How to be ... von Sherlockfreak ================================================================================ Kapitel 1: COOL --------------- “A nuclear war can ruin your whole day.” – Author unknown Jaina und Catherine hatten es sich gemeinsam auf einer Treppe in der City von London gemütlich gemacht. Sie kamen gerade von einem Japanisch-Seminar und wollten noch ihr karges Mittagessen in Ruhe essen, bevor es auf zur nächsten Station ging, der University of London, einer der ältesten und renommiertesten Universitäten überhaupt. Allerdings gingen die beiden jungen Frauen nicht dorthin, um zu lernen, sondern um zu lehren. Jaina unterrichtete Mathematik in allen möglichen Formen und Ausführungen, während Catherine Medizin unterrichtete. Hauptberuflich arbeitete Jaina an der Uni, Cathy – wie jeder sie nannte – arbeitete eigentlich als Rechtsmedizinerin im Department of City Coroner, dem DCC, im Auftrag der City Police, aber oft hielt sie sich auch im Rechtsmedizinbereich des Scotland Yard auf. Beiden machte der jeweilige Job wahnsinnig Spaß, nur manchmal war ihnen etwas langweilig, vor allem Jaina, weil sie von manchen Sachen schneller gelangweilt war als ihre beste Freundin, was daran lag, dass sie schneller als andere irgendwelche Rästelhefte durch hatte und damit wenig Freizeitbewältigung zur Verfügung stand. „Puh, wie kommst du nur den ganzen Nachmittag mit einem klitzekleinen Käsebrötchen aus?“, jammerte Cathy und warf einen skeptischen Blick auf das Mittagessen ihrer sehr intelligenten Freundin. Heute waren sie auch wieder schön angezogen. Das lag allerdings daran, dass sie später am Abend im Scotland Yard eine Lesung halten würden zum Thema „Mathematik des Serienkillers und dessen häufigste und auffallendste medizinische Vorgeschichte“. Ein völlig frei erfundenes Thema, das sich Jaina und Cathy eines schönen Abends beim Essen ausgedacht hatten und das Projekt dann sofort umsetzten um es jetzt zu präsentieren. Die Polizei konnte man doch für all so was begeistern, solange es glaubhaft übergebracht wurde. „Äh… halt so?“, schlug Jaina schmunzelnd vor und warf ebenfalls einen Blick auf Cathys Essen, das der Menge her wahrscheinlich auch einer Barbaren,Schar genügt hätte. Sie verstand gar nicht, dass ihre Freundin noch in Kleidergröße S bis M passte, bei diesen Mengen. Allerdings hatten sie seit heute Morgen nichts mehr gegessen und daher waren die fünf Butterbrezen und zwei Apfeltaschen wohl noch ziemlich wenig, verhältnismäßig. „Gegenfrage: Wie bekommst du das nur alles in dich rein?“ „Geht alles in die Brüste“, erklärte Cathy und grinste verwegen. Das hatte eine ehemalige Studienkollegin immer als Erklärung gegeben, wenn es zur Größe der Brüste ging. Dann schaute sie Jaina ernst an. „Meinst du, die Polizisten kaufen uns den Megastuss wirklich ab?“ „Natürlich. Sind doch wir“, lachte die Brünette mit den schönen, mittellangen Locken und strich sich die Brötchenkrümel von ihrer weißen Bluse. Dazu trug sie einen schwarzen, strengen Rock und schwarze Pumps von Jimmy Choo, sündhaft teure Dinger mit Peeptoe und ein wenig Glitzer, aber trotzdem ziemlich edel. Wer sagte, dass Arbeit keinen Spaß machte wenn man sich so was leisten konnte? „Na, wenn du das sagst“, erwiderte Cathy nun auch lachend und fuhr sich mit den Fingern durch die kupferfarbenen, schweren Locken, die ihr lang bis an die Taille fielen. Ihr war ziemlich warm in ihrem schwarzem Armor&Psyche Kleid, das ihr gerade mal bis zur Mitte der Oberschenkel ging. Außerdem taten ihr die Füße weh, wahrscheinlich ein bisschen mehr sogar wie Jaina, diese war nämlich vorausschauend genug gewesen, um sich Antiblasen-Pflaster an die Fußsohlen und an die unterste Fußsehenenstelle zu kleben. Cathy trug auch höhere Absätze, Schuhe von Casadei waren eben doch eine Zumutung. „Ich habe Ihnen soeben die Klausur aus dem Jahr 2009, Mathematik 2 ausgehändigt. Ich möchte, dass Sie die Aufgaben eins, sowie drei und vier vollständig bis Montag lösen und mir abgeben. Es handelt sich hierbei um die Approximation im quadratischen Mittel im Raum der trigonometrischen Polynome in Aufgabe vier, in Aufgabe drei um eine einfache Kugel, mit Mittelpunkt, und Integralrechnung, sowie in Aufgabe eins geht es um das Fundamentalsystem des homogenen Systems. Dies alles sind Handrechnungen, allerdings dürfen Sie bei Schwierigkeiten den Taschenrechner benutzen. Ich möchte aber, dass Sie es ohne versuchen.“ Jaina stand hinter dem Pult, die Füße schmerzend und sich langsam für dieses Outfit verfluchend. Der Dolce&Gabbana Rock tat ihr auch nicht gut. Hätte sie doch lieber den angezogen, den sie sich vor drei Wochen selbst genäht hatte. Der war genauso hübsch und gefühlte tausendmal bequemer. Sie hasste schon diese acht Zentimeter-Absätze, wie musste sich Cathy in ihren Zwölfern fühlen? „Dr. White, ich hätte da eine Frage bezüglich…“ „Jeremy, habe ich mich nicht klar ausgedrückt zum Anfang des Jahres? Sie sind alle Studenten und können inzwischen Ihre Fragen selbst beantworten“, fiel Jaina dem jungen Mann ins Wort. Er fragte sie ungefähr jede Stunde was und langsam wurde es ihr zu bunt. Wenn man nichts von Mathe verstand, sollte man besser nicht in ihren Kurs kommen. „Aber.. hätten Sie heute Abend Zeit sich mit mir zu treffen?“ Aufdringlich ist der Kerl auch gar nicht, dachte die 25,jährige bitter und schaute ihn dann strafend an. „Ich denke, inzwischen können Sie sich selbst abputzen. Die Stunde ist beendet. Bis Montag möchte ich von jedem die Aufgaben sehen. Auch von Ihnen, Jeremy.“ Damit drehte sie den Studenten ihren schmalen Rücken zu und kniff die Augen zusammen. Nur die Nerven bewahren, alles noch Kinder, die Schuhe konnte sie auch gleich ausziehen, nur noch fünf Minuten bis alle draußen waren, dann war es noch eine halbe Stunde bis zur nächsten Lesung. „Dr. White?“ Das war nicht Jeremys Stimme. Halb neugierig und halb abweisend drehte sich die Dozentin um und bereitete sich vor, ihren bösesten Blick aufzusetzen, damit sie jeden Idioten sofort verscheuchen konnte. „Was?“, brachte sie noch halbwegs freundlich zusammen. Ihr gegenüber stand ein Mann, der etwa fünf Zentimeter größer war als sie – also insgesamt 13 Zentimeter, wenn man es genau nahm – und sehr gebildet wirkte. Er trug einen teuer anmutenden Anzug, Krawatte und saubere Schuhe, sowie ein freundliches und zurückhaltendes Lächeln im Gesicht. „Mein Name ist Jim Moriarty. Ich bin ebenfalls Mathe,Dozent hier. Ich habe gehört, Sie wären Königsklasse, das hat mich neugierig gemacht.“ Er streckte eine gepflegte Hand aus, die Jaina nur zögernd ergriff. Diesen Mann hatte sie hier nie zuvor gesehen. Er hatte dunkelblaue Augen und sanft geschwungene Lippen und sanfte, aber irgendwie auch markante Gesichtszüge. Jaina schätzte ihn auf etwa Mitte Dreißig. „Jaina White“, stellte sie sich dann selbst vor. Sie wollte diese Schuhe ausziehen, andererseits war es ihr jetzt wichtig, Haltung zu bewahren. Schließlich wurde ihr eben gesagt, dass sie eine der besten der Mathe,Dozenten war, das war natürlich ein wunderschönes Kompliment. Sonst waren Männer eher erschrocken, wenn sie erfuhren, mit was sie sich beschäftigte. „Haben Sie heute Abend schon was vor?“, fragte Moriarty offenbar ohne Hintergedanken. „Leider ja. Aber morgen bin ich frei.“ Sie hatte Lust auf eine richtig gute Unterhaltung unter Mathematikern. Es machte ihr unheimlich Spaß. „Befassen Sie sich zufällig mit dem inelastischem Materialverhalten von Metallen?“ Das hatte Jaina nämlich gerade für sich entdeckt, die Synthese von Physik und Mathematik. Ein wundervolles Ereignis. „Natürlich, ich habe einige Werke darüber gelesen“, bestätigte der Fremde. „Dann morgen Abend in ‚Bea's of Bloomsbury‘?“ „Großartig.“ „Puhh… wie das müfft“, murmelte Cathy vor sich hin, während sie eine halb verweste Frauenleiche aufschnitt, die diesen Morgen in die Rechtsmedizin geliefert worden war. Spontan war ihr Kurs ausgefallen, so hatte sie beschlossen, mal auf der Arbeit vorbeizuschauen. Komischerweise kamen dann immer die ekligen Sachen herein, wenn sie spontan herkam. „Na, du bist ja mega.“ Die Frau war Ende vierzig und etwa eine halbe Woche in der Themse geschwommen, bis man sie gefunden hatte. Cathy mochte Wasserleichen nicht besonders, die liefen immer mal wieder aus oder es kamen verstörend viele Tierchen aus den Leibern herausgekrabbelt. Allerdings konnte man anhand deren Entwicklung feststellen, wie lange der Körper schon nicht mehr lebte. Während Cathy mit der stählernen Zange den Rippenbogen aufbrach und sie sich einen Einblick in das Innere der Frau erlaubte, fluchte sie ununterbrochen. Die Frau hatte weder einen Namen noch sonst irgendwas, was sie identifizieren konnte, so hing jetzt erstmal ein Schild mit „Jane Doe“ an dem großen Zeh. Die 26,jährige schüttelte den Kopf und betrachtete die Papiere, die auf dem Klemmbrett beschriftet waren. Die Frau hatte eine tiefe Schnittwunde am Hals, sieben Stichwunden im Oberkörper, die Beine waren der Länge nach aufgeschlitzt. Das Gesicht war völlig verstümmelt worden, nur die Augäpfel wurden verschont; Cathy hasste Mörder, die ihre Opfer kannten. Die machten alles immer so schmutzig. Wieso kein sauberer Schuss? Warum nicht einfach ein schöner Schnitt? Eine einfache Erdrosselung oder Ertränkung? Wieso immer solch eine unsinnige Brutalität, die ihr den Alltag schwer machte? „Dr. Romeck, da ist ein Anruf für Sie“, unterbrach ihr Assistent Chan ihre Gedankengänge. „Ein gewisser Mister Watson.“ „Watson? Etwa Dr. John Watson?“ Sofort striff sich die Rechtsmedizinerin die Handschuhe von den Fingern und grapschte nach dem Handy das Chan ihr gebracht hatte. Sie sollte vielleicht anfangen, es nicht immer auf irgendeinem Regal herumliegen zu lassen. „John?“ „Cathy? Störe ich dich gerade?“ Er klang etwas müde. „Nein. Wie geht es Ihnen? Ich hab‘ gehört, der Krieg hat Ihnen gut getan! Wieso haben Sie sich nicht gemeldet?“ Du Arsch, dachte sie weiter, sprach es aber nicht aus. Während sie den Mann am Telefon zuschwatzte wusch sie sich die Hände und nahm den Mundschutz ab, um sich neu Labello drauf zu tun. Cathy mochte ihre Lippen gar nicht, die waren so schnell trocken. Aber noch weniger mochte sie, dass John gerade jetzt anrief. Sie war immer noch sauer, aber sie wusste, es war besser, Freude vorzutäuschen. „Nun, darum geht es ja“, meinte Watson langsam und er zögerte hörlich. Nachdenklich legte die Rechtsmedizinerin die Stirn in Falten und bedeutete Chan, die Leiche kurz zuzudecken. „Ich hätte da eine Bitte an dich.“ „An mich? Was denn für eine? Gibt‘s einen interessanten Mord?“ Sie spitzte die Lippen. Würde sie nicht so viel arbeiten, hätte sie bestimmt mehr Dates. Verdammt, sie wäre auch gerne so locker wie Jaina, die sich nie Gedanken über Jungs zu machen schien, während Cathy jedem heißen männlichen Wesen über dreißig hinterherglotzte. „So… kann man es nennen. Die Leiche liegt in der Rechtsmedizin von Scotland Yard und ein … Kollege von mir möchte ihn gerne untersuchen, hat aber keine Zutrittserlaubnis.“ „John, wieso sollte ich den denn dann reinlassen?“ Cathy drehte sich weg vom Spiegel und hob dann mit spitzen Fingern das Tuch der Leiche, die auf dem Tisch neben der Unbekannten Vierzigjährigen lag. Es war ein jugendlicher Junge, dessen Gesicht schon bleich war. „Weil es hier um Mord geht und nicht um Selbstmord“, erklärte John schnell. „Jugendlicher Junge?“, fragte sie und lies das Tuch wieder fallen. „Äh… ja. Woher weißt du das?“ Cathy seufzte. Aber da sie wusste, dass das Projekt erst um sieben vorgestellt wurde, hatte sie noch volle fünf Stunden Zeit. Die konnte sie sich also auch genauso gut mit jemand neues vertreiben. „Na gut. Wie heißt er denn?“ Sie wollte gerade nach einem Stift greifen, da fiel ihr auf, dass hinter der Trennwand aus dickem Stoff nochmal ein Tisch mit einem noch ungeöffneten Leichensack lag. So ein Mist. „Sherlock Holmes. Er wird in einer Stunde da sein, ist das okay?“ „Geht klar. Ich hoffe für Sie, er erträgt Stille und Konzentration.“ „Cathy?“ „Jaina, was ist los? Ist meine Mama gestorben?“ Geschafft lies sich die Kupferhaarige in ihren Stuhl sinken und trank einen Schluck Chai-Tee, der dampfend vor ihr stand. „Äh.. nein. Ich denke nicht. Aber weißt du, morgen Abend, da wollten wir ins Kino…“, fing die Dozentin an und schien sich umzusehen. Neugierig richtete Cathy sich auf. „Ins Kino gehen, ja. In diesen kleinen Schwulenfilm.“ „Da kann ich nicht mit.“ Jaina sah in ihren Terminkalender und strich den Termin heraus. Das schwierigste an der Sache war gewesen, tatsächlich anzurufen; Absagen ertrug ihre langjährige Freundin erstaunlich gut, in jeder Art und Weise und auch alle möglichen Absagen. „Okay. Und was machst du dann?“ Grinsend lehnte sich die Medizinerin vor. Jaina sagte nie ohne Grund ab. „Ein Treffen.“ „Mit wem? Doch nicht etwa mit einem Mann?“ „Jaa… mit einem Mann, einem Mathedozenten. Er ist total toll und interessiert sich für das selbe wie ich. Ich dachte, es wäre interessanter, mit ihm über höhere Mathematik zu sprechen als Jungs beim Knutschen zuzusehen“, erklärte Jaina gelassen und legte ihren Ordner lautstark auf den Tisch, um sich neue Arbeitsblätter für die nächste Stunde zu holen. Cathy kannte den Vorgang schon in,und auswendig. „Mit einem Mathedozenten und er ist… toll und.. interessant“, wiederholte sie und gurrte die letzten Worte. „Jaina, du wirst ja eine richtige Aufreißerin.“ „Cathy, mach dich nicht lustig. Ich liebe meine Arbeit und du weißt, wie wenig Zeit ich dazwischen hab“, protestierte Jaina kichernd und legte ohne ein weiteres Wort auf. Wahrscheinlich kamen gerade die anderen Studenten herein. Cathy legte ihr Handy weg und wärmte sich am Tee. Jetzt hatte also Jaina einen Kerl an der Angel und würde es wahrscheinlich ziemlich lange nicht merken, bis es sehr offensichtlich wurde, dass er auf sie stand. Sie seufzte. Real-Life Liebesgeschichten waren doch die besten. Vor allem die, bei denen man nicht betroffen war. Cathy war gerade darüber, der Frau den Darm aus dem Bauch zu heben, als es an der Sicherheitstür klopfte. Sie hob den Kopf, schaute auf die Uhr und dachte nach. Vor genau einer Stunde hatte John angerufen. Was für ein pünktlicher Mensch dieser Sherlock war. „Chan, können Sie die Tür eben mal öffnen?“, bat sie und lies das glibberige Eingeweide in die Stahlschüssel pflatschen. Es gab ein nässliches Geräusch, dann herrschte Stille, bis ihr Assistent den Fremden hereingeführt hatte. „Dr. Romeck, ein gewisser Sherlock,“ „Sie weiß von mir“, wurde der junge Chinese unterbrochen, von einer ebenso tiefen wie melodischen Stimme. Verärgert drehte sich Cathy um und erblickte einen etwa 1.90 großen Mann, geschätzte 33 Jahre alt, mit schwarzen Locken und grauen Augen, die einen starken Grün,und leichten Blaustich hatten. Sein Teint war eher blass, das machte den Kontrast noch größer. „Catherine Romeck“, stellte sie sich mit unterdrückter Missgunst vor. Sie mochte es nicht, wenn Männer in ihrem Revier besser und kompetenter aussahen als sie. Was nicht so oft der Fall war, aber dieser Sherlock sah so aus, als wüsste er genau, nach was er suchte und als wäre er fähig genug, es allein zu finden. Das hatte sie zwar gehofft, aber lieber hätte sie jemanden, der in Anwesenheit der Toten etwas schüchterner war und nicht so selbstsicher wie er hier. „John hat mir erzählt, Sie würden wütend reagieren falls ich jemanden ins Wort falle. Woher wusste er das?“ „Dr. Watson war eng mit meinem Vater befreundet, bis er starb.“ Mit strickten Bewegungen riss sie sich die Handschuhe von den Händen. „Chan, Sie sind für heute befreit. Machen Sie sich einen schönen Abend. Morgen erzählen Sie mir von Ihrem Date mit Luna.“ „Dr. Romeck, Sie haben noch vier Leichen…“, widersprach der Mann und deutete auf die Säcke. „Ja, ich weiß. Aber ich habe Zeit. Außerdem haben Sie doch schon Überstunden.“ Ungeduldig winkte sie ihn weg, woraufhin er verschwand. Die ganze Zeit hatte Holmes sie beobachtet, was Cathy nur noch etwas wütender machte. „Sie sollten nicht mehr so viel vor der Arbeit essen“, schlug er da plötzlich vor und ging zielstrebig auf die Leiche des Jungen zu, die sie für ihn schon aufgedeckt hatte. Jetzt hasste sie ihn dafür, dass sie so nett gewesen war. „Ich hab nicht viel gegessen!“ Sie dachte an ihren großen, kleinen Mittagssnack. „Was fällt Ihnen überhaupt ein, mir so einen unverschämten Vorschlag zu machen!?“ „Nun, Sie sollten früher aufstehen, um dann genügend Zeit für ein kleines Frühstück zu haben um nicht im Stress das Haus verlassen zu müssen“, machte er ungerührt weiter, während er die Leiche begutachtete. Cathy ignorierte ihn und packte den Magen der Frau mit mehr Gewalt, als nötig gewesen wäre, rupfte ihn heraus und lies ihn in eine separate Schüssel fallen. Dann schnitt sie ihn mit einem Skalpell sauber auf und entnahm eine Probe, um sie dann neben das Mikroskop zu legen. Dann drehte sich sich zu Sherlock um. „Ich denke, ein wenig Dankbarkeit wäre angebracht.“ „Dankbarkeit – wofür?“ „Vergessen Sie’s“, murmelte sie frustriert, sich ermahnend, dass sie ihre schlechte Laune nicht an dem Mann auslassen durfte. Stattdessen vertiefte sie sich in der Arbeit, um seine Anwesenheit so gut wie möglich verdrängen zu können. Die letzte Mahlzeit der Frau hatte vermutlich aus einem Bohneneintopf bestanden, was aber eine ziemlich gewagte Behauptung war, das wusste Cathy. Wenn jemand so lange tot war, dann waren die Reste im Magen eher nicht hilfreich. Und wen interessierte es eigentlich, was diese Tote gegessen hatte? Es gab tausende Restaurants, in denen es auch Bohnensuppe gab. Sie warf einen schnellen Blick auf Sherlock. Gerade war er fertig mit der Jungenleiche und richtete sich auf. „Wo sind hier die Skalpelle und Reagenzgläser?“ „Was brauchen Sie?“, gab Cathy eine Gegenfrage und schob ein Stück Haut unter das Mikroskop. Sie wollte wirklich ruhig wirken. „Ein Skalpell und ein Reagenzglas.“ „Hier wird nichts mitgenommen“, zischte sie leise und richtete sich dann auf. „Mr. Holmes, bei aller Freundlichkeit, was soll das? Ich habe Ihnen nur Zutritt erlaubt, weil sie mit John befreundet sind, deswegen brauchen Sie sich aber nicht herausnehmen, sich hier an den Beständen und den Leichen zu bedienen.“ „Dass Sie zu viel gegessen haben, erkennt man an Ihrer stockenden Gehweise, Sie versuchen, Ihren Magen nicht in Aufruhr zu bringen, sonst wird Ihnen wieder schlecht, was offensichtlich öfters der Fall ist, Sie haben auf der Anrichte da vorne entsprechende Tabletten stehen. Ihr Haar ist ungekämmt, keine Frau in einer solchen Position würde sich das erlauben, es sei denn, sie verschliefe öfters und hat dann Frühs keine Zeit mehr für Make-Up und das Haare kämmen. Ihre Augenringe sind ein deutliches Indiz dafür, dass Sie in letzter Zeit länger auf waren als sonst“, begann Sherlock dann plötzlich zu sagen, und das in einer professionell schnellen Geschwindigkeit, die andeutete, dass er noch viel mehr sagen könnte, wenn sie ihn lies und er wollte. Ungläubig starrte Cathy auf den Kerl vor ihr. Das war erstaunlich. Letztens erst hatten Jaina und sie einen Kurs über das Deduzieren besucht, es als unglaubliche Kunst bezeichnet und jetzt stand da jemand, der das perfekt beherrschte. Ihr Mund klappte leicht auf. „Das ist … Sie können deduzieren? Wahnsinn!“, rief sie dann aus, sprang auf und wusste dann nicht so recht, was sie machen sollte. Das war Cathys größtes Problem: Erst handeln, dann denken. „Meine Damen und Herren, es hat uns sehr viel Freude bereitet, Ihnen anhand einiger Beispiele Ihr Verständnis und Ihr Wissen zu erweitern und wir hoffen, Sie hatten einen ebenso schönen Abend wie wir“, schloss Jaina den Vortrag ab, die Polizisten klatschen freundlich und sahen die Mädchen begeistert an. Die glaubten wirklich alles. Grazil stöckelte Jaina vom Podest herunter, um DI Lestrade förmlich die Hand zu geben, während Cathy die Blätter zusammensammelte und den Projektor und den anderen Kram abschaltete. „Eine sehr schöne Idee, Dr. White“, lobte der DI und drehte sich zu seinen Leuten um. „Ab jetzt werden wir diese Methoden weitest möglich anwenden. Es war sehr aufschlussreich und informativ.“ Wieder klatschten die Polizisten. Jaina bedankte sich, Cathy kam das Treppchen ebenfalls herunter, mit einem Stapel Papier und Ordnern in den Händen. „Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Feierabend“, verkündete Lestrade und die Polizisten zerstreuten sich allmählich aus dem Raum, bis nur noch die zwei jungen Frauen und der DI übrig waren. Alle drei seufzten. „Wie sind Sie beide eigentlich auf diese Idee gekommen?“, wollte der einzige Mann dann wissen. Seine Hände steckten in den Hosentaschen, den leichten – irgendwie total unangebrachten – Schal schon um den Hals geschlungen sah er ebenfalls aus, als ob er gleich aufbrechen wollte. „Ach, das kommt einem einfach so“, erwiderte Cathy und gab Jaina derige Sachen. „Also, ich muss nochmal runter in die RM.“ Damit verabschiedete sie sich und verschwand in den unteren Bereich des Scotland Yard. „Sie sieht müde aus“, kommentierte Lestrade und runzelte die Stirn. Schon immer war er mit der logischen Jaina fast besser ausgekommen als mit der launischen Cathy, doch trotzdem mochte er beide gleichermaßen. „Total. In letzter Zeit hat sie super,viel Arbeit, weil sie auch immer gleich Chan heimschickt, wenn er seine acht Stunden voll hat. Ich glaube, sie mag es nicht, Leute länger arbeiten zu lassen“, meinte Jaina und schüttelte den Kopf. Wieso wollte sich Cathy auch nicht helfen lassen? Stattdessen kam sie jede Nacht um zehn Uhr nach Hause, vierzehn Stunden Arbeit hinter sich habend und dann noch an Projekten arbeitend. Aber Jaina war ja genauso. Sie kam zwar früher heim, musste aber so viel korrigieren und vorbereiten, dass es frühestens zwölf war, wenn sie ins Bett gehen konnte. „Und sie lässt sich von Ihnen nicht überzeugen, etwas langsamer zu machen?