How to be ... von Sherlockfreak ================================================================================ Kapitel 2: A GOOD PRETENDER --------------------------- Ganz entspannt saß Sherlock auf seinem Sofa, ein Nikotinpflaster auf dem Arm klebend, eine Tasse Tee vor sich stehend und auf dem kleinen Wohnzimmertisch sein Notebook. John tätigte gerade etwas in der Küche, offensichtlich versuchte er vergeblich, aufzuräumen und so etwas wie Ordnung zu schaffen, als es an der Tür klingelte. „Sherlock, erwartest du Besuch?“, fragte der Arzt aus der Küche und kam ins Wohnzimmer, während er sich die Hemdärmel wieder richtete, zum Abspülen hatte er sie lieber hoch-gekrempelt. „Nein“, war Sherlocks monotone Antwort, während er weiter etwas für seinen aktuellen Fall herumforschte. Es ging um rätselhafte Selbstmorde, von denen er überzeugt war, dass es Morde waren. Nur wie wollte Sherlock das den fürchterlich beschränkten Polizisten nur klarmachen? Es klingelte noch einmal, Sherlock reagierte überhaupt nicht, sodass sich John gezwungen sah, die Tür zu öffnen, das aber nicht ohne ein wütendes Schnauben. „Dann mach halt ich die Tür auf.“ Keine Minute später hörte Sherlock, hochkonzentriert auf den Artikel und trotzdem aufmerksam den Geräuschen lauschend, wie John die Tür aufmachte und jemand ohne Begrüßung die Treppe heraufgestampft kam. Nun, es war eindeutig wütend, aber nicht schwer genug für einen Mann, also musste es eine Frau sein. Und er wusste schon, um wen es sich dabei handelte. „Sherlock Holmes!“ Sauer schnaufend stand Cathy in dieser Müllhalde von Wohnung, die Hände in die Hüfte gestemmt und ganz außer Atem. Sie war den ganzen Weg zur Baker Street im Stechschritt gelaufen, weil sie so wütend war, dass sie am liebsten jemand zusammengeschlagen hätte. Die Entfernung von der U-Bahn – die Cathy genommen hatte – war nicht gerade die Kürzeste und in ihrer Arbeitskleidung – wie eigentlich üblich ein Top und eine Short, sowie halbhohen Sandaletten – war das ganze noch etwas anstrengender gewesen. Und nun musste sie frustriert feststellen, dass dieser beratende Detektiv sie auch noch nicht mal beachtete. „Entschuldigung Cathy, aber was ist denn passiert?“, wollte John etwas zögerlich wissen. Inzwischen war sie nämlich fast so groß wie er, was aber nur an ihren Absätzen lag, die waren bei vier Zentimetern zwar nur gering nennenswert, aber dennoch machten sie was aus. „Ohh, John, halt dich da raus!“, schnauzte sie, kramte ein kleines Kassettchen aus ihrer Hosentasche und knallte es auf den Tisch, sodass Sherlock gezwungen war, sie anzusehen. „Tut mir leid, ich habe es schon entsorgt.“ „Wie bitte?!“ John konnte Cathys Kragen aufblasen sehen. Er kannte sie schon viel zu lange, um das hier falsch zu interpretieren. Irgendwas hatte Sherlock angestellt, was die junge Frau zum Kochen brachte. „Sie wollen mich verarschen!“ „Nun – nein.“ Damit widmete er sich wieder seinem Notebook. John schüttelte den Kopf. Auch wenn Sherlock ein Meister des Deduzierens war, so hatte er doch keinerlei Menschenkenntnis, zumindest keine Erfahrung mit temperamentvollen Leuten. Schon hatte sich die Kupferhaarige neben den Detektiv gestellt, das Notebook zugeklappt und ihre Hand auf den Tisch gepatscht. „Geben Sie mir sofort die fehlenden Teile wieder!“ „Ich sagte doch bereits, dass sie entsorgt sind.“ „Mir egal – dann wühlen Sie halt im Müll! Was soll ich bitte dem Bestatter heute Abend sagen, wenn er wissen will, wieso die eine Hälfte des Brustkorbes eingefallener ist als die andere?“ „Wartet mal – was genau fehlt denn und … wo?“, warf John ein und hob die Hände. „Mr. Holmes ist gestern Nacht noch in meinen Rechtsmedizinbereich eingebrochen und hat eine Leiche geschändet!“, erklärte Cathy aufgebracht und deutete auf die Kassette. „Nur, falls es Unklarheiten geben sollte.“ „Sherlock!“ Entsetzt und kaum überrascht lies John den Kopf hängen und setzte sich in den Sessel. „Unglaublich. Einfach unglaublich.“ Murmelnd tigerte Cathy durch die Straßen, einen blauen, stinkenden Müllbeutel mit sich herumtragend. Sherlock hatte die Lunge und das Herz doch nicht weggeschmissen wie er behauptet hatte, sondern das Zeug im untersten Kühlschrankfach gebunkert, was John glücklicherweise herausgefunden hatte. Gerade wollte sie die Treppe zur U-Bahn runtergehen, als ihr Handy klingelte. „Jaina?“ „Cathy! Komm schnell!“, ertönte die aufgelöste Stimme ihrer Freundin. „Jaina? Was ist passiert?!“ Sofort legte die Medizinerin einen Zahn zu, die Eingeweide in der Tüte gegen ihre Beine schlackernd. „Ist deine Mama gestorben?!“ Sie ging automatisch immer vom schlimmsten aus. „Nein! Oh Gott, das ist ja so eklig! Komm einfach schnell.“ „Wo bist du eigentlich?“ „Ja, im Hinterhof unserer Nachbarin, für die ich heute noch die Blumen gießen sollte!“, gab Jaina genervt von sich, dann quietschte sie erschrocken auf. „Okay, ich bin ja gleich da!“ „Cathy, zum Glück bist du da!“, rief Jaina, als ihre Freundin aus dem Taxi stieg und bezahlte. „Da ist ein Kopf im Garten!“ Die hübsche Mathematikerin sah fürchterlich schockiert und aufgelöst aus. „Ein Kopf?“ Besorgt schaute Cathy ihre Freundin an. „Ja, ein Kopf! Ohne Körper! Da steckt was im Mund drin!“, erklärte die Mathedozentin und führte Cathy zum Ort des Geschehens. Es war ein kurzer Weg und als die zwei jungen Frauen im Garten waren, erwartete sie genannter Kopf. Der eindeutig einem Mann gehört hatte. Verwirrt verzog Cathy das Gesicht. „Und… der Körper war nicht hier?“ „Nein, ich hab dich gleich angerufen.“ „Okay, dann schauen wir uns das Ganze mal an. Hier hast du Handschuhe.“ Damit händigte Cathy ihrer Freundin Latexhandschuhe aus, zog sich selber welche über und betastete dann den Kopf. Auch Jaina zog sich die Handschuhe an und trat neben die Rechtsmedizinerin. „Weißt du, was ich komisch finde? Der Kopf ist da und eigentlich, wenn man geköpft wird, dann geht doch ein kleines Stück vom Hals immer mit, oder?