin. Gaara und ich, die weit entfernt beim Schnelllauf saßen und die Zeit der Teilnehmer messen und aufschreiben mussten, begannen zu lachen. Von hier aus konnten wir Schifti nicht sehen, doch eine der vielen Boxen stand in direkter Nähe und so konnten wir ihn mehr als gut hören.

„Und da kommt Tamara... oh Entschuldigung, Tami, meine ich. Unsere Stufen – Mama, gemeinsam mit Kiaro, der coole Typ mit den Dreads, der immer Fußball mit den Pisskindern aus der fünften Klasse spielt.“

Entfernt hörte man das Protestieren von Fünftklässlern.

„Was sagen Sie, Frau Keiffenheim? Nein, sie können mir das Mikro nicht abnehmen. Ich sitze hier, für den seltenen Fall, dass irgendein Lehrer oder Schüler irgendwo gebraucht wird, wo er sich gerade nicht befindet. Das ist eine ehrenvolle Aufgabe, die leider auch extrem langweilig ist und irgendwie muss ich mir meine Zeit ja vertreiben... da fällt mir ein, dass ich Gaara und Lukas lange nicht mehr darum gebeten habe mir zu winken.“

Augenblicklich streckten wir unsere Arme nach oben und winkten ihm zu.

„Ihr habt es auch bald geschafft, Jungs, dann dürft ihr gemeinsam – Na gut, das sage ich diesmal wirklich nicht.“ Und dafür war ich ihm verdammt dankbar.
 

Gestern und heute hatten wir dann angefangen die Schule für den Tag der offenen Tür auf Vordermann zu bringen. Ich war der Gruppe eingeteilt, die für den Innenhof zuständig war. Wir entfernten alle alte Pflanzen, erneuerten die Erde und setzten neue Pflanzen ein. Kratzten das Unkraut zwischen den Steinpflastern hervor, schrubbten die Holzbänke und schnitten die Büsche zurecht. Hier sollte eine Art Cocktailbar entstehen, deren Aufbau geschlagene drei Stunden dauerte.
 

Und nun saß ich auf der Couch neben Mum, die sich irgendeine Comedyshow ansah und dachte über die nahenden Sommerferien und mein noch näheres Zeugnis nach. Ich hatte Angst vor den Noten. Zwar hatte ich mehr gelernt als im ersten Halbjahr, doch irgendwie kam es mir vor als wäre ich bei den Prüfungen nicht wirklich anwesend gewesen. Es geschah so viel anderes um mich herum, wie sollte ich mich da richtig auf meine Klausuren konzentrieren?
 

In Gedanken versunken hörte ich nur die Hälfte von dem, was meine Mutter sprach. Schließlich tauchte ein Komödiant auf, der bekannterweise schwul war und dies offen zeigte.

„Schau nur, mein Lieblings-Schwuler“, freute sich Mum und mir rutschte heraus: „Ich dachte, ich wäre dein Lieblings-Schwuler.“ Und das war die Geschichte, wie ich mich bei meiner Mutter outete. Bevor ich dunkelrot anlaufen und darüber nachdenken konnte, zu fliehen, machte meine Mutter: „Oh.“

Ich richtete mich ein wenig auf und blickte sie entsetzt über mein unabsichtliches Outing an. Für einen Augenblick dachte ich, sie würde ein Problem mit meiner Sexualität haben, dann jedoch sagte sie mit einem Lächeln: „Natürlich bist du mein Lieblings-Schwuler.“
 

Alex nahm die Nachricht anders auf. Kaum, da sie von ihrer neuen besten Freundin Zuhause war, erzählte Mum ihr von meiner Homosexualität und Alex schlug die Hände auf den Tisch.

„Das erklärt, warum du noch keine Freundin hattest! Hast du einen Freund?“

Natürlich musste ich an Gaara denken und daran, dass wir regelmäßig miteinander Sex hatten und uns jedes Wochenende trafen, doch waren wir zusammen? Bisher hatten wir das nicht explizit gesagt.

„Ehm... ich weiß nicht genau“, antwortete ich demnach wahrheitsgemäß. „Ich habe eine Beziehung zu einem Jungen, die sehr wie eine feste Beziehung aussieht, aber wir haben noch nicht darüber gesprochen.“

„Dann sprecht darüber und ich will ihn kennen lernen“, verlangte Alex.

„Ist es dieser Gaara?“, wollte Mum wissen. „Zu ihm gehst du in letzter Zeit sehr häufig.“

„Ja, es ist dieser Gaara.“ Mir wurde bewusst, wie unangenehm es mir war mit meiner Familie darüber zu sprechen, außerdem drängten sich düstere Gedanken zu den Erleichterten, dass sie es so gut aufnahmen: Wie hätte Dad es gefunden? Wäre es ihm auch egal gewesen, ob ich schwul oder hetero war?
 

Diese Gedanken hielten mich wach und am nächsten Tag saß ich übermüdet bei der Abschlusszeremonie und lauschte den Worten von Frau Beyl-Schüller. Nicht einmal die Hälfte davon nahm ich war, denn das Brennen in meiner Brust lenkte mich ab. Wieso musste ich meinen Vater schon wieder so sehr vermissen? Konnte ich nicht einfach endlich über seinen Tod vollends hinweg kommen? Oder würde dies nie passieren?

Gaara schien meine Trauer zu spüren, denn er pikste mich in die Seite und fragte, was los sei.

„Nichts“, war meine Antwort. Ein paar Sekunden später pikste er erneut und sagte flüsternd: „Du bist ein schlechter Lügner. Ich sehe dir an, dass mit dir etwas nicht stimmt. Ist etwas Schlimmes passiert?“

„Nein“, antwortete ich leise und wusste nicht, ob es eine Lüge oder die Wahrheit war. Ehe Gaara seinen ungläubigen Blick in Worte fassen konnte, rief Frau Beyl-Schüller den ersten Namen der Liste aus.

„Ich erkläre es dir später“, sagte ich und hätte ihm gerne einen Kuss auf die Wange gegeben, damit er sich weniger Sorgen machte, doch in der Öffentlichkeit unserer Schule traute ich mich, weswegen es nur bei einem leichten Lächeln blieb.
 

In alphabetischer Reihenfolge bekamen die Schüler ihre Zeugnisse und Samantha und Noah fluchten darüber, dass ihre Nachnamen beide mit 'Z' anfingen.

„Zur Abwechslung könnten sie bei so etwas mal von hinten anfangen“, murrte Sam. „Dann muss ich nicht immer die Letzte sein, die den Klassenraum verlassen darf.“

„Ich sterbe vor Aufregung“, jammerte Noah. „Ich will es haben, aber irgendwie auch nicht, weil mich die Noten bestimmt traurig machen werden.“

„Erstes Halbjahr, das ins Abitur zählt“, meinte Gaara schulterzuckend. „Allzu viel steht nicht auf dem Spiel.“

„Doch, heute entscheidet sich wie viele Unterkurse wir in den nächsten zwei Jahren noch haben dürfen“, erwiderte Kaito grummelnd. Und damit hatte er Recht. Für die meisten war dies der Grund, aus dem sie aufgeregt waren.
 

Unterkurse waren Kurse in denen man auf dem Zeugnis weniger als 5 Punkte, was einer glatten 4 entsprach, hatte. In den Grundkursen durfte man in den zweieinhalb Jahren Oberstufe insgesamt nicht mehr als 5 Unterkurse haben. In den Leistungskursen insgesamt nicht mehr als zwei. Wenn ich es richtig anstellte, könnte ich alle Unterkurse für die Grundkurse auf Englisch verteilen, denn sprachlich war ich eine absolute Niete.
 

Kiaro und Florian verglichen bereits ihre Zeugnisse und anhand Florians Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er keine guten Noten hatte. Tami regte sich über Mathematik auf, Schifti jubelte, weil er in Mathe gerade noch fünf Punkte erreicht und somit keinen Unterkurs hatte. Schließlich bekam Gaara sein Zeugnis.
 

„Diese Hure“, zischte er nachdem er einmal drüber geschaut hatte.

„Wer?“, fragte Kaito und blickte über die Schulter seinen besten Freundes auf das Blatt Papier in seinen Händen.

„Die Furie, meine beschissene Geschichtslehrerin, hat mir verdammt noch mal vier Punkte gegeben. Ich glaube, ich bringe sie um. Was soll der Scheiß?!“ Wütend klatschte er sein Zeugnis auf den Tisch. „Nur, weil ich mit ihr diese Diskussion über ihre Notengebung hatte.“

„Du warst ziemlich beleidigend“, sagte Sam mit einem schiefen Grinsen. „Ich habe dir gesagt, das nimmt sie dir übel. Aber lass mal sehen...“ Sie nahm sein Zeugnis und begann zu prusten. „Du regst dich über vier Punkte in Geschichte auf und was ist mit dem Rest? Du hast ja nur gute Noten!“

„Außer in Geschichte“, verbesserte Kaito und bekam dafür von Gaara einen düsteren Blick zu geworfen.
 

Kaito und ich bekamen unsere Zeugnisse direkt hintereinander. Ich atmete einmal tief durch und las es mir dann nervös durch. Deutsch, 12 Punkte. Geschichte, 10 Punkte. Mathematik, 14 Punkte. Kunst, 7 Punkte. Physik, 14 Punkte. Englisch, 2 Punkte. Erdkunde, 4 Punkte. Sport, 11 Punkte. Ethik, 7 Punkte.

„Scheiße“, wisperte ich. Sam blickte über meine Schulter und prustete erneut.

„Was ihr alles für Scheiße haltet...“

„Oh Mann, ich habe in Englisch und Erdkunde einen Unterkurs.“ Entsetzt blickte ich zu Gaara auf und stellte krächzend fest: „Das heißt ich kann nur noch drei Unterkurse verteilen, das reicht für vier Mal Englisch nicht. Was mache ich denn jetzt?!“

„In irgendeinem Halbjahr musst du dich dann also so anstrengen, dass du zumindest auf fünf Punkte fest“, stellte Gaara wenig hilfreich fest. „Keine Sorge, Süßer. Ich gebe dir Nachhilfe.“

„Mir auch?“, fragte Kaito und seufzte. Wütend knallte er sein Zeugnis auf den Tisch. „Oder nein, vergiss es. Ich kann auch direkt abbrechen.“

„Wieso?“ Sam nahm das Blatt auf und wir schauten zusammen rein. Bei jeder Note verzog sich mein Gesicht mehr.
 

Deutsch, 10 Punkte. Kunst, 15 Punkte. Englisch, 2 Punkte. Geschichte, 3 Punkte. Informatik, 5 Punkte. Mathematik, 5 Punkte. Sport, 14 Punkte. Physik, 1 Punkt. Ethik, 13 Punkte.

„Wie hast du es geschafft in Mathe und Info noch auf fünf Punkte zu kommen?“, fragte Sam überrascht. „Bestimmt hat Herr Jakobs dir bessere Noten gegeben, damit du nicht noch mehr Unterkurse hast. Der ist so korrekt.“

„Toll, das ändert nichts daran, dass ich schon drei Unterkurse habe“, grummelte Kaito.