“ „Langsam? Ein Fremdwort für uns beide“, lachte Jaina fast verächtlich und verabschiedete sich. Sie konnte den DI schon leiden, aber er interessierte sich immer viel zu sehr für seine Mitarbeiter. Jaina war froh, nicht hier fest angestellt zu sein so wie Cathy es war. Das würde ihr nur viel zu viele Schwierigkeiten bringen, schließlich würde sie mindestens genauso verbissen wie ihre beste Freundin arbeiten. Inzwischen hatten sich beide ein recht ansehnliches Leben in London aufgebaut, von dem nicht jeder behaupten konnte, er würde es führen; geschweige denn genießen. Vor fünf Jahren waren Jaina und Cathy dorthin gezogen um ihre jeweiligen Studien zu beenden und eigentlich hatten sie weiter die Welt sehen wollen, aber irgendetwas kam ihnen immer dazwischen. Gebürtig kamen beide aus Deutschland und hatten dort eines der schwersten Allgemeinen Hochschulreifen absolviert, die es dort gab. Die Bayerische. Jetzt lebten sie zusammen in einer Wohnung in der Innenstadt, in der die Miete unverschämt hoch war, gleich in der Nähe des Oxford Circus. Natürlich konnten sie es sich gemeinsam leisten, neben den ganzen teuren Luxusartikeln, die sich jetzt schon dort darin sammelten. Kleine Holzstatuetten aus China, japanische Kimonos, Fächer, ägyptische Statuen – Jaina liebe die Nofretete, während Cathy begeistert von der anmutig hässlichen Gestalt des Echnaton war – und vielerlei mehr, was sie sich auf Ausstellungen ersteigert hatten. Die gesamte Wohnung mit Einrichtung hatte einen fast unverschämt größenwahnsinnigen Gesamtwert voninzwischen über einer Millionen Pfund. Dessen waren sich beide aber eher weniger bewusst, schließlich kamen immer mehr Sachen dazu, alle von immensem Wert. Der Erfolg der beiden jungen Frauen war aber nicht nur ihnen zuzuschreiben, der ein oder andere Mensch hatte ihnen viel Zuspruch und Inspiration gegeben. Vor allem drei ihrer damaligen Lehrer an der Schule hatten die beiden angespornt, ihre Träume zu verwirklichen. Zumindest war etwas aus Jaina und Cathy geworden und das war schon mal ein Anfang. Sie hatten sich verschiedene Merkmale der Lehrer zum Vorbild gemacht. Einmal gab es den Mathelehrer, Señor Matemática, er sprach Spanisch – schließlich kam er auch aus Lateinamerika – sah dementsprechend immer gut gesonnt aus, war immer nett und gut gelaunt und hatte zu der damaligen Zeit versucht, jedem irgendwie zu helfen wenn es ging. Nicht nur in Mathematik, auch bei anderen Angelegenheiten hatte er immer ein offenes Ohr gehabt und war sehr verständnisvoll gewesen. Auch wenn Cathy im letzten Schuljahr nicht gerade eine Leuchte in Mathe gewesen war, hatte sie doch alles verstanden bei ihm, nur die Anwendung machte ihr immer noch Schwierigkeiten, während Jaina von ihm im vorletzten Schuljahr mit ausreichend Aufgaben versorgt worden war, um immer wieder erneut Spaß an der Mathematik zu finden. Deswegen hatte sie es eigentlich auch studiert, da sie den Faden nicht verlieren wollte. Und das eine hatte dann das andere – den Lehrstuhl an der Universität – ergeben. Mister America war ein weiterer im Lehrertrio, er war ein glatzköpfiger, cooler und moderner Lehrer, der seinen Unterricht in jeder Stunde anders und interessant gestaltete – wobei dieses Gestalten auch einfach nur aus Erzählungen von seinen Abenteuern in Amerika bestand. Jaina hatte bei ihm ihr Englisch erheblich verbessert, während Cathy einfach gerne den Geschichten gelauscht hatte und den Rest des Unterrichts mehr oder minder gelangweilt – oder genervt vom überzeugten Christen-Klassenkameraden – zugehört hatte. Mister America hatte ebenfalls die wichtigste Arbeit der beiden jungen Frauen betreut und ihnen damit das Tor zur Faszination England geöffnet. Außerdem hatte sein lockerer Sprachenumgang und diese Sicherheit, mit der er redete, sie dazu gebracht, im englischsprachigen Ausland zu studieren. Nebenbei wollten beide auch mal so cool werden. Ein Lehrer, der ebenfalls entscheidenden Einfluss auf die beiden gehabt hatte, war Herr Reinstriezel. Sie hatten ihn nie im Unterricht erleben dürfen, doch schon allein die vielen Unterhaltungen und Späße, die die Mädchen mit Herrn Reinstriezel gehabt hatten, hatten solch positive Auswirkungen auf die Gestaltung des späteren Lebens gehabt, dass er eindeutig eine wichtige Person geworden war; für beide, Jaina und Cathy. Er hatte sie ermutigt, aufgerichtet, sich mit ihnen über unfaire Sachverhalte aufgeregt, sie immer wieder zum Lachen gebracht und sie mit Essen beschenkt. Er war ein älterer, gutmütiger Mann und liebte das Essen, nach dem sein Nachname nachempfunden war. Jaina saß im teuer eingerichteten Wohnzimmer, den Laptop am Schoß und die Haare zu einem strengen Knoten zusammengefasst. Sie bestellte sich gerade neue Stoffe aus China für das Abendkleid, das sie sich schneidern wollte. Inzwischen war es schon halb elf in der Nacht, sie hatte die Hälfte der Hausaufgaben der Studenten korrigiert und war etwas enttäuscht, dass nur so wenige diese einfachen Fragen beantworten konnten. Mit einem Blick aus dem Fenster konnte sie klar und deutlich die Skyline von London sehen, manche Zimmer noch hell erleuchtet und manche schon dunkel. Im Hintergrund lief leise, traditionell japanische Musik, die Jaina jetzt beruhigte, da sie sich immer mehr Sorgen um Cathy machte. Um halb elf wäre ihre Freundin eigentlich schon längst wieder zuhause. Vermutlich war nur der Akku leer, was aber nicht weniger beunruhigend war. „Nein, Sie kommen hier jetzt nicht rein“, schnitt Cathy dem Mann das Wort ab, noch bevor er etwas sagen konnte. Sie drückte die Tür wieder zu. Fast. „Ich muss rein.“ „Ja, mir egal. Von mir aus verrotten Sie hier, aber Sie pfuschen nicht schon wieder an den Toten rum! Außerdem wird der Junge morgen Abend beerdigt, also muss ich mich beeilen“, giftete sie, wollte die Türe gar zudrücken, als Sherlock sie einfach wieder aufdrückte, Cathy beiseite schob und sich vor den toten Jungen stellte. Dann zog er seine Lederhandschuhe an und zog die Leichendecke weg. „Alter?!“ Erbost stampfte die überarbeitete Rechtsmedizinerin zu dem gutaussehenden Detektiv hin, knallte eine Hand auf den Metalltisch und knirschte mit den Zähnen. „Verschwinden Sie. Ich weiß, was Sie hier wollen und es ist nicht Ihr Job!“ „Interessiert mich nicht.“ „Und mich interessiert nicht, was Sie denken!“, motzte sie zurück, packte den Tisch und schob ihn grob von dem Mann weg, der ihr im Moment so im Weg war. Die Leiche darauf bewegte sich ein wenig wegen dem ganzen Herumgeziehe. Cathys unteres Augenlid zuckte verdächtig. Sie war müde, wütend, enttäuscht und es war kein Ende der Arbeit in Sicht. „Verschwinden Sie.“ „Cathy! Was machst du noch im Scotland Yard?“, wollte Jaina etwas zu laut und etwas zu besorgt wissen. Sie hatte sich doch noch entschlossen, am Festnetz unten in der Rechtsmedizin anzurufen. Cathy wusste auch sofort, was Sache war. „Tut mir unendlich Leid Jaina, aber ich konnte nicht früher raus. Die Uhr ist kaputt“ – das war eine Lüge – „deswegen hab ich nicht gesehen, wie spät es ist. Ich komm bald heim, ich hab nur noch eine alte Oma.“ Auch was war gelogen, Cathy war jetzt schon fertig mit allen, wollte sich aber noch um den Papiermüll kümmern können, den sie im ganzen Raum verteilt hatte. Nachdem sie Sherlock mehr schlecht als recht rausgeschmissen hatte, war sie so frustriert gewesen, dass sie ihr gesamtes Büro kurzerhand zerlegt hatte, bis am Boden wilde Papierschnipsel lagen. Ihre wichtigen Ordner hatte sie natürlich nicht angerührt, aber der Müll hatte dran glauben müssen. „Ich mein ja nur, es ist inzwischen zwölf. Wann willst du schlafen?“, gähnte Jaina. „Ja, ich brauch nicht mehr lange. Außerdem ist morgen Samstag, da können wir ausschlafen“, beschwichtigte Cathy, war aber selbst inzwischen, nachdem sie ihr ganzes Adrenalin verpulvert hatte, todmüde. „Von wegen. Aber naja, ich lass dir noch einen Chai-Tee stehen, okay? Weil ich leg mich jetzt hin.“ „Logo, schlaf dich schön“, grinste Cathy. „Gute Nacht, Jaina.“ „Schlaf gut, Cathy. Viel Spaß beim Schlitzen.“ Leise lachend legte sie auf. Am nächsten Morgen wachte Jaina gut gelaunt und ausgeruht auf, es war vielleicht kurz nach neun, sie hatte lange geschlafen und der Umstand, dass sie sich keinen Wecker hatte stellen müssen, machte sie noch zufriedener. Außerdem meinte sie den Duft von frischem Café Latte zu schnuppern. Grinsend streckte sie sich, stand auf und zog die beige,rosé farbenen Vorhänge von den Fenstern weg. Fahle, englische Morgensonne begrüßte sie. Das mochte Jaina hier nicht so, dass kein Morgen wirklich strahlte. Sie hatte es schon mal mit einer kleinen Wärmelampe probiert, aber das wurde ihr dann irgendwann zu brenzlig. Spätestens nachdem sie einmal fast ihren lieblings,selbergemachten Vorhang angezündet hatte. Nachdem sich die Dozentin ihren leichten Bademantel übergeworfen hatte, schlenderte sie in die Küche, um dort einen halbwegs liebevoll gedeckten Tisch zu finden. Die Teller standen schief, darunter lagen etwas knüllige Servietten – allerdings waren es Jainas Lieblingsservietten – und die süßen Tassen, die sich Cathy und Jaina mal auf einem ausgefallenen Weihnachtsmarkt gekauft hatten. Es war zwar Sommer, aber offensichtlich hielt das ihre Freundin nicht davon ab, schon mal weihnachtliche Stimmung verbreiten zu wollen. „Wo steckt sie nur?“, murmelte die Braunhaarige, ging zur Kaffeemaschine und nahm sich den bereitstehenden Café Latte. Anscheinend hatte Cathy die Maschine gestern Nacht noch eingestellt. Da sah sie einen Zettel auf dem Tisch liegen. „Natürlich.“ Sarkastisch schauend hob sie das Papierchen hoch und las es kurz durch. „Ja… na klar. Ist gut.“ Dann legte sie ihn hin und setzte sich auf ihren Platz, um sich zumindest jetzt noch zu entspannen. Sobald Cathy wach werden würde, müsste sie bereit sein. Auf dem Zettel standen nur ein paar Worte. Jaina! Morgen BeautyFarm! Geschenk von Lestrade! Ich will nicht vor dir wach sein! Kûsschen, Cathy! Es war schon ewig her, dass die zwei einen Beauty-Farm-Tag gemacht hatten. Und Jaina ahnte, dass Cathy nichts Gutes im Schilde führte, schließlich fiel diese Entscheidung zufällig auf den Tag, an dem sie sich mit Moriarty treffen wollte. Seufzend trank die Mathematikerin einen Schluck Café, mit der leisen Vorahnung, dass sie wohl verkuppelt werden sollte. Das letzte Mal waren die beiden auf einer Beautytour gewesen, da hatte Cathy sich einen bestimmten Polizisten angeln wollen. Der war jetzt allerdings mit seiner blonden Kollegin verheiratet. „Jaina!“ Genannte zuckte kurz zusammen, als sie den Schrei dieses brünftigen Elches vernahm, dann trank sie nochmal von ihrer Café. Immer wenn ihre Freundin etwas vorhatte, ging sie mit einem Elan ran, der an einen unter sexuellem Entzug stehenden Büffel erinnerte. „Guten Morgen, Cathy“, erwiderte sie dann und musste unweigerlich grinsen, als die Rechtsmedizinerin mit verstrubbeltem Haar, Augenringen und ihrem lieblings Schmuddel,Bademantel, der mit den Entchen drauf, in die Küche geschossen kam, nur um sich dann in aller Seelenruhe einen Kaba zu machen. „Wie hast du geschlafen?“ „Prima. Du nicht, oder?“ „Ich war gerade fertig, da haben mir die Jungs nochmal eine Leiche reingebracht. Ich wär fast ausgrastet“, erzählte Cathy und lies sich leise stöhnend nieder. „Und dann schon wieder so ein Verrückter. Diesmal war die Frau fast zwei Wochen vergraben und,“ „Tja, also ich frühstücke. Das kannst du mir alles beim Beautyfarmen erzählen“, schlug Jaina angesäuert vor. Sie fand zwar die Erlebnisse ihrer Freundin immer wieder interessant, aber nicht unbedingt wenn es um Verrückte ging, die Leute aufschlitzten. Wobei Cathy das ja offensichtlich gerne hatte, so oft wie sie davon erzählte . „Cathy, mach los nun! Wir kommen zu spät!“ „Jaa… tut mir leid, man! Ich bin gleich da!“ „Der Bus fährt in drei Minuten, das ist dir schon bewusst?“ „Ich brauch noch eine Unterhose!“ Zehn Minuten später saßen beide jungen Frauen bepackt mit jeweils einer Sporttasche im Bus, der Richtung Scotland Yard fuhr, und versteckten die müden Augen hinter großen Sonnenbrillen. Zumindest Cathy machte das, Jaina hatte sich ihre stylisch in das Haar gesteckt. Der Vorteil vom frühen Schlafengehen. „Hey Jaina?“ Ganz cool schaute Cathy aus dem Fenster und rückte sich die Sonnenbrille zurecht. „Was ist?“ „Das Date, das du hast..“ „Es ist kein Date. Es ist ein Treffen.“ Trotzig schaute die Mathematikerin weg. „Ach, ihr trefft euch, esst gemeinsam, redet über Dinge die Spaß machen, lacht, versteht euch prächtig – es ist ein Date. Jedenfalls, was ich sagen wollte, heute Abend komm ich auch nicht vor dir heim und deswegen ist es gut, dass ihr essen geht.“ Unelegant spreizte Cathy im Sitzen die Beine und seufzte. „Ich hasse enge Jeans.“ „Ich will dich ja nicht enttäuschen, aber es ist kein Date.“ „Okay. Das möchte ich morgen Früh von dir bestätigt haben“, grinste Cathy Jaina an, während sich die Braunhaarige zurücklehnte und die Sonnenbrille zurechtrückte. „Alles klar.“ Das Spa lag etwas weiter außerhalb, sodass die beiden jungen Frauen doch noch eine Weile im Bus fuhren. Die ganze Zeit über dösten sie vor sich hin, da sie vom ganzen morgendlichen Stress dann doch etwas geplättet waren – obwohl, von Stress konnte man noch nicht sprechen. Jedenfalls ruhten sie sich aus, bevor sie sich so richtig entspannen würden. Die Busfahrt dauerte auch nicht allzu lange, daher waren beide am frühen Vormittag angekommen und guter Dinge, dass hier die absolute Entspannung und Schönheitsaufpolierung stattfinden könnte. „Oooy, Cathy! Schau dir das an! Voll riesig!“, staunte Jaina, in diesem Wellness,Center war sie noch nie gewesen und war daher schon überrascht, diesen Tempel zu erblicken. „Heftig. Ich wette, das zahlt Lestrade nicht selber“, spekulierte Cathy und steckte die Sonnenbrille in ihre Sporttasche, sodass man ihre Augenringe sehen konnte. Das war ihr aber jetzt egal, denn gleich würde sie gebeautyfarmt werden und dann wären sie und Jaina wunderschön und perfekt und würden wie die Sonne strahlen! Naja, zumindest fast, grinste Cathy und betrat mit Jaina diesen Luxusbau. „Phat!“, entfuhr es der Rechtsmedizinerin schon im Eingangsbereich. Zu ihrer Rechten und Linken befand sich jeweils symmetrisch eine Sitzecke, die aus beigen Ledersesseln bestand, einen kleinen Tisch dazwischen und hübsch verteilt kleine Palmengewächse, die etwa hüfthoch waren. Auch kleine Farne waren gepflanzt worden, sowie Orchideen, die jetzt auf den Tischen standen. Der Boden war mit Marmor gefliest und die Deckenbeleuchtung war freundlich und warm, nicht so zahnarztkalt. Bewundernd stieß Jaina Cathy in die Rippen, diese nickte nur. Den beiden kamen vollkommen ausgeruhte Frauen entgegen, die sehr erfrischt aussahen. „Unglaublich“, gab Jaina von sich und begleitete Cathy zur Anmeldung. Noch nie hatte sie so eine entspannende Umgebung gesehen, nicht mal ihr Wohnzimmer kam da ran. Es roch leicht nach Jasmin und Regen, eine sehr frische und duftende Mischung. „Guten Tag“, wurden sie da von einem freundlichen Mitarbeiter begrüßt. Der trug ein einfaches, weißes Poloshirt und eine schwarze Stoffhose. Er sah sehr gepflegt aus. „Hallo“, sagte Jaina, da Cathy sich immer noch ungläubig umschaute. „Wir haben hier diese Gutscheine.“ Damit überreichte sie ihm die Geschenke von Lestrade. Der Mitarbeiter lächelte. „Bekommen wir coole Massagen?“, fragte Cathy plötzlich und spähte neugierig über den Tresen. „Schon mal was von Geheimhaltung gehört?“, fragte Jaina etwas überrascht und zerrte ihre Freundin zurück. Dezent war Cathy ja schon mal nicht. Wieder wurde hiermit der Beruf als passend bewertet. „Aber das sind doch unsere Daten“, beschwerte sich Cathy. „Ja – und? Andere Akten liegen da vielleicht noch rum?“ „Mir egal“, schmollte Cathy. „Ladies, ich muss euch leider enttäuschen“, erklärte da der Angestellte. „Wie?“, entfuhr es beiden. „Nun, ihr beiden seid schon so hübsch, da kann man gar nichts mehr machen. Dem ist nicht mehr zu helfen. Cremt euch ein, dann hat sich die Sache“, sagte er und reichte ihnen die Gutscheine. Gutfühl-Gutschein, Selbstbewusstseinssteigerung, stand da drauf. Hatten die zwei vorher so noch nicht wirklich genau durchgelesen. Hä, haben wir nicht genug Selbstbewusstsein?, fragte sich Jaina stirnrunzelnd. Und damit soll ich mich gut fühlen?, dachte Cathy ungläubig. „Pah! Als ob ich mich jetzt gut fühlen würde“, schimpfte Cathy, als die beiden im Taxi nach Hause saßen. Irgendwie hatte sich die Rechtsmedizinerin mehr davon erhofft. „Irgendwie ja schon.” Jaina nickte zustimmend. Auch für sie war dieses Spa nicht der Hit, nachdem die beiden so halb-sanft herausgeschmissen worden waren. „Weißt du, worauf ich jetzt gerade Lust hab?“ „Pferdefleisch?“, schlug Cathy vor. „Aber ganz genau“, grinste Jaina. Pferdefleisch war ein einzigartiger Insider von Jaina und Cathy, der sich noch in Deutschland ereignet hatte. Damals – im Spanischunterricht – sollten sie eine Szene im Restaurant nachspielen und da Jaina in der Stunde davor nicht anwesend gewesen war, hatte sie improvisiert. Was in Carne de caballo geendet hatte. Alle aus dem Kurs außer Cathy hatten das verstanden; demnach endete die Szene in großem Gelächter, in das Cathy erst später mit einstimmen gekonnt hatte, nachdem man es ihr erklärt hatte. Seitdem naschten die beiden ab und zu mal Pferdefleisch, weil es doch ganz gut schmeckte. Keine viertel Stunde später saßen die beiden in ihrem Lieblingsrestaurant, dem Dancing Horse-Meat. Ein makaberer, aber treffender Name. Fanden die beiden ziemlich gut. Die Einrichtung war auch schön, weiße Tischdecken, beiger Holzboden und eine weiche Beleuchtung. Die Bedienungen waren auch nett. „So, was nehme ich heute?“, überlegte Jaina und schlug die Speisekarte auf, obwohl sie schon uswendig wusste, was alles darauf stand. „Also ich nehm‘ ein Teuflisches Steak vom Pferd.“ „Aber dann riechst du wieder nach Knoblauch und der teuflischen Soße!“, beschwerte sich Jaina. „Nehm lieber was nicht,ganz,so,würziges. So wie ich. Ich will das Fettine di Cavallo.” „Ach, dieses seichte italienische Pferdeschnitzel! Hier, heute nehm ich was ausgefallenes.” „Was ist bitte ausgefallener als teuflisches Pferd?!“ „Beschbarmak!“ „Gesundheit!“, erwiderte Jaina freundlich. „Nein, ich nehme Beschbarmak!“ „Nies nicht immer am Tisch!“ „Ich will die kasachische Küche!“ „Ach so, dieser Gaumenkitzel.“ Jaina lachte los, als sie begriff, was Cathy da gesagt hatte. Entschuldige, aber es klang schon ziemlich bescheuert!“ „Klingt fast wie ein Zauberspruch“, freute sich Cathy. Kapitel 2: A GOOD PRETENDER --------------------------- Ganz entspannt saß Sherlock auf seinem Sofa, ein Nikotinpflaster auf dem Arm klebend, eine Tasse Tee vor sich stehend und auf dem kleinen Wohnzimmertisch sein Notebook. John tätigte gerade etwas in der Küche, offensichtlich versuchte er vergeblich, aufzuräumen und so etwas wie Ordnung zu schaffen, als es an der Tür klingelte. „Sherlock, erwartest du Besuch?“, fragte der Arzt aus der Küche und kam ins Wohnzimmer, während er sich die Hemdärmel wieder richtete, zum Abspülen hatte er sie lieber hoch-gekrempelt. „Nein“, war Sherlocks monotone Antwort, während er weiter etwas für seinen aktuellen Fall herumforschte. Es ging um rätselhafte Selbstmorde, von denen er überzeugt war, dass es Morde waren. Nur wie wollte Sherlock das den fürchterlich beschränkten Polizisten nur klarmachen? Es klingelte noch einmal, Sherlock reagierte überhaupt nicht, sodass sich John gezwungen sah, die Tür zu öffnen, das aber nicht ohne ein wütendes Schnauben. „Dann mach halt ich die Tür auf.“ Keine Minute später hörte Sherlock, hochkonzentriert auf den Artikel und trotzdem aufmerksam den Geräuschen lauschend, wie John die Tür aufmachte und jemand ohne Begrüßung die Treppe heraufgestampft kam. Nun, es war eindeutig wütend, aber nicht schwer genug für einen Mann, also musste es eine Frau sein. Und er wusste schon, um wen es sich dabei handelte. „Sherlock Holmes!“ Sauer schnaufend stand Cathy in dieser Müllhalde von Wohnung, die Hände in die Hüfte gestemmt und ganz außer Atem. Sie war den ganzen Weg zur Baker Street im Stechschritt gelaufen, weil sie so wütend war, dass sie am liebsten jemand zusammengeschlagen hätte. Die Entfernung von der U-Bahn – die Cathy genommen hatte – war nicht gerade die Kürzeste und in ihrer Arbeitskleidung – wie eigentlich üblich ein Top und eine Short, sowie halbhohen Sandaletten – war das ganze noch etwas anstrengender gewesen. Und nun musste sie frustriert feststellen, dass dieser beratende Detektiv sie auch noch nicht mal beachtete. „Entschuldigung Cathy, aber was ist denn passiert?“, wollte John etwas zögerlich wissen. Inzwischen war sie nämlich fast so groß wie er, was aber nur an ihren Absätzen lag, die waren bei vier Zentimetern zwar nur gering nennenswert, aber dennoch machten sie was aus. „Ohh, John, halt dich da raus!“, schnauzte sie, kramte ein kleines Kassettchen aus ihrer Hosentasche und knallte es auf den Tisch, sodass Sherlock gezwungen war, sie anzusehen. „Tut mir leid, ich habe es schon entsorgt.“ „Wie bitte?!“ John konnte Cathys Kragen aufblasen sehen. Er kannte sie schon viel zu lange, um das hier falsch zu interpretieren. Irgendwas hatte Sherlock angestellt, was die junge Frau zum Kochen brachte. „Sie wollen mich verarschen!“ „Nun – nein.“ Damit widmete er sich wieder seinem Notebook. John schüttelte den Kopf. Auch wenn Sherlock ein Meister des Deduzierens war, so hatte er doch keinerlei Menschenkenntnis, zumindest keine Erfahrung mit temperamentvollen Leuten. Schon hatte sich die Kupferhaarige neben den Detektiv gestellt, das Notebook zugeklappt und ihre Hand auf den Tisch gepatscht. „Geben Sie mir sofort die fehlenden Teile wieder!“ „Ich sagte doch bereits, dass sie entsorgt sind.“ „Mir egal – dann wühlen Sie halt im Müll! Was soll ich bitte dem Bestatter heute Abend sagen, wenn er wissen will, wieso die eine Hälfte des Brustkorbes eingefallener ist als die andere?“ „Wartet mal – was genau fehlt denn und … wo?“, warf John ein und hob die Hände. „Mr. Holmes ist gestern Nacht noch in meinen Rechtsmedizinbereich eingebrochen und hat eine Leiche geschändet!“, erklärte Cathy aufgebracht und deutete auf die Kassette. „Nur, falls es Unklarheiten geben sollte.“ „Sherlock!“ Entsetzt und kaum überrascht lies John den Kopf hängen und setzte sich in den Sessel. „Unglaublich. Einfach unglaublich.“ Murmelnd tigerte Cathy durch die Straßen, einen blauen, stinkenden Müllbeutel mit sich herumtragend. Sherlock hatte die Lunge und das Herz doch nicht weggeschmissen wie er behauptet hatte, sondern das Zeug im untersten Kühlschrankfach gebunkert, was John glücklicherweise herausgefunden hatte. Gerade wollte sie die Treppe zur U-Bahn runtergehen, als ihr Handy klingelte. „Jaina?“ „Cathy! Komm schnell!“, ertönte die aufgelöste Stimme ihrer Freundin. „Jaina? Was ist passiert?!“ Sofort legte die Medizinerin einen Zahn zu, die Eingeweide in der Tüte gegen ihre Beine schlackernd. „Ist deine Mama gestorben?!“ Sie ging automatisch immer vom schlimmsten aus. „Nein! Oh Gott, das ist ja so eklig! Komm einfach schnell.“ „Wo bist du eigentlich?“ „Ja, im Hinterhof unserer Nachbarin, für die ich heute noch die Blumen gießen sollte!“, gab Jaina genervt von sich, dann quietschte sie erschrocken auf. „Okay, ich bin ja gleich da!“ „Cathy, zum Glück bist du da!“, rief Jaina, als ihre Freundin aus dem Taxi stieg und bezahlte. „Da ist ein Kopf im Garten!“ Die hübsche Mathematikerin sah fürchterlich schockiert und aufgelöst aus. „Ein Kopf?“ Besorgt schaute Cathy ihre Freundin an. „Ja, ein Kopf! Ohne Körper! Da steckt was im Mund drin!