“ „Mhm.“ „Aber hier ist nur Kopf und null Hals“, meinte Jaina und schaute in das Ohr des Kopfes. Sie wusste, was sie da gerade machten, war nicht erlaubt und konnte eventuell sogar bestraft werden, aber irgendwie war es gerade deswegen so spannend. „Jep. Das heißt, da hat sich jemand Mühe gemacht, den ganzen Körper zu verstecken. So kann ich natürlich wenig sagen. Männlich, weiß, Mitte Dreißig bis Mitte Vierzig. Übergewichtig“, schloss Cathy und richtete sich auf. Sie sah sich um. „Und er wurde nicht hier getötet. Rufen wir die Polizei.“ „Okay.“ Eine viertel Stunde später standen zwei Streifenwagen vor dem Haus, in dessen Garten sich der ganze Tumult abspielte. Jaina und Cathy hatten sich schnell die Handschuhe ausgezogen, bevor jemand auf die Idee kommen würde, die zwei hätten schon am Schädel herumgespielt; das würde keinen guten Eindruck hinterlassen. Außerdem hatte Cathy die blaue Tüte in eine größere Handtasche gepackt und immer noch bei sich. „Und Sie haben den Kopf gefunden?“, fragte gerade ein Polizist Jaina, welche sich auf einen Gartenstuhl niedergelassen hatte, um erschöpft zu wirken. In Wirklichkeit war sie allerdings wild darauf, mit Cathy in die RM zu fahren und ihrer Freundin dort zuzusehen, was sie mit dem Kopf anstellte. „Ja.“ „Um wie viel Uhr war das etwa?“ Neugierig bist du auch gar nicht, dachte Jaina bitter und musste sich den Kommentar runterschlucken. „Vor etwa einer halben Stunde.“ „Und wieso haben Sie nicht gleich die Polizei gerufen?“ „Ich hab noch etwas Zeit zum Übergeben gebraucht. Keine Ahnung, ob Sie so was kennen“, gab sie nun doch etwas spitzer als nötig zurück. Bis jetzt hatte sie nicht gewusst, wie sie diese Zeit-differenz hatte erklären wollen, aber dieser spontane Ausbruch war ja auch nicht schlecht gewesen, schließlich hatte der Polizeibeamte jetzt ein schlechtes Gewissen. „Das tut mit leid“, murmelte dieser nur und entfernte sich dann, woraufhin gleich Cathy angelaufen kam. „Na, lange hat dich der kleine Spasti ja nicht ausgehalten“, grinste sie über beide Ohren und machte sich einen strengen Dutt. „Du willst bestimmt mit zur Untersuchung?“ „Klar“, erwiderte Jaina etwas verwirrt. „Spasti?“ „Aaach, du kennst mich. Der ist schon seit zwei Jahren dabei und checkt noch immer nicht, dass Leute nach dem Finden einer Leiche gerne mal brechen gehen oder ohnmächtig werden oder einen Schock bekommen. Deswegen“, erklärte sie fröhlich und winkte einem Taxi. „Wir fahren schon mal vor. Währenddessen kannst du mir dann in aller Ruhe erzählen, wie dein Date so verlaufen ist.“ Leicht genervt seufzte Jaina auf. Cathy würde es einfach nie lernen. „Also, dann lass mal hören“, forderte Cathy Jaina auf, überschlug ihre Beine und lehnte sich in dem Sitz zurück, die Hände im Schoß aneinandergelegt, die Fingerspitzen nach oben zeigend. „Na gut, aber du darfst mich nicht mit bescheuerten Date-Sprüchen unterbrechen. Ach, unterbrich mich einfach gar nicht“, erwiderte Jaina, legte eine Hand an die Schläfe und schaute aus dem Fenster. „Also, gestern Abend…“ Sie steigt aus dem Taxi, das vor dem ausgemachten Café gehalten hat, fühlt sich ein wenig unwohl und aufgeregt in ihrer Haut. Sie weiß, es ist kein Date, trotzdem freut sie sich auf die Abwechslung und ist gespannt, ob er und sie nur über Mathematik reden werden. Wovon Jaina hofft, es wird der Fall, für alles andere ist sie nämlich nicht gut genug vorbereitet. Nun, sie beherrschte seit jeher den Small-Talk, aber so wirklich nutzen möchte sie ihn heute Abend nicht, sonst wäre ihre Freude vollkommen fehl am Platze gewesen. Schließlich gibt es selten die Möglichkeit, sich mit jemand anderes für solch ein Themengespräch zu treffen. „Ah, da sind Sie ja“, wird sie beim Eintreten gleich von dem fein angezogenen Kellner begrüßt. „Der Herr erwartet Sie schon“ „Aber, äh… wir sind doch erst für in zehn Minuten verabredet?“, erwidert Jaina etwas überrumpelt und lässt sich zum Tisch führen. Allerdings ist sie froh, dass sie gleich einen Sitzplatz hat, in diesen sündhaft teuren Chinese Laundry Schuhen lässt es sich auf längere Zeit nicht bequem stehen noch gehen. „Miss White! Wie schön, Sie zu sehen!“, freut sich Moriarty, als er aufsteht, ihr einen Handkuss gibt und ihr den Stuhl zurechtrückt. „Ich dachte, es wäre schön, schon einmal auf Sie zu warten.“ „Ja, das war tatsächlich sehr… aufmerksam“, gibt die Dozentin stockend zurück und ist froh, dass sie eine einfache schwarze Hose und eine weiße Bluse trägt. Alles andere wäre overdressed gewesen. „Gut, dann lassen Sie uns doch gleich etwas bestellen, später dauert es so lange, bis es an den Tisch gebracht wird“, schlägt Jim zuvorkommend vor, Jaina aus seinen dunklen Augen fröhlich ansehend. Das macht man nicht, wenn man sich nur so mal sieht, beschwert sich Jaina innerlich und würde sich am liebsten sofort wieder von hier entfernen, wäre die Musik nicht so schön und das Ambiente so ansprechend. Sie kennt das Lied, Cathy hatte es ihr einmal gezeigt, als sie mal wieder unkoordiniert auf YouTube rumgesurft war. Es war „Only you“ von Ciara Considine, ein unglaublich schmalziges Lied. Jim winkt dem Kellner, während Jaina sich darauf vorbereitet, dieses Gespräch auf das ausgemachte Thema zu lenken. Nämlich dem inelastischem Materialverhalten von Metallen. „Für mich einen Merlot. Was möchten Sie trinken?