„An der Stelle würde ich empfehlen zu wiederholen“, sagte Sam und gab ihm sein Zeugnis zurück. „Du kannst deine Grundkurse ein wenig umstellen. Von den Naturwissenschaften ist Biologie immer noch am einfachsten, meiner Meinung nach, du könntest es als Referenzfach nehmen. Info statt Physik und Erdkunde statt Geschichte. Du warst in Erdkunde immer besser als in Geschi.“

„Aber Erdkunde interessiert mich nicht“, erwiderte Kaito. „Ich möchte lieber was geschichtliches lernen.“

„Außerdem kann er nicht einfach wiederholen“, sagte Gaara empört. „Dann ist er ja nicht mehr mit uns in einer Stufe.“

„Ja, das ist der negative Nebeneffekt“, stimmte Sam zu.

„Das geht doch nicht!“

„Manchmal muss man eben in den sauren Apfel beißen. Und es ist besser als mit drei Unterkursen weit zu machen.“
 

Mal wieder hatte sie Recht und mal wieder wollten die Jungs nichts davon hören. Sobald es darum ging die Beiden zu trennen, wurden sie zu sturen Dickköpfen. Besonders Gaara, Kaito schien dahingegen ernsthaft über Sams Vorschlag nachzudenken.

Schließlich bekamen auch Noah und Sam ihre Zeugnisse. Mittlerweile hatte sich der Klassenraum größtenteils geleert, einige Schülerinnen diskutieren heftig mit Frau Beyl-Schüller über ihre Noten als wenn sie etwas dafür könnte.

Man konnte sehen wie sich Noahs Blick von Zeile zu Zeile verdüsterte. Am Ende standen ihm die Tränen in den Augen.
 

„Ich kann auch direkt wiederholen“, würgte er hervor.

„Aber das ist doch kein Grund zum Weinen“, sagte Kaito tröstend und legte einen Arm um Noahs Schultern. „Bin ich denn so schlimm, dass man mit mir nicht die Stufe wiederholen möchte?“

„Nein.“ Das brachte Noah ein wenig zum Lachen und er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ich war ziemlich froh, dass die anderen hier waren, denn ich fühlte ich mich stets furchtbar hilflos, wenn jemand weinte. Besonders bei Noah, bei dem jedes Wort falsch aufgenommen und zu schrecklichen Konsequenzen führen konnte.
 

„Wo drückt es denn, Hase?“, fragte Sam. Noah gab ihm sein Zeugnis und ich schaute ebenfalls wieder mit rein. Seine Noten waren durchschnittlich bis gut, nur nicht in Mathematik und Physik. In diesen beiden Fächern hatte er Unterkurse.

„Bringt es denn etwas, wenn du wiederholst?“, fragte ich. „Du solltest nicht wiederholen, wenn du dieselben Fächer noch mal wählen möchtest. Denn in allen anderen bist du im Durchschnitt echt gut. Mathe und Physik bekommen wir mit Nachhilfe hin. Ich helfe dir da.“

„Danke, das ist echt lieb, aber ich würde die Fächer um wählen“, sagte Noah. „Dann nehme ich Biologie statt Physik. Als ich mal bei Tami in Biologie war, kamen mir die Aufgaben so leicht und interessant vor. Wenn wir in der Mittelstufe nicht so behinderte Lehrerin gehabt hätten, hätte ich auch schon da gewusst, dass Biologie echt interessant sein kann. Aber ich überlege mir dann noch, ob ich das machen soll...“

„Bis Samstag hast du Zeit dafür“, sagte Gaara.

„Dann überlegen wir es uns zusammen“, nickte Kaito und klopfte Noah ermunternd auf die Schulter.

Saufen, kiffen, ficken

Nach einem äußert unspannenden Schulfest, begann ich, kaum da ich Zuhause war, mit dem Packen, da ich bereits am nächsten Tag nach Nordrhein-Westfalen fahren würde. Wie immer hatten beim Abschied in der Schule einige geheult und den Anschein erweckt wir würden uns alle nie wieder sehen. Gott sei Dank war dies in meinem Freundeskreis nicht der Fall gewesen. Sam hatte einem Mädchen gesagt, wenn sie sie heulend umarmen würde, würde sie ihr beide Arme brechen und Noah flüchtete als Erster vom Schulhof, damit die ganzen Mädchen sich nicht von ihm verabschieden würden als wäre er ihr bester Freund, was immer am letzten Tag vor den Ferien der Fall war. Ich hätte mich gerne in aller Ruhe von Gaara verabschiedet, da wir uns erst in einer Woche wieder sehen würden, doch ich hatte zu viel Angst ihn in der Öffentlichkeit unserer Schule zu küssen. Stattdessen fragte ich ihn, ob er heute noch mal kurz vorbei kommen wollte und natürlich sagte er ja.
 

Gegen Nachmittag, als ich soweit mit meinem Koffer fertig war, klingelte es also an unserer Haustür und ich lief schnell aus meinem Zimmer, um noch vor Alex die Tür zu öffnen. Auf keinen Fall wollte ich die Beiden alleine lassen, ich wollte nicht wissen, was für Fragen sie ihm dann stellen würde. Mum, die in der Küche Orangen in Quark schnitt, schaute mit der Schlüssel in der Hand heimlich um die Ecke, um einen Blick auf Gaara erhaschen zu können. Alex ließ sich auf der Couch nieder und blickte ebenfalls nicht gerade unauffällig über den Rand einer Zeitschrift.
 

„Hey“, grüßte ich Gaara nachdem ich die Tür geöffnet hatte. Wie immer sah er gut aus mit seinen braunen Haaren, deren Strähnen verwegen auf seine Stirn fielen, der blassen Haut und den grün-braunen, schmalen Augen.

„Hi“, grüßte er zurück. „Schau nur, wie geil die Sonne scheint. Wir sollten das ausnutzen.“

„Chris bringt nachher Joker vorbei und holt ihn morgen früh wieder ab, wir könnten ja irgendwohin spazieren gehen“, zuckte ich die Schultern. „Aber komm erst mal rein.“
 

Inständig betete ich, dass weder Mum noch Alex ihn auf irgendetwas ansprechen würde. Kaum, da Gaara in unserer Wohnung war, schien er zu bemerken, dass er von zwei Seiten beobachtet wurde und grüßte zögerlich. Beide grüßten zurück und ihre Blicke verfolgten uns noch bis wir außer Sichtweite in meinem Zimmer waren.

„Tut mir Leid wegen den Beiden“, jammerte ich, da ich die Tür hinter mir verschlossen hatte. „Manchmal verhalten sie sich so albern...“

„Kein Problem“, grinste Gaara. Er packte mich an den Hüften und zog mich an sich heran. Sanft begann er meine Lippen zu küssen. Obwohl wir uns mittlerweile beinahe ständig küssten und häufig miteinander schliefen, war noch immer dieses warme, nervöse Kribbeln in meinem Bauch und in meiner Brust. Und jede Stelle, die Gaara berührte, brannte süßlich.
 

Er stupste mit der Zunge gegen meine Lippen und ich öffnete sie für ihn, damit wir leidenschaftliche Zungenküsse tauschen konnten. Meine Hände lagen auf seine Brust, meine Finger gruben sich in sein Shirt. Ich wusste, dass er es mochte, wenn ich mich an ihn klammerte. Vorsichtig zog er mich auf mein Bett. Rücklings legte ich mich darauf, Gaara auf mich drauf und wir führten unsere Küsse weiter. Seine kühlen Hände glitten unter mein Shirt und begannen dort meine Brustwarzen zu liebkosen, dann führte er seine Finger wieder herunter und steckte die rechte Hand in meine Hose. Er begann über mein Geschlechtsteil zu reiben bis mir ein Keuchen entfuhr.
 

Als ich merkte wie ich hart wurde, drückte ich Gaara von mir weg.

„Nein, nicht bei mir“, sagte ich kopfschüttelnd. „Mum und Alex könnten uns hören. Das wäre zu peinlich.“

„Und, wenn ich dir einfach nur einen blase?“, fragte Gaara neckisch. „Dann hören sie nur dich und mich nicht.“

„Das wäre doch genauso peinlich!“, sagte ich errötend. „Lass uns... lass uns gleich mit Joker spazieren gehen und dann gehen wir zu dir, okay?“

„Kaito ist heute Abend bei mir.“ Bei diesen Worten hörte sich Gaara irgendwie bedrückt an. Er nahm es seinem besten Freund übel, dass dieser entschieden hatte die Stufe zu wiederholen. Auch Noah würde wiederholen und sie hatten ihre um gewählten Fächer bereits bei unserer Oberstufenleiterin eingereicht.
 

„Dann schlafen wir heute ausnahmsweise mal nicht miteinander“, stellte ich fest und richtete mich auf. „Das muss auch nicht unbedingt schlimm sein. Ich würde auch mal wieder gerne einfach nur mit dir reden und nicht saufen, kiffen und ficken.“

„Saufen, kiffen und ficken“, wiederholte Gaara mit einem Grinsen. „Wenn es jemals eine Biografie von mir geben wird, wird das der Titel.“

„Sehr witzig“, sagte ich sarkastisch, musste jedoch ebenfalls ein wenig grinsen.
 

Somit verbrachten wir den Rest des Tages nicht mit saufen, kiffen und ficken. Wir spielten ein wenig mit Joker und unterhielten uns mit Chris, gingen spazieren und lachten über dumme Erlebnisse, die wir gemeinsam hatten. Gegen Abend verabschiedete sich Gaara von mir dann vor meiner Haustür mit einem Kuss. Überglücklich lächelnd ging ich zurück ins Haus und stellte fest, dass Mum und Alex am Wohnzimmerfenster saßen und uns beobachtet hatten. Schnell, als ob ich es nicht bemerkt hätte, sprangen sie auf und verteilten sich irgendwo in der Wohnung.
 

Am nächsten Morgen wurde ich von Noah, Hannah, Chris und Sam am Bahnhof verabschiedet. Joker war ebenfalls noch dabei und leckte mir fiepend über das Gesicht.

„Wir sehen uns in einer Woche, Bambi“, sagte Sam und drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Den soll ich dir von Gaara geben.“

„Danke.“ Ich wurde ein wenig rot, verabschiedete mich dann von Noah und Hannah mit jeweils einer Umarmung und von Chris mit einem starken Händedruck. Dann stieg ich in den Zug ein und Vorfreude kam in mir auf. Endlich würde ich auch Lynn und Genesis mal wieder sehen.
 