“, erklärte die Mathedozentin und führte Cathy zum Ort des Geschehens. Es war ein kurzer Weg und als die zwei jungen Frauen im Garten waren, erwartete sie genannter Kopf. Der eindeutig einem Mann gehört hatte. Verwirrt verzog Cathy das Gesicht. „Und… der Körper war nicht hier?“ „Nein, ich hab dich gleich angerufen.“ „Okay, dann schauen wir uns das Ganze mal an. Hier hast du Handschuhe.“ Damit händigte Cathy ihrer Freundin Latexhandschuhe aus, zog sich selber welche über und betastete dann den Kopf. Auch Jaina zog sich die Handschuhe an und trat neben die Rechtsmedizinerin. „Weißt du, was ich komisch finde? Der Kopf ist da und eigentlich, wenn man geköpft wird, dann geht doch ein kleines Stück vom Hals immer mit, oder?“ „Mhm.“ „Aber hier ist nur Kopf und null Hals“, meinte Jaina und schaute in das Ohr des Kopfes. Sie wusste, was sie da gerade machten, war nicht erlaubt und konnte eventuell sogar bestraft werden, aber irgendwie war es gerade deswegen so spannend. „Jep. Das heißt, da hat sich jemand Mühe gemacht, den ganzen Körper zu verstecken. So kann ich natürlich wenig sagen. Männlich, weiß, Mitte Dreißig bis Mitte Vierzig. Übergewichtig“, schloss Cathy und richtete sich auf. Sie sah sich um. „Und er wurde nicht hier getötet. Rufen wir die Polizei.“ „Okay.“ Eine viertel Stunde später standen zwei Streifenwagen vor dem Haus, in dessen Garten sich der ganze Tumult abspielte. Jaina und Cathy hatten sich schnell die Handschuhe ausgezogen, bevor jemand auf die Idee kommen würde, die zwei hätten schon am Schädel herumgespielt; das würde keinen guten Eindruck hinterlassen. Außerdem hatte Cathy die blaue Tüte in eine größere Handtasche gepackt und immer noch bei sich. „Und Sie haben den Kopf gefunden?“, fragte gerade ein Polizist Jaina, welche sich auf einen Gartenstuhl niedergelassen hatte, um erschöpft zu wirken. In Wirklichkeit war sie allerdings wild darauf, mit Cathy in die RM zu fahren und ihrer Freundin dort zuzusehen, was sie mit dem Kopf anstellte. „Ja.“ „Um wie viel Uhr war das etwa?“ Neugierig bist du auch gar nicht, dachte Jaina bitter und musste sich den Kommentar runterschlucken. „Vor etwa einer halben Stunde.“ „Und wieso haben Sie nicht gleich die Polizei gerufen?“ „Ich hab noch etwas Zeit zum Übergeben gebraucht. Keine Ahnung, ob Sie so was kennen“, gab sie nun doch etwas spitzer als nötig zurück. Bis jetzt hatte sie nicht gewusst, wie sie diese Zeit-differenz hatte erklären wollen, aber dieser spontane Ausbruch war ja auch nicht schlecht gewesen, schließlich hatte der Polizeibeamte jetzt ein schlechtes Gewissen. „Das tut mit leid“, murmelte dieser nur und entfernte sich dann, woraufhin gleich Cathy angelaufen kam. „Na, lange hat dich der kleine Spasti ja nicht ausgehalten“, grinste sie über beide Ohren und machte sich einen strengen Dutt. „Du willst bestimmt mit zur Untersuchung?“ „Klar“, erwiderte Jaina etwas verwirrt. „Spasti?“ „Aaach, du kennst mich. Der ist schon seit zwei Jahren dabei und checkt noch immer nicht, dass Leute nach dem Finden einer Leiche gerne mal brechen gehen oder ohnmächtig werden oder einen Schock bekommen. Deswegen“, erklärte sie fröhlich und winkte einem Taxi. „Wir fahren schon mal vor. Währenddessen kannst du mir dann in aller Ruhe erzählen, wie dein Date so verlaufen ist.“ Leicht genervt seufzte Jaina auf. Cathy würde es einfach nie lernen. „Also, dann lass mal hören“, forderte Cathy Jaina auf, überschlug ihre Beine und lehnte sich in dem Sitz zurück, die Hände im Schoß aneinandergelegt, die Fingerspitzen nach oben zeigend. „Na gut, aber du darfst mich nicht mit bescheuerten Date-Sprüchen unterbrechen. Ach, unterbrich mich einfach gar nicht“, erwiderte Jaina, legte eine Hand an die Schläfe und schaute aus dem Fenster. „Also, gestern Abend…“ Sie steigt aus dem Taxi, das vor dem ausgemachten Café gehalten hat, fühlt sich ein wenig unwohl und aufgeregt in ihrer Haut. Sie weiß, es ist kein Date, trotzdem freut sie sich auf die Abwechslung und ist gespannt, ob er und sie nur über Mathematik reden werden. Wovon Jaina hofft, es wird der Fall, für alles andere ist sie nämlich nicht gut genug vorbereitet. Nun, sie beherrschte seit jeher den Small-Talk, aber so wirklich nutzen möchte sie ihn heute Abend nicht, sonst wäre ihre Freude vollkommen fehl am Platze gewesen. Schließlich gibt es selten die Möglichkeit, sich mit jemand anderes für solch ein Themengespräch zu treffen. „Ah, da sind Sie ja“, wird sie beim Eintreten gleich von dem fein angezogenen Kellner begrüßt. „Der Herr erwartet Sie schon“ „Aber, äh… wir sind doch erst für in zehn Minuten verabredet?“, erwidert Jaina etwas überrumpelt und lässt sich zum Tisch führen. Allerdings ist sie froh, dass sie gleich einen Sitzplatz hat, in diesen sündhaft teuren Chinese Laundry Schuhen lässt es sich auf längere Zeit nicht bequem stehen noch gehen. „Miss White! Wie schön, Sie zu sehen!“, freut sich Moriarty, als er aufsteht, ihr einen Handkuss gibt und ihr den Stuhl zurechtrückt. „Ich dachte, es wäre schön, schon einmal auf Sie zu warten.“ „Ja, das war tatsächlich sehr… aufmerksam“, gibt die Dozentin stockend zurück und ist froh, dass sie eine einfache schwarze Hose und eine weiße Bluse trägt. Alles andere wäre overdressed gewesen. „Gut, dann lassen Sie uns doch gleich etwas bestellen, später dauert es so lange, bis es an den Tisch gebracht wird“, schlägt Jim zuvorkommend vor, Jaina aus seinen dunklen Augen fröhlich ansehend. Das macht man nicht, wenn man sich nur so mal sieht, beschwert sich Jaina innerlich und würde sich am liebsten sofort wieder von hier entfernen, wäre die Musik nicht so schön und das Ambiente so ansprechend. Sie kennt das Lied, Cathy hatte es ihr einmal gezeigt, als sie mal wieder unkoordiniert auf YouTube rumgesurft war. Es war „Only you“ von Ciara Considine, ein unglaublich schmalziges Lied. Jim winkt dem Kellner, während Jaina sich darauf vorbereitet, dieses Gespräch auf das ausgemachte Thema zu lenken. Nämlich dem inelastischem Materialverhalten von Metallen. „Für mich einen Merlot. Was möchten Sie trinken?“ „Einen Chateau La Mondotte“, meint Jaina und denkt dabei sehnsüchtig an diese eine Flasche Wein, die sich Cathy und sie einmal gekauft hatten, dieses unverfroren teure Stück Luxus, das immer noch ungeöffnet im Wohnzimmerschrank stand und von dort aus schon den Preis von 85.250,00€ ausstrahlte. Gut, für diesen einzigartigen Branne Mouton hatte es sich durchaus gelohnt, aber so was würde Jaina nie wieder zulassen. Einfach nie wieder. Den hatten sie angeheitert gekauft und würden ihn jetzt für immer so stehen lassen. Nachdem der Kellner gegangen ist, hat Jim wieder die volle Aufmerksamkeit von Jaina. Heute sieht er gut aus, denkt sie etwas verzweifelt. Er trägt einen dunkelblauen Anzug von Westwood, dazu eine passende Krawatte und ein weißes, gestärktes Hemd. Wieso dürfen manche Männer so unverschämt gut aussehen? Unangenehm berührt lehnte Jaina sich zurück und hoffte, dass diese Fahrt doch schneller vorbeiginge. Cathy ihr gegenüber sah immer wieder so aus, als ob sie das verbotene D-Wort sagen wollte, oder zumindest vieles, was Jaina ihr erzählte, kommentieren. Zum Glück hielt sich ihre Freundin wie versprochen zurück, es war auch so schon schlimm genug für die Dozentin. Sie sehen heute fantastisch aus.“ „Eh... danke. Sie – auch.“ Jaina kann es nicht glauben, dass sie sich inzwischen das zehnte Kompliment innerhalb von fünf Minuten anhören durfte. Das geht doch nicht, dass sie es einfach nicht schafft, das Thema von ihren Haaren, ihrer Kleidung oder ihrem Parfum abzulenken. Und dennoch kommt Jim immer wieder auf andere Sachen als Mathematik zu sprechen. Noch. „Also, Mr. Moriarty, wie sind Sie eigentlich auf die Mathematik gekommen?“ „Nun ja, Mathematik ist einfach logisch und ansprechend. Entweder ist etwas richtig oder falsch, da gibt es keine Spielräume wie in Fachbereichen der Religion oder Ähnlichem“, antwortet er diesmal konkret, wofür Jaina unendlich dankbar ist. „Das stimmt. Und sind Sie dann schon immer Mathedozent?“, fragt sie weiter. „Naja, ja. So halb. Ich habe Mathe studiert, dann war ich in der Armee und jetzt finde ich es angenehmer, meinen Hobbies nachzugehen“, meint Jim gelassen und zuckt mit den Achseln. Dann nimmt er einen Schluck von seinem Rotwein. „Ihren Hobbies?“ „Mathe, größtenteils. Der Rest ist eher uninteressant.“ „Na dann. Also, wie lange beschäftigen Sie sich dann jetzt schon mit dem dem inelastischem Materialverhalten von Metallen?“ Sie hatte diese Wörter, so aneinandergereiht, schon immer cool gefunden. „Noch nicht so lange, aber ich habe zwei Abhandlungen darüber gelesen und mich mit den Kollegen darüber unterhalten.“ „Mhm.“ Jaina hat keine Ahnung, was sie darauf erwidern soll. Sie selbst hat sich mit niemand darüber unterhalten, nur Cathy hatte sie letztens damit einmal zugeschwallt, allerdings hatte ihre Freundin nur halbherzig zugehört. Außer den Büchern, die sie darüber gelesen hatte und die ausgeführten Experimente, kann Jaina nichts Cooles aufweisen. Aber wenigstens weiß sie bescheid. Vielleicht sogar mehr als Jim, weil der ja nur Bücher gelesen und nichts selber ausprobiert hatte. „Okay, wird’s irgendwann auch spannend?“, fiel Cathy ihr da ins Wort, grinsend und sich streckend. „Überspring den Mathe-Teil und erzähl mir doch lieber, wann er dich an der Hand genommen hat.“ „Hat er gar nicht!“ „Doch, sonst würdest du sie nicht die ganze Zeit versteckeln.“ „Er hat sie aus Versehen berührt und zum Abschied geküsst und das war’s“, insistierte Jaina, sodass Cathy in leises Kichern verfiel. „Natürlich, das glaubst du mir jetzt nicht.“ „Entschuldigung, aber Jaina. Schau mal, ihr trefft euch, du willst über Mathe reden und er macht dir über fünf Minuten lang Komplimente über alle möglichen Sachen? Ich denk, du weißt selber, was das heißt.“ „Ja, aber mir gefällt das nicht und dir würde das ganz bestimmt auch nicht gefallen, wenn dich ein Kollege mit einem interessanten Gespräch lockt und dann doch nur am Rumflirten ist“, meinte die Mathematikerin und verschränkte die Arme. Gut, das Gespräch über das Thema war dann doch noch gut gelaufen und sie hatten sich prächtig verstanden, aber das musste ihre Freundin ja nicht wissen. Na, zumindest noch nicht. Später mal, wenn sie sicher war, dass Cathy nicht mehr auf das Wort „Date“ insistieren würde. „Tja, ich würde gar nicht mit dem Kollegen mitgehen“, meinte Cathy da und öffnete die Taxitür. „Wir sind da.“ Dann drehte sie sich zum Fahrer. „Gehen Sie rein und holen Sie sich Ihr Geld, Scotland Yard zahlt das als Arbeitsweg.“ Damit stieg sie aus, eine verblüffte Jaina hinter sich herlaufend. „Hä? Cathy? So funktioniert das doch gar nicht!“ „Ja, ich weiß.“ „Aber wieso bescheißt du ihn um sein Geld?“ „Weil ich selber keines dabei hab“, erklärte sie ungeduldig und winkte mit der Hand ab. „So, das machen die Kollegen schon, von mir aus bring ich mal was zu Naschen mit. Also, du musst aber ein bisschen aufpassen, wo du hinläufst.“ „Wieso?“ „Weil halt. Du kannst da unten nie wissen, ob gerade gewischt wurde oder nicht. Wir haben keine Achtung-Rutschig-Schilder“, meinte Cathy und ging mit Jaina runter in die RM. „Und du denkst, dass gerade heute Nacht gewischt wurde?“ „Ja. Gestern Nacht wurde eingebrochen und ich wette, inzwischen hat eine Putzfrau gegen Bezahlung wieder sauber gemacht. Außerdem muss ich das Geklaute wieder zurückbringen.“ „Eingebrochen?!“ Nun war Jaina doch etwas entsetzt. Ob jetzt der Tatsache, dass so etwas passieren konnte oder dem Fakt, dass Cathy auch noch davon wusste, war ihr nicht ganz klar. „Ja. Den besuchen wir später auch nochmal. Ich hab noch eine Rechnung für ihn.“ Das klang nicht nur sauer, Cathy sah auch so aus. Jetzt hatte sie Augenringe und Kneifaugen. „Okay, also, das ist interessant“, verkündete Cathy schon fröhlicher und drehte den Kopf des Mannes so, dass man die Unterseite gut betrachten konnte. Jaina stand etwa zwei Schritte entfernt und fand den Anblick wie einen Autounfall: Man will wegsehen, kann aber nicht. Jaina beobachtete, wie Cathy das Diktiergerät anschaltete. „Es ist Samstag, der neunte Julei 2010. Mein Name ist Dr. Dr. Catherine Romeck, der Name des Toten, von dem nur der Kopf gefunden wurde und nun untersucht wird, ist unbekannt. Die bisherigen Befunde der pathologischen Untersuchung zeigen: Der Mann war wahrscheinlich schon tot, bevor ihm der Kopf abgetrennt wurde, vermutlich durch Erwürgen; erkennbar durch die Dunsung des Gesichts, massiven Petechien im Gesichtsbereich, der Zyanose der Lippen und einer leichten Zyanose der Nasenspitze. Ich werde jetzt den Mund öffnen, da darin ein Gegenstand vermutet wird und… tatsächlich, ein Zettel, um einen Gipsblock gewickelt. Mit diesem Gipsklumpen wurde auch das Atmen verhindert. Da wollte jemand sicher gehen. Den Zettel untersuche ich später, jetzt werde ich erstmal das Hirn freilegen, um eine mögliche, Verzeihung, eine wahrscheinliche Hirnischämie darzulegen.“ Cathy legte den Kopf sorgfältig auf den Stahltisch, befestigte ihn mit einer Art Schraubstock und griff nach der Knochensäge. Dann schaute sie zu Jaina. „Heute ist bei der Untersuchung Professor Doktor Jaina White anwesend, die mir nicht assistiert. Mr. Chan ist abwesend. Die Untersuchung wird von mir allein durchgeführt.“ Daraufhin zog sie ihre Schutzbrille aus dem dafür vorgesehenen Fach . „Jaina, also es wäre von Vorteil, wenn du jetzt ein wenig zurücktrittst und vielleicht wegschaust“, schlug sie dann noch vor, und setzte sich die Schutzbrille auf, bevor sie die Säge startete. „Uh, es liegt eindeutig eine Hirnischämie vor, es ist deutlich zu viel Blut vorhanden, das Opfer wurde also stranguliert. Einige Gefäße sind geplatzt und das Blut hat sich zwischen den Windungen inzwischen festgesetzt. Nun zur Schnittkante“, fuhr sie fort und wischte sich mit einem Feuchttuch die behandschuhten Finger ab. Sie drehte den Schädel wieder so, dass man den Schnitt sehen konnte. „Auf den ersten Blick sehr sauber, aber bei genauerer Betrachtung des Muskelgewebes stelle ich fest, dass die Hautschichten nachträglich gekürzt wurden. Aber dazu später mehr.“ Dann setzte sie die Brille ab und schaltete das Aufnahmegerät aus. „Ich hab’s doch gewusst.“ „Cathy, das ist irgendwie…eklig“, meinte Jaina und trat näher. Sie fand es faszinierend, wie Cathy diesen Gestank, der von der Hirnmasse ausging, widerstehen konnte und wie ihre Freundin es nicht interessierte, dass hier inzwischen voll das Blut herumseiberte. Aber das brachte wohl der Beruf mit sich. „Ach was. Eklig ist, wenn du den ganzen Kerl gefunden hättest. Beim Erwürgen ist es immer so, dass sich der Getötete kurz vorm Tod nochmal schnell einkötteln muss. Immer. Jedes Mal hab ich dann hier die Sauerei.“ „Sowas erzählst du nie beim Essen. Ist ja faszinierend“, meinte Jaina und betrachtete die Röntgenaufnahmen des Schädels, die an der gegenüberliegenden Wand hingen. „Naja, ich will dir den Appetit nicht verderben“, lachte Cathy und streckte sich. „Also, legen wir den Kopf mal wieder weg.“ Damit legte sie die Schädeldecke und den Rest des Kopfes auf eine Stahlliege, die sie dann in einen Leichenkühlschrank schob. „Okay, und jetzt wird mein anderer Patient noch zusammengeflickt.“ „Willst du mich verarschen?“, entfuhr es Jaina, als Cathy die blaue Plastiktüte aus der Handtasche holte und die Eingeweide in eine Stahlschüssel fallen lies. „Hast du das jetzt wirklich die ganze Zeit mit dir mitgetragen?“ „Logo.“ Damit rollte die Rechtsmedizinerin den Tisch mit dem geschändeten Jugendlichen heran und trennte die Nähte der Untersuchung auf, sodass ihr der halb leere Brustkorbinnenraum entgegenlachte. „So etwas unverschämtes.“ Cathy nahm sich die Lunge, die inzwischen ziemlich eingefallen wirkte, und setzte sie an ihren Platz, wobei Jaina irgendwie nicht wusste, wo genau der zwischen dem ganzen anderen Zeug sein sollte. „Und ehm… die Sachen wurden gestohlen?“, wollte sie dann doch wissen. „Genau.“ „Und woher wusstest du, wer sie hatte?“ „Der war vorher schon hier drin und wollte was von der Leiche mitnehmen. Ich wusste einfach, dass er’s war. Und später gehen wir nochmal dahin, das hier ist ja keine normale Arbeitszeit, es ist ja schon wieder fast halb elf Uhr Abends. Das hier lass ich mir von dem bezahlen“, murmelte sie schlecht gelaunt und popelte das Herz zwischen die Muskeln, dann seufzte sie. „Bist du jetzt fertig?“, wollte Jaina wissen. „Tja, also wenn du meinst, wir können ihn so seinen Eltern zeigen, dann können wir heimgehen.“ Cathy zeigte auf den Toten, dessen Brustbein immer noch einladend aufgebrochen und außeinandergeklappt war. „Jo, passt doch“, grinste Jaina und reichte Cathy die dicke Nadel und den Spezialfaden. „Für heute genügend Tod für dich, Jainalein. Jetzt geht’s erstmal Stress bei anderen machen.“ Dies ankündigend machte Cathy den letzten Stich, deckte den Jungen zu und schob ihn in sein einsames Kühlfach, das sie sicher und fest verriegelte. „Und wann kommen wir heute heim zum Schlafen? Ich muss noch andere Hausaufgaben korrigieren.“ „Aach, dazu hast du doch noch morgen Zeit!“ „Von wegen, das sind noch bestimmt zwanzig Stück“, beschwerte sich die Dozentin und zog sich ihre leichte Jacke über, während sie die Latexhandschuhe in den Mülleimer warf. „Dann helf ich dir halt. Du hast bestimmt eine Musterlösung“, schlug Cathy vor, zog die Handschuhe ebenfalls aus und wusch sich die Hände. Dann entsorgte sie die blaue Tüte und klatschte in die Hände. „Los, los, jetzt gehen wir John stressen.“ „Hey warte – welchen John?! Doch nicht etwa der John!“ Es macht keinen Spaß, mitten in der Nacht, bei Wind und Regen, an der Straße zu stehen und einem Taxi winken zu müssen, wenn etwa alle fünf Minuten eines vorbeifuhr; das mussten Jaina und Cathy sich eingestehen. Sie hatten es sich leichter erwartet, doch um elf Uhr an einem Samstag war wohl doch nicht mehr so viel los wie gedacht. Zumindest nicht in der Gegend, in der sich die zwei herumtrieben. „Cathy, ich dachte, über John wärst du weg?“, fragte Jaina, während sie sich den geliehenen Arztmantel über die Frisur stülpte und ein bisschen wie Quasimodo aussah. „Bin ich auch, das ist doch ewig her“, erwiderte ihre Freundin, anders als Jaina den Regen ignorierend und unermüdlich nach Taxis winkend. „Aber er ist der Mitbewohner des Einbrechers.“ „Und… glaubst du, dass das wirklich so leicht rumgeht? Und wer ist dieser Einbrecher!“ „Okaaay, also. In John werde ich mich bestimmt nie wieder verlieben, weil ich inzwischen weiß, was gut für mich ist. Und der Einbrecher ist ein gewisser Sherlock Holmes“, meinte Cathy und pustete sich einen Regentropfen von der Nasenspitze. Jaina lies den Arztkittel sinken und sah Cathy ungläubig an. „Er ist doch nicht etwa mit Mycroft Holmes verwandt? Doch nicht genau der Sherlock Holmes?“ „Keine Ahnung, hab ich noch nicht drüber nachgedacht. Ich war mehr damit beschäftigt, mir den Kerl aus der RM rauszuhalten und dann die Organe wieder zu holen. Aber…“, sie hielt inne. „Es könnte ja echt was dran sein.“ Cathy jedenfalls war froh, dass Jaina vom – immer noch empfindlichen – Thema John Watson abließ. Nur durch strikte Ignoranz hatte sie es geschafft, ihm heute keine reinzuhauen. „Ich frag ihn einfach“, beschloss die Mathematikerin locker und klatschte in die Hände, als endlich ein Taxifahrer hielt. Beide junge Frauen stiegen ein und freuten sich an der Wärme. „Wo darf’s hingehen, Ladies?“ Der Fahrer drehte sich um und lächelte freundlich. Er hatte weißes, volles Haar, das unter einer flachen beigen Mütze verborgen war, eine große Nase, aber er wirkte nett. „221 Baker Street, bitte.“ „Zu gerne.“ Während der Autofahrt döste Jaina ein wenig, was Cathy gut verstehen konnte, allerdings hätte sie gerade jetzt gerne die Ablenkung einer kleinen Konversation gebraucht. Ihre Gedanken schwirrten nämlich – wieder mal – bei John herum, was sie gar nicht gut fand. Es war ziemlich schwer gewesen, ihm nicht mehr nachzutrauern, wobei Cathy alles Mögliche ausprobiert hatte. Auch den jetzt verheirateten Kollegen. Sie seufzte. Seit ihrer Kindheit andauernd bis knapp vor ihrem 21. Geburtstag hatte sie für John geschwärmt und war jugendlich unschuldig in ihn verliebt gewesen, bis er nach Afghanistan bestellt wurde, um dort zu kämpfen. „Cathy, denk nicht drüber nach. Was willst du mit einem 40-jährigen?“, murmelte Jaina und veränderte ihre Sitzposition, dass sie bequemer dösen konnte. „Pffft! Ich sagte doch, dass da nichts mehr ist!“, wehrte sich die Angesprochene mit einer wedelnden Handbewegung. „Außerdem sieht man ihm das Alter gar nicht an.“ „Ja klar. Egal. Also, du kennst Sherlock also?“ „Tja, naja. Kennen. So würde ich es nicht sagen. Aber er war gestern bei mir in der RM und ich hab ihn eigentlich nur wegen John reingelassen.“ „Du solltest ihm vielleicht mal erzählen, was du so denkst“, schlug Jaina allen Ernstes vor und gähnte. „Ich wette, ihm tut es leid und dann könnt ihr’s doch nochmal versuchen.“ „Jaina, weißt du auch mal, was du willst? Einmal meinst du, ich soll ihn lassen und jetzt wieder, dass ich’s doch probieren soll. Kümmer dich doch erstmal um deinen Dozenten“, schlug Cathy leicht verwirrt vor und schloss ebenfalls die Augen. Eigentlich wollte sie jetzt nicht mehr darüber reden, inzwischen kam sie sich nämlich schrecklich ungeübt in diesen ganzen Sachen vor. „Ladies, wir sind da“, ertönte leise die Stimme des Taxifahrers. Langsam blinzelte Jaina und streckte sich. War sie doch tatsächlich richtig fest eingeschlafen. Ihr gegenüber schnorchelte Cathy leise vor sich hin, sodass sich die Dozentin genötigt fühlte, ihrer Freundin einen leichten Tritt mit den hohen Schuhen zu verpassen. Verwirrt wachte Cathy auf, schaute sich verpeilt um und setzte sich dann gerade hin, was Jaina grinsend beobachtete. „Uh, hab ich tatsächlich geschlafen?“, murmelte sie leise und öffnete die Wagentür. „Warte kurz, Jaina, ich geh schnell Geld für’s Taxi holen.“ Damit kletterte sie ungeschickt aus dem Taxi und lies Jaina als Pfand sitzen. Diese zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück. „Machen Sie ruhig den Motor aus. Ich glaube, die zwei Minuten können Sie erübrigen“, meinte sie dann zum Fahrer gewandt. Dieser drehte den Schlüssel rum und machte die Lichter aus. Im gleichen Augenblick schloss Jaina die Augen und entspannte sich. „Jaina, aufwachen!“ „Woah, Cathy!“ Erschrocken fuhr Jaina auf, schlug sich den Kopf an und jammerte leise. „Was ist los?“ „Ja, auf geht’s. Ich hab das Taxi schon längst bezahlt, der Mann will auch mal nach Hause kommen“, grinste Cathy und half ihrer Freundin aus dem schwarzen Auto. Drei Minuten später standen die beiden durchnässten Frauen in Sherlocks Wohnung und jede hatte andere Gedanken. Hier ist ja seit Wochen nicht mehr aufgeräumt worden, voll der Dreckladen… wo genau waren diese Eingeweide rumgelegen? In etwa so sah es in Jainas Kopf aus. Wo ist der Behinderte? Wenn die zwei jetzt schnell abgehauen sind, um sich vor mir zu drücken, gibt’s später nochmal richtig dick auf’s Maul, brodelte Cathy innerlich. Natürlich war sie dankbar dafür, dass John ihr das Taxi bezahlt hatte, aber sie war unglaublich sauer, weil er sie umarmt hatte und das machte ihr noch zu schaffen. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, dachte sie daran, dass – wenn sie mal Kinder haben sollte – er einfach die perfekte Vaterfigur war. Dafür könnte sie sich immer den Arm ausreißen. Und dann könnte sie immer noch schmelzen, wenn er sie kurz an sich drückte. Was war nur los mit ihr? „Ah, Miss Romeck, da sind Sie ja. John hat schon so eine Vermutung geäußert, dass Sie wiederkommen würden“, erklang Sherlocks Stimme aus der Küche, in welche Jaina hineinlugte. Da sah’s auch nicht besser aus. Ein großer Tisch in der Mitte, ansonsten spärlich möbliert und überall lag messiemäßig Zeug herum. Sie rümpfte die Nase, dann erspähte sie den Detektiv und ihr Kinn klappte nach unten. Er sah so kompetent und intelligent und distanziert aus! „Mister Holmes, das ist Jaina White, Mathedozentin an der University of London. Jaina, das ist Sherlock Holmes”, stellte Cathy beide schnell vor, dann schaute sie sich um. „Und wo hat sich John versteckt?“ „Er dachte, er zieht sich lieber was anderes als seinen Schlafanzug an, wenn wir doch nocheinmal Damenbesuch bekommen“, antwortete Sherlock und kam ins Wohnzimmer, Jaina mit hochgezogenen Augenbrauen musternd. „Oh, wagen Sie es bloß nicht, an Jaina herumzudeduzieren“, warnte Cathy und ballte eine Hand zur Faust, was sie aber schnell wieder aufhörte zu tun, sie wollte nicht als aggressiv gelten. „Sie können deduzieren?“, fragte Jaina ungläubig und schaute den großen Mann an. „In der Tat“, bestätigte Sherlock und setzte sich aufs Sofa, während er Jaina den Sessel mit einer nonchalanten Geste anbot. Cathy lies er stehen – Sherlock wusste, wann man etwas nicht mehr gutmachen konnte – hoffte sie zumindest. „Ah, Cathy, da bist du ja“, lächelte John, als er ins Wohnzimmer trat. Jetzt trug er eine einfache Jeans und einen leichten, beigen Strickpulli. Im Gegensatz zu Holmes sah er geradezu normal aus, fast ein bisschen schäbig. Sherlock hatte nämlich – wie immer wenn er unterwegs war – einen teuren Anzug an, darunter ein dunkellila Hemd. Jaina staunte nicht schlecht, als sie den Mann endlich mal in Lebensgröße sah. Er war zwar nicht so groß wie Holmes, sie schätzte John auf gute 1.75m oder sehr knappe 1.80m, aber auf gar keinen Fall darüber. Cathy war fast so groß wie er – mit ihren 1.72m war sie eine große Frau – trotzdem hatte John die Statur eines Soldaten, einen aufrechten Gang, aber er wirkte nicht so, als hätte er einen Stock im Hintern. Jaina bemerkte auch die Art und Weise, wie er Cathy mehr zurückhaltend begegnete. Sie wusste, warum ihre Freundin auf ihn abfuhr, der Ex-Soldat sah überhaupt nicht aus wie 40, eher wie Mitte 30, und mit den Augen, die zwischen taubenblau und stahlgrau schwankten, wirkte er fast noch ein wenig unschuldig. Ja, dachte Jaina, an so jemand kann die Cathy schon mal hinhängen wie ein Bullterrier. „Hi, John“, presste Cathy raus und stellte sich so hin, dass sie ganz locker wirkte. „Das ist meine Freundin Jaina. Jaina, das ist John Watson.“ „Danke, dass Sie das Taxi bezahlt haben“, meinte Jaina, womit sie die Situation entschärfen wollte. Gelang ihr auch ein wenig, denn John setzte sich in den zweiten Sessel, sodass Cathy als einzige stand. Doch anstatt unnütz herumzutigern, bot sie an, allen einen Tee zu kochen, wobei sich Jaina fragte, woher ihre Freundin wissen wollte, wo die ganzen Sachen dafür standen. „Und Sie sind Mathedozentin?“, fragte John höflich und lehnte sich entspannt, aber aufmerksam, im Sessel zurück. „Ja, durchaus“, erwiderte Jaina. „Und was machen Sie beruflich?“ Irgendwie fand sie es seltsam, mit diesem Mann zu reden, der mehr als ein Jahrzehnt die große Liebe ihrer besten Freundin war und ihn auch noch irgendwie nett fand. Sie fand es auch komisch, ihn zum ersten Mal so live zu erleben, sonst hatte sie immer mit Fotos zurechtkommen müssen, die Cathy ihr gezeigt hatte. „Ich bin Arzt.“ „Ich dachte, Sie wären Soldat?“ Jaina beschloss, erstmal so zu tun, als kannte sie ihn nicht, sie nahm nämlich an, dass er es nicht so cool aufnehmen würde, wenn er zu dem Wissen gelangte, dass Jaina ungefähr alles über ihn wusste, was es interessantes zu wissen gab. „Um genau zu sein, John war Militärarzt“, ergänzte Sherlock und klappte sein Notebook auf. „Ach so…“ Das Gespräch kam zum Erliegen und Jaina wusste sich nicht zu helfen. Wie ging man mit solchen Situationen um? Cathy, die Quasseltante, wusste immer, was man bei so was machen musste. Just in diesem Moment kam sie, ein großes Tablett mit vier Tassen und einer großen Teekanne darauf balancierend. „Tee ist fertig“, kündigte sie an und stellte das Tablett vorsichtig am Tisch ab. „Kann es sein, dass Sie, Sherlock, Augen in der Mikrowelle aufbewahren?“ „Augen?“ Entsetzt schaute Jaina zu dem Mann rüber. Emotionslos nickte er, dann schaute er die zwei Frauen an. „Sie haben sie hoffentlich nicht rausgetan.“ „Nein, habe ich nicht. Aber Sie sollten aufpassen, Augen werden bei Zimmertemperatur ohne bestimmte Vorkehrungsmaßnahmen schnell schlecht.“ Dann schenkte sie jedem Tee ein, sich selbst schaufelte Cathy dann noch vier Teelöffel Zucker rein. „Krieg ich auch den Zucker?“, fragte Jaina, woraufhin Cathy ihr den reichte und ihren Tee rumrührte, wobei sie es vermied, John anzusehen. Jaina schüttelte den Kopf. So ein Kindergarten. „Okay, wieso seid ihr eigentlich da?“, fragte John dann nach einer Weile und taxierte Cathy. Diese blitzte ihn aus ihren goldbraunen Augen an, unmerklich wurde aus ihren geschwungenen Lippen ein dünner Strich. „Wieso nur? Ich erwarte noch eine Entschuldigung von Sherlock und außerdem eine Entschädigung, schließlich werde ich nicht bezahlt, um Leichen zusammenzusetzen, von denen jemand Teile klaut“, meinte sie dann kühl und versuchte, nicht ganz so boshaft zu sein. John konnte nichts dafür, dass Sherlock so ein Einbrecher war. Aber John war auch nicht besser! Schaute sie so freundlich und interessiert an, dass sie ihn am liebsten anspringen wollte! Wieso fand sie ihn überhaupt toll? Er könnte fast ihr Vater sein! „Also.. Sherlock?“ „Wieso haben Sie ihn eigentlich wieder zusammengesetzt?“ „Das war das verrückteste, was ich je erlebt hab.“ Gemütlich fläzte sich Jaina auf dem Sofa herum und naschte an einem hausgemachten Cookie herum, während Cathy aufgedreht durch den Raum lief und dabei genauso aufgewühlt wirkte wie vor einer halben Stunde auch. „Unglaublich“, murmelte sie und warf nervöse Blicke auf den Tisch, auf dem ein Scheck herumlag. Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte echt nicht gedacht, dass er der Bruder von Mycroft ist. War zwar eine coole Idee, aber in Echt!“ Genervt lies sich Cathy neben Jaina nieder, schenkte beiden noch ein Glas Wein ein und trank ihres selber in einem Schluck aus, während ihre Freundin es wesentlich stilsicherer machte. „Was machen wir denn jetzt mit diesem Scheck?“ „Du wollest doch eine Bezahlung“, meinte Jaina schulterzuckend. „Aber doch keine zwanzig Riesen.“ Seufzend barg Cathy den Kopf in ihren Händen und gähnte. „Ich glaub, ich schenk ihn mir einfach zu Weihnachten.“ „Jetzt red nicht solchen Unsinn. Du überweist das Geld auf die Bank und davon kaufst du dir dann was Nettes. Hör auf, dir wegen so was jetzt Stress zu machen, du wolltest doch Bezahlung. Außerdem ist es nicht so, als ob du nicht so viel Geld gewohnt wärst.“ Der Cookie verschwand in Jainas Rachen, darauf folgte ein gesunder Schluck Rotwein. „Ich weiß was Besseres. Die zehn Minuten in der RM haben mich jetzt nicht so gestresst. Ich glaub‘, ich spende das Geld viel lieber“, dachte Cathy laut nach und streckte die Beine aus, die inzwischen in einem bequemen Seidenpyjama steckten. „Und an wen?“ „Ich weiß nicht, wie wär’s mit dem Mathebereich der University?“, grinste Cathy und stand auf. „Also, ich denk nochmal drüber nach, aber jetzt geh ich ins Bett. Gute Nach, Jaina.“ „Nacht, Cathy.“ Jaina seufzte als ihre Freundin den Raum verlies und packte sich einen neuen Cookie. Den stopfte sie sich dann ganz unladylike in den Mund und kaute genüsslich drauf herum, dann schaltete sie den Fernseher an und entschied sich für ein Comedy Programm. Jetzt nochmal irgendwas Intelligentes war ihr ein bisschen zu viel. Lieber ein bisschen seichter Spaß, der sie jetzt aufheiterte. Denn sie dachte zwar nicht an John, aber an Jim. Der war beim Nachtisch – einer unglaublich leichten Schokomousse mit frischen Himbeeren und einer leichten Vanillenote – plötzlich nicht nur sehr unaufdringlich charmant geworden, sondern auch noch angenehm interessiert. Wieso fand sie es dann ein bisschen schlimm, dass sie ihn auch sympathisch fand? Jaina goss sich noch ein Glas Wein ein und schwenkte es nachdenklich herum. Leider dachte sie viel zu oft daran, was Jim am Ende gesagt hatte, dass er sie unheimlich gerne wiedersehen würde und er den Abend sehr genossen hätte und sie auf jeden Fall zum jährlichen Universitäts-Tanz Ball kommen solle. Das war nur halb so wild gewesen, nur die Vorstellung allein, mit diesem charmanten Mann zu tanzen, was Körperkontakt erforderte, machte sie ganz wirr, sodass sie es lieber nicht machen wollte. Aber lieber würde Jaina sich ins Knie schießen, als so stur und uneinsichtig wie Cathy zu sein. Da nahm sie die Gelegenheit dann doch wahr und ging ein paar Mal mit Jim aus und vielleicht war er ja wirklich was für länger. Wer wusste das schon im Voraus? Am nächsten Morgen wachte Jaina schlecht gelaunt auf, ging langsam in die Küche und lies sich einen Kaffee raus, den sie dann schwarz und ohne Zucker trank, um wieder in die Gänge zu kommen. Wie hatte sie sich nur auf so ein verrücktes Unterfangen, einen Einbrecher zu bestechen, einlassen können? Was war eigentlich in Cathy gefahren, die zwar spontan, aber nie vollkommen bescheuert handelte und jetzt so was machte? Immer noch schlaftrunken griff Jaina in den Kühlschrank und holte sich ein Stück Schokotorte raus, um dieses dann langsam zu ihrem Kaffee zu essen. Zehn Minuten später kam auch Cathy in die Küche geschlurft und lies sich langsam auf einen der teuren Mahagonistühle sinken, den Kopf legte sie in die verschränkten Arme. Ihr Atem war kaum mehr als ein leises Kratzen. „Cathy, wirst du krank?“ „Nein“, erwiderte diese leise, eindeutig krächzend. „Was dann?“ „Ich dachte, dieser alte Hennessey würde ganz gut zu meiner Stimmung passen.“ „Das ist aber lange her, dass du das letzte mal bis zum Krächzen getrunken hast“, stellte Jaina fest und stellte Cathy auch ein Stück Torte hin, welches sie dankbar annahm und langsam mit dem Löffel die Schokomousse oben drauf abschabte und vom Löffel schleckte. „So viel war’s gar nicht, ich bin danach halt gleich ins Bett. Gott, ist mir schlecht. Und ich treff mich heut auch noch mit John. So ein Scheiß.“ „Häää.. wieso denn das?“ „Ja …äh, ich weiß auch nicht so genau, offensichtlich hat er gestern Nacht nochmal angerufen und was mit mir ausgemacht. Jedenfalls steht’s so in meinem Kalender.“ Jaina zuckte mit den Schultern. Da konnte selbst sie nicht mithalten, obwohl sie und Cathy auf der Chaotenstufe meistens gleich waren. Na gut, vielleicht war Cathy die mit der Krone, aber Jaina war auf jeden Fall nicht weit von ihr entfernt. „Und wann wollt ihr euch treffen? Du wolltest doch noch die Mathearbeiten mit mir korrigieren“, erinnerte Jaina müde. „Puh.. jo. Ich glaub, ich hab was von heute Abend gesagt glaub ich. Also, wenn ich jetzt noch ein Glas Wasser trink und Zähne putz‘, dann legen wir gleich los.“ „Chill mal, es ist acht Uhr in der Frühe und so mega viele sind das auch nicht mehr.“ Beruhigend tätschelte Jaina Cathys‘ Arm und trank ihren Kaffee aus. „Jetzt dusch‘ ich erstmal und dann sehen wir weiter.“ „Alter, Jaina, stehst du auf mindfuck oder was?“, entfuhr es Cathy, als sie die Matheaufgaben durchkorrigiert hatte. „Welcher Normalo soll das denn im Kopf können?“ „Ach, nur weil du schon beim ersten Satz abstürzt, heißt das nicht, dass anderen das genauso geht. Mir wird ja bei den Toten schlecht, dir bei solchen Matheaufgaben“, grinste die Dozentin und streckte sich. „Schau mal, jetzt ist es erst zwei Uhr und wir sind fertig. So schnell hätte ich das alleine nie hinbekommen.“ „Tja, also ich hätte das alleine gar nicht hingekriegt“, munterte Cathy Jaina auf und holte beiden ein Stück Torte. Die dezimierte sich heute aber auch erstaunlich schnell. Da musste bald eine neue angeschafft werden. Gerade wollten beide anfangen zu naschen, als es an der Tür klingelte. Jaina hob die Augenbrauen und schaute zu Cathy, diese zog eine Schnute und erwiderte den Blick. Welche von beiden sollte die Tür aufmachen, die zwei waren noch im Schlafanzug und Gammelkleidung. „Du hast die längere Hose“, entschied Jaina den Wettbewerb, sodass ihre Freundin aufstehen musste und zur Tür tigerte; und das in einem nicht gerade motiviertem Tempo. „Hallo?“, fragte Cathy durch die Sprechanlage. „Hm. Aha.“ Pause. Jaina aß ein Stück Torte. „Ey, wer bist du eigentlich! Jim, so heißt doch jeder Spacko! Hau bloß ab oder muss ich erst runterkommen und dir das deutlich machen?!“ „CATHY!“ Entsetzt sprang Jaina auf, rannte zur Tür und drückte den Knopf, sodass Jim durch die Haustür konnte. „Das ist der Mathedozent!“ „Du datest einen Jim?!“ „Äh.. ja? Was ist daran so schlimm?“ Doch das konnte nicht mehr erläutert werden, denn schon klopfte es an der Wohnungstür, welche Jaina auch sofort aufmachte, obwohl sie in ihrem Gammel-Look war, der aus Hotpants und einem ausrangierten T-Shirt bestand. Cathy stand daneben, die Locken wirr zerzaust und im hellgrünen Seidenschlafanzug. „Hallo Jim, was führt Sie hier her?“, begrüßte Jaina lieblich und versuchte, Cathy hinter der Tür zu verstecken, was reichlich schwer ging. Nebenbei gesagt wusste sie nicht mal, woher er wusste, wo sie wohnte. Sie konnte es sich spontan nicht anders erklären als damit, dass es im großen Dozentenzimmer eine Liste gab, auf der alle Namen mit Handynummer und Adresse draufstand. „Ich dachte, ich sag mal Hallo nach dem gestrigen Abend.“ Er lächelte freundlich. „Schön. Ich kann Sie jetzt nur nicht hereinbitten, ich glaube, das würde nicht so gut-“, setzte Jaina an, da klingelte es erneut. Automatisch drückte sie auf die Sprechanlage. „Hallo?“ „Hi, hier ist John. Ist Cathy schon wach? Wir haben uns für ein Uhr verabredet und ich denke, sie hat’s vergessen.“ „Oh, dann war das doch keine Sieben“, hörte Jaina Cathy hinter der Tür murmeln. „Kommen Sie hoch“, meinte Jaina trocken, drückte den Buzzer und kurz darauf stand John neben Jim. „Tja, also dann… kommen Sie beide halt doch herein.“ Ergeben drehte sie sich um und erblickte einen Tisch, der fertig gedeckt war, auf jedem Teller ein Stück Torte. Daneben stand Cathy, die Hände in die Hüfte gestemmt. Offensichtlich war sie schnell in die Küche gehuscht und hatte die fehlenden Teller dazugestellt. Wie clever. „Wurde auch mal Zeit, dass ich Jainas‘ Date kennenlerne.“ „Cathy, hüte deine Zunge!“, rügte Jaina, während sich ihre Wangen rot färbten. „Jim, das ist meine beste Freundin und Mitbewohnerin Cathy. Setzt euch doch beide.“ Sie strengte sich an, nicht zu sauer zu werden. Es wunderte Jaina richtig, dass sie jetzt so ein bisschen wütend war. „Danke“, meinte John, setzte sich neben Cathy und wartete artig, bis sich Jaina und Jim auch gesetzt hatten. Dann fasste er nach seinem Löffel, während er die Kupferhaarige anstarrte. „Also Jim, Sie haben Jaina an der Uni kennengelernt?“, fing sie an und stopfte sich ein riesiges Stück Torte in den Rachen. Eigentlich hatte Cathy gar keine Lust auf so was, aber manchmal musste man einfach Konversation betreiben. „Genau. Und wo arbeiten Sie?“ „Im Department of City Coroner und im Scotland Yard. Ach ja. Tut mir leid, dass ich Sie zusammenschlagen wollte.“ Ein weiterer Löffel folgte. Jaina schüttelte den Kopf über die Ansage, die Cathy mal wieder gebracht hatte. „Aber irgendwoher kenne ich Sie.“ Sie legte die Stirn in Krausen und legte den Kopf schief. John fasste es nicht. Wie konnte er nur die ganzen Jahre übersehen haben, was für eine außergewöhnliche junge Frau Cathy war? Und jetzt, wo er bereits eine andere kannte, merkte er es und fühlte sich schuldig. Sie schaffte es, aus einer unangenehmen Situation etwas Normales zu machen – oder alle in einen Pool der Peinlichkeit zu werfen. Und wie sie total ungezwungen in Pyjama herumsaß und Torte aß, als ob sie jeden Tag mit Fremden zusammen essen würde. Gut, neben Cathy wirkte Jaina sehr gesittet und anständig, aber das machte auch den Charme der beiden gemeinsam aus. Jaina würde ein gutes Model abgeben und was er schon von ihr gehört hatte, lies ihn an eine kreative, logische und lustige Frau denken. Sie waren beide so anders und gleichzeitig so ähnlich zu Sarah, mit der John gerade anbandelte. Sarah kleidete sich aber etwas sportlicher, kümmerte sich aber mehr um ihre Frisur. „Ich weiß nicht, woher Sie mich kennen könnten“, erwiderte Jim höflich und aß ein kleines bisschen Torte, während Jaina halb versteinert daneben saß. „Ja, ich auch nicht“, grinste Cathy und widmete sich ihrer Torte. „Wollen wir vielleicht eine Tasse Tee?“ „Gerne“, sprang Jaina ein, stand auf und verschwand in die Küche. „Früchtetee!“, rief Cathy hinterher und legte ihren Löffel hin. „Tut mir leid, John, ich hatte unsere Verabredung heute total vergessen. Ich dachte, wir hätten sieben Uhr ausgemacht.“ „Naja, nicht so schlimm. Ich dachte schon, dass du es verschlafen würdest.“ „Ey! Was ist das denn für eine Ansage?“, entrüstete sich Cathy und schaute John mit blitzenden Augen an. Jim beobachtete beide amüsiert und begnügte sich damit, ab und zu ein Stück der köstlichen Torte zu essen. „Tut mir leid“, entschuldigte sich John und berührte sie kurz am Arm. Ihr Blick warf Todespfeile. „Muss es nicht.“ Elegant und mit abgehackten Bewegungen stand sie auf. „Entschuldigt mich.“ Dann stiefelte sie zu Jaina in die Küche, sodass die beiden Männer sich gegenübersaßen, diesmal aber ohne Puffer dazwischen. Peinliches Schweigen war der Effekt, beide Männer saßen herum und warteten auf die Mädchen. John war der, der das Schweigen brach. „Also… wo arbeiten Sie?“, wollte er höflich wissen und faltete die Hände im Schoß. „An der Universität, wie Cathy vorhin schon bemerkt hat.“ John ignorierte den subtilen Seitenhieb geschickt und warf einen Blick in die Küche, just in dem Moment, in dem ein Messer durch die Gegend flog. Schnell schaute er weg, aber er merkte, dass Jim ihm irgendwie unsympathisch war. Kapitel 3: NURSING ------------------ “It's not that I am anti-social. I just don't like you.” – T-Shirt Am Montag blieb John zu Hause, ihm ging es gar nicht gut. Er hatte sich einen Grippe-Virus oder etwas ähnlich hässliches eingefangen und nun saß er in seinem Sessel, regelmäßig auf-springend um ins Bad zu rennen um sich dort zu übergeben. Sherlock war früh zu Lestrade gegangen, sodass John hoffte, sein Mitbewohner würde erst spät zurückkommen. Er konnte sich nämlich nur zu gut denken, was Sherlock über das Kranksein dachte oder dabei zu tun pflegte. Und er fühlte sich dem nicht gewachsen, alles an John war schwach und kraftlos und schon beim Anblick von Essen stülpte sich ihm der Magen um. Ihm ging es so schlecht, dass er sich schon überlegte, Mrs. Hudson zu fragen, ob sie ihm einen Tee machen würde, aber das traute John sich dann doch nicht. Aber er hatte eine andere Idee, die ihm wirklich gut gefiel. Es war ihm vor einer halben Stunde in den Sinn gekommen, dass er schon einmal so krank gewesen war und Cathy ihn dann gepflegt hatte, mit ihren unschuldigen 16 Jahren damals – ihn, einen 30-jährigen Mann! Also griff er langsam nach seinem Handy und wählte ihre Nummer. Es läutete ein paar Mal, dann hörte er, wie jemand ran ging. „John, was wollen Sie?“, zischte Cathy ins Telefon. Sofort war er eingeschüchtert. „Cathy, ich dachte...“, fing er an, wurde aber von einem Seufzer unterbrochen. „Wievielte Schmerzmittel soll ich mitbringen?“, meinte sie dann geschäftsmäßig. „Wie wär’s mit tausend Packungen?“, versuchte er zu witzeln, doch er merkte, wie ihm wieder schlecht wurde. Er durfte jetzt nicht – „Oh Gott!“ „Okay, brech dich aus. Ich bring was mit. Gib mir eine halbe Stunde.“ Dann hatte sie aufgelegt und der sich übergebende John hörte noch das Besetztzeichen. Kaum zwanzig Minuten später stand Cathy bei Jaina auf der Matte, mitten während einer Lesung. Im Arztmantel und den Turnschuhen und der Arbeitsfrisur, die alles andere als ansprechend war. Außerdem hatte sie eine Sporttasche dabei, die gestopft voll war mit Kleidung, eingepackten Spritzen, Antibiotika und Schmerzmitteln. „Hi Jaina. Hallo ihr kleinen Studenten. Jaina, ich bin heute bei John.“ „Cathy? Ich dachte, du willst es langsam angehen lassen?“, entrüstete sich Jaina und kam hinter ihrem Tisch hervor, eindeutig besser aussehend als Cathy. Sie warf ihr dichtes, braunes Lockenhaar zurück, die männlichen Studenten verfolgten dies mit großem Interesse. „Natürlich, ich bleibe nur über Nacht und dachte, vielleicht willst du noch ein Date mit Jimmy-Boy.“ „Über Nacht?“ „Also, ja. Warte – nein. Das klingt jetzt so nach Sex und so. Aber John ist schlimm krank und ich kann ihn doch nicht einfach so liegen lassen. Außerdem hat er sein Telefon vollgebrochen.“ Die Studenten hörtenfleißig mit und gaben Geräusche zum Besten. „Es klingt tatsächlich sehr nach Geschlechtsverkehr“, bestätigte Jaina und erntete damit ein paar Johler aus dem Publikum. „Und wieso gehst du hin, wenn er krank ist? Er kann dich anstecken und du mich!“ „Er steckt mich nicht an, weil er nichts in mich reinstecken wird“, erläuterte Cathy, was die Mädchen zum Kichern brachte. „Außerdem hab ich hier drin eine ganze Ausrüstung, auf die John furchtbar neidisch sein wird, sie nicht zuhause zu haben. Naja, ich wollte dir eigentlich nur Bescheid sagen“, grinste sie und hielt die Tasche hoch. „Okay… was genau ist da alles drin?“, fragte Jaina und beäugte ihre Freundin misstrauisch. „Morphin, Antibiotika, Paracetamol und Vitaminspritzen, lauter solche Sachen“, erklärte die Ärztin und seufzte. „Also, ich muss jetzt los, der arme John kommt sonst um in seiner Wohnung, hab ich das Gefühl.