“ „Einen Chateau La Mondotte“, meint Jaina und denkt dabei sehnsüchtig an diese eine Flasche Wein, die sich Cathy und sie einmal gekauft hatten, dieses unverfroren teure Stück Luxus, das immer noch ungeöffnet im Wohnzimmerschrank stand und von dort aus schon den Preis von 85.250,00€ ausstrahlte. Gut, für diesen einzigartigen Branne Mouton hatte es sich durchaus gelohnt, aber so was würde Jaina nie wieder zulassen. Einfach nie wieder. Den hatten sie angeheitert gekauft und würden ihn jetzt für immer so stehen lassen. Nachdem der Kellner gegangen ist, hat Jim wieder die volle Aufmerksamkeit von Jaina. Heute sieht er gut aus, denkt sie etwas verzweifelt. Er trägt einen dunkelblauen Anzug von Westwood, dazu eine passende Krawatte und ein weißes, gestärktes Hemd. Wieso dürfen manche Männer so unverschämt gut aussehen? Unangenehm berührt lehnte Jaina sich zurück und hoffte, dass diese Fahrt doch schneller vorbeiginge. Cathy ihr gegenüber sah immer wieder so aus, als ob sie das verbotene D-Wort sagen wollte, oder zumindest vieles, was Jaina ihr erzählte, kommentieren. Zum Glück hielt sich ihre Freundin wie versprochen zurück, es war auch so schon schlimm genug für die Dozentin. Sie sehen heute fantastisch aus.“ „Eh... danke. Sie – auch.“ Jaina kann es nicht glauben, dass sie sich inzwischen das zehnte Kompliment innerhalb von fünf Minuten anhören durfte. Das geht doch nicht, dass sie es einfach nicht schafft, das Thema von ihren Haaren, ihrer Kleidung oder ihrem Parfum abzulenken. Und dennoch kommt Jim immer wieder auf andere Sachen als Mathematik zu sprechen. Noch. „Also, Mr. Moriarty, wie sind Sie eigentlich auf die Mathematik gekommen?“ „Nun ja, Mathematik ist einfach logisch und ansprechend. Entweder ist etwas richtig oder falsch, da gibt es keine Spielräume wie in Fachbereichen der Religion oder Ähnlichem“, antwortet er diesmal konkret, wofür Jaina unendlich dankbar ist. „Das stimmt. Und sind Sie dann schon immer Mathedozent?“, fragt sie weiter. „Naja, ja. So halb. Ich habe Mathe studiert, dann war ich in der Armee und jetzt finde ich es angenehmer, meinen Hobbies nachzugehen“, meint Jim gelassen und zuckt mit den Achseln. Dann nimmt er einen Schluck von seinem Rotwein. „Ihren Hobbies?“ „Mathe, größtenteils. Der Rest ist eher uninteressant.“ „Na dann. Also, wie lange beschäftigen Sie sich dann jetzt schon mit dem dem inelastischem Materialverhalten von Metallen?“ Sie hatte diese Wörter, so aneinandergereiht, schon immer cool gefunden. „Noch nicht so lange, aber ich habe zwei Abhandlungen darüber gelesen und mich mit den Kollegen darüber unterhalten.“ „Mhm.“ Jaina hat keine Ahnung, was sie darauf erwidern soll. Sie selbst hat sich mit niemand darüber unterhalten, nur Cathy hatte sie letztens damit einmal zugeschwallt, allerdings hatte ihre Freundin nur halbherzig zugehört. Außer den Büchern, die sie darüber gelesen hatte und die ausgeführten Experimente, kann Jaina nichts Cooles aufweisen. Aber wenigstens weiß sie bescheid. Vielleicht sogar mehr als Jim, weil der ja nur Bücher gelesen und nichts selber ausprobiert hatte. „Okay, wird’s irgendwann auch spannend?“, fiel Cathy ihr da ins Wort, grinsend und sich streckend. „Überspring den Mathe-Teil und erzähl mir doch lieber, wann er dich an der Hand genommen hat.“ „Hat er gar nicht!“ „Doch, sonst würdest du sie nicht die ganze Zeit versteckeln.“ „Er hat sie aus Versehen berührt und zum Abschied geküsst und das war’s“, insistierte Jaina, sodass Cathy in leises Kichern verfiel. „Natürlich, das glaubst du mir jetzt nicht.“ „Entschuldigung, aber Jaina. Schau mal, ihr trefft euch, du willst über Mathe reden und er macht dir über fünf Minuten lang Komplimente über alle möglichen Sachen? Ich denk, du weißt selber, was das heißt.“ „Ja, aber mir gefällt das nicht und dir würde das ganz bestimmt auch nicht gefallen, wenn dich ein Kollege mit einem interessanten Gespräch lockt und dann doch nur am Rumflirten ist“, meinte die Mathematikerin und verschränkte die Arme. Gut, das Gespräch über das Thema war dann doch noch gut gelaufen und sie hatten sich prächtig verstanden, aber das musste ihre Freundin ja nicht wissen. Na, zumindest noch nicht. Später mal, wenn sie sicher war, dass Cathy nicht mehr auf das Wort „Date“ insistieren würde. „Tja, ich würde gar nicht mit dem Kollegen mitgehen“, meinte Cathy da und öffnete die Taxitür. „Wir sind da.“ Dann drehte sie sich zum Fahrer. „Gehen Sie rein und holen Sie sich Ihr Geld, Scotland Yard zahlt das als Arbeitsweg.“ Damit stieg sie aus, eine verblüffte Jaina hinter sich herlaufend. „Hä? Cathy? So funktioniert das doch gar nicht!“ „Ja, ich weiß.“ „Aber wieso bescheißt du ihn um sein Geld?“ „Weil ich selber keines dabei hab“, erklärte sie ungeduldig und winkte mit der Hand ab. „So, das machen die Kollegen schon, von mir aus bring ich mal was zu Naschen mit. Also, du musst aber ein bisschen aufpassen, wo du hinläufst.“ „Wieso?“ „Weil halt. Du kannst da unten nie wissen, ob gerade gewischt wurde oder nicht. Wir haben keine Achtung-Rutschig-Schilder“, meinte Cathy und ging mit Jaina runter in die RM. „Und du denkst, dass gerade heute Nacht gewischt wurde?“ „Ja. Gestern Nacht wurde eingebrochen und ich wette, inzwischen hat eine Putzfrau gegen Bezahlung wieder sauber gemacht. Außerdem muss ich das Geklaute wieder zurückbringen.“ „Eingebrochen?!“ Nun war Jaina doch etwas entsetzt. Ob jetzt der Tatsache, dass so etwas passieren konnte oder dem Fakt, dass Cathy auch noch davon wusste, war ihr nicht ganz klar. „Ja. Den besuchen wir später auch nochmal. Ich hab noch eine Rechnung für ihn.“ Das klang nicht nur sauer, Cathy sah auch so aus. Jetzt hatte sie Augenringe und Kneifaugen. „Okay, also, das ist interessant“, verkündete Cathy schon fröhlicher und drehte den Kopf des Mannes so, dass man die Unterseite gut betrachten konnte. Jaina stand etwa zwei Schritte entfernt und fand den Anblick wie einen Autounfall: Man will wegsehen, kann aber nicht. Jaina beobachtete, wie Cathy das Diktiergerät anschaltete. „Es ist Samstag, der neunte Julei 2010. Mein Name ist Dr. Dr. Catherine Romeck, der Name des Toten, von dem nur der Kopf gefunden wurde und nun untersucht wird, ist unbekannt. Die bisherigen Befunde der pathologischen Untersuchung zeigen: Der Mann war wahrscheinlich schon tot, bevor ihm der Kopf abgetrennt wurde, vermutlich durch Erwürgen; erkennbar durch die Dunsung des Gesichts, massiven Petechien im Gesichtsbereich, der Zyanose der Lippen und einer leichten Zyanose der Nasenspitze. Ich werde jetzt den Mund öffnen, da darin ein Gegenstand vermutet wird und… tatsächlich, ein Zettel, um einen Gipsblock gewickelt. Mit diesem Gipsklumpen wurde auch das Atmen verhindert. Da wollte jemand sicher gehen. Den Zettel untersuche ich später, jetzt werde ich erstmal das Hirn freilegen, um eine mögliche, Verzeihung, eine wahrscheinliche Hirnischämie darzulegen.