Wie immer war die Fahrt anstrengend. Mein Zug hatte eine halbe Stunde Verspätung, weshalb ich fast meinen Anschlusszug verpasste, in welchem ich keinen Platz mehr bekam und zwei Stunden lang stehen musste. Als wir endlich am Hauptbahnhof hielten, stieg ich vollkommen erleichtert aus. Erneut musste ich rennen, um den letzten Anschlusszug zu bekommen, der mich in mein altes Kaff fuhr. Diesmal bekam ich einen Sitzplatz und konnte beobachten, wie die Welt einen gewohnten Anblick annahm. Simon wartete auf mich am Bahnhof. Breit grinsend verließ ich den Zug und stellte meine Reisetasche ab, damit ich meinen besten Freund zur Begrüßung umarmen konnte. Wir klopften uns gegenseitig auf die Schultern.
 

„Alles klar bei dir?“, fragte Simon.

„Ja, alles super. Bei dir?“

„Hmm...“ Wir lösten uns voneinander und mein Lächeln verblasste schlagartig. Erst jetzt erkannte ich die gelben und grünen Flecken, die Simons Hals zierten. Er fuhr sich mit den Fingern darüber und lächelte mich verlegen an. Seine tiefbraunen, großen Augen blickten mich unschuldig an. Wie immer sah er unverschämt gut aus, auch mit den unschönen Flecken.

„Wie ist das passiert?“, fragte ich entsetzt und hatte eine leise Vorahnung. Mein Herz war mir in die Hose gerutscht und ich hatte das unangenehme Gefühl mir wäre heiß und kalt zur gleichen Zeit.

„Ich hatte ne kleine Auseinandersetzung“, zuckte Simon mit den Schultern. „Aber das hat sich wieder einigermaßen geklärt...“

„War das Bernd?“, fragte ich. Als er nicht direkt antwortete, wurde mein Ton schärfer: „War das dein Stiefvater?!“

„Ja!“, sagte Simon und seufzte schwer. „Wir haben uns gestritten und er hat mich mit einem Kochtopf abgeworfen. Frag nicht, warum und wie. Es ist nur nicht so leicht Verletzungen am Hals zu verstecken. Mir wäre es lieb, wenn du nicht weiter danach fragst.“
 

Aber ich wollte weiter danach fragen. In mir kam furchtbare Wut auf und ich wollte genau wissen, worüber sie sich gestritten hatten und, was Simons Mutter getan hatte, doch eigentlich konnte ich mir die Antworten schon denken. Es war irgendetwas belangloses, was Simons Stiefvater wieder einmal zu einem großen Drama gemacht hatte, einfach, weil er Simon nicht leiden konnte und seine Mutter hatte nichts unternommen. Das tat sie nie. Säuerlich knirschte ich mit den Zähnen. Simon schulterte meine Tasche und begann über die Pläne für die kommende Woche zu plaudern als wäre nichts geschehen. Manchmal fragte ich mich, ob er seine Probleme wirklich so locker nehmen konnte oder einfach alles in sich hinein fraß. Doch ich versuchte seiner Bitte nachzugehen und schluckte meine Wut irgendwie herunter. Unentwegt musste ich auf die Flecken starren. Ich versuchte mich dazu zu zwingen meinem besten Freund in die Augen schauen, doch bei jeder Unterhaltung rutschte mein Blick zurück auf seinen Hals und es kribbelte dabei unangenehm in meinem Bauch. Die Wut drückte mir schwer auf den Magen und beim Abendessen mit seinem Vater und dessen Freundin Martina konnte ich kaum einen Bissen herunter bekommen, obwohl Martina wie immer fabelhaft gekocht hatte.
 

„Simon hat erzählt, dass du einen Freund hast“, sagte Martina als wir zum Nachtisch Vanillepudding aßen. Ich verschluckte mich und musste erst einmal husten, ehe ich mit dunkelrotem Gesicht antworten konnte.

„Nein – also ja – also nein – eigentlich weiß ich es nicht. Wir haben darüber bisher nicht richtig besprochen, aber irgendwie... vielleicht... keine Ahnung“, brachte ich stotternd hervor.

„Ach Lukas.“ Martina lächelte und schaute mich an wie man vielleicht einen Hundewelpen anschaute. „Manchmal braucht es auch keine Bestätigung. Manchmal können zwei Menschen einfach spüren, in welcher Weise sie verbunden sind. Vielleicht ist das bei euch Beiden auch so.“

„Ja...“ Wenn ich daran dachte, wie gut ich mich mit Gaara verstand und, dass es zwischen uns beiden bisher noch nie Unklarheiten gab, weil wir einfach immer voneinander wussten, wie was gemeint war, musste ich lächeln. „Das könnte sogar sein...“
 

Simon stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Martina fragte mich weiter aus, wie es mir ging und, wie mein Zeugnis gewesen war. Als ich sie fragte, wie ihr es ging, lächelte sie ein wenig traurig.

„In den letzten paar Wochen ist es öfter vorgekommen, dass ich ein bis zwei Tage lang nicht mehr hochkam und sehr depressiv gewesen war, deswegen werde ich in den Sommerferien für vier Wochen in eine Kur gehen. Ich möchte auf keinen Fall wieder in einem Loch landen. Und natürlich...“ Simon ging in die Küche, um dort das Geschirr in die Spülmaschine einzuräumen und Martina sagte etwas leiser: „Und natürlich nimmt die Sache mit Simons Stiefvater sehr mit. Wir können einfach nichts machen. Diese Hilflosigkeit ist das Schlimmste, weil Simon auch nicht mit sich reden lässt. Er wird immer so wütend, wenn ich das Thema anspreche.“

„Er kann nicht so gut mit negativen Emotionen umgehen“, sagte ich.

„Wenn ich nur an diesen Saftsack denke und daran, wie er meinen Sohn behandelt“, knurrte sein Vater äußerst wütend. Eigentlich war er ein sehr friedlicher, umgänglicher Mensch, so wütend hatte ich ihn noch nie gesehen. „Am liebsten würde ich -“
 

Er verstummte als Simon zurück kam. Dieser schaute ein wenig komisch und ich wusste, dass er uns gehörte hatte. Das betretene Schweigen hielt ich kaum aus. Zu gerne würde ich mit Martina und Rudolph über das Problem reden und meine Wut kund tun, doch das würde Simon nur deprimieren und sauer machen. Ich war nicht hier, um sein Problem zu bearbeiten, sondern um ihn davon abzulenken. Dafür waren Freunde da.
 

„Ich habe einen guten Freund in Berlin, der Depressionen hat“, erzählte ich Martina, obwohl ich es gar nicht im Sinn hatte ihr von Noah zu berichten. „Er bekommt Medikamente, aber er geht nur ziemlich selten zum Psychologen. Eigentlich war er da bereits seit Ewigkeiten nicht mehr...“

„Das ist typisch“, sagte Martina ernst. „In der Jugend treten psychische Probleme nicht selten auf. Viele verlieren sich mit dem Erwachsenwerden wieder, aber ebenso viele bleiben. Wenn man in eurem Alter ist, glaubt man, dass irgendwann alles anders wird. Man denkt, schlimmer kann es nicht kommen als mit meinen streitenden Eltern oder, dass man in zehn Jahren in einem festen Beruf steht, verheiratet ist und Kinder hat, doch die Realität sieht anders aus. Zehn Jahre vergehen und man leidet immer noch unter Depressionsattacken und vielleicht sind sie sogar noch schlimmer, weil man erfahren hat, dass man nicht dazu in der Lage ist Kinder zu bekommen und der Bruder Selbstmord begeht. Sag deinem Freund, dass eine frühe Behandlung das Beste ist, das er machen kann. Von selbst wird es nämlich nicht besser.“

„Das mache ich“, sagte ich und hatte es auch wirklich vor.
 

Wir führten die Unterhaltung noch eine Weile weiter, kamen irgendwann auf Kinofilme hinaus, machten am Ende noch Scherze und schließlich gingen Simon und ich gemeinsam in sein Zimmer, um die Nacht mit Zocken zu verbringen wie wir es früher so häufig zusammen taten. Wir legten die Controller erst weg, als ich bei einer Mission starb, weil ich einen Kurzschlafanfall hatte. Müde krochen wir in unsere Betten. Meines war eine Matratze, die neben Simons Bett auf dem Boden lag und er vor meiner Ankunft schon vorbereitet hatte.

„Was machen wir eigentlich morgen?“, fragte ich und Simon grinste breit.

„Genesis gibt bei ihrem Vater eine Hausparty zur Feier, dass wir die elfte Klasse überstanden haben!“

Ach, scheiß drauf

Genesis und Lynn wieder zu sehen, war beinahe seltsam gewesen, denn im ersten Moment kamen sie mir wie zwei fremde Menschen vor. Noch immer trug Genesis ihre Haare zu festen Dreads, doch mittlerweile hatte sie in einige Bänder und Ringe geflochten, ein paar blond und andere dunkel gefärbt, sodass sie einfach noch cooler aussah. Ihr Kopf wurde außerdem von einem Tuch geziert. Ihre Wimpern hatte sie getuscht, sodass ihre blauen Augen noch größer wirkten. Sie sah gesund aus und natürlich klemmte zwischen rechtem Zeige- und Ringfinger eine Zigarette, als sie ihre dünnen Arme ausbreitete.
 

„Luki, endlich bist du wieder da!“ Wir umarmten uns. Ihr Haus war bereits gerammelt voll mit Leuten, die auf der Couch saßen und Shisha rauchten oder Alkohol in die Küche brachten. Es erinnerte mich ein wenig an die Drei Tage lange Party bei Noah, nur hoffte ich inständig, dass sie nicht denselben Ausgang haben würde. Noch mal wollte ich nicht halbnackt durch die Gegend fliehen. Kaum, da wir uns begrüßt hatten, kam Lynn wie aus heiterem Himmel auf mich gestürzt und schloss mich fest in ihre Arme. Wie meistens war ihr rundes, flaches Gesicht heute nicht geschminkt. Sie hatte eine kleine Stupsnase und große, braune Augen. Ihre braunen, glatten Haare waren zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen gebunden und ihren üppigen Busen zeigte sie durch einen weiten Ausschnitt.
 

„Ich habe dich vermisst“, jammerte Lynn an mein Ohr. „Es gibt so viel zu erzählen und du hast auch viel zu erzählen! Ich will alles über deinen Gaara erfahren und zwar sofort.“

Somit verbrachte ich die ersten zwei Stunden damit die komplette Geschichte zwischen Gaara und mir Genesis und Lynn zu erzählen. Irgendwann seilte sich Simon ab, weil er bei einem Trinkspiel mitspielen wollte. Genesis begann mir zu erzählen, dass sie verzweifelt einen festen Freund suchte, jedoch immer nur mit Bettgesellschaften für eine Nacht endete und Lynn wurde bei der Frage, wie es bei ihr in der Liebe aussah rot.

„Erzähle ich dir ein andermal“, winkte sie ab. „Das ist etwas komplizierter.“

„Eigentlich ist es gar nicht kompliziert, sie macht nur voll das Drama draus“, lachte Genesis und Lynn boxte ihr gegen die Schulter. Wir saßen auf der Couch und rauchten Shisha. Auch ich musste ein wenig grinsen. Es war typisch Lynn, dass sie aus der Fliege einen Elefanten machte.
 