“ Während Cathy vor der Tür der 221b wartete, gab Jaina weiterhin Unterricht, fühlte sich aber nicht ganz wohl bei der ganzen Sache. Die Studenten waren etwas aufgewühlt nach dem Besuch ihrer Freundin und die Diskussion war entbrannt, ob sich Ärzte wirklich einfach so Morphin mitnehmen durften oder nicht und ob es dann nicht besser wäre, schnell ein anderes Hauptfach zu wählen, was Jaina mit immer mehr Missgunst hörte. So ein bisschen Abwechslung war ja nicht schlecht, aber alles in allem sollten solche Diskussionen wohl lieber nicht vor dem jeweiligen Dozenten geschehen. Sie strenge sich an, nicht allzu sehr sauer auszusehen, was in Jaina’s derzeitigem Zustand sowieso schon schwierig war, der letzte Tag war nur halb so harmonisch verlaufen wie gewünscht und sie hatte noch schlechter geschlafen als die Nacht zuvor und jetzt nervten auch noch die Studenten. Manchmal fragte sich Jaina, warum sie nicht einfach in einem Labor saß und dort ihrem Hobby nachging. Aber andererseits hatte Jaina hier manchmal Spaß. So wie sie ihn jetzt auch wieder haben würde, denn fast alle Studenten hatten bei den Hausaufgaben mehr schlechte als gute Blätter abgegeben. Und genau das würde sie die jetzt auch spüren lassen. Wer so schlecht in Mathe war, würde es sowieso nie in die Medizin schaffen. „So, bevor Sie sich jetzt alle für den Medizinkurs entscheiden, sollten Sie sich mal Ihre Hausaufgaben ansehen. Die sind nämlich nicht so ruhmreich, als dass Sie sich Ihre Studienrichtung aussuchen könnten. Vielleicht sollten Sie doch bei Gammel-BWR bleiben“, schlug sie fröhlich vor und holte den Stapel Papier aus ihrer Lederarbeitstasche. Durch die Reihen ging ein gequältes Stöhnen, aus dem Jaina entnahm, dass ungefähr jeder wusste, was ihn jetzt erwartete. Aber was sollte sie schon groß machen? An der Uni konnte sich kein Dozent um jeden einzelnen Schüler kümmern und sie schon gar nicht. Außerdem war hier Eigeninitiative gefragt und davon fehlte es hier fast gänzlich. „Miss White, wieso haben wir überhaupt Hausaufgaben auf?“, wollte ein verzweifelter Student wissen. Er saß weiter hinten und sah ziemlich müde aus. „Weil Sie schon nächstes Jahr mit diversen Hausarbeiten beginnen müssen und ich Sie alle darauf vorbereiten will. Aber offensichtlich“, sie ging die Hausaufgaben langsam durch, „wollen Sie nicht vorbereitet werden.“ „Doch schon, aber es ist so schwierig“, verteidigte sich der Student. „Was genau ist denn so schwierig?“, wollte sie leicht genervt wissen, zeigte aber mit ihrer Mimik Verständnis, was ein ziemlich schwieriger Akt der Konzentration war. „Naja… alles irgendwie. Sie sind so schnell mit dem Stoff und... geht es nicht ein bisschen langsamer?“, fragte er und schaute Jaina bittend an. „Jaaa, das ist alles voll schnell hier! Meistens komm ich gar nicht mit und viel üben tun wir hier auch nicht“, warf eine Studentin ein, von der Jaina wusste, dass deren Eltern recht reich und sie recht verwöhnt war. „Können wir nicht leichtere Themen durchnehmen?“, fragte dann ein Dritter. Jaina seufzte, dann schaute sie die Leute an. „Darüber sprechen wir, nachdem Sie alle ihre Arbeiten zurückbekommen haben. Und jetzt bitte einzeln vorkommen. Hammerstead, Arthur.“ „John, mein Lieber, sieht ganz so aus, als hättest du dir einen bösen Norovirus eingefangen. Wie oft hast du denn in den letzten fünf Stunden gebrochen?“, wollte Cathy wissen, den geschwächten John auf ihrem Schoß liegend. Sie trug Handschuhe und einen Mundschutz, aus purem Eigenschutz. Vor noch zehn Minuten war John alleine am Sofa gelegen, während Cathy professionell und ohne mit der Wimper zu zucken sein Erbrochenes aufgewischt hatte. Sie hatte sogar daran gedacht, die Fläche und so ziemlich allesim Wohnzimmer zumindest einmal grob zu desinfizieren. „Ich bin so krank“, jammerte John, sein rechter Arm schlang sich um ihre Oberschenkel, während der linke schlaff hinter Cathy ruhte. „Ja, du bist so krank. Wann hast du zum ersten Mal gebrochen?“ „Vor sieben Stunden“, meinte er und vergrub sein Gesicht in ihrer Hose. Cathy seufzte und schaute auf den 40-Jährigen herunter, der im Moment nicht mehr als ein Häuflein Elend war. Behutsam streichelte sie sein Haar und überlegte. Vor sieben Stunden, er war also noch sehr ansteckend und sie wusste auch, dass Sherlock bestimmt auch schon angesteckt war oder sich hier drin anstecken würde, egal wie sehr er es zu ermeiden suchen würde. „Hast du Durchfall?“, fragte sie weiter und beobachtete misstrauisch, wie John verträumt ihren Oberschenkel streichelte. Dann schüttelte er den Kopf. „Gut. Schön. Ich denke, ein Tee würde dir gut tun. Und vielleicht eine leichte Suppe“, schlug sie vor und machte Anstalten, aufzustehen, doch John hielt sie fest. „John, so wirst du mir dehydrieren. Auch wenn du keinen Durchfall hast, verlierst du doch durch das Schwitzen und das Brechen viel Flüssigkeit“, rügte Cathy und schob John von sich, ging in die Küche und setzte Wasser auf. Sie wusste gar nicht, was sie hier machte. Wieso kümmerte sie sich überhaupt um ihn? Er hatte ihr nie Grund gegeben, freundlich zu ihm zu sein, und eigentlich wollte sie ja immer noch sauer auf ihn sein. Nachdem alle ihre korrigierten Hausaufgaben zurück und jeder seinen Schock bekommen hatte, setzte sich Jaina elegant lässig auf’s Pult und überschlug die Beine. Heute trug sie eine leichte Anzughose, eine hellgelbe Bluse und halbhohe Pumps von Prada. „Sie meinen also, mein Unterricht wäre zu schnell“, erkundigte sie sich dann. Viele nickten, die anderen weinten wegen der schlechten Hausaufgabe vor sich hin. „Und wie viel zu schnell ist er denn? Sie sollten sich auf jeden Fall im Klaren sein, dass Sie nicht mehr auf dem Gymnasium sind und hier alles locker flockig ist.“ „Jaa, schon, aber…“, setzte die Reiche wieder an, wurde aber von jemandem unterbrochen, der die Tür elegant laut aufschwang und hereintrat und mit seiner Präsenz den Raum sofort füllte. „Äh… Jim, was machen Sie denn hier?“ „Jaina, ich dachte schon, Sie hätten Ihre Stunde schon beendet“, freute er sich und begrüßte sie mit einer herzlichen Umarmung. Verwirrt erwiderte Jaina diese, leicht peinlich berührt, weil sie so etwas vor den Studenten eigentlich nicht machen wollte. „Ich glaube, der Augenblick ist gerade nicht sehr gut gewählt“, gab sie zu bedenken, während die Studenten mal wieder voller Interesse das Geschehen beobachteten. „Wieso?“ „Weil der Großteil der Leute hier drin meint, mein Unterricht wäre zu schnell“, erklärte sie und faltete die Hände vor dem rechten Knie. „Wie weit sind Sie denn schon?“, wollte Jim wissen und schaute auf die Tafel. „Welches Semester seid ihr gerade?“, fragte er dann die Studenten. „Zweites“, rief einer aus der Menge, Jims‘ Augenbrauen wanderten nach oben. „Da sind Sie ja wirklich flott, Jaina. Andere hängen noch relativ am Anfang herum. Aber es hat was Gutes.“ Er wandte sich an die Studenten. „Ihr habt eine der besten Dozentinnen, nämlich neben mir die wirklich allerbeste, der ganzen Uni und sie wird euch jetzt erstmal alles reinprügeln, dass ihr die Prüfung später besteht. Denn jetzt setzt sie die ganzen Grundlagen, später können dann Fragen und Anwendungen gemacht werden und dann wisst ihr mehr, als ihr für die Prüfung können müsst, aber ihr kennt die Zusammenhänge und könnt auch auf Transferfragen antworten.“ Dann lehnte er sich neben Jaina ans Pult und lächelte, als die Studenten vollkommen überrumpelt von solch überfliegerischen Logik miteinander schwätzten. „Und da ich jetzt Ihre Schüler so gut abgelenkt habe“, setzte Jim an, doch Jaina redete weiter. „Haben Sie heute Abend Zeit? Meine Freundin bleibt über Nacht bei einem Patienten und ich hätte sonst nichts zu tun.“ „Das selbe wollte ich auch fragen“, lachte Jim und winkte Jaina, als er aus dem Hörsaal schlenderte. „Dann hole ich Sie heute Abend einfach ab.“ „Oka… Ist gut“, sagte Jaina, doch da war die Tür schon zu. Er nahm das als so selbstverständlich hin, wie Cathy es hinnahm, dass Jaina vor ihr zu Hause war. Da konnte Jaina sich auch nie dagegen wehren. „John, was machst du am Sofa?“ „Oh, Sherlock, Sie sind auch mal daheim. Seien Sie vorsichtig, er ist anst-“ „Hm, die Suppe ist gut.“ Entsetzt kam Cathy ins Wohnzimmer gestürmt, den Mundschutz hatte sie abgenommen, sie fühlte sich lächerlich damit, aber nichtsdestotrotz hatte sie Handschuhe an. Sherlock hatte sich in seinen Sessel gesetzt und löffelte Johns‘ halb aufgegessene Suppe. „Vielleicht sollten Sie mal nachdenken, wieso John am Sofa liegt und er so blass und krank aussieht“, ranzte sie herum und nahm Sherlock den Teller weg. „Sie haben sich gerade mit dem Norovirus angesteckt.“ „Ich stecke mich nicht an“, erwiderte Sherlock selbstherrlich und griff nach dem Teller. „Sherlock.. sie hat Recht“, jammerte John vom Sofa und erbrach sich in den Eimer daneben. Sherlock zog ein angewidertes Gesicht und rutschte sich mit dem Sessel ein wenig weiter weg von John. „Jetzt können Sie sechs Stunden warten und bekommen auch das Kotzen. Oh man, jetzt darf ich später auf zwei Babys aufpassen“, gab sie genervt von sich, stampfte in die Küche und füllte für Sherlock einen frischen Teller mit noch heißer Suppe auf, den brachte sie ihm dann auch. „Hier, essen Sie noch, bevor Sie wieder alles loswerden.“ „Ich werde nicht krank“, meinte Sherlock wieder, tat sich aber gütlich an der Suppe. Cathy beobachtete beide Männer für einen Augenblick, dann holte sie ihre Tasche und packte einige Paracetamol, eine Spritze und reines Morphin heraus. Sherlock beobachtete sie fasziniert. „Okay, erstmal geb ich dir eine Paracetamol, wir schauen, ob du sie drin behältst“, meinte sie dann schon etwas sanfter zu John und setzte sich, mit einem Glas Wasser bewaffnet, zu ihm. Sofort robbte John zu ihrem Schoß und legte seinen Kopf hinein. „Nicht schlafen, John. Wasser trinken und Paracetamol. Was bist du nur für ein schwieriger Patient.“ „Du hast Sherlock noch nicht erlebt“, murmelte er und lies sich von Cathy gehorsam zwei Tabletten zwischen die Lippen schieben, dann setzte er sich auf und trank das Glas Wasser leer. Dafür musste er sich schon unglaublich anstrengen, aber er versuchte, es nicht zu zeigen. Dann legte er sich wieder völlig entkräftet auf ihre Beine. „Stimmt, aber werde ich bald“, prophezeite Cathy und schaute Sherlock über den Tisch hinweg lächelnd an. Dieser erwiderte den Blick emotionslos. „Machen Sie sich schon mal bereit. Schlafanzug anziehen und so. Innerhalb der nächsten zehn Stunden geht’s dann los.“ „Nommmm“, machte John und schaute schläfrig zu Sherlock. „Sherlock?“ „Ja?“ Etwas unwirsch drehte er sich um und ging in sein Zimmer. „Ich glaub, er ist neidisch auf dich“, murmelte John, bevor er eindöste und Cathy sich von ihm losmachte, um nach Sherlock zu sehen. Es war nicht immer schön, zu erfahren, dass man sich mit einer Viruskrankheit angesteckt hatte. Sie klopfte an seine Zimmertüre und wartete, bis Sherlock etwas leises, das wie arrogantes Fluchen klang, erwiderte. Daraufhin öffnete sie die Tür und vor ihr stand der Detektiv, in einem dunkelblauen Pyjama. Cathy grinste, dann schaute sie sich um. „Ich weiß, Sie haben wahrscheinlich eine Kleidergröße mehr als John, aber ich wollte Sie fragen, ob er einen von Ihnen tragen könnte? Ich würde ihn jetzt nämlich gerne umziehen.“ „Und ich dachte, Sie sind nur die Tochter eines Bekannten von ihm“, ranzte Sherlock und gab ihr einen lila Schlafanzug. Im Ernst – LILA?, fragte sich Cathy, bedankte sich aber. „Bin ich auch. Wir haben uns nur immer gut verstanden“, erwiderte sie dann und ging aus dem Zimmer. „Gönnen Sie sich noch was schönes.“ Jaina hatte es sich längst anders überlegt. Sie wollte nicht mit Jim ausgehen, sie wollte jetzt viel lieber bei Cathy sein. Sie hatte keine Lust auf diesen Chitchat und auf gutes Essen und schönes Anziehen und auf intelligente Themen. Sie wollte einen entspannten Abend – und wenn das hieß, dass sich sie und Cathy mit einer Krankheit ansteckten, dann würde es halt so sein. Also zog sie sich zuhause in einen Jogginganzug um, band sich die Haare gemütlich zusammen und packte eine Tasche voll mit Süßigkeiten, gammel Tshirts, dicken Socken und zwei Büchern zusammen. Dazu kamen noch ihre und Cathys Zahnbürste – die hatte ihre Freundin wohl vergessen – und ihr Hygienehandgel. Als sie das alles eingepackt hatte, fühlte sich Jaina schon besser, schrieb Jim eine SMS, dass es ihr doch nicht so ginge und sie sich wann anders treffen sollten. Dann rief sie ein Taxi und lies sich zur 221b bringen. Als es unten an der Tür klingelte schaute Cathy misstrauisch auf und ging zur Sprechanlage. Sherlock ging es noch gut, er spielte leise auf seiner Geige – eine so schöne Melodie, dass Cathy beinahe Beifall geklatscht hätte. John schlief noch immer am Sofa, allerdings auf einem normalen Kissen und nicht mehr in ihrem Schoß. Cathy hatte ihn auch vor den Augen von Sherlock sehr diskret umgezogen, so wie sie es mal von einer total coolen Krankenschwester gelernt hatte. Als Student lernt man so was ja nicht. „Hallo?“, fragte sie leise, den Knopf gedrückt haltend. „Cathy?“, kam es ebenso leise zurück. „Jaina – was machst du hier? Komm rein.“ Cathy drückte einen anderen Knopf und schon stand Jaina vor ihr. Da hatte sie sich aber geschickt. „Jaina, du weißt schon, dass hier zwei Leute mit dem Norovirus infiziert sind.“ „Ja, aber ich wollte kein Treffen mit Jim, sondern einfach den Abend ruhig verbringen und ein bisschen mit dir reden, so wie sonst auch immer.“ Damit quetschte sie sich an ihrer Freundin vorbei ins Wohnzimmer von Sherlock und John. Sie erfasste beide auch sofort. Das sanfte Geigenspiel von Sherlock fand sie außergewöhnlich gut, Johns‘ leises Schnorcheln war beruhigend. Fast fühlte sie sich wie daheim. „Hallo“, grüßte sie den Detektiv leise, dieser schaute sie nicht mal an. „Entspann dich, Jaina, er ist nur sauer, weil er sich auch infiziert hat und es nicht wahr haben will“, erklärte Cathy und brachte beiden eine Tasse Tee. „Du hast ja schon einen Jogginganzug an.“ „Jaa, ich dachte du hast den auch schon an“, meinte Jaina und schaute auf Cathy, die immer noch ihre knielange enge Stoffhose trug und ihr schwarzes Top, allerdings lief sie strumpfsockig herum. „Ich glaube, du solltest dich erstmal umziehen.“ „Mach ich jetzt auch. Ach ja, hier, zieh erstmal Handschuhe an und versuch, nicht mit irgendwas hier drin in Berührung zu kommen.“ Damit verschwand Cathy mit ihrer Tasche ins Badezimmer. „Er sieht so friedlich aus“, murmelte Jaina, setzte sich in einen Sessel, streifte sich die Schuhe von den Füßen und trank einen Schluck Tee. Dann zog sie die Handschuhe über. „Ja, jetzt. Vorhin hat er auf den Boden gebrochen“, kam es trocken von Sherlock zurück. Sein Geigenspiel wurde dunkler. „Und – wer hat’s wieder sauber gemacht?“, fragte Jaina, sich immer mehr entspannend. „Wer sieht hier drin aus wie ein Sklave?“, kam Sherlocks Gegenfrage. „Also ich weiß nicht, Sklaven in Anzügen kenne ich jetzt nicht so“, scherzte die Dozentin und schaute Richtung Bad. „Naja, Sie können froh sein, dass Cathy da ist. Sie ist eine tolle Krankenschwester.“ „Und woher wissen Sie das?“ „Einmal hatte ich … ich war sehr krank und hätte ins Krankenhaus gesollt, aber ich wollte nicht. Und Cathy hat mich dann zuhause gesund gepflegt, obwohl sie dann eine Ermahnung bekommen hat, nicht mehr so viele Schmerzmittel aus dem Krankenhaus zu stehlen“, erklärte Jaina und lachte leise. Nicht mehr so viele – das war eine schöne Floskel, die meinte: Keine Hunderterpacks mehr und keinen viertel Liter pures Morphin. Das hatte Jaina auch nie gebraucht, Cathy hatte es nur gut gefunden, solche wichtigen Sachen im Erste- Hilfe-Kasten zu haben. Den hatte Jaina auch mit eingepackt, nur so zur Sicherheit. „Dann stecken Sie sich doch auch noch gleich an, dann kann sie ja zeigen, was sie so kann“, gab Sherlock unbeeindruckt zurück. „Okay, da bin ich wieder“, kündigte Cathy an, setzte sich neben Johns Füße aufs Sofa und lehnte sich zurück. Sie trug einen gelben Schlafanzug, auf dem hellgrüne Herzchen prägten. „Schön. Hättest du Lust, mir Biskuits zu machen?“ „Machen nicht, bringen schon“, ergab sich Cathy sofort und stand auf. „Dafür bist du mir was schuldig.“ „Sie duzen sich schon?“ „Naja, nachdem sie hier übernachten wird und eventuell später – ihrer Meinung nach – auch mich betreuen muss, dachte ich, ich gewöhne sie schon einmal daran“, erwiderte er und aus seinem dunklen Geigenspiel machte er etwas leichtes und fast fröhliches. Jaina trank weiter Tee und kuschelte sich in den Sessel. „Übrigens, ich übernachte heute auch hier.“ „Tja, dann wird’s eng“, murmelte John und versuchte, sich aufzusetzen. Er war dazwischen wach geworden und wollte auch mal wieder am Gespräch teilnehmen. Aber während er sich aufsetzte, wurde er wieder ganz blassgrün und schaute Jaina mit großen Augen an, dann beugte er sich vor und erbrach sich auf die Decke. Wimmernd wischte er sich den Mund mit dem Schlafanzugärmel ab, Sherlock hörte abrupt auf zu spielenund Jaina hielt mitten im Trinken inne. Fasziniert angewidert schaute sie dem Doktor zu, wie er sich dafür schämte und wie das Erbrochene in der Deckenmulde herumlag. „Oh Shit!“ Fluchend kam Cathy mit einer Platte Biskuits aus der Küche geschlittert, drückte diese Jaina in die Arme, raffte die Decke so, dass nichts rauslief und brachte sie ins Bad, dabei drückte sie John den Brecheimer in die Hände. „Eine sehr gute Krankenschwester“, gab Sherlock sarkastisch von sich. Da erschien auch wieder Cathy, die Haare diesmal zusammengebunden und einen Waschlappen dabeihabend. Mit diesem wusch sie John das Gesicht, lies ihn Wasser gurgeln und holte dann eine neue Decke, alles von nervenaufreibender Stille begleitet, solange sie im selben Raum mit den anderen war, dann waren Flüche zu hören, die Jaina noch nie alle auf einmal gehört hatte. „Naja, sie weiß, was zu tun ist.“ War Jainas einziger Kommentar. „Das ist so erniedrigend“, winselte John und brach wieder in den Eimer. Verunsichert schaute Jaina ihm zu, wusste aber nicht, wie sie reagieren sollte, deswegen nippte sie nur langsam von ihrem Tee. Sherlock lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Weißt du, John, du kannst auch einfach aufhören, krank zu sein.“ „Vergiss es, Sherlock. Das hast du mir schon mal erzählt“, krächzte John und lehnte sich über den Eimer, es kam allerdings nichts. „Hör auf, Sherlock“, kam da Cathys‘ nun wieder ruhige Stimme, während sie John zudeckte. Dieser schmiegte sich an ihren Arm, was sie gar nicht mehr wahrnahm. Jaina allerdings schon. Sie kannte das, das hatte sie auch gemacht, während Cathy sie gepflegt hatte; wenn man krank war, brauchte man viel Liebe und Zuneigung. Und irgendwie hatte die Dozentin das Gefühl, dass Sherlock nicht wirklich in der Lage war, dies zu vermitteln. „Ich denke, John geht jetzt ins Bett und schläft jetzt ein bisschen.“ Gut, das war kein Vorschlang, sondern ein Befehl. „Und ich denke, dass Jaina und ich am Sofa schlafen werden. Nachdem ich es desinfiziert hab.“ „Aber ich kann nicht schlafen“, jammerte John. „Doch, kannst du. Nämlich damit“, sprang da Jaina ein und kramte aus ihrer Tasche eine Packung rosa, ovaler Tabletten heraus. „Valium.“ „Oh, ich wusste doch, dass ich was vergessen hab“, nuschelte Cathy, holte ein neues Glas Wasser, während Jaina eine Tablette rausdrückte und John gab. Dieser betrachtete das farbige Chemieding misstrauisch. „Ja, ich weiß. Rosa wirkt jetzt nicht so vertrauenswürdig, aber für eine typische Beruhigungstablette ist es echt passend“, erklärte Jaina achselzuckend und steckte die restlichen Tabletten wieder ein. Neugierig schaute Sherlock zu und merkte sich, wo sie die kleinen rosa Dinger hinsteckte. „So, Mund auf“, befahl Cathy, kniete sich neben John und hielt ihm das Glas an die Lippen, bis er es leer getrunken und die Tablette geschluckt hatte. Dann stand sie zufrieden auf. „Okay, ich hab einen besseren Plan. John, du schläfst hier unten, Jaina und ich schlafen in deinem Bett – das ich ebenfalls neu beziehen werde – und Sherlock, du schläfst auch in deinem Zimmer. Sonst bist du zu weit vom Bad weg.“ Zwei Stunden später lag John zugedeckt auf dem Sofa und schlief tief und fest, selten unterbrochen von Würgeanfällen, bei welchen er nur etwas Galle hervorbrachte, was nicht weiter schlimm war. Sherlock hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen und versuchte vermutlich zu schlafen, während Jaina und Cathy sich in die Sessel gesetzt hatten, jede jeweils eine Decke über den Beinen und einen Tee in der Hand haltend. Beide schauten den jetzt wieder ruhigen John an. „Und, wie war dein Tag so?“, erkundigte sich Cathy gelassen und nahm sich ein kleines Biskuit von der Platte. Sie tunkte es in den Tee und aß es. „Irgendwie frustrierend. Studenten können ganz schön bescheuert sein“, erwiderte die Dozentin, nippte an ihrem Tee und nickte Cathy zu. „Schon den Zettel untersucht?“ „Ja, aber irgendwie ist das ziemlich seltsam. Ich hab mir eine Kopie davon gemacht, dass ich auch daheim dran arbeiten kann. Es ist so was wie ein Rätsel, aber so wie du mich kennst, hab ich mich noch nicht damit befasst. Was mich stört ist, dass der Körper immer noch nicht gefunden wurde.“ „Und was ist das für ein Rätsel?“, wollte Jaina wissen, nicht interessiert an Körpern von Toten. „Naja, es ist eigentlich ein Bild. Also, das ist einfach ein Zettel, auf dem ist ein fetter äußerer Kreis, Durchmesser circa fünf Zentimeter und innen ein fetter kleinerer Kreis, also fast ein Punkt. Ich hab‘ keine Ahnung, was das sein soll. Jedenfalls steht da drunter noch: Klhu lvw glh cdko. Ich hab‘ schon so eine Idee, was es sein könnte und ich glaube, das ist der leichte Teil des Rätsels, aber darüber mach ich mir morgen auf Arbeit nochmal mehr Gedanken“, meinte Cathy. „Hm... was Mathematisches ist es nicht, oder?“ „Ich denke nicht.“ Beide schwiegen für eine Weile, genossen die Stille und schauten aus den beiden Fenstern, die auf die Straße hinauszeigten. Es war noch nicht ganz dunkel, würde es aber bald werden, noch herrschte geschäftiges Treiben dort draußen. Jaina fühlte sich richtig behaglich, wie in ihrer Wohnung, mal davon abgesehen, dass fast direkt neben ihr ein Kerl vor sich hinsiechte an einem ansteckendem Virus. Ansonsten war sie wirklich nahezu glücklich. Selten hatten sie und Cathy so entspannte Abende, meistens war eine von beiden erst sehr spät zuhause oder Jaina musste ins Ballett oder Cathy ins Theater – je nachdem, wie sie gebraucht wurden. Manchmal musste Jaina sogar beim Ballett mitmachen, was sie nicht so prickelnd fand. Aus dem Alter war sie nun wirklich raus; eigentlich wollte sie nur noch die Kostüme entwerfen. „Und – läuft mit Jim dann doch nicht so gut, wie erwartet?“, fragte Cathy dann leise und kuschelte sich tiefer in die Decke. Sie roch irgendwie nach diesem arroganten Sherlock und er roch leider gut. „Doch, doch. Passt schon, davon abgesehen, dass da nichts läuft“, antwortete Jaina wahrheitsgemäß und streckte sich. „Ich dachte nur, es ist nicht so gut, wenn man sich kennenlernt und dann gleich die ganze Zeit miteinander verbringt. So macht das keinen Spaß.