“ Cathy legte den Kopf sorgfältig auf den Stahltisch, befestigte ihn mit einer Art Schraubstock und griff nach der Knochensäge. Dann schaute sie zu Jaina. „Heute ist bei der Untersuchung Professor Doktor Jaina White anwesend, die mir nicht assistiert. Mr. Chan ist abwesend. Die Untersuchung wird von mir allein durchgeführt.“ Daraufhin zog sie ihre Schutzbrille aus dem dafür vorgesehenen Fach . „Jaina, also es wäre von Vorteil, wenn du jetzt ein wenig zurücktrittst und vielleicht wegschaust“, schlug sie dann noch vor, und setzte sich die Schutzbrille auf, bevor sie die Säge startete. „Uh, es liegt eindeutig eine Hirnischämie vor, es ist deutlich zu viel Blut vorhanden, das Opfer wurde also stranguliert. Einige Gefäße sind geplatzt und das Blut hat sich zwischen den Windungen inzwischen festgesetzt. Nun zur Schnittkante“, fuhr sie fort und wischte sich mit einem Feuchttuch die behandschuhten Finger ab. Sie drehte den Schädel wieder so, dass man den Schnitt sehen konnte. „Auf den ersten Blick sehr sauber, aber bei genauerer Betrachtung des Muskelgewebes stelle ich fest, dass die Hautschichten nachträglich gekürzt wurden. Aber dazu später mehr.“ Dann setzte sie die Brille ab und schaltete das Aufnahmegerät aus. „Ich hab’s doch gewusst.“ „Cathy, das ist irgendwie…eklig“, meinte Jaina und trat näher. Sie fand es faszinierend, wie Cathy diesen Gestank, der von der Hirnmasse ausging, widerstehen konnte und wie ihre Freundin es nicht interessierte, dass hier inzwischen voll das Blut herumseiberte. Aber das brachte wohl der Beruf mit sich. „Ach was. Eklig ist, wenn du den ganzen Kerl gefunden hättest. Beim Erwürgen ist es immer so, dass sich der Getötete kurz vorm Tod nochmal schnell einkötteln muss. Immer. Jedes Mal hab ich dann hier die Sauerei.“ „Sowas erzählst du nie beim Essen. Ist ja faszinierend“, meinte Jaina und betrachtete die Röntgenaufnahmen des Schädels, die an der gegenüberliegenden Wand hingen. „Naja, ich will dir den Appetit nicht verderben“, lachte Cathy und streckte sich. „Also, legen wir den Kopf mal wieder weg.“ Damit legte sie die Schädeldecke und den Rest des Kopfes auf eine Stahlliege, die sie dann in einen Leichenkühlschrank schob. „Okay, und jetzt wird mein anderer Patient noch zusammengeflickt.“ „Willst du mich verarschen?“, entfuhr es Jaina, als Cathy die blaue Plastiktüte aus der Handtasche holte und die Eingeweide in eine Stahlschüssel fallen lies. „Hast du das jetzt wirklich die ganze Zeit mit dir mitgetragen?“ „Logo.“ Damit rollte die Rechtsmedizinerin den Tisch mit dem geschändeten Jugendlichen heran und trennte die Nähte der Untersuchung auf, sodass ihr der halb leere Brustkorbinnenraum entgegenlachte. „So etwas unverschämtes.“ Cathy nahm sich die Lunge, die inzwischen ziemlich eingefallen wirkte, und setzte sie an ihren Platz, wobei Jaina irgendwie nicht wusste, wo genau der zwischen dem ganzen anderen Zeug sein sollte. „Und ehm… die Sachen wurden gestohlen?“, wollte sie dann doch wissen. „Genau.“ „Und woher wusstest du, wer sie hatte?“ „Der war vorher schon hier drin und wollte was von der Leiche mitnehmen. Ich wusste einfach, dass er’s war. Und später gehen wir nochmal dahin, das hier ist ja keine normale Arbeitszeit, es ist ja schon wieder fast halb elf Uhr Abends. Das hier lass ich mir von dem bezahlen“, murmelte sie schlecht gelaunt und popelte das Herz zwischen die Muskeln, dann seufzte sie. „Bist du jetzt fertig?“, wollte Jaina wissen. „Tja, also wenn du meinst, wir können ihn so seinen Eltern zeigen, dann können wir heimgehen.“ Cathy zeigte auf den Toten, dessen Brustbein immer noch einladend aufgebrochen und außeinandergeklappt war. „Jo, passt doch“, grinste Jaina und reichte Cathy die dicke Nadel und den Spezialfaden. „Für heute genügend Tod für dich, Jainalein. Jetzt geht’s erstmal Stress bei anderen machen.“ Dies ankündigend machte Cathy den letzten Stich, deckte den Jungen zu und schob ihn in sein einsames Kühlfach, das sie sicher und fest verriegelte. „Und wann kommen wir heute heim zum Schlafen? Ich muss noch andere Hausaufgaben korrigieren.“ „Aach, dazu hast du doch noch morgen Zeit!“ „Von wegen, das sind noch bestimmt zwanzig Stück“, beschwerte sich die Dozentin und zog sich ihre leichte Jacke über, während sie die Latexhandschuhe in den Mülleimer warf. „Dann helf ich dir halt. Du hast bestimmt eine Musterlösung“, schlug Cathy vor, zog die Handschuhe ebenfalls aus und wusch sich die Hände. Dann entsorgte sie die blaue Tüte und klatschte in die Hände. „Los, los, jetzt gehen wir John stressen.“ „Hey warte – welchen John?! Doch nicht etwa der John!“ Es macht keinen Spaß, mitten in der Nacht, bei Wind und Regen, an der Straße zu stehen und einem Taxi winken zu müssen, wenn etwa alle fünf Minuten eines vorbeifuhr; das mussten Jaina und Cathy sich eingestehen. Sie hatten es sich leichter erwartet, doch um elf Uhr an einem Samstag war wohl doch nicht mehr so viel los wie gedacht. Zumindest nicht in der Gegend, in der sich die zwei herumtrieben. „Cathy, ich dachte, über John wärst du weg?“, fragte Jaina, während sie sich den geliehenen Arztmantel über die Frisur stülpte und ein bisschen wie Quasimodo aussah. „Bin ich auch, das ist doch ewig her“, erwiderte ihre Freundin, anders als Jaina den Regen ignorierend und unermüdlich nach Taxis winkend. „Aber er ist der Mitbewohner des Einbrechers.