„Ich würde mit euch gerne über Simon und seinen Stiefvater sprechen“, sagte ich und schlagartig wurden die beiden Mädchen ernst. „Ist es in letzter Zeit öfter vorgekommen, dass er ihn geschlagen hat? So schlimm war es nicht einmal früher, als Simon noch jünger und auch wirklich häufig bei seiner Mutter gewesen war.“

„Simon sagt, dass das mit dem Hals eine Ausnahme gewesen wäre“, antwortete Genesis. „Aber so ganz glaube ich ihm das nicht.“

„Als er ihm gegen die Rippen geschlagen hatte... wisst ihr noch, als ihr bei mir in Berlin gewesen wart... da hatte Simon zu mir gemeint, seine Mutter wäre für ihn gestorben und er will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Wieso geht er dann trotzdem noch hin? Ich hatte nicht das Gefühl gehabt, dass er mich da angelogen hatte.“

„Ach, Luki“, seufzte Genesis und strich mir eine hellbraune Strähne aus den tiefbraunen Welpenaugen. „Sie ist seine Mama. Egal wie schwer das Verhältnis ist, das Kind hängt doch irgendwie immer an der Mutter. Vielleicht hatte er es damals Ernst gemeint, aber irgendwann kommt doch die Sehnsucht zurück.“

„Außerdem ist Simon gestresst von der Situation, dass Martina schwere Depressionen hat. Das nimmt ihn mehr mit als er zugeben möchte“, sagte Lynn. „Aber von uns lässt er sich auch nicht helfen, kennst ihn ja. Da frisst er lieber alles in sich hinein und an den Wochenenden säuft er viel mehr.“

„Martina geht aber über die Sommerferien in eine Kur“, erzählte ich. „Dann wird es vielleicht besser und er bleibt bei seinem Vater und sucht weniger den Kontakt zu seiner Mutter... mich macht es wütend zu wissen, dass sein Stiefvater mit diesem Scheiß durch kommt. Eigentlich sollten wir ihn anzeigen.“

„Da wird Simon nicht mitmachen“, stellte Lynn fest und hatte damit absolut Recht, so wenig es mir auch gefiel.
 

Die gesamte Feier über konnte ich nicht aufhören über Simon, seinen Stiefvater und Martina nach zu denken. Wut mischte sich mit Besorgnis und sorgte bei mir für grundlegende schlechte Laune, die ich zu verbergen versuchte, wenn ich mit alten Schulkameraden und Freunden sprach, von denen sich die meisten kaum verändert hatten. Ich achtete darauf, dass Simon nicht zu viel Alkohol trank oder irgendwelche Drogen nahm. Gemeinsam gönnten wir uns einen Joint, der uns für kurze Zeit über alles lachen ließ und ich konnte sogar für wenige Minuten Simons Probleme vergessen, doch dann kamen die besorgten Gedanken zurück und ich spürte große Lust zu seinem Stiefvater zu fahren und ihm eine runter zu hauen. Natürlich ließ ich das bleiben. Ich trank auch keinen Alkohol, kiffte nichts mehr, sondern hing die meiste Zeit bei der Shisha, bis sich mein Hals ganz kratzig anfühlte. Gegen drei Uhr nachts wollte ich dann zurück zu Simon, der mittlerweile stark angetrunken war und im hintersten Eck mit einem blonden Mädchen herum machte.
 

„Ey.“ Ich tippte ihm gegen die Schulter. Verwirrt schaute er auf und das Mädchen begann seinen Hals zu küssen. „Alle sind betrunken oder high und ich bin müde. Können wir vielleicht zu dir?“

„Jetzt schon?“

„Wir haben drei Uhr nachts, das ist nicht jetzt schon“, murmelte ich. „Ich bin nicht so gut gelaunt.“

„Aber warum denn?“, fragte Simon ein wenig lallend.

„Wegen der Sache mit deinem Stiefvater.“

„Ach, scheiß drauf“, winkte mein bester Freund ab. „Passiert halt mal.“

„Das ist aber nichts, was halt mal passieren sollte“, sagte ich wütend. „Das ist etwas, was niemals passieren sollte und du solltest aufhören so zu tun als würde es dich nicht jucken, weil es dich nämlich fertig macht. Der Kerl hat eine Abreibung verdient, aber du lässt es ihm ständig durchgehen. Darin bist du genauso wie deine Mutter, die lässt ihm auch alles durchgehen und darüber beschwerst du dich, aber selbst krümmst du keinen Fingern. Du bist keine 13 Jahre mehr, du bist 18, du kannst die Sache selbst in die Hand nehmen. Und noch viel wichtiger: Du kannst auch mal Hilfe annehmen! Ich hab kein Bock mehr auf die Party, du hast sie mir versaut!“
 

Damit drehte ich mich um und verschwand aus dem Haus. Zuerst ging ich schnell die Straße hinunter, doch als ich merkte, dass Simon mir nicht folgte, wurde ich langsamer und langsamer, bis ich am Ende der Straße stehen blieb und zurück schaute. Von hier aus konnte man die Lichter in den Fenstern brennen sehen, weder von der Musik noch von den Gästen konnte ich etwas hören. Ein leichter Wind umwehte mein Gesicht und am Himmel glänzten die Sterne. Einige Minuten lang wartete ich, doch Simon kam nicht aus dem Haus gerannt. Für einen Moment fragte ich mich, ob ich zu hart gewesen war und einen Fehler gemacht hatte, doch ich war zu wütend, um zurück zu laufen und mit ihm darüber zu reden. Vermutlich machte er einfach mit dieser blonden Göre weiter. Nein, ich war für heute fertig. Schweren Herzens wandte ich mich also ab und betrat den Weg zurück zu Simon nach Hause.
 

Leider hatte ich keinen Schlüssel und druckste vor der Haustür eine Weile herum bis ich mich dazu überwand zu klingeln. Nach einigen Minuten betätigte ich erneut schlechten Gewissens die Klingel und schließlich wurde sie mir von einer äußerst verschlafenen Martina geöffnet.

„Tut mir Leid, ich habe vergessen mir von Simon den Schlüssel geben zu lassen“, haspelte ich eine Entschuldigung.

„Schon okay“, murmelte Martina und ließ mich rein. Schnell huschte sie zurück ins Bett. Mit Umziehen ließ ich mir Zeit. Als ich dann unter meiner Decke auf der Matratze lag, nahm ich mein Handy hervor und erwartete verpasste Anrufe und SMS von Simon, doch auf meinem Display war nichts davon zu sehen. Nur das Hintergrundfoto, auf welchem Alex und ich abgebildet waren wie wir Stifte auf unseren Lippen balancierten und dabei schielten.
 

Sollte ich Simon anrufen oder anschreiben? Nein. Vielleicht würde er so lernen sich seinen Problemen zu stellen, vor mir konnte er schlecht weglaufen. Wir würden noch eine Woche zusammen aufeinander hängen, dann war mein 18. Geburtstag und wir fuhren gemeinsam auf das Festival. Er musste mit mir über die Sache reden, anders ging es gar nicht. Spätestens, wenn er nach Hause kam und es würde sich auch klären. Ich redete mir ein, dass wir uns nicht zerstritten und wartete noch eine ganze Weile darauf eine Nachricht von Simon zu bekommen, doch es kam nichts. Schließlich legte ich das Handy weg und versuchte zu schlafen, doch ich konnte nicht. In meinem Kopf kreisten die Gedanken und Szenarien in denen Simon mir die Freundschaft kündigte. Irgendwann befand ich mich im Halbschlaf und träumte einen Haufen furchtbare Sachen. Ich wachte erst wieder auf als mich etwas am Bein berührte.
 

Erschrocken zuckte ich zusammen, saß im nächsten Moment kerzengerade auf meiner Matratze und bemerkte, dass Sonnenlicht den Raum erhellte. Ich fühlte mich als hätte ich nicht mehr als eine Stunde geschlafen, was vermutlich auch stimmte. Mit einem unschuldigen, schiefen Lächeln saß Simon zu meinen Füßen. Seine schwarzen Haare waren etwas durcheinander und sein Hals wurde neben den blauen Flecken von zwei Knutschflecken geziert. Einige Sekunden lang, die sich eher wie Minuten anfühlten, saßen wir nur da und starrten auf die Bettdecke oder den Boden, dann begannen wir gleichzeitig zu reden.

„Tut mir Leid“, setzte ich an und Simon sagte: „Irgendwie hast du Recht.“

Dann hörten wir Beide auf, um den jeweils anderen reden zu lassen, finden jedoch wieder gleichzeitig an.

„Ich hätte nicht-“, sagte ich und mein bester Freund meinte: „Ich glaube ich -“

„Oh Mann“, stöhnte ich.

„Willst du zuerst?“, fragte Simon. „Ich bin nicht gut in so was...“

„Ich auch nicht“, gab ich zu. „Ich hätte nicht sagen sollen, dass du mir die Party versaut hast, du kannst nichts dafür, dass dein Stiefvater ein Arschloch ist.“

„Ich hätte es dir ja nicht erzählen müssen“, zuckte Simon die Schultern. „Dann wäre die Party für dich auch nicht versaut gewesen.“

„Natürlich musst du mir so etwas erzählen, ich bin dein bester Freund!“, entfuhr es mir empört. „Ich will nicht, dass du mir solche Sachen verheimlichst. Und ich will auch nicht, dass du sie in dich hinein frisst und nicht darüber redest.“

„Ja... du hast ja auch Recht, dass ich mir das nicht gefallen lassen sollte, aber...“ Simon wurde etwas leiser. Als er mich anschaute, kam er mir vor wie der zehnjährige Junge, der von dem doofen, neuen Freund seiner Mutter erzählte, die doch eigentlich zu seinem Vater gehörte. „...aber irgendwie macht... also... irgendwie ist es nicht so einfach. Er ist auch stärker als ich.“

„Du brauchst ihn ja nicht zu verprügeln“, sagte ich. „Du solltest ihm mal die Meinung geigen. Das wäre super. Und ihm drohen, dass du ihn anzeigst, wenn er dir noch mal etwas antut. Oder ihn direkt anzeigen. Beweise hast du ja noch an deinem Hals.“

„Nein, das würde die Beziehung zwischen mir und Mum komplett zerstören“, sagte Simon und es war vermutlich eines der traurigsten Dinge, die ich je in meinem Leben zu hören bekommen hatte. „Außerdem ist das ein so langer Prozess jemanden anzuzeigen, dann fragen sie wieso ich das nicht schon früher gemacht habe und sie erfahren, dass er mich schon früher mal geschlagen hat, als ich noch ein Kind war und schon hat meine Mutter ebenfalls Ärger am Hals, weil sie mich nicht beschützt hat.“

„Aber die Meinung kannst du ihm trotzdem sagen“, schlug ich verzweifelt vor. „Wenigstens das.“

„Ja schon, aber...“ Er stockte. „Aber... irgendwie... also...“ Er wurde leiser, beugte sich ein wenig vor als ob er Angst hätte jemand könnte uns zuhören. „Ich habe Angst vor ihm, Lukas. Dann ist es nicht so einfach den Mund überhaupt auf zu bekommen.“
 

Meine Lust diesen Arsch von einem Stiefvater eine zu verpassen, wurde immer größer.