“ „Oh. Okay. Wieso waren die Studenten heute blöd?“ „Naja, die dachten nach deinem Besuch, dass Medizin viel cooler wäre als Mathe, dann wollten alle wechseln. Aber dann hab ich gesagt, dass die mit solchen Ergebnissen eher zu Gammel-BWR wechseln könnten“, erzählte Jaina und lächelte bei der Erinnerung an die geschockten Gesichter. „Puh, da war dann aber wieder mal Gangster-Jaina dran“, grinste Cathy. „Also ich finde Mathe ja ziemlich cool.“ „Das liegt daran, dass du nur die Hälfte verstehst. Du findest alles cool, was du nicht kannst“, wies die Dozentin das Kompliment ab und gähnte. „Ich würde auch manchmal gerne mehr so Körperkenntnis besitzen.“ „Ach, vielleicht besuchen wir ja mal abwechselnd unsere Kurse“, schlug die Medizinerin kichernd vor und trank einen Schluck Tee. „Unglaublich, wie heimisch ich mich hier schon fühle.“ „Total. Mal von den Augen in der Mikrowelle abgesehen“, bestätigte Jaina und schaute Richtung Küche. Inzwischen hatte sie nämlich auch die zweifelhafte Ehre gehabt, dieses Experiment zu begutachten. Naja, sie musste ja nicht vor Neugierde in die Luft springen oder so. Und außerdem hatte Cathy ihr das gezeigt, Sherlock wäre nie auf die Idee gekommen. Dem schien es auch nicht wirklich so recht zu sein, dass er jetzt so viel Besuch hatte. Dann schaute Jaina zu John, der leise schnorchelte, was sie selber fast ein wenig schläfrig machte. „Du solltest es echt nochmal versuchen. Er wär’s sogar wert.“ „Hey, das sagst du zum ersten Mal in meinem Leben“, erwiderte Cathy trocken. „Ich meine es so.“ Jaina deckte sich weiter zu. „Ich meine, wie lange hast du ihn angeschmachtet und es kam nichts zurück? Jetzt schmachtet er.“ Sie machte eine Denkpause. „Also, für meinen Geschmack schmachtet er.“ „Jaina, selbst deine Studenten, die dir einfache Fragen stellen, schmachten in deinen Augen.“ „Was?“, entrüstet schaute Jaina ihre Freundin an. „Na, ist doch so.“ „Gar nicht wahr!“ Weitere sechs Stunden – und jeweils fünf Tassen Kaffee und zwei Pizzen vom Lieferservice – später, schlief Jaina im frisch bezogenen Bett von John tief und fest, nachdem Cathy sich entschieden hatte, auf Sherlocks‘ ersten Brechanfall zu warten. Wenn der rum war, wollte auch sie ins Bett krabbeln oder einfach im Sessel schlafen. Inzwischen war sie nämlich echt müde und fühlte jeden Knochen im Körper, obwohl sie ja gar nicht so schwer gearbeitet hatte. Und noch bevor sie weiterdenken konnte, hörte sie es im Raum neben dem Bad rumoren. Es klang so, als ob ein Elch sterben würde, vielleicht etwas dramatischer. Vorsichtig brachte sie sich in eine aufrechte Position, schließlich hatte Cathy sich lange nicht mehr bewegt und jetzt war sie ein bisschen eingerostet. Sie wollte warten, bis er im Bad war. Aber da tat sich nichts, das Rumoren wurde nur schlimmer. Das beunruhigte die Rechtsmedizinerin dann doch ein wenig – so wenig, dass sie aufstand, an Sherlocks Tür schlich und diese dann so nonchalant aufmachte, dass sie fast laut geflucht hätte, als sie sah, was er gerade anrichtete. „Sherlock!“, zischte sie dann. „Was fällt dir ein! Der Boden!“ „Mir geht’s gut!“, widersprach er sinnentfremdend, saß bleicher als sonst am Bett und wischte sich mit dem Ärmel seines Schlafanzuges den Mund ab. „Ins Bad mit dir. Sofort“, orderte sie an, half dem Detektiv auf die Beine und brachte ihn resolut ins Badezimmer, wo sie ihn neben das Klo setzte. „Und wenn es hochkommt, dann genau da rein!“ „Cathy, was ist denn los?“ Gähnend stand Jaina in der Tür. „Hat er jetzt endlich gebrochen?“ „Ja, nur wie“, knurrte die Angesprochene und zeigte auf den Kranken. „Pass auf ihn auf.“ Dann düste sie aus dem Raum. „Hä? Sherlock? Wie haben Sie denn gebrochen?“, fragte sie leise und setzte sich auf den Badewannenrand. Dabei merkte sie, dass dessen Schlafanzugoberteil vollgesaut war. Sie hielt kurz die Luft an, es roch streng. „Was zur… unters Bett?“ Entsetztes Kreischen aus dem Nebenzimmer. Noch entsetzter schaute Jaina den Verursacher an. „Unters Bett, Sherlock? Im Ernst?“ Sie hob die Augenbrauen. Er saß nur über der Toilette, würgte, schüttelte sich und erbrach sich nochmal. Jaina schloss die Augen, zählte bis zehn und öffnete sie dann wieder. Dieser Krankenschwestern-Job war nichts für sie. „Mir geht’s nicht gut… Ich will sterben“, jammerte dieser plötzlich und hielt sich am Klo fest. Das veranlasste die Dozentin dazu, sich neben ihn zu setzen. „Sie sterben bestimmt mal, aber nicht an diesem Norovirus, jetzt speien Sie sich mal aus und dann sieht die Welt gleich besser aus“, versuchte sie ihn aufzumuntern und klopfte ihm auf den Rücken – wobei Sherlock als Erwiderung noch einmal erbrach. Also, so viel kann doch da gar nicht drin gewesen sein!, dachte Jaina halb fasziniert und halb angeekelt. „Ich will aber sterben“, weinerte Sherlock weiter und irgendwie war Jaina gezwungen, ihm über das leicht angeschwitzte Haar zu streichen. Sie schüttelte sich dabei, aber wenn sie daran dachte, wie mutig sich Cathy dem Erbrochenen stellte und auch dem vor sich hinkötzelnden John gestellt hatte, so war das doch ein kleines Opfer. „Sie werden schon wieder gesund.“ Resolut betätigte sie die Klospülung. „Ich kann es nicht fassen“, murmelte Jaina, als sie vom Bäcker zurückkam und die Wohnung sah. Sie konnte gar nicht begreifen, dass sie eine Nacht hier drin verbracht hatte, ohne von Bakterien und Viren gefressen zu werden. John schlief immer noch am Sofa, das inzwischen ausgefahren war, denn neben John schlief Sherlock und Cathy döste im Sessel, sabberte dabei auf die Decke und hatte leicht verlaufene Schminke im Gesicht herumhängen. Es war ein Anblick zum Weinen und zum Lachen. Jaina beschloss, sich das für später zu merken und den Tisch zu decken. Für alle war es eine harte Nacht gewesen – naja, am härtesten wahrscheinlich für Cathy, die hatte Jaina irgendwann ins Bett geschickt. Wahrscheinlich klang sie genauso mütterlich genervt, wenn sie Chan heimschickte. Demnach hatte Jaina nach John gleich am meisten geschlafen. Sherlock hatte noch weltmeistermäßig weitergebrochen, doch nachdem Cathy aufgewischt hatte, hatte sie das Problemkind übernommen und sich gekümmert. Jaina war schon glücklich darüber. Deswegen hatte sie auch massenweise von deren Lieblingsgebäck mitgebracht: selbstgebackene Schokohörnchen vom Lieblingsbäcker. Sich selbst hatte sie einen kleinen Obstkuchen mitgenommen, für die Herren der Schöpfung gab es Schwarzbrot, was anderes würde den Brechreiz wahrscheinlich nur wieder ankurbeln. Nachdem sie alles auf den Küchentisch gestellt hatte, ging Jaina zu Cathy und rüttelte sie an der Schulter. Leise grunzte Cathy, schüttelte sich und blinzelte mit den Augen. „Aufwachen, es gibt Frühstück“, kündigte Jaina fröhlich an und beobachtete, wie ihre Freundin sich geistesabwesend den Sabber vom Kinn wischte und sich die Augen rieb, unwissend, dass sie jetzt aussah wie eine schlechte Halloween-Maske. „Morgen“, murmelte sie dann und schaute auf die Uhr. „Ouhh.. ich hab nur vier Stunden geschlafen.“ Damit quälte sie sich aus dem Sessel und schlurfte demotiviert hinter Jaina in die Küche, wo sie sich gleich schlaff auf einen Stuhl niederlies. „Vier Stunden?“ „Jaa“, seufzend nahm sich Cathy ein Schokohörnchen und biss bauernmäßig hinein. „Sherlock hat noch ganz lange gebrochen und irgendwann ist er dann neben dem Sofa eingeschlafen. Oh man, bis ich den weggerollt hab und das Sofa ausgezogen und ihn umgezogen und draufgelegt“, sinnierte die Medizinerinbgequält und biss gleich nochmal ins Hörnchen, ohne vorher runtergeschluckt zu haben. „Wieso hast du mich nicht aufgeweckt?“, wollte Jaina wissen und begann mit ihrem Obstkuchen, der mitbleckeren Himbeeren, Erdbeeren und einem Minzblatt belegt war. „Nee, das wär ja scheiße gewesen“, erwiderte Cathy abwinkend, schluckte schwer und nahm dann einenbriesigen Bissen vom Hörnchen. „Du kannst es dir auch ganz reinschieben“, schlug Jaina lachend vor und verlor fast den Kuchen von der Gabel. Es war ein Spektakel, wenn man zusah, wie Cathy die Augen groß machte, den Mund weit aufsperrte,bnur um so viel Essen wie möglich zu erwischen; und wenn man dachte, beim Gaumen hört’s dann langsambauf, versuchte sie es meistens trotzdem weiter. „Hab ich fei schon mal versucht“, teile Cathy Jaina mit, so gut es eben mit vollem Mund ging. „Also… wirklich jetzt?!“ Erstaunt hörte Jaina auf zu essen. „Ja echt“, bröselte Cathy und schaffte es endlich, den Schokoklumpen herunterzuschlucken. „Cool“, meinte Jaina, wollte noch etwas anhängen, wurde dann aber von einem ihr nun bekannten Geräusch aus dem Wohnzimmer unterbrochen. Neugierig schaute sie rüber, um zu wissen, wem es jetzt wieder schlecht ging. „Cathy?“   Kapitel 4: RIGOROUS ------------------- “The purpose of life is a life of purpose.”-Robert Byrne  „Es ist Dienstag, der zwölfte Julei und ich bin sehr erbost“, fing Cathy an und knallte das Diktiergerät auf den Stahltisch. „Wieso wurde ich nicht vorher benachrichtigt?“ Sie drehte sich schwungvoll zu Lestrade um, welcher verschämt in der Tür stand. „Das hier ist von hoher Priorität!“ „Entschuldigung“, murmelte der Detective Inspector und trat neben Cathy, die beängstigend aussah. Sie trug ihren Arztmantel, was wahrscheinlich die beste Idee war, die sie heute gehabt hatte. Darunter hatte sie einen kurzen Rock und ein altes Baumwoll-T-Shirt an, was in der Kombination wirklich schlimm aussah, aber nachdem sie gehört hatte, was im Scotland Yard herumlag, war sie sofort losgegangen, ohne sich über die Kleidung Gedanken zu machen. „Sie waren nur nicht zu erreichen.“  „Ja, mir egal! Dann nehmen Sie das nächste Mal eine Brieftaube oder so“, ranzte sie weiter, obwohl er recht hatte, und zog das Tuch von dem Tisch, darunter lag nur ein Kopf, der Rest des Körpers fehlte. „Schauen Sie sich das an!“  „Hab‘ ich schon, schließlich habe ich den Kopf hierher bringen lassen“, verteidigte sich Lestrade gegen den Wutausbruch, der hoffentlich nur temporär war. „Ich würde gerne bei der Untersuchung dabei sein.“  „Klar. Machen Sie das. Mundschutz und Handschuhe anziehen“, befahl Cathy, zog sich selber schnell genanntes über und holte ihren Mantel, sowie die „Kopfklemme“.    „Guten Morgen, Leute!“ Strahlend kam Jaina in das Ballettstudio, einen Kakao in der einen Hand, in der anderen ihre Arbeitsmappe tragend. Nach dem leckeren Frühstück hatte sie sich gleich heim begeben, sich umgezogen und war hierher gekommen. Und weil sie kompetent rüberkommen musste, trug sie einen leichten, beigen Mantel, sowie ihr weißes, knielanges Kleid, mit dem hübschen pastellfarbenen Muster darauf, welches sie sich selber geschneidert hatte. Auf Stöckel hatte sie verzichtet, einfache Sandalen taten es heute auch.  „Jaina, hey, schön dass du schon da bist! Die Mädels sind schon ganz aufgeregt!“, wurde sie auch schon von einer älteren Dame begrüßt, mit Küsschen und allem drum und dran. Gut, das fand Jaina jetzt nicht so cool, gehörte aber halt auch dazu. „Ach was“, erwiderte sie lächelnd und musterte die Mädels. Das waren alles Ballerinas zwischen 17 und 20 Jahren, jung, biegsam und vollkommen ohne Busen. Disziplinierte Sportlerinnen, die jetzt darauf warteten, in ein albernes Kostüm gesteckt zu werden. Wenigstens hatte Jaina es sich zur Aufgabe gemacht, diese Kleider nicht ganz so schrecklich zu gestalten, was meistens dankbar angenommen wurde. „Hi Mädels, also, euer Stück ist etwas sehr modernes, hab ich gehört?“ Die Angesprochenen nickten unwillig. „Okay. Zuerst wollte ich etwas silbriges nehmen, aber dann dachte ich, weil das Stück zwischen Nacht und Tag wechselt, dass die Kostüme das zum Ausdruck bringen. Dunkelblau und Vanillegelb. Die Hauptrollen bekommen ein sanftes Violett, das genau dazwischen passt“, erläuterte sie dann und zeigte ihre Skizzen. „Es ist nichts allzu aufwendiges, weil schon der Inhalt des Stücks sehr kompliziert ist.“  „Jaina, wie immer brilliant gedacht“, lobte die Trainerin und umarmte die junge Frau. „Die Entwürfe sind klasse, wie immer. Die gehen gleich in die Produktion! Mädchen, weiterüben!“ Sie klatsche in die Hände und Jaina konnte wieder gehen, allerdings ohne ihre Mappe. Manchmal fragte sie sich, wie es wohl wäre, wenn sie mal einen schlechten Entwurf abgeben würde. Aber dann war es ihr egal, schließlich stand heute kein Kurs an, Cathy war auf Arbeit und sie hatte den ganzen Vormittag frei. Und den Nachmittag. Und den Abend. Sie beschloss, in ihr Lieblingsgeschäft von ganz London zu gehen. Dem Silk Society, einem der etwas teureren Textilläden, aber dafür waren die Stoffe unglaublich schön. Und natürlich, die Kleider, die sie daraus schneiderte, waren noch schöner.    „Also wirklich, da will jemand aber spielen“, murmelte Cathy, Lestrade neben sich stehend, er war schon ein bisschen grün geworden, während sie mit großem Interesse das Gehirn aus dem Schädel nahm. „Schauen Sie sich das an, da wollte jemand auf saubere Arbeit zählen können.“ Damit zupfte sie mit einer dünnen Pinzette ein blutiges Stück Plastik aus dem vorderen Stirnlappen und hielt es ins Licht. Etwas stand darauf geschrieben und auch wieder eine solche Rätselzeichnung war darauf.  „Miss Romeck, das ist ja ekelhaft!“, stieß Lestrade aus und trat kurz zurück.  „Irgendjemand muss es ja machen“, sagte sie leise und legte den geschweißten Zettel in ein extra Schälchen. „Was hab‘ ich Ihnen eigentlich schon alles über das Opfer erzählt?“  „Äh…“ Etwas überrumpelt schaute der ältere Mann die junge Frau an. „Nun, das Opfer ist weiblich, Mitte Dreißig und wurde getötet, bevor ihr das… Ding ins Gehirn geschoben wurde. Außerdem hatte sie zum Todeszeitpunkt eine Mittelohrentzündung und ansonsten nichts, glaube ich.“  „Okay. Ich denke, sie war gutverdienend, sie hat gebleichte Zähne und darauf muss ein Normalo schon sparen, wobei ihre schon gut weiß sind, was einige Behandlungen braucht“, fügte Cathy hinzu und öffnete den Mund der Frau wieder.   „Die Zunge ist geschwollen und hat kleine Pusteln und die Nase ist ebenfalls leicht geschwollen. Vielleicht hat sie was gegessen, auf das sie allergisch reagiert. Naja, ziemlich wahrscheinlich. Es kann sogar sein, dass sie daran gestorben ist, ein allergischer Schock, im Grunde also Ersticken oder Herzversagen. Oder – je nachdem ob wir den Körper finden – eventuell sogar eine richtig böse Sache.“ Sie schaute Lestrade an. „Vielleicht sollten Sie Holmes dazu ziehen?“  „Vergessen Sie’s. Er würde sich nur zu sehr hineinsteigern“, wehrte dieser aber sofort ab.  „Wieso? Er könnte bestimmt…“, setzte sie an, hielt dann jedoch inne.  „Cathy – woher kennen Sie ihn überhaupt? Ich habe Sie extra nie bekannt gemacht, weil Sie sich sonst nur über ihn aufregen würden.“  „Mist, er ist ja doch nicht umsonst Detective geworden", dachte sie zerknirscht, schaute Lestrade aber furchtlos an. „Nun ja, ich kenne seinen Mitmieter und der ist krank, also bin ich bei ihm vorbeigekommen und so hab ich Sherlock kennengelernt.“  „Und, wie finden Sie ihn?“, fragte Lestrade unecht unschuldig, lehnte sich vor und studierte ihre Mimik, die von vom Hirn fasziniert zu steinhart wurde.  „Scheiße, wie sonst? Er ist ignorant, besserwisserisch, arrogant, soziopathisch, brilliant und sieht unverschämt gut aus und weiß es. Wie soll ich so jemanden wohl finden, Greg?!“, fauchte sie und stach mit einem Seziermesser in die weiche Hirnmasse, was der Detective entsetzt beobachtete.  „Oh Gott, Sie stehen auf ihn“, meinte er dann und wich zurück, immerhin war sie bewaffnet.  „Natürlich nicht!“, schimpfte sie. „Das würde ich nie tun! Er ist ein Dieb, ein Betrüger, ein Gauner und ein Taugenichts! Wieso hab ich dann seine Decke vollgesabbert?“  „Cathy, sind Sie sicher, dass Sie kein Burnout-Syndrom haben?“  „Zur Hölle mit Ihnen, Lestrade!“    „Oh, Miss White! Sie besuchen uns wieder einmal!“, rief eine ältere Frau, kam um die Theke herum und schüttelte der Dozentin fröhlich die Hand. Sie trug viele Ringe, ein Maßband um den Hals, ein hübsches Shirt und einen leichten Baumwollrock in Weinrot. Jaina liebte die Outfits dieser Frau über alles, auch wenn sie selbst sie noch nicht tragen konnte.  „Ja, ist schon lange her“, lächelte sie die Frau an und schaute sich um. „Ich brauche unbedingt Stoffe! Demnächst ist ein Uni-Ball und der Polizistenball wird auch nicht auf sich warten lassen und Cathy weigert sich, ein Kleid zu kaufen“, erklärte sie schmunzelnd.  „Ach, Ihre sture Freundin wieder“, lachte die Verkäuferin, schritt aber schon voraus. „Sie brauchen also bestimmt edle Stoffe?“  „Natürlich“, bestätigte Jaina und folgte, obwohl sie exakt wusste, wo was war.  „Und wie ich Sie kenne, möchten Sie etwas einfarbiges? Wie wäre es mit einem Pastellton?“  „Das wäre großartig“, bestätigte Jaina und begutachtete staunend das neue Sortiment. Der Laden hatte eindeutig aufgestockt. Sie liebte es. „Ich dachte mir, für den Polizistenball – da werden alle wieder weinrot oder schwarz tragen, das weiß ich schon – dass ich etwas ausgefallener Farben nehme. Zumindest nicht schwarz und auch nicht weinrot“, fuhr sie fort.  „Schön, schön“, murmelte die Frau und zog einen hellrosa und einen hellgelben Stoff aus den Reihen.  „Hellblau steht Ihnen nicht, Liebes. Und grün würde ich für diesen Anlass auch nicht nehmen. Was für ein Typ ist denn Ihre Freundin?“  „Oh, eindeutig einzigartig.“  „So wie Sie es sind, Herzchen.“ Sie lächelte.  „Naja, gut. Cathy. Sie ist naja, etwas dunkler als der normale Engländer, fröhlich und auf jeden Fall wird sie den ganzen Abend auf den Beinen sein“, meinte Jaina. „Und es darf nichts rosafarbenes oder rotes oder blaues sein. Sie hat rötliches Haar.“  „Schwierige Haarfarbe“, stimmte die ältere Frau zu. „Gefärbt, oder?“  „Ja, aber es sieht wie natürlich aus.“ Jaina überlegte, wann sie Cathy das letzte Mal mit naturbraunen Haaren gesehen hatte und entschied, dass es eindeutig zu lange her war.  „Sie hat bestimmt auch Locken, so wie Sie“, fuhr die Frau fort. „Hübsche Mädchen haben das immer. Aber egal. Miss White, was halten Sie von diesem Farbton?“ Dabei hielt sie ein Stück Seide hoch, dessen Farbe zwischen hellorange und beige schwankte und auf unauffällige und unaufdringliche Weise Aufmerksamkeit erregte – dabei war die Farbe echt schön.  „Er ist – wundervoll.“  „Dachte ich mir auch – es passt wunderbar zu Ihren Augen und Ihrem Haar.“    „Oh mann!“ Frustriert schnitt Cathy an einer Leiche herum, sie wusste nicht mal genau, nach was sie suchte. Chan hatte immer noch frei, weil er so viele Überstunden hatte – woher eigentlich, sie schickte ihn doch nach acht Stunden immer heim! – und jetzt hatte sie keinen Assi mehr, den sie herumschicken konnte. Nicht mal diese Molly war auffindbar, obwohl die sowieso immer irgendwo anders herumsprang. Nebenbei, sollte Cathy sie nicht anlernen? Wütend packte die Rechtsmedizinerin die Brechzange und öffnete mit einem Ruck den Brustkorb. „Ich bin nicht sauer, ich habe gar keinen Grund“, murmelte sie sich zu. Vor ihr befand sich gähnende Leere, nur eine undefinierbare Flüssigkeit befand sich im Bauchraum, was Cathy stutzen lies. Dann holte sie eine kleine Schöpfkelle und holte sich eine kleine Menge davon heraus und schnupperte daran. Sie verzog das Gesicht. „Nein, nein. Ich habe gar keinen Grund. Außerdem – was soll das? Ich weiß schon, wieso ich sauer bin! Weil ich Behinderte Lestrade davon erzählt hab. Der Penner erzählt das bestimmt weiter und dann mobben mich wieder alle“, knurrte sie, setzte sich ans Mikroskop und untersuchte die flüssige Masse. Eigentlich wusste sie schon, um was es sich handelte, aber sie suchte trotzdem danach, um ihren Ärger einzudämmen. Arbeit war das beste Mittel. Irgendjemand hatte es witzig gefunden, die Innereien herauszunehmen und diese durch diesen Cocktail zu ersetzen. Phenole und Guajakole, sowie Sesquiterpenoide liesen darauf schließen, dass Cedrium zum Füllen verwendet wurde, das war eine ölige Teermischung aus Zedernholz und verschweltem Nadelholz. Cathy schaute sich begeistert um, fand aber niemanden, dem sie das erzählen konnte, dass sie das einmal bei einer Vorlesung über Mumien gesehen hatte, weswegen sie es sich wahrscheinlich auch so gut gemerkt hatte.  „John!“  „Sherlock, was ist los?“, flüsterte John über den Eimer gebeugt. Er fühlte sich allein gelassen und überfordert. Er war doch krank – wieso ging Cathy einfach? Jaina hatte einen Job, das konnte er verstehen, aber Cathy, die nahm sich doch sowieso immer so frei, wie sie wollte!  „Wo ist deine Krankenschwester, wenn man sie braucht?“, jammerte Sherlock schamlos und rollte sich auf dem Sofa zusammen.  „Auf Arbeit, wo sonst?“, gab der Arzt schwach zurück und schaute auf das Chaos, das hier herrschte. Zwei teilweise vollgebrochene, stinkende Eimer, die noch bis zur Badezimmertür getragen worden waren, drei angeseiberte Hosen und zwei T-Shirts und herumliegende Essensreste. Cathy würde ausrasten und Jaina würde sich umdrehen und heimgehen.  „Dann musst du aufräumen.“  „Willst du mich ver… auf den Arm nehmen?“, entfuhr es John entsetzt. Das würde er nie schaffen. Er musste sie anrufen; er würde sterben, müsste er das sauber machen. „Ich ruf sie schon an.“  „Sag ihr, ich bin für immer dankbar“, nuschelte Sherlock, deutlich hörbar fröhlicher.  „Du schuldest den beiden sowieso schon was“, knurrte John und angelte nach seinem Handy.  „Was glaubst du, wann profitiert sie am meisten von meiner Dankbarkeit? Wenn sie mich nie wieder sehen muss oder wenn sie mich heiratet?“  „Sherlock – halt deinen Mund. Du weißt ja nicht, was du redest“, herrschte John den Detektiv an und seufzte. Jeder würde ihn nie wieder sehen wollen, aber Cathy würde ihn heiraten. Eiskalt. Einmal, weil er Geld hatte und zum anderen, weil sie offensichtlich noch immer Single und auf der Suche war.  „Wie viel muss ich beiden zahlen, dass sie herkommen?“, wollte Sherlock wissen. Es klingelte in ihrer Tasche. Genervt stand Cathy auf, zog die Handschuhe aus und holte ihr Handy, auf dem Display stand Johns Nummer. Ergeben seufzte sie und ging ran.  „John, was ist-“  „Dann muss sie mich doch heiraten“, ertönte Sherlocks Stimme panisch aus dem Hintergrund. Wortlos legte Cathy auf und ging zurück an ihr Mikroskop. Manchmal musste man Prioritäten setzen.   Jainas Handy klingelte, als sie gerade in den Supermarkt ging. Arglos nahm sie ab und hörte nur angestrengtes Atmen vom anderen Ende, was sie dazu brachte, nachdenklich und misstrauisch aufs mobile Telefon zu starren. Nebenbei schob sie einen Einkaufswagen vor sich her.  „Jaina, ich muss ihn doch töten“, hörte sie dann leises Knurren.  „Oh, Cathy, du bist es. Wieso?“  „Ohhhhh!“  „Öh, beruhig dich mal, was hat John gesagt?“ Sie packte zwei Packungen Milch in den Einkaufswagen und drei Packen verschiedenen Pudding.  „Der nicht! Dieser Sherlock!