“ „Und… glaubst du, dass das wirklich so leicht rumgeht? Und wer ist dieser Einbrecher!“ „Okaaay, also. In John werde ich mich bestimmt nie wieder verlieben, weil ich inzwischen weiß, was gut für mich ist. Und der Einbrecher ist ein gewisser Sherlock Holmes“, meinte Cathy und pustete sich einen Regentropfen von der Nasenspitze. Jaina lies den Arztkittel sinken und sah Cathy ungläubig an. „Er ist doch nicht etwa mit Mycroft Holmes verwandt? Doch nicht genau der Sherlock Holmes?“ „Keine Ahnung, hab ich noch nicht drüber nachgedacht. Ich war mehr damit beschäftigt, mir den Kerl aus der RM rauszuhalten und dann die Organe wieder zu holen. Aber…“, sie hielt inne. „Es könnte ja echt was dran sein.“ Cathy jedenfalls war froh, dass Jaina vom – immer noch empfindlichen – Thema John Watson abließ. Nur durch strikte Ignoranz hatte sie es geschafft, ihm heute keine reinzuhauen. „Ich frag ihn einfach“, beschloss die Mathematikerin locker und klatschte in die Hände, als endlich ein Taxifahrer hielt. Beide junge Frauen stiegen ein und freuten sich an der Wärme. „Wo darf’s hingehen, Ladies?“ Der Fahrer drehte sich um und lächelte freundlich. Er hatte weißes, volles Haar, das unter einer flachen beigen Mütze verborgen war, eine große Nase, aber er wirkte nett. „221 Baker Street, bitte.“ „Zu gerne.“ Während der Autofahrt döste Jaina ein wenig, was Cathy gut verstehen konnte, allerdings hätte sie gerade jetzt gerne die Ablenkung einer kleinen Konversation gebraucht. Ihre Gedanken schwirrten nämlich – wieder mal – bei John herum, was sie gar nicht gut fand. Es war ziemlich schwer gewesen, ihm nicht mehr nachzutrauern, wobei Cathy alles Mögliche ausprobiert hatte. Auch den jetzt verheirateten Kollegen. Sie seufzte. Seit ihrer Kindheit andauernd bis knapp vor ihrem 21. Geburtstag hatte sie für John geschwärmt und war jugendlich unschuldig in ihn verliebt gewesen, bis er nach Afghanistan bestellt wurde, um dort zu kämpfen. „Cathy, denk nicht drüber nach. Was willst du mit einem 40-jährigen?“, murmelte Jaina und veränderte ihre Sitzposition, dass sie bequemer dösen konnte. „Pffft! Ich sagte doch, dass da nichts mehr ist!“, wehrte sich die Angesprochene mit einer wedelnden Handbewegung. „Außerdem sieht man ihm das Alter gar nicht an.“ „Ja klar. Egal. Also, du kennst Sherlock also?“ „Tja, naja. Kennen. So würde ich es nicht sagen. Aber er war gestern bei mir in der RM und ich hab ihn eigentlich nur wegen John reingelassen.“ „Du solltest ihm vielleicht mal erzählen, was du so denkst“, schlug Jaina allen Ernstes vor und gähnte. „Ich wette, ihm tut es leid und dann könnt ihr’s doch nochmal versuchen.“ „Jaina, weißt du auch mal, was du willst? Einmal meinst du, ich soll ihn lassen und jetzt wieder, dass ich’s doch probieren soll. Kümmer dich doch erstmal um deinen Dozenten“, schlug Cathy leicht verwirrt vor und schloss ebenfalls die Augen. Eigentlich wollte sie jetzt nicht mehr darüber reden, inzwischen kam sie sich nämlich schrecklich ungeübt in diesen ganzen Sachen vor. „Ladies, wir sind da“, ertönte leise die Stimme des Taxifahrers. Langsam blinzelte Jaina und streckte sich. War sie doch tatsächlich richtig fest eingeschlafen. Ihr gegenüber schnorchelte Cathy leise vor sich hin, sodass sich die Dozentin genötigt fühlte, ihrer Freundin einen leichten Tritt mit den hohen Schuhen zu verpassen. Verwirrt wachte Cathy auf, schaute sich verpeilt um und setzte sich dann gerade hin, was Jaina grinsend beobachtete. „Uh, hab ich tatsächlich geschlafen?“, murmelte sie leise und öffnete die Wagentür. „Warte kurz, Jaina, ich geh schnell Geld für’s Taxi holen.“ Damit kletterte sie ungeschickt aus dem Taxi und lies Jaina als Pfand sitzen. Diese zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück. „Machen Sie ruhig den Motor aus. Ich glaube, die zwei Minuten können Sie erübrigen“, meinte sie dann zum Fahrer gewandt. Dieser drehte den Schlüssel rum und machte die Lichter aus. Im gleichen Augenblick schloss Jaina die Augen und entspannte sich. „Jaina, aufwachen!“ „Woah, Cathy!“ Erschrocken fuhr Jaina auf, schlug sich den Kopf an und jammerte leise. „Was ist los?“ „Ja, auf geht’s. Ich hab das Taxi schon längst bezahlt, der Mann will auch mal nach Hause kommen“, grinste Cathy und half ihrer Freundin aus dem schwarzen Auto. Drei Minuten später standen die beiden durchnässten Frauen in Sherlocks Wohnung und jede hatte andere Gedanken. Hier ist ja seit Wochen nicht mehr aufgeräumt worden, voll der Dreckladen… wo genau waren diese Eingeweide rumgelegen? In etwa so sah es in Jainas Kopf aus. Wo ist der Behinderte? Wenn die zwei jetzt schnell abgehauen sind, um sich vor mir zu drücken, gibt’s später nochmal richtig dick auf’s Maul, brodelte Cathy innerlich. Natürlich war sie dankbar dafür, dass John ihr das Taxi bezahlt hatte, aber sie war unglaublich sauer, weil er sie umarmt hatte und das machte ihr noch zu schaffen. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, dachte sie daran, dass – wenn sie mal Kinder haben sollte – er einfach die perfekte Vaterfigur war. Dafür könnte sie sich immer den Arm ausreißen. Und dann könnte sie immer noch schmelzen, wenn er sie kurz an sich drückte. Was war nur los mit ihr? „Ah, Miss Romeck, da sind Sie ja. John hat schon so eine Vermutung geäußert, dass Sie wiederkommen würden“, erklang Sherlocks Stimme aus der Küche, in welche Jaina hineinlugte. Da sah’s auch nicht besser aus. Ein großer Tisch in der Mitte, ansonsten spärlich möbliert und überall lag messiemäßig Zeug herum. Sie rümpfte die Nase, dann erspähte sie den Detektiv und ihr Kinn klappte nach unten. Er sah so kompetent und intelligent und distanziert aus! „Mister Holmes, das ist Jaina White, Mathedozentin an der University of London. Jaina, das ist Sherlock Holmes”, stellte Cathy beide schnell vor, dann schaute sie sich um. „Und wo hat sich John versteckt?