„Dann komme ich mit. Wir gehen noch diese Woche hin. Du überlegst dir genau, was du sagen willst und das knallst du ihm dann alles gegen den Kopf. Okay?“

Von diesem Vorschlag schien Simon nicht allzu begeistert, doch nach einigen Minuten des Betteln und Bitten, sagte er widerwillig zu.
 

Gemeinsam frühstückten wir etwas, duschten nacheinander und zockten ein wenig, bis ich irgendwann gegen ein Uhr Mittag doch noch mal einschlief. Erst zum Abendessen wurde ich wieder wach und fluchte innerlich darüber, dass gerade mal drei Tage Ferien gereicht hatten, um meinen Schlafrhythmus komplett auf den Kopf zu stellen. Simon hatte gar nicht geschlafen und war dementsprechend müde am Abend. Er erzählte mir ein paar Dinge, die ihm über den Tag hinweg eingefallen waren, die er seinem Stiefvater sagen möchte, doch als ich mit ihm die Feinheiten ausarbeiten wollte, war er zu müde, um richtig mit zu arbeiten. Stattdessen ließ er sich ständig von dem Film ablenken, den wir im Hintergrund laufen ließen und schließlich schlief er ein. Mittlerweile war es zehn Uhr am Abend und ich war dank meines langen Mittagsschlafs hellwach. Ich machte den schrecklichen Fehler mir die halbe Nacht Horrorfilme anzuschauen, eingerollt in meiner Decke und immer mit einem Kissen in der Hand, das ich mir schnell vor die Augen halten konnte. Als ich den Fernseher ausmachte und Stille und Dunkelheit sich im Zimmer ausbreiteten, nur unterbrochen von Simons ruhigem Atem, wurde mir mulmig zumute. Schnell nahm ich mein Handy und tippte eine SMS an Gaara, in der ich ihn wissen ließ, dass ich gerne in seinen Armen liegen wollte. Kaum, da ich sie abgeschickt hatte, kam ich mir extrem schwul und kitschig vor. Doch es dauerte keine zwei Sekunden, da schickte er mir ein Zwinkersmiley zurück. Mehr nicht, dieser Idiot. Aber es ließ mich glauben, er würde mich jetzt mit diesem verwegenen Lächeln anschauen und über diese Vorstellung hinweg, konnte ich doch noch einschlafen.

Ochsenwichsendes Arschloch

Seltsamerweise fand Simon jeden Tag neue Ausreden, weshalb wir noch nicht zu seinem Stiefvater gehen konnten. Als Genesis und Lynn von dem Vorhaben erfuhren, waren sie sehr davon angetan und hatten selbst einige Ideen einzubringen.

„Du musst ihn auf jeden Fall beleidigen“, sagte Genesis, die genüsslich an einer Zigarette zog. Wir saßen am Fluss, der sich durch das kleine Dorf zog und das Licht der untergehende Sonne lag in Genesis' Rücken. Ich konnte sie nur als Silhouette erkennen. „Wichser ist immer ein schönes Wort für so etwas. Ochsenwichsendes Arschloch.“

„Ochsenwichsend“, wiederholte ich und lachte. „Das ist super.“

„Nein, du solltest sachlich bleiben. Beleidigungen reizen ihn nur unnötig. Er soll sich nicht angegriffen fühlen, sondern etwas daraus lernen“, sagte Lynn, die das Ganze extrem ernst nahm. Simons Gesichtsausdruck verdüsterte sich.

„Als ob der etwas daraus lernen würde“, murmelte er. „Ich hab keine Ahnung, ob das so eine gute Idee ist...“

„Doch, wir machen das zusammen“, sagte ich ermutigend. „Daraus wird er lernen, dass er dich nicht mehr herum schubsen kann, wie er möchte. Er soll sehen, dass du dich wehrst.“

„Wenn du meinst...“
 

Wir verbrachten die Woche weniger mit Alkohol und Drogen und mehr mit Sonnenuntergängen am Fluss, gemeinsamen Filmabenden und schlossen mit einer Grillparty bei Genesis ab, für die sie nur eine Hand voll Leute eingeladen hatte, mit denen sich die Drei besonders gut verstanden. Von vorherigen Partys kannte ich die Leute, zumindest vom Sehen her, nun unterhielt ich mich mit einigen über alle möglichen Dinge, hauptsächlich über die Schule. Um Mitternacht öffnete Genesis dann eine Flasche Sekt und alle sangen mir lauthals ein Geburtstagslied. Ich fühlte mich nicht wirklich wie 18, freute mich aber über die Aufmerksamkeit. Da ich die Festivalkarte zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, gab es für mich nur Umarmungen und Küsse, was mir auch vollkommen reichte. Mum und Alex riefen an, ebenso wie Gaara, der mich mal wieder 'Süßer' nannte. Er hatte sich mit den Anderen getroffen und jeder bekam mal das Handy, um mir 'Alles Gute' zu wünschen. Als ich wieder auflegte, stellte ich mich mit den anderen Leuten in einen großen Kreis um das Lagerfeuer und gemeinsam sangen wir irgendwelche Lieder. Gegen zwei Uhr nachts lösten wir uns schließlich auf und jeder ging nach Hause.
 

Auf dem Weg sang ich immer noch das eine oder andere Lied und hoffte, dass ich so einen schönen Abend auch in Zukunft einmal mit Gaara und den Anderen haben könnte. Es fühlte sich doch besser an als sich volllaufen zu lassen. Im Gegensatz zu mir war Simon sehr schweigsam.

„Mach dir keine Sorgen wegen Morgen. Dem Kerl zeigen wir's und danach fahren wir nach Berlin und zum Festival“, sagte ich und klatschte in die Hände. „Das werden einfach nur geniale drei Tage. Du musst sofort aufhören zu schmollen, ich habe Geburtstag.“

„Tut mir Leid, ich habe nur vorhin erfahren, dass jemand mit zum Festival kommt“, grummelte Simon schlecht gelaunt.

„Wer ist jemand?“, fragte ich.

„Adrian.“

„Wer ist Adrian?“

„Ein guter Freund von Liane“, antwortete Simon und ich konnte deutlich heraushören, dass er diesen Kerl hasste. Liane war Lynns ältere Schwester und meines Wissens nach kam diese mit auf das Festival. Dementsprechend verwunderte es mich nicht, dass sie mit weiteren Freunden fuhr. Schließlich waren wir die Freunde ihrer Schwester und nicht ihre.
 

„Na und.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Was ist so schlimm an ihm?“

„Ich kann ihn einfach nicht leiden“, sagte Simon. „Aber egal, du lernst ihn dann ja kennen. Vermutlich wirst du dich mit ihm verstehen, wie das einfach alle außer mir tun. Was soll's.“

Ich verstand nicht wirklich, was Simons Problem war, deswegen ließ ich es vor erst auf sich beruhen. Vermutlich würde sich die Sache noch erklären. Doch der Kerl musste sich schon irgendetwas Heftiges geleistet haben, normalerweise schloss Simon eher so Freundschaften: „Wir haben ein T-Shirt derselben Farbe an, ich mag dich, lass uns Freunde sein!“
 

Bei ihm angekommen, legten wir uns sofort schlafen. Am Morgen, als ich aufwachte, bemerkte ich, dass Simon schon seit einer Weile wach sein musste. Eigentlich sah er aus als hätte er gar nicht geschlafen. Ich gab mir viel Mühe ihn über den Morgen hinweg zu beruhigen, doch mit jeder Minute wurde er nervöser. Als wir dann auf dem Weg zu seiner Mutter und seinem Stiefvater waren, gab er offen zu Angst zu haben.

„Was, wenn er mich danach noch schlimmer behandelt?“, fragte Simon jammernd. „Dann kann ich meine Mutter gar nicht mehr sehen, ohne von ihm schlecht behandelt zu werden.“

„Nur Mut, er wird sich wundern, wenn du ihm die Standpauke hältst“, sagte ich und versuchte so motivierend wie nur möglich zu klingen, doch Simon machte weiterhin ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.
 

Schließlich kamen wir vor dem Haus seiner Mutter an. Es war ein flaches Haus, nur mit Erdgeschoss, ganz in weiß mit einem kleinen Vorgarten. Ebenso spießig wie alle anderen Häuser in dieser Straße. In solch einer Wohngegend vermutete man nicht so ein mieses Arschloch vorzufinden wie Simons Stiefvater es war. Simon machte Anstalten abzuhauen, weswegen ich ihm an Handgelenk packte und zur Haustür schleifte. Widerwillig kam er mit, ich klingelte für ihn und wenige Sekunden verstrichen, da wurde die Tür aufgemacht und Simons Stiefvater stand uns gegenüber.
 

Es war lange her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Irgendwie hatte ich ihn größer in Erinnerung, doch er war nicht einmal einen halben Kopf größer als ich. Seine Haare waren dunkel und von grauen Strähnen durchzogen. Sein Gesicht sah in keinster Weise brutal oder hart aus. Eigentlich sah er so normal aus wie es nur irgend möglich war. Er trug ein einfaches Hemd und einfache Jeans. Das Einzige, das daraufhin weisen ließ, was für ein Arschloch er war, war der Ausdruck in seinen Augen als er Simon erkannte.
 

„Was willst du denn schon wieder hier?“, fragte er barsch. „Ich dachte wir hätten das mit den Besuchen beim letzten Mal geklärt. Du kommst nur noch, wenn ich nicht hier bin. Da warst du mit mir doch einer Meinung.“

„Ich -“ Simon stockte. Noch nie hatte ich ihn so ängstlich erlebt und das ließ die Wut in mir kochen. Ich konnte diesen Kerl kaum ansehen, ohne das Gefühl zu haben ihn zusammen schlagen zu wollen.

„Simon ist nicht hier, um seine Mutter zu besuchen“, stieg ich ein und versuchte so ruhig wie möglich zu klingen, was mir allem Anschein nach nicht gelang.

„Wer bist du denn bitte? Und was erlaubst du dir eigentlich für einen Tonfall?“

„Ich bin Simons bester Freund. Eigentlich müsstest du mich noch kennen“, antwortete ich. Für einen Moment überlegte er, dann sagte er: „Ach ja, Lukas, richtig? Ich habe mitbekommen, wie Simon seiner Mutter von dir erzählt hat.“ Er wandte sich Simon zu und fragte auffordernd: „Musst du dich etwa hinter einer Schwuchtel verstecken, um mir gegenüber treten zu können?!“
 

Natürlich hatte ich schon erwartet, dass mich früher oder später jemand als Schwuchtel beschimpfen würde, doch kam dieses Wort gerade so unerwartet, dass er sogar weh tat. Das war ein kleiner, spitzer Stich in meinem Herzen, der mich erschrocken zusammen zucken ließ. Simon schien dies bemerkt zu haben, denn plötzlich war er selbst auf 180 Grad.