“ „Er dachte, er zieht sich lieber was anderes als seinen Schlafanzug an, wenn wir doch nocheinmal Damenbesuch bekommen“, antwortete Sherlock und kam ins Wohnzimmer, Jaina mit hochgezogenen Augenbrauen musternd. „Oh, wagen Sie es bloß nicht, an Jaina herumzudeduzieren“, warnte Cathy und ballte eine Hand zur Faust, was sie aber schnell wieder aufhörte zu tun, sie wollte nicht als aggressiv gelten. „Sie können deduzieren?“, fragte Jaina ungläubig und schaute den großen Mann an. „In der Tat“, bestätigte Sherlock und setzte sich aufs Sofa, während er Jaina den Sessel mit einer nonchalanten Geste anbot. Cathy lies er stehen – Sherlock wusste, wann man etwas nicht mehr gutmachen konnte – hoffte sie zumindest. „Ah, Cathy, da bist du ja“, lächelte John, als er ins Wohnzimmer trat. Jetzt trug er eine einfache Jeans und einen leichten, beigen Strickpulli. Im Gegensatz zu Holmes sah er geradezu normal aus, fast ein bisschen schäbig. Sherlock hatte nämlich – wie immer wenn er unterwegs war – einen teuren Anzug an, darunter ein dunkellila Hemd. Jaina staunte nicht schlecht, als sie den Mann endlich mal in Lebensgröße sah. Er war zwar nicht so groß wie Holmes, sie schätzte John auf gute 1.75m oder sehr knappe 1.80m, aber auf gar keinen Fall darüber. Cathy war fast so groß wie er – mit ihren 1.72m war sie eine große Frau – trotzdem hatte John die Statur eines Soldaten, einen aufrechten Gang, aber er wirkte nicht so, als hätte er einen Stock im Hintern. Jaina bemerkte auch die Art und Weise, wie er Cathy mehr zurückhaltend begegnete. Sie wusste, warum ihre Freundin auf ihn abfuhr, der Ex-Soldat sah überhaupt nicht aus wie 40, eher wie Mitte 30, und mit den Augen, die zwischen taubenblau und stahlgrau schwankten, wirkte er fast noch ein wenig unschuldig. Ja, dachte Jaina, an so jemand kann die Cathy schon mal hinhängen wie ein Bullterrier. „Hi, John“, presste Cathy raus und stellte sich so hin, dass sie ganz locker wirkte. „Das ist meine Freundin Jaina. Jaina, das ist John Watson.“ „Danke, dass Sie das Taxi bezahlt haben“, meinte Jaina, womit sie die Situation entschärfen wollte. Gelang ihr auch ein wenig, denn John setzte sich in den zweiten Sessel, sodass Cathy als einzige stand. Doch anstatt unnütz herumzutigern, bot sie an, allen einen Tee zu kochen, wobei sich Jaina fragte, woher ihre Freundin wissen wollte, wo die ganzen Sachen dafür standen. „Und Sie sind Mathedozentin?“, fragte John höflich und lehnte sich entspannt, aber aufmerksam, im Sessel zurück. „Ja, durchaus“, erwiderte Jaina. „Und was machen Sie beruflich?“ Irgendwie fand sie es seltsam, mit diesem Mann zu reden, der mehr als ein Jahrzehnt die große Liebe ihrer besten Freundin war und ihn auch noch irgendwie nett fand. Sie fand es auch komisch, ihn zum ersten Mal so live zu erleben, sonst hatte sie immer mit Fotos zurechtkommen müssen, die Cathy ihr gezeigt hatte. „Ich bin Arzt.“ „Ich dachte, Sie wären Soldat?“ Jaina beschloss, erstmal so zu tun, als kannte sie ihn nicht, sie nahm nämlich an, dass er es nicht so cool aufnehmen würde, wenn er zu dem Wissen gelangte, dass Jaina ungefähr alles über ihn wusste, was es interessantes zu wissen gab. „Um genau zu sein, John war Militärarzt“, ergänzte Sherlock und klappte sein Notebook auf. „Ach so…“ Das Gespräch kam zum Erliegen und Jaina wusste sich nicht zu helfen. Wie ging man mit solchen Situationen um? Cathy, die Quasseltante, wusste immer, was man bei so was machen musste. Just in diesem Moment kam sie, ein großes Tablett mit vier Tassen und einer großen Teekanne darauf balancierend. „Tee ist fertig“, kündigte sie an und stellte das Tablett vorsichtig am Tisch ab. „Kann es sein, dass Sie, Sherlock, Augen in der Mikrowelle aufbewahren?“ „Augen?“ Entsetzt schaute Jaina zu dem Mann rüber. Emotionslos nickte er, dann schaute er die zwei Frauen an. „Sie haben sie hoffentlich nicht rausgetan.“ „Nein, habe ich nicht. Aber Sie sollten aufpassen, Augen werden bei Zimmertemperatur ohne bestimmte Vorkehrungsmaßnahmen schnell schlecht.“ Dann schenkte sie jedem Tee ein, sich selbst schaufelte Cathy dann noch vier Teelöffel Zucker rein. „Krieg ich auch den Zucker?“, fragte Jaina, woraufhin Cathy ihr den reichte und ihren Tee rumrührte, wobei sie es vermied, John anzusehen. Jaina schüttelte den Kopf. So ein Kindergarten. „Okay, wieso seid ihr eigentlich da?“, fragte John dann nach einer Weile und taxierte Cathy. Diese blitzte ihn aus ihren goldbraunen Augen an, unmerklich wurde aus ihren geschwungenen Lippen ein dünner Strich. „Wieso nur? Ich erwarte noch eine Entschuldigung von Sherlock und außerdem eine Entschädigung, schließlich werde ich nicht bezahlt, um Leichen zusammenzusetzen, von denen jemand Teile klaut“, meinte sie dann kühl und versuchte, nicht ganz so boshaft zu sein. John konnte nichts dafür, dass Sherlock so ein Einbrecher war. Aber John war auch nicht besser! Schaute sie so freundlich und interessiert an, dass sie ihn am liebsten anspringen wollte! Wieso fand sie ihn überhaupt toll? Er könnte fast ihr Vater sein! „Also.. Sherlock?“ „Wieso haben Sie ihn eigentlich wieder zusammengesetzt?“ „Das war das verrückteste, was ich je erlebt hab.“ Gemütlich fläzte sich Jaina auf dem Sofa herum und naschte an einem hausgemachten Cookie herum, während Cathy aufgedreht durch den Raum lief und dabei genauso aufgewühlt wirkte wie vor einer halben Stunde auch. „Unglaublich“, murmelte sie und warf nervöse Blicke auf den Tisch, auf dem ein Scheck herumlag. Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte echt nicht gedacht, dass er der Bruder von Mycroft ist. War zwar eine coole Idee, aber in Echt!“ Genervt lies sich Cathy neben Jaina nieder, schenkte beiden noch ein Glas Wein ein und trank ihres selber in einem Schluck aus, während ihre Freundin es wesentlich stilsicherer machte. „Was machen wir denn jetzt mit diesem Scheck?“ „Du wollest doch eine Bezahlung“, meinte Jaina schulterzuckend. „Aber doch keine zwanzig Riesen.“ Seufzend barg Cathy den Kopf in ihren Händen und gähnte. „Ich glaub, ich schenk ihn mir einfach zu Weihnachten.“ „Jetzt red nicht solchen Unsinn. Du überweist das Geld auf die Bank und davon kaufst du dir dann was Nettes. Hör auf, dir wegen so was jetzt Stress zu machen, du wolltest doch Bezahlung. Außerdem ist es nicht so, als ob du nicht so viel Geld gewohnt wärst.“ Der Cookie verschwand in Jainas Rachen, darauf folgte ein gesunder Schluck Rotwein. „Ich weiß was Besseres. Die zehn Minuten in der RM haben mich jetzt nicht so gestresst. Ich glaub‘, ich spende das Geld viel lieber“, dachte Cathy laut nach und streckte die Beine aus, die inzwischen in einem bequemen Seidenpyjama steckten. „Und an wen?“ „Ich weiß nicht, wie wär’s mit dem Mathebereich der University?“, grinste Cathy und stand auf. „Also, ich denk nochmal drüber nach, aber jetzt geh ich ins Bett. Gute Nach, Jaina.“ „Nacht, Cathy.“ Jaina seufzte als ihre Freundin den Raum verlies und packte sich einen neuen Cookie. Den stopfte sie sich dann ganz unladylike in den Mund und kaute genüsslich drauf herum, dann schaltete sie den Fernseher an und entschied sich für ein Comedy Programm. Jetzt nochmal irgendwas Intelligentes war ihr ein bisschen zu viel. Lieber ein bisschen seichter Spaß, der sie jetzt aufheiterte. Denn sie dachte zwar nicht an John, aber an Jim. Der war beim Nachtisch – einer unglaublich leichten Schokomousse mit frischen Himbeeren und einer leichten Vanillenote – plötzlich nicht nur sehr unaufdringlich charmant geworden, sondern auch noch angenehm interessiert. Wieso fand sie es dann ein bisschen schlimm, dass sie ihn auch sympathisch fand? Jaina goss sich noch ein Glas Wein ein und schwenkte es nachdenklich herum. Leider dachte sie viel zu oft daran, was Jim am Ende gesagt hatte, dass er sie unheimlich gerne wiedersehen würde und er den Abend sehr genossen hätte und sie auf jeden Fall zum jährlichen Universitäts-Tanz Ball kommen solle. Das war nur halb so wild gewesen, nur die Vorstellung allein, mit diesem charmanten Mann zu tanzen, was Körperkontakt erforderte, machte sie ganz wirr, sodass sie es lieber nicht machen wollte. Aber lieber würde Jaina sich ins Knie schießen, als so stur und uneinsichtig wie Cathy zu sein. Da nahm sie die Gelegenheit dann doch wahr und ging ein paar Mal mit Jim aus und vielleicht war er ja wirklich was für länger. Wer wusste das schon im Voraus? Am nächsten Morgen wachte Jaina schlecht gelaunt auf, ging langsam in die Küche und lies sich einen Kaffee raus, den sie dann schwarz und ohne Zucker trank, um wieder in die Gänge zu kommen. Wie hatte sie sich nur auf so ein verrücktes Unterfangen, einen Einbrecher zu bestechen, einlassen können? Was war eigentlich in Cathy gefahren, die zwar spontan, aber nie vollkommen bescheuert handelte und jetzt so was machte? Immer noch schlaftrunken griff Jaina in den Kühlschrank und holte sich ein Stück Schokotorte raus, um dieses dann langsam zu ihrem Kaffee zu essen. Zehn Minuten später kam auch Cathy in die Küche geschlurft und lies sich langsam auf einen der teuren Mahagonistühle sinken, den Kopf legte sie in die verschränkten Arme. Ihr Atem war kaum mehr als ein leises Kratzen. „Cathy, wirst du krank?“ „Nein“, erwiderte diese leise, eindeutig krächzend. „Was dann?“ „Ich dachte, dieser alte Hennessey würde ganz gut zu meiner Stimmung passen.“ „Das ist aber lange her, dass du das letzte mal bis zum Krächzen getrunken hast“, stellte Jaina fest und stellte Cathy auch ein Stück Torte hin, welches sie dankbar annahm und langsam mit dem Löffel die Schokomousse oben drauf abschabte und vom Löffel schleckte. „So viel war’s gar nicht, ich bin danach halt gleich ins Bett. Gott, ist mir schlecht. Und ich treff mich heut auch noch mit John. So ein Scheiß.“ „Häää.. wieso denn das?“ „Ja …äh, ich weiß auch nicht so genau, offensichtlich hat er gestern Nacht nochmal angerufen und was mit mir ausgemacht. Jedenfalls steht’s so in meinem Kalender.“ Jaina zuckte mit den Schultern. Da konnte selbst sie nicht mithalten, obwohl sie und Cathy auf der Chaotenstufe meistens gleich waren. Na gut, vielleicht war Cathy die mit der Krone, aber Jaina war auf jeden Fall nicht weit von ihr entfernt. „Und wann wollt ihr euch treffen? Du wolltest doch noch die Mathearbeiten mit mir korrigieren“, erinnerte Jaina müde. „Puh.. jo. Ich glaub, ich hab was von heute Abend gesagt glaub ich. Also, wenn ich jetzt noch ein Glas Wasser trink und Zähne putz‘, dann legen wir gleich los.“ „Chill mal, es ist acht Uhr in der Frühe und so mega viele sind das auch nicht mehr.“ Beruhigend tätschelte Jaina Cathys‘ Arm und trank ihren Kaffee aus. „Jetzt dusch‘ ich erstmal und dann sehen wir weiter.“ „Alter, Jaina, stehst du auf mindfuck oder was?“, entfuhr es Cathy, als sie die Matheaufgaben durchkorrigiert hatte. „Welcher Normalo soll das denn im Kopf können?“ „Ach, nur weil du schon beim ersten Satz abstürzt, heißt das nicht, dass anderen das genauso geht. Mir wird ja bei den Toten schlecht, dir bei solchen Matheaufgaben“, grinste die Dozentin und streckte sich. „Schau mal, jetzt ist es erst zwei Uhr und wir sind fertig. So schnell hätte ich das alleine nie hinbekommen.“ „Tja, also ich hätte das alleine gar nicht hingekriegt“, munterte Cathy Jaina auf und holte beiden ein Stück Torte. Die dezimierte sich heute aber auch erstaunlich schnell. Da musste bald eine neue angeschafft werden. Gerade wollten beide anfangen zu naschen, als es an der Tür klingelte. Jaina hob die Augenbrauen und schaute zu Cathy, diese zog eine Schnute und erwiderte den Blick. Welche von beiden sollte die Tür aufmachen, die zwei waren noch im Schlafanzug und Gammelkleidung. „Du hast die längere Hose“, entschied Jaina den Wettbewerb, sodass ihre Freundin aufstehen musste und zur Tür tigerte; und das in einem nicht gerade motiviertem Tempo. „Hallo?