„Ich habe mir genug von dir gefallen lassen, aber wenn du meine Freunde beleidigst, gehst du eindeutig zu weit!“, sprudelte es aus ihm heraus und sein Stiefvater blickte ihn überrascht an. „Und du bist mit der letzten Sache auch zu weit gegangen. Ich werde mir von dir nichts mehr gefallen lassen. Ich komme meine Mutter besuchen, wann immer ich es will und ich will, dass du aufhörst einen Keil zwischen uns Beide zu treiben. Außerdem wirst du mich nie wieder anfassen, verstanden?! Nie wieder! Es ist schon erbärmlich genug, dass du ein Kind geschlagen hast. Ich war zehn Jahre alt, als du mir zum ersten Mal eine verpasst hast. Kommst du dir selbst da nicht wie ein erbärmlicher Feigling vor? Jemanden zu schlagen, der sich absolut nicht wehren kann? Aber das hat jetzt ein Ende, ich lasse mir den Scheiß nicht mehr länger gefallen, du.... du Ochsenwichsendes Arschloch!“
 

Obgleich es die unpassendste Situation überhaupt war, musste ich ein wenig lachen und tarnte es schnell als Hüsteln, als mich Simons Stiefvater wütend anschaute. Sein überrumpeltes Gesicht war Gold wert. Überfordert schaute er von mir zu Simon, wieder zu mir, und blieb schließlich bei Simon hängen. Ich konnte deutlich erkennen, wie sein Unterkiefer malmte und er seinen dummen Kopf anstrengte und nach den richtigen Worten suchte, die er seinem Stiefsohn entgegen schleudern könnte.
 

„Aha, sieht so als würden wir Beide uns verstehen“, sagte Simon und wagte ein triumphierendes Lächeln.

„Du weißt ganz genau, was meine Antwort wäre, würde die Schwuchtel nicht dabei sein“, entgegnete sein Stiefvater. Ich wusste die Antwort auch: Er würde mit Fäusten antworten.

„Tja, jetzt ist Lukas aber dabei und du musst mal ausnahmsweise mit Worten kontern. Mir war klar, dass du damit überfordert sein würdest“, meinte Simon.

„Wart's nur ab. Wenn du das nächste Mal zu uns kommst, dann -“
 

Ich wusste nicht genau, was mich in diesem Moment überkam, doch die Aussicht darauf, dass Simon von seinem Stiefvater auch nur noch einmal grob angepackt werden könnte, machte mich so wütend, dass ich nur noch rot sah. Ehe einer der Beiden reagieren konnte, ballte ich meine rechte Hand zur Faust, holte aus und schlug sie diesem Arschloch ins Gesicht. Ich verfehlte nur knapp das Auge, traf direkt darunter auf den Wangenknochen und spürte ein scharfes Brennen in meinen Knöcheln. Simons Stiefvater torkelte als ich meine Hand zurück zog, er fasste sich an die Stelle, die ich getroffen hatte und sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er wollte mich packen, doch Simon war schneller, fasste mich an Arm und riss mich mit sich.
 

Gemeinsam rannten wir aus dem Vorgarten und die Straße herunter. Sein Stiefvater brüllte uns irgendetwas hinterher, doch ich konnte es nicht verstehen. Das Blut rauschte in meinen Ohren, mein Herz pochte mir bis zum Hals und meine rechte Hand schmerzte, als würde sie brennen. Wir rannten und rannten bis wir am Fluss heraus kamen und dort schweratmend stehen blieben. Einige Sekunden lang japsten wir nur nach Luft, dann schauten wir uns an und begannen gleichzeitig zu lachen.

„Du bist doch total bescheuert“, brachte Simon hervor. „So kenne ich dich ja gar nicht, Lukas.“

„Aber es hat gut getan“, keuchte ich und hielt mir die schmerzende Seite.

„Ja, das hat es“, stimmte Simon zu. „Sein Gesicht, nachdem du ihm eine runter gehauen hast, das war göttlich.“

„Du hast ihn Ochsenwichsendes Arschloch genannt, das war viel besser“, sagte ich und wir mussten erneut lachen.
 

Einige Minuten dauerte es bis wir uns beruhigt haben, dann wurde mir jäh bewusst wie sehr meine rechte Hand eigentlich schmerzte. Simon inspizierte sie. Ich konnte meine Finger nicht mehr komplett ausstrecken und meine Knöchel waren knallrot.

„Das sieht aus wie eine Quetschung“, murmelte Simon. „Vielleicht sollten wir damit lieber ins Krankenhaus. Nicht, dass es die Tage schlimmer wird und dann sitzen wir auf dem Festival fest.“

„So viel Zeit haben wir gar nicht mehr. Wir müssen noch unsere Sachen fertig packen. In zwei Stunden fahren wir los... so schlimm ist das schon nicht. Wir verbinden das gerade, machen Schmerzsalbe drauf und gut ist.“
 

Gesagt, getan. Martina schaute etwas schief, als sie meine Hand sah, fragte aber nicht. Vorsichtig schmierte sie eine kühle Salbe darüber, wickelte danach einen Verband darum. Einige Male sagte sie, dass es besser wäre, wenn ich damit ins Krankenhaus ginge, doch ich schüttelte immer den Kopf. Simon und ich packten schnell unsere Taschen, wobei ich mit der rechten Hand kaum greifen konnte, dann stellten wir uns nach draußen und warteten darauf abgeholt zu werden. Liane fuhr das eine Auto, der besagte Adrian fuhr das Andere. Als die Beiden ankamen, lugte ich neugierig in Adrians Auto hinein. Er ließ das Fenster runter und grüßte uns freundlich.
 

Adrian sah ziemlich gut aus. Ebenso wie Chris sah er schon recht erwachsen aus. Seine schwarzen Haare kräuselten sich zu leichten Locken, sein Gesicht war glatt rasiert und sein Kiefer kantig. Er hatte ein recht flaches Gesicht und braune Augen. Lynn saß neben ihm und winkte uns lächelnd zu, dann sah sie meine Hand und ihr Gesichtsausdruck wandelte sich sofort ins Panische.

„Was hast du gemacht, Lukas?!“

„Erzählen wir dir später“, kam es von Simon und mir wie aus einem Mund. Wir stiegen hinten bei Liane ein. Genesis saß auf dem Beifahrersitz. Bei Adrian saßen drei Freunde von Liane und ihm hinten drin. Simon und ich hatten die Rückbank bei Liane für uns.
 

„Luki, was ist mit deiner Hand passiert?“, erkundigte sich Genesis.

„Ehm...“ Simon und ich wechselten schiefe Blicke.

„Eventuell habe ich Simons Stiefvater eine verpasst“, sagte ich und zuckte mit den Schultern.

„Was?!“, entfuhr es Liane. „Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?!“

„Lynn hat dir doch erzählt, was für ein Arsch er ist“, meinte Simon. Genesis konnte sich indessen vor Lachen nicht mehr halten.

„Luki, High Five.“ Sie streckte eine Hand zu mir nach hinten und ich schlug mit der linken Hand ein.

„Natürlich hat mir Lynn davon erzählt, aber das hätte trotzdem in die Hose gehen können. Vielleicht ist es sogar schief gelaufen und Lukas hat sich ernsthaft was getan an der Hand“, tadelte Liane.

„Ach was, den Schmerz kann ich locker in Kauf nehmen“, sagte ich mit einem Grinsen. „Hauptsache der Kerl hat mal bekommen, was er verdient.“

Festival

Tut mir Leid, dass das Kapitel solange auf sich hat warten lassen, doch ich war fünf Tage auf Seminar gewesen, weshalb ich nicht richtig schreiben konnte. :)

Dieses Kapitel ist als das letzte Kapitel von Teil 1 gedacht. Wann Teil 2 kommen wird, kann ich noch nicht sagen. Ich möchte auf jeden Fall ein paar Kapitel vorschreiben, bevor ich das Erste online stelle!

Ich habe versucht ein einigermaßen abschließendes Ende zu schreiben, aber ich glaube es ist mir nicht wirklich gelungen.
 

__
 

Als wir endlich in Richtung des Festivalgeländes gelangten, gerieten wir in einen Stau aus hupenden, lärmenden Autos, von denen viele mit bunten Flaggen und Tüchern bestückt waren. Nur schleppend kamen wir voran. Musik dröhnte von allen Seiten, ebenso wie Rufe und Jubel und mich überkam ein seltsam wohliges Kribbeln. Während der Autofahrt hatte meine Hand immer mehr geschmerzt, doch ich behielt es für mich und tat als wäre alles in bester Ordnung. Tatsächlich hatte ich jedoch Angst, dass ich mir etwas gebrochen hatte, denn so fühlten sich meine Knöcheln an. Meine Finger konnte ich nicht mehr gänzlich ausstrecken. Ich konnte nur hoffen, dass es von selbst wieder besser werden würde, denn jetzt packte mich die Vorfreude auf das Festival.
 

Um nicht den Kontakt zu Lynn zu verlieren, telefonierte Genesis mit ihr und ich rief Gaara an, um zu erfahren, wo er sich befand. Gemeinsam mit den Anderen war er bereits auf dem Gelände. Wir brauchten über eine halbe Stunde um einen Parkplatz zu finden und befanden uns so weit weg wie nur möglich von dem Block, in dem Gaara mit den Anderen die Zelte aufgeschlagen hatte. Wir brachten einen gefühlt ewig langen Fußmarsch hinter uns und wurden alle halbe Meter von fremden, glücklichen Menschen angesprochen. Ein paar waren bunt angemalt, die meisten hatten Bier in den Händen, viele sangen lauthals Lieder und die Zelte sahen einfach wunderbar aus. Beinahe jedes war mit Flaggen und Bandlogos behangen.
 

Schnell wurde klar, dass sich hier innerhalb kürzester Zeit eine Art Stadt aufgebaut hatte. Eine Stadt in der jeder betrunken war, denn nicht einmal der erste Act hatte gespielt, doch der Alkohol floss in Sturzbächen. Überall roch es nach Marihuana und Shisha und natürlich gab es bei Gaara angelangt, ebenfalls eine Shisha zu bewundern. Diese war genauso groß wie Noah, der mit einer Sonnenbrille auf der Nase daneben stand und breit grinsend winkte.

„Genesis! Lynn!“ Er hüpfte herüber und umarmte die Beiden zu ihrer Überraschung. „Es ist Ewigkeiten her, dass wir uns gesehen haben!“ Er umarmte Simon und dann gab er mit einen Kuss auf die Wange, was mich seltsamerweise knallrot werden ließ. Begrüßten sich Schwule so oder war das einfach nur Noahs Art? Ich schaute zu Gaara herüber, für einen Moment mit der Angst, dass er eifersüchtig sein könnte, doch er lachte bloß herzhaft, dann jedoch erstarb das Lächeln auf seinen Lippen und ehe ich begreifen konnte warum, hatte Noah geschockt meine verletzte Hand genommen.