“, fragte Cathy durch die Sprechanlage. „Hm. Aha.“ Pause. Jaina aß ein Stück Torte. „Ey, wer bist du eigentlich! Jim, so heißt doch jeder Spacko! Hau bloß ab oder muss ich erst runterkommen und dir das deutlich machen?!“ „CATHY!“ Entsetzt sprang Jaina auf, rannte zur Tür und drückte den Knopf, sodass Jim durch die Haustür konnte. „Das ist der Mathedozent!“ „Du datest einen Jim?!“ „Äh.. ja? Was ist daran so schlimm?“ Doch das konnte nicht mehr erläutert werden, denn schon klopfte es an der Wohnungstür, welche Jaina auch sofort aufmachte, obwohl sie in ihrem Gammel-Look war, der aus Hotpants und einem ausrangierten T-Shirt bestand. Cathy stand daneben, die Locken wirr zerzaust und im hellgrünen Seidenschlafanzug. „Hallo Jim, was führt Sie hier her?“, begrüßte Jaina lieblich und versuchte, Cathy hinter der Tür zu verstecken, was reichlich schwer ging. Nebenbei gesagt wusste sie nicht mal, woher er wusste, wo sie wohnte. Sie konnte es sich spontan nicht anders erklären als damit, dass es im großen Dozentenzimmer eine Liste gab, auf der alle Namen mit Handynummer und Adresse draufstand. „Ich dachte, ich sag mal Hallo nach dem gestrigen Abend.“ Er lächelte freundlich. „Schön. Ich kann Sie jetzt nur nicht hereinbitten, ich glaube, das würde nicht so gut-“, setzte Jaina an, da klingelte es erneut. Automatisch drückte sie auf die Sprechanlage. „Hallo?“ „Hi, hier ist John. Ist Cathy schon wach? Wir haben uns für ein Uhr verabredet und ich denke, sie hat’s vergessen.“ „Oh, dann war das doch keine Sieben“, hörte Jaina Cathy hinter der Tür murmeln. „Kommen Sie hoch“, meinte Jaina trocken, drückte den Buzzer und kurz darauf stand John neben Jim. „Tja, also dann… kommen Sie beide halt doch herein.“ Ergeben drehte sie sich um und erblickte einen Tisch, der fertig gedeckt war, auf jedem Teller ein Stück Torte. Daneben stand Cathy, die Hände in die Hüfte gestemmt. Offensichtlich war sie schnell in die Küche gehuscht und hatte die fehlenden Teller dazugestellt. Wie clever. „Wurde auch mal Zeit, dass ich Jainas‘ Date kennenlerne.“ „Cathy, hüte deine Zunge!“, rügte Jaina, während sich ihre Wangen rot färbten. „Jim, das ist meine beste Freundin und Mitbewohnerin Cathy. Setzt euch doch beide.“ Sie strengte sich an, nicht zu sauer zu werden. Es wunderte Jaina richtig, dass sie jetzt so ein bisschen wütend war. „Danke“, meinte John, setzte sich neben Cathy und wartete artig, bis sich Jaina und Jim auch gesetzt hatten. Dann fasste er nach seinem Löffel, während er die Kupferhaarige anstarrte. „Also Jim, Sie haben Jaina an der Uni kennengelernt?“, fing sie an und stopfte sich ein riesiges Stück Torte in den Rachen. Eigentlich hatte Cathy gar keine Lust auf so was, aber manchmal musste man einfach Konversation betreiben. „Genau. Und wo arbeiten Sie?“ „Im Department of City Coroner und im Scotland Yard. Ach ja. Tut mir leid, dass ich Sie zusammenschlagen wollte.“ Ein weiterer Löffel folgte. Jaina schüttelte den Kopf über die Ansage, die Cathy mal wieder gebracht hatte. „Aber irgendwoher kenne ich Sie.“ Sie legte die Stirn in Krausen und legte den Kopf schief. John fasste es nicht. Wie konnte er nur die ganzen Jahre übersehen haben, was für eine außergewöhnliche junge Frau Cathy war? Und jetzt, wo er bereits eine andere kannte, merkte er es und fühlte sich schuldig. Sie schaffte es, aus einer unangenehmen Situation etwas Normales zu machen – oder alle in einen Pool der Peinlichkeit zu werfen. Und wie sie total ungezwungen in Pyjama herumsaß und Torte aß, als ob sie jeden Tag mit Fremden zusammen essen würde. Gut, neben Cathy wirkte Jaina sehr gesittet und anständig, aber das machte auch den Charme der beiden gemeinsam aus. Jaina würde ein gutes Model abgeben und was er schon von ihr gehört hatte, lies ihn an eine kreative, logische und lustige Frau denken. Sie waren beide so anders und gleichzeitig so ähnlich zu Sarah, mit der John gerade anbandelte. Sarah kleidete sich aber etwas sportlicher, kümmerte sich aber mehr um ihre Frisur. „Ich weiß nicht, woher Sie mich kennen könnten“, erwiderte Jim höflich und aß ein kleines bisschen Torte, während Jaina halb versteinert daneben saß. „Ja, ich auch nicht“, grinste Cathy und widmete sich ihrer Torte. „Wollen wir vielleicht eine Tasse Tee?“ „Gerne“, sprang Jaina ein, stand auf und verschwand in die Küche. „Früchtetee!“, rief Cathy hinterher und legte ihren Löffel hin. „Tut mir leid, John, ich hatte unsere Verabredung heute total vergessen. Ich dachte, wir hätten sieben Uhr ausgemacht.“ „Naja, nicht so schlimm. Ich dachte schon, dass du es verschlafen würdest.“ „Ey! Was ist das denn für eine Ansage?“, entrüstete sich Cathy und schaute John mit blitzenden Augen an. Jim beobachtete beide amüsiert und begnügte sich damit, ab und zu ein Stück der köstlichen Torte zu essen. „Tut mir leid“, entschuldigte sich John und berührte sie kurz am Arm. Ihr Blick warf Todespfeile. „Muss es nicht.“ Elegant und mit abgehackten Bewegungen stand sie auf. „Entschuldigt mich.“ Dann stiefelte sie zu Jaina in die Küche, sodass die beiden Männer sich gegenübersaßen, diesmal aber ohne Puffer dazwischen. Peinliches Schweigen war der Effekt, beide Männer saßen herum und warteten auf die Mädchen. John war der, der das Schweigen brach. „Also… wo arbeiten Sie?“, wollte er höflich wissen und faltete die Hände im Schoß. „An der Universität, wie Cathy vorhin schon bemerkt hat.“ John ignorierte den subtilen Seitenhieb geschickt und warf einen Blick in die Küche, just in dem Moment, in dem ein Messer durch die Gegend flog. Schnell schaute er weg, aber er merkte, dass Jim ihm irgendwie unsympathisch war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)