„Was ist passiert, Lukas?!“ Alle Blicke wandten sich mir zu und ich zog mit einem Schmerzenslaut meine bandagierte Hand zurück.

„Ich hatte nur einen Unfall. Bin auf die Hand gestürzt.“ Ich wusste selbst nicht, warum ich ihnen nicht die Wahrheit erzählte. Vielleicht, weil keiner von ihnen wusste, was für ein Arschloch Simons Stiefvater war und ich solche privaten Sachen nicht ausplaudern wollte, vielleicht auch, weil dies eine Geschichte war, die zu meinen Freunden in NRW gehörte und nicht zu denen in Berlin. Ich versicherte, dass alles okay war und schon bald war die Stimmung wieder fröhlich.
 

Schifti hatte kein Oberteil an, eine Sonnenbrille auf der flachen Nase und saß mit einem Dosenbier in der Hand in einem Klappstuhl. Samantha gönnte sich einen schicken Drink und hatte sich auf einem Liegestuhl breit gemacht, Chris saß im Schneidersitz daneben im Gras. Beide grüßten mich mit dem Handzeichen für Peace. Sie hatten ihre Zelte zu einem Halbkreis aufgebaut, sodass sie dazwischen eine Art kleinen Garten hatten. Unsere Zelte passten noch dazu, auch wenn es ziemlich eng wurde. Wenn man auf Klo wollte, musste man beinahe fünfzehn Minuten zu einer Reihe Dixi-Klos gehen. Duschen gab es keine, dafür hatte Kaito eine andere Entdeckung gemacht, der gemeinsam mit Marc von einem Rundgang zurück kam.
 

„Wir haben das Drogenzelt in unserem Block“, verkündete Kaito mit einem breiten Grinsen und streckte die Daumen nach oben. Genesis, die ihre Dreads zu einem Zopf zusammen gebunden hatte und gerade an der riesigen Shisha zog, streckte die Arme in die Luft und blies mit einem Jubeln den Rauch aus.

„Was für ein Drogenzelt?“, fragte ich verwirrt. Ich saß im Gras und Gaara ließ sich hinter mir nieder, schlang die Arme um mich herum, was mir zwar gefiel, aber in der Öffentlichkeit auch irgendwie peinlich war. Doch ich sagte nichts dagegen, denn niemanden schien es zu stören.

„Auf jedem guten Festival gibt es ein Zelt in dem du Drogen kaufen kannst“, erklärte Marc und setzte sich hin. Kaito zückte eine kleine Plastiktüte mit Gras.

„Alle werden am Eingang auf Drogen untersucht, deswegen ist es schwierig welches hinein zu schmuggeln. Aber diese Leute schaffen es irgendwie trotzdem“, sagte Kaito. „Die haben so ihre Tricks. Ich will auch gar nicht wissen, wo die ihre Tüten hin stecken, damit sie nicht gefunden werden. Auf jeden Fall verkaufen sie gutes Gras.“
 

Er begann mehrere Joints zu drehen und wir teilten uns sie. Als ich den Geschmack von Marihuana im Mund hatte, das Lachen und Lärmen der Menschen um mich herum und Gaaras Finger an meinen Seiten spürte, wusste ich, dass ich mich lange nicht mehr so gut gefühlt hatte und die nächsten drei Tage ein besonderes Erlebnis sein würden. Und das waren sie. Jedes Konzert, egal ob ich die Bands kannte oder nicht, war ebenso aufregend und spaßig wie die Zeit auf dem Zeltplatz. Ständig passierte etwas und wir bekamen kaum Schlaf. Bis um fünf Uhr morgens ertönte das Grölen und Lachen über die Plätze, dann kehrte eine Stunde Ruhe ein und ab sechs Uhr wurden wieder die Ersten wach und riefen quer über den Platz: „HELGA!“
 

Ich hatte keine Ahnung, woher dieser Brauch kaum, doch scheinbar war es auf Festivals normal, dass die Leute den Namen Helga herum schrien. Von überall kamen dann die Antworten und auch Schifti brüllte immer aus vollem Leibe „HELGA!“, womit jeder von uns wach wurde. In der ersten Nacht schlief ich keine Stunde, was jedoch auch an meiner schmerzenden Hand liegen konnte, in der ich deutlich meinen Herzschlag pochen spüren konnte. Früh morgens schleppte mich Samantha zum Zelt der Notärzte, in dem einige Jugendliche schliefen, um auszunüchtern. Dort wurde ich notgedrungen behandelt und fürchtete schon ich müsste das Festival wieder verlassen, doch die Ärztin versicherte mir es sei nur geprellt. Sie sagte ebenfalls, dass es nicht besonders vorteilhaft war, wenn ich bei den Konzert herum sprang, pogte und die Hand ständig in Bewegung hatte, welche besser geschont werden sollte. Als wir das Zelt verließen, ermahnte mich Sam, sie würde ihr Bambi eigenhändig erschießen, wenn es die Schmerzen noch schlimmer machen würde.
 

Durch das Marihuana, das ich ständig rauchte, spürte ich die Schmerzen nur noch wenig. Und die ständige Euphorie und Freude, die uns umgab, trug ebenfalls ihren Teil bei, dass ich meine geprellte Hand vergessen konnte. Am dritten Tag fuhren Marc und Schifti gemeinsam Alkohol kaufen und wir betranken uns gemeinsam, vor dem letzten Konzert gingen Gaara und ich zurück zum Zeltplatz, fanden jedoch in der Dunkelheit und in unserem Rausch nicht mehr den richtigen Weg. Irgendwann landeten wir auf einem Weg, der so abgelegen war, dass wir weder Zelte sehen noch irgendwelche Leute hören konnten. Gaara ging ein gutes Stück vor mir und musste sich mein Gejammer anhören.
 

„Ich bin so müde, ich will einfach nur schlafen.“ Vermutlich lallte ich ganz furchtbar, doch das war mir auch egal.

„Wir sind bald zurück.“ Gaara blieb stehen und schaute sich um. „Aber ich glaube wir haben uns verlaufen. Wir müssen ein wenig suchen.“

„Vergiss es.“ Ich ging vom Weg herunter und legte mich auf die Wiese. „Ich schlafe jetzt hier.“

„Ist das dein Ernst?!“

Als ich die Augen schloss, tat dies einfach nur gut. Es war ein wenig kühl, doch dann legte sich Gaara hinter mich, murmelte etwas davon, dass es ja auch egal wäre und schlang die Arme um meinen Körper. Nur wenige Sekunden später war ich eingeschlafen.
 

Einige Stunden später – die ersten Anzeichen des Morgens machten sich am Himmel breit – wurde ich durch Kichern und Gemurmel geweckt. Verschlafen öffnete ich die Augen, blinzelte ein paar Mal bis das verschwommene Gesicht vor mir deutlicher wurde. Als ich es erkannte, schreckte ich voller Entsetzen auf und weckte dadurch Gaara recht grob. Vor mir hockte mit einem frechen Grinsen auf den Lippen Lena. Blond, mit langen Wimpern und einem bauchfreien Top saß sie dort und hinter ihr stand Katharina, als wäre alleine eine Person der Idiotengruppe nicht schon schlimm genug.
 

„Sag mal, was machst du denn da?“, fragte Lena und deutete hinter mich auf Gaara, der sich stöhnend aufrichtete und an die Schläfe fasste. „Sag mir bloß nicht, du bist eine kleine Schwuchtel.“

Wenn sie das wüsste, würde sie mich mobben. Natürlich war ich im letzten Halbjahr von den Idioten verschont geblieben, aber trotzdem war meine Homosexualität ein gefundenes Fressen für sie.

„Wir sind einfach nur betrunken“, sagte ich also hektisch und merkte wie ich dunkelrot anlief.

„Nur betrunken?“, wiederholte Lena. „Und dann dachtet ihr euch ihr kuschelt miteinander?“

„Sag die Wahrheit, seid ihr ein Paar?“, wollte Katharina wissen.

„Nein“, antwortete ich bestimmt. „Wir sind ganz bestimmt kein Paar.“

„Fickt ihr miteinander?“, fragte Lena.

„Ich bin nicht so ne Schlampe wie du“, rutschte es mir heraus. Für einen Moment stutzte sie und sah aus als wollte sie mir eine klatschen, dann jedoch stand sie auf und meinte zu Katharina gewandt: „Ich glaube, unser Lukas ist wirklich eine Schwuchtel.“

„Glaube ich auch.“

„Bin ich nicht!“

„Wer's glaubt.“

„Mit einem Kerl zu vögeln, ist einfach nur ekelhaft. Andere können es gerne machen, aber für mich ist das nichts.“

Diesmal schienen sie mir meine Lüge sogar zu glauben. Katharina meinte etwas davon, dass ich ihnen mit meiner bloßen Anwesenheit das Festival versaut hätte, dann gingen sie kichernd weiter.
 

Noch immer dunkelrot im Gesicht rieb ich mir die Augen und versuchte meinen Puls zu beruhigen. Das hatte mir noch gefehlt, dass die Idioten sich hier rum trieben. Natürlich besuchte beinahe jeder Jugendliche aus Berlin dieses Festival, doch wenigstens die hätten Zuhause bleiben können. Das versaute mir wirklich alles. Wenigstens war heute Abreisetag, das hieß sie hatten nur dem Ende einen bitteren Nachgeschmack gelassen, die restlichen drei Tage waren dafür einfach klasse gewesen.
 

Seufzend wandte ich mich Gaara zu, der mich undefinierbar anschaute. Mir wurde bewusst, dass er alles mitgehört hatte, doch müsste er es verstehen können. Schließlich wusste er, dass ich von denen im ersten Halbjahr gemobbt wurden bin. Vielleicht hätte ich mich entschuldigen und eine Erklärung abgeben sollen, doch aus irgendeinem Grund blickte ich ihn nur schweigend an. Langsam stand Gaara auf und hielt mir seine Hand hin.

„Komm.“ Seine Stimme klang seltsam hohl. „Wir müssen zurück zum Zeltplatz und unsere Sachen zusammen packen.“

Ich ergriff seine Hand und ließ mich von ihm hoch ziehen. Händchen haltend suchten wir uns den Weg. Aus einem schlechten Gewissen heraus, zog ich meine Hand nicht weg, doch am liebsten hätte ich einen Meter Abstand zu ihm gehalten. Lena und Katharina könnten schließlich noch irgendwo hier sein und sehen, wie ich mit Gaara Händchen hielt.
 

Es dauerte fast eine halbe Stunde bis wir wieder bei unseren Zelten waren, wo bereits fleißig zusammen gepackt wurde. Nur Marc saß in Samanthas Liegestuhl und trank eine Dose Bier. Mit Schiftis Sonnenbrille auf der schlanken Nase prostete er uns zu.

„Ich bin extrem verkatert, da hilft nur noch mehr Alkohol“, erklärte er. Ich hatte das Gefühl als würde er uns oder zumindest Gaara einige Sekunden lang anstarren, dann nahm er wieder einen Schluck und lehnte sich zurück.

„Ich will noch nicht gehen“, hörte ich Lynns Stimme jammern, als ich mich zu ihr umwandte, stellte ich voller Überraschen fest, dass sie auf Adrians Schoß saß. Die Beiden waren mit frühstücken befestigt. Eigentlich hatte es volle drei Tage lang nur Dosenfutter und Studentenfutter gegeben und ich sehnte mich danach wieder etwas Richtiges zu essen. Genauso wie ich mich nach einer Dusche sehnte. Wenn man sich hier duschen wollte, musste man zum ersten Zeltplatz laufen und wurde dort an einer abgelegenen Stelle mit einem Wasserschlauch abgespritzt. Das ersetzte das Duschen nicht wirklich und alle rochen ein wenig streng, doch gehörte zu einem Festival dazu. Beinahe genauso sehr sehnte ich mich nach einer richtigen Toilette und nicht nach diesen vollgekotzten Dixis. Wenn ich es mir recht überlege, war ich auch ganz froh wieder nach Hause zu können. Drei Tage Festival reichten vollkommen aus.
 

„Hier ist es so cool, ich will noch ein wenig bleiben“, sagte Lynn und ließ sich seufzend gegen Adrian fallen. „Auch, wenn ich stinke.“ Daraufhin musste er lachen.

„Das merkt hier niemand, wir stinken alle“, sagte er. Zwischen den Beiden würde doch noch etwas laufen oder vielleicht lief sogar etwas. War das Lynns komplizierte Liebesangelegenheit? Für mich sah es nicht kompliziert, sondern ziemlich offensichtlich aus. Mit einem stummen Lächeln schaute ich von den Beiden auf und sah dann Simon, der mit einem Gesichtsausdruck wie sieben Tage Regenwetter, eines der Zelte zusammen packte. Düster schenkte er mir einen Blick. Konnte er Adrian so wenig leiden, dass er Lynn nicht einmal das Glück gönnte? Das konnte ich mir nur schwer vorstellen. Was hatte der Kerl sich geleistet, dass Simon ihn so sehr hasste?
 

Eine seltsame Anspannung lag in der Luft, während wir zusammen packten, die sogar Schifti spüren konnte. Ich sah wie Kaito und Gaara taten, was sie häufig taten: Mit stummen Blicken miteinander kommunizieren. Auch Samantha bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Noah und Genesis tuschelten etwas abseits miteinander und an ihren Gesichtsausdrücken konnte ich erkennen, dass es sich um etwas Ernstes handeln musste. Man konnte regelrecht spüren, dass es Diskussionsbedarf und Erklärungsbedarf gab, doch nicht in der Gruppe im Allgemeinen, sondern untereinander. Ich wollte auch unbedingt Simon und Noah von dem Erlebnis erzählen und auch Hannah, die als Einzige nichts von der Anspannung zu spüren schien, sondern wild SMS mit ihrem Freund schrieb, der nicht hatte mitkommen können.
 

Die Abreise dauerte Ewigkeiten. Auf dem Parkplatz verabschiedete ich mich von meinen Freunden aus NRW. Liane umarmte mich, Lynn gab mir einen Kuss auf die Wange, Genesis boxte mir gegen die Schulter und zwinkerte und Simon schlug mit mir ein.

„Was ist los?“, wisperte ich, sodass nur er es hören konnte. Um uns herum herrschte großer Tumult, da sich meine Freunde aus Berlin ebenfalls von denen aus NRW verabschiedeten. „Du ziehst so ein Gesicht. Hat es was mit Adrian und Lynn zu tun?“

„Kann ich dir das wann anders erzählen?“, fragte Simon bedrückt.

„Ich bin zu neugierig, bitte. Außerdem verschiebst du es dann wieder, ich kenne dich doch. Dann dauert es Ewigkeiten bis ich es aus dir heraus kriege. Friss nicht immer solche Sachen in dich hinein, du weißt, dass das nicht gesund ist.“
 

Einige Sekunden lang schwieg er nur, dann sagte er leise: „Ich mag Lynn ein bisschen mehr als nur als Freundin.“

„Simon, komm uns irgendwann wieder mal besuchen, bitte!“ Noah drängte sich zu uns und umarmte ihn, danach kam Hannah an die Reihe und Kaito schlug mit ihm kumpelhaft ein. Ich stand daneben und merkte erst spät, dass mein Mund leicht offen stand. Alles ging plötzlich sehr schnell und ich hatte keine Zeit mehr mit Simon zu reden, sondern nur noch ihm zuzurufen, dass wir so schnell wie möglich miteinander telefonieren.

Als wir uns dann endlich auf der Autobahn nach Berlin befanden, zu Viert auf der Rückbank, da niemand mich für die Rückfahrt eingerechnet hatte, lehnte ich den Kopf gegen die Scheibe und schloss die Augen. Die Hitze, die im Auto stand war kaum auszuhalten, doch noch weniger hielt ich dieses unangenehme Gefühl aus. Eine Vorahnung, dass das kommende Jahr viel Chaos mit sich bringen wird.



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Von:  JamieLinder
2014-08-16T17:39:23+00:00 16.08.2014 19:39
Hach. Wunderbare Geschichte.
Die Charaktere sind einfach wunderbar. Ich finde es klasse wie du auf jeden Charakter eingegangen bist und über jeden etwas erzählt hast. Sowas liebe ich.
Bei manchen Erzähl - Orten konnte ich mir die Szenen richtig gut vorstellen. Ich wohne selber in Berlin und da hat das vorstellen und reinversetzen richtig Spaß gemacht. :D
Vielen Dank für die tolle Geschichte.
Ich werde sofort Teil 2 ansteuern :D
Antwort von:  Hushpuppy
17.08.2014 00:13
Du bist schon durch *____________*'
Freut mich, dass dir die Geschichte so gut gefällt! Hoffentlich bleibt das bei der Fortsetzung, viel Spaß beim Lesen :D
Antwort von:  JamieLinder
17.08.2014 10:00
Haha. Schon durch ist gut. ^^'
Ich habe auch meine drei, vier Tage für alles gebraucht, aber dafür, dass ich über mein Handy lese... Ja ich bin schon durch. :D
Von:  JamieLinder
2014-08-15T10:07:36+00:00 15.08.2014 12:07
Bis hierhin habe ich mich jetzt schon vorgearbeitet. Und ich bin begeistert.
Ich mag Lukas, ich mag den Story Verlauf und ich bin sehr gespannt wie es weiter geht.
Ich habe die gesamte Truppe schon in mein Herz Geschlossen.
Und ich verstehe Noah total. - mir kommt das psychische Krankheitsbild bekannt vor.
Ich freue mich schon auf das weiter lesen.
Jetzt sofort. (:
Antwort von:  Hushpuppy
15.08.2014 20:38
Danke für den Review. :D
Wow, dass du dich durch die Story arbeitest, obwohl sie schon soweit ist!
Hoffentlich wird sie dir auch bis zum Ende gefallen:D

LG Suki
Von:  Onlyknow3
2014-02-23T10:45:39+00:00 23.02.2014 11:45
Ja was hat sich Lukas dabei gedacht, Gaara einfach zu leugnen, gebracht es ihm nur das sich nun dieser von ihm zurück zieht, und sie sich wahrscheinlich sogar trennen. Das ist zwar ein Clifhanger, aber der ist besser als ein klarer Schnitt, so bleieb dir deine Leser erhalten weil jeder wissen will wie es weiter geht, und ich gehöre dazu. Mach weiter Teil 2 deine Geschichte. Wäre schön wenn du eine Ens schickst wann es weiter geht.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Hushpuppy
23.02.2014 12:10
Kann ich gerne machen. :)
Antwort von:  Sharon
06.03.2014 14:27
Schrieb mir bitte auch eine ENS, wenns weitergeht.
bin schon voll gespannt^^
Von:  tenshi_90
2014-02-22T19:15:01+00:00 22.02.2014 20:15
Auweia.. ich kann mir denken, dass Gaara jetzt iwie angefressen ist... immerhin hat er es geleugnet, mit ihm zusammen zu sein.. ich bin gespannt, wie es weiter gehen wird
Von:  Onlyknow3
2014-02-13T13:20:32+00:00 13.02.2014 14:20
Das hoffe ich auch, nicht nur für Simon sondern auch für Lukas. Das seine Hand nicht schlimmer verletzt ist als es jetzt aussieht.Mach weiter so, kann Lukas ja verstheen das er so reagiert hat, mit den Aussichten für Simon, das dieser wieder Schläge bekommt.Freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  tenshi_90
2014-02-12T16:29:12+00:00 12.02.2014 17:29
Das Lukas so reagiert, hätte ich jetzt nicht gedacht.. Hoffentlich wird das keine Folgen haben....

Von:  Onlyknow3
2014-02-08T16:23:40+00:00 08.02.2014 17:23
Das war jetzt der dritte Anlauf das Kapitel zu lesen und es hat geklappt ohne das jemand stört.
Lukas hat recht mit dem was er Simon an den Kopf geworfen hat, bin froh das dieser sich das auch Eingesteht.Mach weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  tenshi_90
2014-02-07T10:13:14+00:00 07.02.2014 11:13
Ich hoffe sie finden einen guten weg....
Von:  tenshi_90
2014-01-29T10:32:54+00:00 29.01.2014 11:32
Das mit Simon ist schon echt heftig.. Bin gespannt, wie sie dagegen vor gehen wollen.
Von:  Onlyknow3
2014-01-29T06:43:41+00:00 29.01.2014 07:43
Das hört sich gar nicht gut an was da mit Simon passiert,seinem Stiefvater sollte jemand das Handwerk legen und diesen wegen schwerer Körperverletzung anzeigen. Das Simon nichts macht versteh ich nicht, sein Vater würde doch hinter ihm stehen ihm helfen. Das sollte man Simon mal klar machen, das er sich das so nich gefallen lassen muss. Mutter her oder hin sie tut ja nichts lässt ihn ein ums andere mal im Stich. Vielleicht kann Lukas doch was erreichen in der Woche. Weiter so,freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Hushpuppy
29.01.2014 22:58
Ach Simon kann mit Problemen wirklich schlecht umgehen.. er ist so jemand, der das lieber verdrängt und ignoriert, anstatt es anzupacken, weil er sich damit nur schlecht auseinander setzen kann. Außerdem war die Situation mit seinem Stiefvater schon immer so gewesen. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich so entschuldige. Meiner Meinung nach muss man in solch einer Situation natürlich handeln, aber meine Charaktere haben nicht immer dieselbe Meinung wie ich... :)
Antwort von:  Onlyknow3
29.01.2014 23:01
Ok,vielleicht bringt ihn ja Lukas dazu was zu ändern.Das liegt jetzt aber glaube ich doch dann am Autor.Viel spaß noch beim weiter schreiben bin schon ganz gespannt auf das nächste Kapitel,und Gaaras begrüßung.

LG
Onlyknow3


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