“ Jaina hörte entferntes Klappern und nahm an, dass Cathy wieder mal ihr Büro zerstörte. Sie war fasziniert mit welcher Intensität Cathy fähig war, einen Namen auszuspucken.  „Okay, was hat der gesagt?“ Jaina entschied sich, noch drei Packungen Familieneis mitzunehmen, für den Notfall. Oh – und diese extragroßen Schokoladentafeln schauten auch einladend aus, genauso wie diese Tiefkühl-Töröö-Torte. Wanderte alles mal in den Wagen.  „Dass irgendeine ihn heiraten muss!“ Es schepperte laut. Jaina schüttelte den Kopf. Was stellte sich Cathy so an? Früher oder später heiratete jeder mal. Naja, außer die beiden vielleicht.  „Hm, was ist so schlimm daran?“ Die Dozentin griff nach einer Packung Geschmackskondomen, las die Anleitung und legte sie schnell und verwirrt wieder weg. Wer wollte einen Penis mit Himbeergeschmack im Mund haben? Und die Vagina interessierte das doch auch nicht! Diese Industrie!  „Er riecht gut!“ Beinahe kreischend klang das. Jaina schaute sich die Kondome nochmal an. Ja, die rochen anscheinend auch so. Sie schüttelte den Kopf und bemerkte zu spät eine junge Frau, die sie beobachtete. Lässig griff sie zu den größeren Kondomen und packte eine beliebige Packung in den Wagen. Sie wollte jetzt kein gelangweilter Loser sein. Schnell ging sie weiter, während die Frau sie weiter beobachtete, Jaina spürte praktisch diesen Punkt zwischen ihren Schulterblättern brennen, als ob ein Laser darauf abgeschossen wurde. Es war ein sehr unangenehmes Gefühl, das genau solange andauerte, bis Jaina in der Babynahrungsabteilung stand und nicht wusste, wie sie dahingekommen war.  „Cathy, viele Männer riechen gut“, belehrte sie dann geduldig. Es wäre nicht die erste Krise ihrer Freundin, die Jaina ohne Cathy löste.  „Aber nicht nach Paco Rabanne 1 Million“, klärte die panische Stimme sie auf. „Das ist der geilste Duft überhaupt!“  „Und nach was riecht John?“, fragte Jaina verwirrt. Woher konnte Cathy Parfumnamen auswendig? Das war ja absolut weiblich und passte so gar nicht!  „Der hatte das letzte Mal Kotzi&Schwitzi made by himself. Aber da davor hatte er glaub ich Gucci Guilty pour Homme. Wenn mich nicht alles täuscht“, überlegte sie dann. „Wieso dürfen Männer so geile Parfums haben? Jetzt riecht Sherlock‘s Decke nach 1 Million und nach meinem Sabber. Toll.“ Jaina kicherte. Vielleicht war es schon besser, dass Cathy bei den Toten geblieben war, da störte dieser Umgangston kein bisschen, die hörten das ja nicht mehr – und Scheintote weckte der bestimmt wieder auf. Dann schweifte ihr Blick über die schluckgerechte Nahrung vor sich und sie entschied spontan, ein paar Gläschen mitzunehmen. Sie nahm die mit Obst, das Gemüse und Fleisch und die pürierten Fertiggerichte sahen etwas suspekt aus.  „Ist doch lustig. Das erinnert ihn an uns“, lachte Jaina leise und manövrierte den Einkaufswagen zur Kasse, wo die beobachtende Frau schon wieder stand. Jaina schaute verwirrt rüber.  „Ja, mir egal!“, war Cathy’s lahme Erwiderung, dann hörte Jaina, wie etwas aufgebrochen wurde.  „Du hast mich doch nicht etwa bei einer Untersuchung dabei?!“  „Nein, die ist schon rum, ich wollte nur nochmal reinschauen und ein bisschen Gelassenheit finden.“  „In den Gedärmen eines Ermordeten?“ Entsetzt schlichtete Jaina alles aufs Band und kam sich vor wie im falschen Film. Das war eindeutig eine eigene Höhe für die Schrägheit der Telefonate.  „Da sind keine Gedärme mehr.“  „Und… äh, was dann?“  „So eine Einbalsamierungsflüssigkeit, die ganzen Organe wie Leber, Magen, Darm und Milz und Nieren fehlen komplett, nur die Geschlechtsorgane wurden drinnen gelassen“, erläuterte Cathy ruhig und Jaina hörte, wie ihre Freundin mit der gewebedurchtrennenden Schere irgendwas durchschnitt.  „Heftig.“ Jaina konzentrierte sich kurzzeitig darauf, ihren Geldbeutel zu holen, sowie dass alle Einkäufe auch wirklich bezahlt wurden, sonst hätte sie am Ende eine Anzeige am Hals und das nur wegen fehlenden Innereien. Als sie das sichergestellt hatte, widmete sie sich wieder ihrer nur noch halb aufgelösten Freundin.  „Cathy, es wird sowieso alles gut.“  „Ahhh! Ich bin sooo sauer Jaina!“ Diese legte auf, noch während sie die Knochensäge kreischen hörte und dachte an schönere Sachen.   Cathy hatte es sich anders überlegt und die Säge wieder abgeschalten – was wollte sie eigentlich damit? Lärm machen? Konnte sie auch so. Den Toten zersägen? Wieso in Gottes Namen sollte sie sowas vollkommen sinnfreies tun, wo er doch noch nicht mal völlig untersucht worden war – na, zumindest nicht der Kopf! Seufzend legte sie ihre Werkzeuge nieder, schloss die Leiche und setzte sich in ihr kleines Büro. Und wartete. Und schaute. Und wartete. Dann beschloss sie, über ihren Schatten zu springen und griff nach ihrem Handy. Jetzt, nachdem sie sich ausgelebt hatte und Jaina kurz belästigt hatte, fühlte sie sich dem Folgeneden gewachsen. Es tutete nicht einmal.  „John, wie geht es euch?“  „Cathy! Du bist ein Engel!“, keuchte ihr John entgegen und sie hörte ihn unterdrückt husten. Eigentlich müsste es beiden bald wieder besser gehen, in ein oder zwei Tagen, dieser Norovirus war schnelllebig, aber heftig.  „Ha, du hast keine Ahnung“, erwiderte sie stumpf. „Also, wie geht’s euch?“  „Schlimm, wie sonst?“ Sie seufzte und hielt sich die Stirn, rieb sich die Schläfen. Es waren nicht allzu viele Tote hier, das wäre in zwei Stunden getan, die Frage war nur, ob sie wirklich jetzt in diesen Gazastreifen zurück wollte. Und das freiwillig.  „Komm bitte, sonst wird Sherlock wahnsinnig“, flüsterte John und hustete, diesmal mit Sherlock im Chor. Cathy zog eine Grimasse, sie fühlte das Schuldgefühl in sich aufwallen. Wieso war sie überhaupt auf Arbeit gegangen? Sie kannte das Gefühl, das kam immer, wenn es anderen schlecht ging und sie sich des Lebens freute – was nicht auf ihre Arbeit zutraf, sie konnte herzlich wenig dafür, wenn jemand zu Tode gebracht wurde.  „Gib mir noch ein bisschen Zeit, dann bin ich bei euch“, meinte sie dann, legte auf, erhob sich vom Stuhl und streckte sich, von diesem Gespräch geschaffter als von dem mit Jaina.   Nachdem Jaina die Einkäufe nach Hause gebracht hatte, schlenderte sie gemütlich durch die Innenstadt, über die Tower-Bridge, am Denkmal vorbei und den ganzen Weg zurück. Nie würde sie zugeben, dass dieser eine freie Tag so langweilig war. Aufräumen würde sie nicht, dazu kam einmal die Woche die Zugehfrau und sonstige Erledigungen hatte sie nicht. Die Stoffe lagerten inzwischen auch im Wohnzimmer, die Schnitte musste Jaina noch suchen, nur heute noch nicht, das war ein wenig früh. Sie genoss die warme Sommersonne auf ihrer Haut und freute sich, dass es nicht – wie oft – so schneidend windig war. Allerdings war ihr wirklich langweilig. Sie beschloss, etwas Gutes zu tun und begab sich auf den Weg zur Baker Street, zu Fuß, um noch ein wenig Zeit totzuschlagen. Vielleicht würde sie ja auch eine vollkommen genervte Cathy vorfinden, das würde Jainas Tag erheblich aufbessern.   Jaina traf Cathy, während sie gemächlich durch die Stadt schlenderte und sich die freie Zeit vertrieb. Ihre Freundin sah nicht gerade glücklich aus. Sollte die nicht überhaupt noch auf Arbeit sein?  „Hey Cathy! Wohin des Weges? Solltest du nicht arbeiten?“, wollte sie wissen.  „Ja, schon. Aber John geht es immer noch bescheiden, da dachte ich, ich mach einen kurzen Abstecher dahin.“  „Oh. Cool. Kann ich mit?“  „Logo.“    „Hey, täuschen mich meine Äugelein, oder sehe ich da wirklich zwei bekannte Gesichter?“ Cathy knuffte Jaina in die Seite und deutete auf ein kleines Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie liefen bestimmt schon zwanzig Minuten. Jainas Blick folgte dem ausgestrecktem Finger und landete auf zwei Personen, die sie auch zu kennen glaubte. Aber erst auf den zweiten Blick. Wie lange starrte Cathy wohl schon da rüber? So spontan hätte sie diese beiden Männer nie erkannt.  „Sind das etwa Señor Matemática und Mister America?!“ Jaina kniff die Augen zusammen.  „Ich glaube schon!“, bestätigte Cathy und verschärfte ebenfalls den Blick. „Wir sollten genauer nachsehen.“  „Denkst du wirklich ich hab ein Fernglas dabei?“, konterte Jaina, immer noch starrend.  „Nein. Ich meinte eigentlich, wir sollten rübergehen und uns näher anschleichen.“ Keine zehn Minuten später standen die beiden jungen Frauen unauffällig hinter einem Baum und hatten die eigentliche Absicht, John und Sherlock zu besuchen, vollkommen vergessen. Sie spähten unverdrossen in das Café.   „Ich glaube, wir haben keine andere Wahl: Wir müssen hingehen!“, wisperte Jaina Cathy zu. Diese nickte nur und sodann schlenderten sie ganz professionell zum Eingang und warfen vorsichtige Blicke auf die Männer. Der eine hatte dunkles Haar und der andere – nun, gar keines. Außer einen ganz leichten Bart. Aber wirklich nur ganz leicht, den sah man eigentlich nicht, wenn man nicht genau hinschaute.  „Das sind sie. Mich packt die Sau, was machen die denn hier?“, entfuhr es Cathy begeistert. Sie hatte diese beiden schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen und sie jetzt hier in London gemeinsam zu entdecken war schon außergewöhnlich! Auch Jaina stand die Vorfreude auf das, was in den nächsten Minuten folgen würde, ins Gesicht geschrieben.  „Vermutlich essen?“, schlug Jaina breit lächelnd vor.  „Okay! Komm, wir gehen rein und tun voll normal!“  „Okay!“ Damit stieß Cathy die Tür auf und schaute sich um, so als ob sie einfach einen Platz zum Sitzen suchen würde. In Wirklichkeit aber bepinkelte sie sich fast vor Aufregung.  „Das sind doch nicht etwa Jaina und Cathy?“, ertönte da auch schon die wohlvertraute Stimme aus dem Eck. Sofort drehten sich die beiden um – was wahrscheinlich ein wenig auffällig war – und lächelten los. Ihre damaligen Lehrer hatten sich ja überhaupt nicht verändert!  „Mr America? Señor Matemática?“ Jaina tat überaus überzeugend freudig überrascht und ging zielstrebig, mit Cathy im Schlepptau, zu dem Tisch, an dem die beiden Lehrer saßen.  „Mensch, das hätte ich ja nicht gedacht, dass wir euch hier treffen“, meinte Señor Matemática und deutete auf die zwei freien Stühle. „Setzt euch!“  „Okay!“, freute sich Cathy und bequemte sich neben den Englischlehrer, weil sie genau wusste, dass sie trotz ihres superschweren Studiums noch immer nichts in Mathe drauf hatte. Das sollte aber keiner wissen. So setzte sich Jaina zu dem spanischen Mathelehrer. Schweigend grinsten sich die Mädchen an.  „Soo.. was macht ihr hier?“, wollte Mister America wissen. Ganz cool trank er einen seiner typischen Proteinshakes, bei dessen Anblick sich Jaina und Cathy unwillkürlich schüttelten. Cathy erwartete jedes Mal wenn sie den Shake anschaute, dass Mister America angewidert ausschauen würde, aber das tat er nie. Ein für sie unergründbares Geheimnis!  „Meinen Sie jetzt in diesem Café oder in London?“, fragte Jaina nach.  „In London.“  „Ich bin Mathedozentin“, antwortete Jaina sofort und bekam gleich darauf bewundernde Blicke der Lehrer. Damit hatte wohl keiner so wirklich gerechnet. „Und meine eigene kleine Modelinie.“  „Die geht bestimmt gut“, vermutete der Mathelehrer ganz richtig. Jaina nickte. „Und du, Cathy?“  „Ich bin im Scotland Yard und DCC, als Rechtsmedizinerin“, gab Cathy von sich. Ihr wurde gerade bewusst, dass sie als einzige am Tisch als ab-und-zu-Teilzeitdozentin tätig war. Also lies sie das lieber weg.  „Das ist ja auch super. Also habt ihr beide hier in London studiert?“  „Ja. Und Sie beide hängen immer noch als Lehrer rum?“, erkundigte sich Jaina charmant. Sie sah blendend aus in ihrem Kleid.  „Ja. Mister America ist jetzt Fachbetreuer, aber er erzählt es keinem, weil er sonst angeben würde“, erklärte Señor Matemática grinsend und trank einen Schluck von dem Kaffee, den er vor sich hatte.  „Cool! Wie lange das denn schon?!“ Interessiert und sich für Mister America sich freuend schauten Jaina und Cathy den jetzigen Fachbetreuer an.  „Ach, schon so ein Jahr oder so. Ist nur noch mehr Stress“, erwiderte dieser nur halb verlegen und klopfte auf den Tisch. „Aber jetzt entspanne ich!“  „Wir sehen’s.“ Jaina schaute sich um. „Aber jetzt sind doch gar keine Ferien. Oder machen Sie Klassenfahrt?“  „Ja, wir machen eine Studienfahrt, heute ist der dritte Tag.“  „Aber sollte da nicht eigentlich eine weibliche Lehrkraft dabei sein?“, fragte Cathy und schaute die zwei Männer mit hochgezogenen Brauen an. Irgendwas konnte da nicht stimmen.  „Ist nur eine Techniker-Klasse ohne Mädchen, deswegen dürfen es auch zwei männliche Lehrer sein“, klärte Señor Matemática sie auf.  „Und haben Sie dann schon spannende Sachen erlebt?“, hinterfragte die Medizinerin.  „Ich bin zum gefühlten hundertsten Mal in London, so spannend kann hier nichts mehr sein“, konterte Mister America. „Oder habt ihr spannende Sachen zu erzählen?“  „Oh ja. Ständig. Ich meine, ich höre mir jeden Tag Probleme von Studenten an, die von Mathe bis zur Scheidung reichen und Cathy … naja.“  „Ja, ich weiß, ich häng ständig nur bei Leichen rum. Die sind halt tot.“  „Hattest du schon mal jemand Scheintotes?“ Interessiert schaute Señor Matemática sie an. Kurz dachte Cathy nach. Hatte sie so was schon mal erlebt? Sie konnte sich nicht dran erinnern.  „Ich denke nicht. Aber ich hatte Einbrecher. Und schon mal nur noch einen Finger von einem Toten übrig. Und jetzt Köpfe. Und Kollegen, die meinen Humor nicht verstehen.“  „Aber dafür hast du Jaina“, munterte Mister America sie auf.  „Stimmt. Dafür hab ich die Jaina.“ Sie grinste ihn frech an, während Jaina nur den Kopf schütteln konnte.  „Übrigens – wie geht es eigentlich Herr Reinstriezel?“  „Ach, der ist inzwischen pensioniert. Aber ich glaube, ihm geht’s prächtig“, meinte Mirster America und grinste. „Nachdem ihr weg wart, hat er anderen Schülern immer von euch erzählt.“ Nach dem Treffen, das nicht mehr lange dauerte, da die beiden Lehrer wieder weiter mussten, beschloss Jaina, noch ein wenig in die Stadt zu gehen, während Cathy zurück zum Scotland Yard ging, weil sie offensichtlich etwas vergessen hatte, was sie zu John und Sherlock mitnehmen wollte. Die waren ihr aber auch erst sehr spät eingefallen. Nach etwa eineinhalb Stunden – so lange hatte sie es sich nicht vorgestellt, aber sie hatte auch ein paar Abstecher in Kleidergeschäfte gemacht – stand sie endlich vor der Haustür 221B und rang mit sich, ob sie nun wirklich reingehen sollte. Da parkte ein Taxi neben ihr und jemand stieg elegant aus, worüber Jaina lächeln musste. Cathy trug ihre große Sonnenbrille, welche Augenringe oder Kneifaugen verbarg. Kneifaugen, die bekam die Medizinerin immer, wenn sie sauer war. Die hielten sich dann auch schon mindestens zehn Minuten und konnten immer wieder aufgefrischt werden.  „Jaina, was machst du denn hier? Ich dachte, du hättest deine Meinung vielleicht geändert“, fragte Cathy, zahlte das Taxi und trat zu ihrer Freundin, den weißen Kittel zurechtrückend.  „Langweile vertreiben“, erwiderte diese und klingelte nun mutig.  „Ach so. Hä? Heute fällt deine Lesung flach oder was?“  „Ja, die Studenten wollten einen Lerntag haben, den hab ich ihnen gegeben. Nie wieder, mir war so langweilig! Ich hab sogar eingekauft!“, entrüstete sich die Hobby-Designerin.  „Wirklich? Eingekauft! Jetzt erzähl mir keine Märchen“, lachte Cathy und drückte die Tür auf. „Ich hab den Schnapper reingemacht.“ Jaina schüttelte nur den Kopf, so was war doch gefährlich!  „Jaina und Cathy!“ Ein Zombie kam durch das Wohnzimmer auf die beiden jungen Frauen zugestolpert, stinkend und unkoordiniert schwankend, mit brüchiger Stimme und die Arme ausgestreckt. Um ihn waberte ein dunkelvioletter Seidenbademantel, ebenfalls miefend. „Sherlock, denken Sie an Ihre Menschenwürde!“, reagierte Cathy instinktiv, packte ihn an den Armen und drehte den Mann so, dass er zurück ins Wohnzimmer lief, sie lenkte ihn zum Sessel, in welchen er sich hineinsetzte.  „Sie?“ Fragend schaute Jaina Cathy an, unauffällig war sie ihr gefolgt.  „Harte Maßnahme“, erklärte diese und sah sich um. Sie wurde blass, dann rot. „Jaina, finde John und schlag ihn zusammen.“  „Okay, mach‘ ich.“ Verwirrte schaute Jaina Cathy an, nahm sich den Rat aber zu Herzen. Zähneknirschend beugte Cathy sich zu Sherlock vor. „War das Ihre Idee, Sie Witzbold?!“ Leise entfernte sich Jaina, um die Schlacht von weitem beobachten zu können.  „Uns ging es so schlecht“, verteidigte sich dieser und der leicht widerliche Atem von ihm hauchte um Cathys Nase. Unverhohlen rümpfte sie diese. „Und wieso ging es euch schlecht? Wegen dem Virus! Mädels, das ist ziemlich schwach“, tadelte sie, zog sich Handschuhe über und ging zu den Eimern. Aber zuerst knöpfte sie den Kittel zu. Dann ergriff sie den ersten Eimer, spähte rein und schüttelte den Kopf. Selber Schuld, dachte sie sich. Wer Schokohörnchen mampft, muss auch brechen können. Sie ging ins Bad und leerte den ersten, dann den zweiten Eimer aus, stopfte die Wäsche in die Waschmaschine und trat wieder neben Sherlock. „Das werden Sie auf jeden Fall mit einem Scheck bedenken.“  „Cathy… ich glaub… ich bin mir nicht sicher. Aber John sieht ein bisschen… schwach aus?“ Jaina kam wieder rein, John am Arm führend und ihm sachte auf den Rücken klopfend.  „Cathy“, jammerte dieser und fiel der Ärztin in die Arme. Leicht überfordert fing sie ihn und hielt ihn fest, wie eine überdimensionale Stoffpuppe hing er herum.  „Das hat er auch bei mir gemacht“, meinte Jaina. „Hast du zufällig Desi-Spray?“  „John, sei mal anständig“, murmelte sie und richtete ihn auf. „Was ist dir nur passiert?“ Sie schaute Jaina an. „In der Tasche ist welches.“  „Ich wollte mich um Sherlock kümmern, aber …“  „Passt schon, hab verstanden“, knurrte sie und brachte John zum Sofa. Seine Klamotten waren noch feucht und rochen streng und sie vermutete – ein Blick auf Jaina bestätigte, dass diese das selbe dachte – dass Sherlock auf John… egal. Cathy hätte lieber einen Bürojob lernen sollen, dann hätte sie sich jetzt einfach verdrückt, nie Medizin studieren, einfach Sekretärin werden. Dann wäre diese Situation nie ihr Problem geworden. „Jaina, ich bin dafür, dass du John umziehst, ich geh Tee machen und die Eimer gar sauber machen.“  „Was?“, entfuhr es Jaina entsetzt, doch Cathy hatte sich schon verzogen. Doch sie wusste auch, dass sie das jetzt machen musste, sonst würde hier etwas stattfinden, was Jaina nicht erleben wollte. Sie hatte einmal Cathys Büro nach einem Anfall gesehen, sowas wollte sie nicht unbedingt in Aktion sehen.  „Entschuldige John“, hustete Sherlock, hielt sich die Hand vor und sah erbärmlich aus. John schüttelte nur den Kopf und drehte sich zur Wand, doch Jaina krempelte schon die Ärmel hoch und machte sich einen Dutt. Sie schluckte hart.  „John, ich muss Sie leider bitten, sich aufzusetzen“, fing sie dann an und nahm sich die Klamotten, die Cathy ihr hingelegt hatte – wann eigentlich? Waren die vorher schon dagelegen?  „Die sind aus dem Badezimmer und frisch gewaschen und trocken!“, rief Cathy aus der Küche, als ob sie wüsste, was Jaina dachte.   „Okay, dann verpacken wir das Würstchen mal", machte Jaina sich selbst Mut und ging vor John leicht in die Knie.  „Ich werde Ihnen jetzt das siffige Oberteil ausziehen, also denken Sie sich nichts dabei.“ John seufzte und schüttelte den Kopf. Mutig packte Jaina die unteren seitlichen Enden des Shirts und zog es nach oben, aber weil John sich nicht bewegen konnte, blieb es unter den Achseln hängen. Verzweifelt schaute Jaina sich um. Sie hatte das doch nie gelernt! Und es war so ein teures Shirt von Gucci, also konnte sie es auch nicht ohne schlechtes Gewissen zerschneiden. Also saß John vor ihr, halb entblößt, wahrscheinlich frierend, jeder konnte seine goldbraune, halbdichte Brustbehaarung sehen. Jaina tat, was sie für richtig hielt.  „Cathy!“  „Was?“, ertönte es gereizt aus der Küche.  „Wer von uns beiden war im Altenheim?“, fragte Jaina unschuldig und wartete auf das, was nun kommen würde. Wütendes Stampfen, dann leises Gelächter.  „Okay, okay. Sorry, ich hätte dich damit nicht alleine lassen sollen“, gab die Medizinerin dann zu und stellte sich statt Jaina vor John. „Das geht so.“ Damit krempelte sie das Shirt wieder runter, legte John hin und schob das Shirt nur zur Hälfte hoch, dann schob sie erst den einen, dann den anderen Arm durch den jeweiligen Ärmel. Am Ende zog sie das Gucci-Teil John vorsichtig über den Kopf.  „Ich hab dir Wasser gemacht, Jaina, damit du ihn waschen kannst. Aber ich glaub, das zeig ich dir auch.“  „Nein, waschen kann ich“, widersprach Jaina, lies sich den Eimer und den Lappen bringen und lächelte John scheu an. Leider hatte sie noch nicht so oft Menschen gewaschen. „Also, ich wasche Sie jetzt.“  „Wieso wäscht mich keiner?“, schmollte Sherlock vom Sessel aus.  „Weil John nicht Sie angebrochen hat, sondern anders herum“, erklärte Jaina und fing an, den Bauch von John zu bearbeiten. Schrubbel-schrubbel. Dann ging sie weiter zu den Armen, den Seiten und dem Hals. John fror aus unerfindlichen Gründen.  „Hast du auch immer abgetrocknet?“, rief Cathy da aus der Küche.  „Oh nein!“, jammerte die Mathematikerin, schnappte sich das flauschige Handtuch und rubbelte John schnell trocken. Doch sie sah keine andere Möglichkeit, als ihn wieder mit lauwarmen Wasser abzuwischen und nachzutrocknen, sonst hätte er sich womöglich noch erkältet. Leise fluchte Jaina, etwas, was sie sonst auch nicht tat. Es war ihr so peinlich! „Nicht so schlimm. Ich will auch gewaschen werden“, meinte Sherlock und schaute neidisch rüber. Er schien ganz vergessen zu haben, dass es ihm eigentlich schlecht ging.  „Jedem das Seine“, meinte Jaina nur und widmete sich wieder John, dem sie jetzt das frische Oberteil anzog, das sogar mit Erfolg. John lächelte sie schwach an, was Jaina errötend erwiderte. Wenn der Patient mehr Ahnung als der Pfleger hatte. So musste sich Cathy am Anfang des Praktikums gefühlt haben.  „Sherlock, Sie werden von mir gewaschen“, kam da plötzlich Cathys Stimme aus der Küche hereingeschwebt, voller Genugtuung. Sherlock grinste zufrieden. Offensichtlich war es ihm egal, wer, Hauptsache er wurde auch mal so umhegt. Eine viertel Stunde später hatten Jaina und John eine dampfende Tasse Tee in den Händen und durften der professionellen und irgendwie entwürdigenden Arbeit einer Altenpflegepraktikantin beiwohnen. Cathy hatte das vor Jahren mal gelernt und seitdem nie wieder vergessen. Wie auch, wenn es dabei auch traumatische Erlebnisse gab.  „So, jetzt demonstriere ich Ihnen, meine Damen und Herren, wie es im Altenheim zugeht“, fing sie grinsend an, Sherlock auf dem Sofa liegend und irgendwie sah er jetzt nicht mehr so glücklich aus. Jaina lachte sich leise ins Fäustchen, während John wieder mehr Farbe bekam.  „Mister Holmes, wie geht es Ihnen heute?“ Cathy beugte sich freundlich über ihn und richtete die Wasserschüssel, das Handtuch und die Bodylotion so an, dass sie perfekt hinkam.  „Schlecht“, jammerte Sherlock.  „Na, was haben Sie denn?“, fragte sie weiter und kniete sich neben das Sofa, um auf besserer Höhe zu sein. Dann drehte sie ihn geschickt auf die Seite, manövrierte seinen Arm aus dem Bademantel und legte ihn wieder auf den Rücken. Schockiert schaute der Detektiv sich um. „Ist Ihnen schlecht oder schwindelig?“ Sie wiederholte die Prozedur für die andere Seite, rollte den Bademantel zusammen und legte ihn sorgfältig auf die Seite.  „Wie ein Profi“, grinste Jaina und nippe am Früchtetee.  „Hmmm“, machte John.  „Hallo, wie wär’s mit ein bisschen mehr Begeisterung?“  „Schlecht“, meinte Sherlock dann etwas trocken und schaute Cathy misstrauisch an.  „Das ist nicht gut“, erwiderte sie nur. „Trotzdem muss ich Sie jetzt waschen, Mister Holmes, weil sonst geht es Ihnen schlechter.“ Damit zog sie ihm das Oberteil aus, so wie sie es Jaina gezeigt hatte – nur schneller. Dann wusch sie den blassen Oberkörper, trocknete ab, die Arme, bis der ganze Torso sauber war. Danach cremte sie ihn vorsichtig ein, mit der Warnung, dass es jetzt ein bisschen kühl werden würde, damit die Haut wieder ganz sanft wird. Da musste Jaina lachen und auch John hustete unterdrückt, während Sherlock sich inzwischen daran gewöhnte, so gepflegt zu werden. Er war schon ganz entspannt, wie in einem Spa.  „Ich werde nie wieder duschen“, verkündete er die frohe Botschaft, bei der Cathy in der Bewegung einfror.  „Du darfst jetzt jeden Tag kommen und mich waschen.“ Sie strahlte diebisch.  „Wissen Sie, was da eigentlich dazugehört?“  „Wenn ich raten sollte, die Füße“, gab Sherlock entspannt zurück.  „Ist das Publikum auch damit einverstanden?“, fragte Cathy, immer noch fröhlich.  „Penis“, kam es unverschämt von Jaina. „Die Genitalien brauchen genauso viel, sogar mehr, Pflege wie der Rest vom Körper auch, vor allem der Penis.“ John wurde rot am Hals und im Gesicht, während Sherlock fast einen Herzinfarkt bekam. Dann entspannte er sich.  „Leg los.“  „Ähm, nein. Der Penis ist zufällig eine erogene Zone des Körpers und ich weiß nicht, ob Sie das wissen, aber bei manchen Männern löst das Waschen, besonders die Berührung, eine Erektion aus. So was hätte ich jetzt gerne nicht, dass Sie bekommen“, gab Cathy zurück und schmunzelte leicht. „Ich denke, das ist ein eins zu null für Sie.“ Damit legte sie den Waschlappen in den Eimer, dessen Wasser immer noch lauwarm war. „Nein, es zeigt nur, von was für Vorstellungen eure Gehirne vollgestopft sind. Wären die weg, könntet ihr drei Idioten viel mehr wissen und leisten.“  „Ohh, warten Sie nur!“, kämpferisch packte Cathy Sherlocks Gürtel und hatte diesen mit einem Handgriff offen, während ihr leicht wütendes Gesicht nur Zentimeter von Sherlocks entfernt war – Cathy hatte eine Zornesfalte an der Stirn –, was Jaina fasziniert beobachtete. Wo lernte man solche Moves?! John war halb im Sessel aufgestanden, während Sherlock selbstherrlich grinste. Dann schaute Cathy den Detektiv böse an.  „Sie wollen sich nur selber nicht anstrengen“, sagte sie mürrisch und schloss den Gürtel wieder.  „Ein andermal.“ Damit grapschte sie sich erbost den bequemen, aber stinkenden, Bademantel – verwechselnd mit ihrer Jacke – warf ihn sich über und verlies in einem Schwall violetter Seide den Raum.  „Mein Bademantel!“ Draußen stand Cathy, rotgesichtig und überdurchblutet, zwischen den Fingern wanderte eine Zigarette hin und her. Sie hatte seit Jahren nicht mehr geraucht, nicht mal auf Partys, sie hatte nicht mal welche in der Wohnung, aber manchmal fand sie eine rumliegen und steckte sie ein, um sie am nächsten Tag wegzuwerfen, weil sie den Geschmack hasste.  „Cathy, alles klar bei dir?“, fragte Jaina, als sie neben ihrer Freundin stand.  „So ein Ferkel. So ein selbstherrlicher, behinderter, puh, Jaina, fast hätte ich mir diesen Giftstängel angezündet.“ Sie warf die Zigarette auf die Straße, wo ein Auto gleich drüberfuhr.  „Ich denke, du denkst, dass er denkt, er wäre zu cool für diese Welt und damit kommst du nicht klar, weil bis jetzt wir zwei die coolsten hier waren“, meinte Jaina und drückte Cathy ein Stück Schokolade in die Hand, welches sofort im gierigen Rachen verschwand.  „Nein man, das denke ich nicht nur, das sieht man ihm an jedem Härchen an, das je aus seinem – grrrr – Körper gesprossen ist“, murrte sie weiter.  „Wolltest du gerade Fäkalsprache benützen? Oder etwa gar ein Kompliment aussprechen?“, spaßte Jaina und lachte leise. „Aber du hast Recht. Soziopathen sind nunmal schwierige Menschen. Zum Glück bist du nie Psychologin geworden.“ Fünf Minuten später gingen beide wieder in die Wohnung, Sherlock lag immer noch oben ohne am Sofa herum und starrte Cathy böse an. Jaina musste lachen. „Er will, dass du ihn anziehst, er hat nicht einen Finger gerührt.“ Die Ärztin seufzte, zog den Bademantel aus und setzte sich ans Fußende des Sofas und legte Sherlocks Füße über ihre Beine. Dann schaute sie ihn an.  „Sie wollen es mir nicht leicht machen, Sie zu akzeptieren, nicht wahr?“  „So schwer es nur geht.“  „Ich nehme an, das entspricht der Wahrheit.“ Sie nahm den Lappen und fing an, seine Füße zu waschen. Jaina schaute verwirrt zu, dachte sich aber, dass Cathy nur Arbeit für die Hände brauchte, während sie nachdachte. So machte es sie wenigstens immer. Wenn sie nachdachte, dann spielte sie meistens mit etwas herum. John saß am Sessel und hielt sich die Stirn vor Unglauben.  „John, sehen Sie es gelassen“, riet Jaina, nahm ihren Tee und trank daraus. Entsetzt schaute John sie an.  „Was?“  „Das war … mein Tee“, murmelte er und senkte den Kopf.  „Nein, oder?!“ Sofort stellte sie die Tasse weg, als ob das den Virus wegmachen würde. Betreten schaute John sie an und schüttelte den Kopf. Jaina wurde erst bleich, dann rot. „Wieso steht Ihr Tee eigentlich vor meinem Sessel?!“ Ihre Tonlage war die einer ausrastenden Opernsängerin.  „Spaaaß“, grinste John plötzlich, woraufhin Jaina ihn böse anfunkelte, doch dann kicherte sie mit. Ein bisschen Spaß musste auch sein.  „Sie haben große Füße“, bemerkte Cathy und ging mit dem Lappen zwischen die Zehen. „Eine gesund geschwungene Ossa metatarsalia und eine schlanke, lange Grund- sowie Mittelphalanx. Und wenig Haare drauf.“  „Cathy! Du bist hier nicht im Leichenkeller“, gab Jaina belustigt und entrüstet von sich, nahm wieder ihre Tasse und trank daraus. Sie liebte den Tee, den Cathy machte, der war immer so vollaromatisch. Aber andererseits war das Essen, das die Medizinerin kochte, einfach grauenhaft.  „Sorry“, meinte diese, trocknete den gerade gewaschenen Fuß sorgfältig ab, was seine Zeit in Anspruch nahm, sie popelte das Handtuch in jede Zehenspalte und rieb dort, bis es nicht mehr feucht sein konnte. Schweigend saßen die drei herum, Sherlock lag und lies sich abtrocknen. Es war ein entspannter Augenblick, bis Sherlock das Sprechen anfing.  „Sie sind schon länger Dozentin, hatten heute aber keinen Universitätstermin, es fehlt die Kreide an den Fingern und das strenge Aussehen. Sie kommen ursprünglich aus einem anderen Europäischen Land, vermutlich Deutschland, Sie haben einen leichten Akzent. Außerdem befassen Sie sich mit viel mit Nadel und Faden, heute auch, Sie haben viele kleine, gut verheilte Grinde um die linken Finger, also sind Sie Rechtshänderin“, begann er und musterte Jaina. Wie zur Hölle konnte er vom Sofa aus ihre Finger sehen, fragte sich Cathy. Oder er schaute einfach nur gut beim Teetrinken zu, man nahm immer die Tasse in die Hand, mit der man für gewöhnlich auch arbeitete. Aber der ganze Rest! Sie begann, den anderen Fuß zu waschen und wusch und wusch, bis sie dachte, dass sich bald die Haut ablösen müsste. Jaina schaute nur und John ging genervt ins Bad, die letzten Viren loswerden.  „Das ist unglaublich“, meinte die Mathedozentin dann noch und klatschte in die Hände. „Können Sie mir das auch beibringen?“  „Nein, dazu wissen Sie zu wenig“, demotivierte Sherlock und schüttelte den Kopf. Jetzt war es Jaina, die beleidigt war.  „Ich denke nicht, dass ich zu wenig weiß. Mit ein wenig Übung bekommt man alles hin“, erklärte sie dann fast ein wenig bitter, weil sie das Deduzieren so cool fand und er es ihr nicht zeigen wollte. Vielleicht sollte sie sich mal an Mycroft wenden, wenn sie den jemals persönlich treffen sollte, was jetzt ja gar nicht mehr so unwahrscheinlich war.  „Achtung, kalt“, warnte Cathy, dann rieb sie den rechten Fuß mit Creme ein, und die war wirklich kalt. Sherlock, der sich gerade aufsetzen wollte und Jaina erklären, dass ihr Gehirn zu klein wäre, sank zurück und starrte an die Decke, genau wahrnehmend, welche Bewegungen Cathy an seinen Füßen machte. „Nein, die Jaina ist einer der schlausten Menschen, die ich je kennengelernt hab“, fügte sie dann hinzu und schaute Sherlock ernst an. Dieser hob nur arrogant die dichten Augenbrauen, die auch mal gezupft werden könnten.  „Danke“, kam es leise von Jaina zurück. Sie wusste, dass Cathy das dachte – sie hatte es Jaina ja oft genug gesagt – aber so gegen jemand so schlaues zu reden, fand Jaina total anständig.  „Das stimmt schon, Sherlock, für zwei so junge Menschen sind Jaina und Cathy außerordentlich intelligent. Du weißt schon, dass Jaina ihren Doktor in einem viertel Jahr geschrieben hat? Und nach einem dreiviertel Jahr an der Uni schon zur Professorin berufen wurde?“, sagte jetzt auch John und lehnte sich im Sessel zurück.  „Das ist zwar beeindruckend, aber andere schaffen das auch“, gab Sherlock ein wenig nach.  „Nein, andere schaffen das nicht“, erwiderte Cathy und erhöhte den Druck ihrer Fußmassage, zu dem das Eincremen eindeutig geworden war. Sherlock schüttelte sich kurz, eine Reaktion seiner Nerven, dann schaute er Cathy strafend an. Diese zuckte neutral mit den Schultern. Grinsend beobachtete Jaina die Szene. Sie fand es zwar cool, dass Sherlock deduzieren konnte, sie fand es aber auch cool, dass Cathy ihn zucken lassen konnte.  „Ach ja, Cathy, hast du eigentlich mal wieder was vom Kopf gehört?“, fragte da Jaina, der das plötzlichbeingefallen war. Sowas passierte schließlich nicht alle Tage und außer dem Rätsel und der schwammigen Aussage, schnell loszumüssen wegen was anderem, hatte ihre Freundin ja nicht wirklich was erzählt. Jetzt war sie gespannt.  „Tja, also. Es gibt einen neuen Mord. Eine Frau diesmal“, meinte Cathy und massierte den Fuß weiter. „Mit – natürlich – einem neuen Rätsel und blah…keine Ahnung. Diesmal aber eindeutig eine andere Todesursache.“  „Echt? Das geht ja voll schnell! Cathy, vielleicht solltest du mal das Rätsel lösen, anstatt fußfetischistisch aktiv zu sein“, schlug Jaina etwas verständnislos vor und trank ihren Tee aus. „Ich meine, so schwer kann es doch gar nicht sein.“  „Stimmt. Während ich den Kopf heute untersucht hab‘, ist mir so gekommen, dass der Täter vielleicht etwas Simples benutzt, weil er eventuell denkt, dass ich simpel denke. Und die leichteste Verschlüsselung wäre zwar die mit Zahlen, aber die ist langweilig. Also, was sonst? Die Cäsar-Scheibe, alt aber effektiv, wenn man sie nicht kennt.“  „Hey, an die erinnere ich mich!“, rief Jaina aus und legte die Stirn in Falten. „Das war doch die, bei der einfach die Buchstaben verschoben werden. Um ein paar nach rechts, oder?“  „Jep, Ich hab’s damit ausprobiert und rausgekommen ist: Hier ist die Zahl. Ich denke, er spricht von der Zahl seiner Opfer. Und ich denke, die kleine Zeichnung, oder was auch immer das ist, sagt mir den Ort“, erwiderte Cathy und spreizte Sherlocks Zehen gedankenverloren.  „Von was sprecht ihr da?“, wollte John wissen, lange nach der Decke und breitete sie über sich aus, um nicht mehr zu frieren, es war zwar erst gegen drei Uhr Nachmittags, trotzdem war es in der Wohnung kühl. Obowhl es draußen Sommer war.  „Über die Auswirkung botanischer Bepflanzung an menschlichen Organismen“, parierte Jaina und lehnte sich vor. „Und hast du schon was anderes rausgefunden?“ Doch Cathy schüttelte den Kopf.  „Nur so Pipi-Zeug, Mittelohrentzündung und so. Ich versteh’s nicht. Wieso macht er weiter, wenn die Polizei nicht mehr hinterher kommt? Eigentlich warten solche Mörder; ich hab Hunger.“ Vollkommen zusammenhangslos stand sie auf, ging in die Küche und kruschte dort ein wenig herum, bis sie mit einer Milchschnitte zurückkam und sich genauso hinsetzte wie vorher. Jaina beobachtete das mit minderem Interesse, solche Gedankenzusammenbrüche waren eigentlich an der Tagesordnung. Wortlos gab Cathy Jaina die zweite Milchschnitte, die sie mitgenommen hatte. „Jedenfalls…“  „Cathy, warte doch mal. Welcher Mörder? Welche Opfer?“, fragte John und hustete schwach, doch ihm ging es schon besser. Cathy fragte sich, wieso sie überhaupt Morphin mitgebracht hatte, brauchte doch keiner. Naja, vielleicht wollten sie sich später alle einfach mal betäuben und eine stumpf-Party feiern. Cathy gähnte.  „Frag nicht so langweilige Sachen“, sagte sie dann, als weder Jaina noch Sherlock irgendwas sagten. Überhaupt, Sherlock sagte wenig, das war komisch.  „Cathy.“ Jetzt sah er verletzt aus, sodass sie sich gleich schuldig fühlte und den Kopf senkte. Cathy hatte diesen kleinen Makel, jeden früher oder später zu vergraulen. Naja, zumindest jeden Mann. Jaina war ja eine Frau. Und mit der kam Cathy super klar, da konnte sie auch mal gemein sein, weil auch Jaina manchmal Sachen brachte, die eigentlich nicht okay waren. Aber dann waren sie es doch, weil jeder mal ausrasten durfte. Sie seufzte. „Naja, Jaina hat vor zwei Tagen einen Kopf im Nachbarsgarten gefunden und da ich anwesend war und es sowieso in meinen Bereich gefallen ist, hab ich den Kopf gleich am selben Tag untersucht und heute kam schon wieder ein neuer Kopf und an jedem sind kleine Papierschnipsel befestigt oder reingesteckt, mit einem Rätsel, das uns unweigerlich zum Täter führen wird. Und irgendwie kommt die Polizei nicht weiter, dabei hab ich diesmal echt nicht vergessen die Sachen weiterzuleiten.“ Sie gähnte, schaute Sherlock an. „Und Sie sind ja immer noch nicht angezogen.“ Jaina beobachtete interessiert eine typische Gähnträne, die Cathy aus dem linken Augenwinkel lief, die Wange hinunter und bedenklich am Kinn wackelte, bis sie fiel und nur knapp Sherlock’s große Zehe verpasste. Trotzdem hatte sie die zweitgrößte Zehe erwischt. Jaina hatte es gewusst. Sie fand es echt cool, wenn man unterbewusst Matheformeln anwandte und dann Dinge voraussagen konnte, wenn man wollte. Sie lächelte süffisant,hörte auch nicht mehr ganz zu.  „Jaina, hm?“  „Oh ja, klar“, gab sie daher nur von sich und blinzelte verwirrt auf, als ein hellgraues Shirt vor ihrer Nase baumelte. „Äh, was?“  „Na, du wolltest doch Sherlock anziehen“, grinste Cathy und tauchte aus ihrer Hocke auf. „Weil ich jetzt Lestrade anrufen werde.“  „Bitte?“ Verpeilt schaute sie ihrer Freundin hinterher und fragte sich, warum diesmal sie im Schlamassel saß und nicht Cathy. Warum hatte Jaina eigentlich nicht mehr zugehört? Das war ja wohl mal gar nicht ihre Art! Sie schüttelte den Kopf, stand auf und schaute immer noch Cathy nach, die längst außer Sichtweite war, während sie Sherlock, der zufrieden grinste, vorsichtig anzog. Wieso in aller Welt war sie jetzt so neben der Spur? Cathy hatte sich ins Bad zurückgezogen, saß auf dem geschlossenen Klodeckel und hielt die Original-Zettel in den Händen, was zwar eklig, aber irgendwie auch entspannend war. So wusste sie, dass alles korrekt war, wie sie es aufnahm.  „Wo finde ich euch nur?“, murmelte sie und starrte auf die zwei fetten Ringe auf dem ersten Schnipsel. Sollten sie die Zahl Pi symbolisieren? Zwei mal Pi? Was sollte das denn? Einen Komma-Menschen gab es nicht. Sie konzentrierte sich. Wer war heißer, John oder Sherlock? Nein, darauf wollte sie sich nicht konzentrieren. Auf die Kreise. Die sahen aus wie Nippel. „Oh Gott.“ Jammernd lies sie den Kopf sinken und seufzte. „Ich muss wieder mehr arbeiten.“ Sie hatte gewusst, dass es böse enden würde, in jeder möglichen Art und Weise. Nicht nur, dass John jetzt freundlich zu ihr war und aufmerksam und sie ihn immer noch attraktiv fand, jetzt brachte er auch noch seinen schlauen Freund mit, der jünger war und mit diesen Augen so schön, dass Cathy sich richtig schämte, in deren Gegenwart zu sein. Jedes Mal hatte sie Angst, irgendeinen von beiden einfach zu überfallen. Entweder aus Wut und es würde erstmal eine Faust geben, oder einer von beiden sah so zum Anbeißen aus, dass sie am liebsten gleich loslegen würde. Was gäbe sie nur dafür, gedanklich so frei von diesen Dingen zu sein wie Jaina! Jaina selbst ging es nicht besser. Sie war so verwirrt über ihre Verwirrung und geistige Abwesenheit, dass sie sich in Johns Zimmer gesperrt hatte. Jetzt hätte sie Cathys Rat gebrauchen können. Wieso war sie beschämt, diesen Mann anzufassen, während sie John locker überall waschen könnte? Nun ja, gestand sie sich ein. So war das natürlich auch nicht wirklich. Aber trotzdem. Sie rieb sich die Schläfen um einer Migräne vorzubeugen – was meistens nicht funktionierte, aber versuchen tat sie es dennoch immer wieder. „Oh maaann.“ Daraufhin setzte sie sich aufs Bett und stützte den Kopf in die schmalen Hände, sodass ihre Locken ihr hübsches Gesicht rahmten wie ein Portrait. „Was mach ich denn jetzt?“ Sie hoffte, das würde sich bald herausstellen. Das tat es auch, fast im gleichen Moment bekam sie eine SMS, öffnete sie und musste nich lange lesen, bis sie schmunzelte. Jaina, ich liebe dich! Schenkst du mir bitte mal endlich Dein Gehirn dass ich mich nicht immer ärgern muss Wenn ich verwirrt wegen einem Typen bin?! Du bekommst auch meines! Jaina brauchte keine Minute, um die Antwort einzutippen. Also.. drohen musst du mir jetzt auch nicht ;) Von unten hörte sie, wie jemand gegen die Decke boxte, sie schloss daraus, dass Cathy den Witz verstanden hatte und lachte leise. Zum Glück verstanden sie sich so gut, dachte Jaina, sonst wäre das Leben ganz schön grau und trostlos. Außerdem war Cathy wirklich manchmal ein guter Ratgeber. Zwar nicht so oft wie sie, aber egal. Jaina stand auf, streckte sich und beschloss, wieder nach unten zu gehen und Cathy zur Resozialisation zu zwingen. Doch gerade, als sie zur Tür gehen wollte, klingelte ihr Handy. Fragend schaute sie auf das Display, erkannte die Nummer aber nicht. Wer das wohl war? Schulterzuckend drückte sie das grüne Knöpfchen und hielt sich das Handy ans Ohr. „Hallo?“  „Jaina, bin ich froh, Sie zu erreichen“, ertönte da Jims Stimme vom anderen Ende der Leitung. Jaina fixierte den Türrahmen, um Konzentration zu bewahren. Sie wusste gar nicht mehr, mit was sie Jim gestern abgewimmelt hatte, Himmel wie konnte sie so was Wichtiges vergessen!?  „Jim, hi.“  „Wie geht es Ihnen?“, wollte er besorgt wissen.  „Äh, besser“, gab sie zurück und setzte sich langsam aufs Bett, den Rücken viel zu gerade als dass es bequem gewesen wäre. Hatte sie ihm erzählt, wo sie war? Nein, hatte sie nicht. Hatte sie gesagt, dass sie keine Lust mehr hätte? Sie konnte sich an nichts Derartiges erinnern.  „Gut zu hören. Wissen Sie Jaina, ich dachte, wenn Sie sich besser fühlen, dann könnten wir diese Woche noch einmal ausgehen. Zumindest würde ich das sehr begrüßen“, sagte Jim höflich und klang doch enthusiastisch. Sie runzelte die Stirn.  „Hmm“, machte Jaina, erwog dann die ganzen anderen Möglichkeiten und nickte sich selbst zu. „Natürlich. Morgen hab‘ ich nur eine Nachmittagslesung, wie sieht’s bei Ihnen aus?“  „Ich nehme mir frei wie ich will. Dann morgen Abend? Ich kenne da ein schönes Lokal in der Innenstadt.“ Jim hörte sich ja richtig engagiert an, sodass Jaina fast wieder Vorfreude empfand. Eigentlich mochte sie ihn und eigentlich genoss sie die Gespräche mit ihm. Und jetzt warf sie die Phrase eigentlich über Bord und beschloss, sich nicht von Leuten wie Sherlock oder John runterziehen zu lassen oder deren Virus.  „Super, holen Sie mich dann so gegen sieben ab?“, fragte sie, jetzt selbst schon fröhlicher.  „Selbstverständlich! Ich freu‘ mich!“ Damit legte er auf, was Jaina nur gut erschien, diese ganzen Abschiedsachen waren am Telefon nicht so ihres. Lieber einfach mal auflegen nach einem guten Spruch, das kam in ihren Augen viel besser.  „Cathy?“ Ungeduldig stand John vor der Badezimmertür. Inzwischen hatte er Lestrade angerufen und erfahren, dass seine Besucherin den Inspector nicht mal angeklingelt hatte. Jetzt machte er sich schon Sorgen, obwohl John sich sicher war, dass es Cathy gut ging, sie nur .. nun, irgendwie machte sie nur immer Ärger und meistens dumme Sachen. „Cathy?“ Er klopfte an die Tür. Von drinnen war kein Ton zu hören.  „John, wieso machst du nicht einfach die Tür auf?“, wollte Sherlock da neunmalklug vom Sofa her wissen.  „Weil, Sherlock, sie die Tür abgeschlossen hat“, knurrte er und klopfte nochmal. „Mach auf, sonst mach ich mir Sorgen!“ Er hörte immer noch nichts. John runzelte die Stirn und lauschte angestrengt. Wieso machte sie ihm nur Probleme? Naja, nicht nur, musste er zugeben. Aber meistens.  „Ja, John?“ Cathy öffnete die Türe unverhofft und sah, trotz ihrer etwas schlechten Kleiderwahl, sehr kompetent und schlau – und schön, fügte er hinzu – aus. Sie hatte sich schnell frisch gemacht und fühlte sich weitaus besser, nachdem sie kurz ein Nickerchen gemacht hatte – bis John sie wachgeklopft hatte. Das fand sie durchaus nicht nett.   „Cathy, ich dachte, du wärst ohnmächtig geworden!“ Er packte sie an den schmalen Schultern und schüttelte die Ärztin durch, bis ihre gerade gerichteten Haare wieder alle zu Berge standen. Er war ziemlich erleichtert zu sehen, dass es ihr gut ging.  „John, bekomm dich in den Griff“, herrschte Cathy ihn an, packte ihn ebenfalls und riss seine Hände nach unten. „Ich werde nicht ohnmächtig!“  „Doch, immer wenn du zu viel Sex and the City schaust und du neidisch wirst“, kam Jainas Stimme vom Wohnzimmer hinter John. Sie lachte eindeutig.  „Tja also, das kann ich dann wohl nicht leugnen“, grinste Cathy und lies John los. „Zum Runterkommen hast du ja ganz schön lang gebraucht.“  „Ja, Jim hat angerufen“, erklärte die Mathematikerin, als wäre es das natürlichste von der Welt, und setzte sich in Johns Sessel. „Morgen Abend treffen wir uns.“  „Oh.“ Verwundert quetschte Cathy sich an John vorbei, wobei sie genau merkte, wie sie sich extra dünn machen musste, um nur so wenig Berührung zwischen ihm und ihr passieren zu lassen, er gab sich dafür keine Mühe, sah sie nur fragend an. Sie kam sich lächerlich schüchtern vor, eigentlich sollte sie einfach an ihm vorbeigehen und extra ihre Brüste an seinen Oberarm drücken lassen, aber so tief wollte sie dann doch nicht sinken. „Und was mach ich dann?“  „Mich waschen?“, schlug Sherlock helfend vom Sofa aus vor. Er schaute Cathy an und wackelte mit seinen langen, schlanken Fingern. Verwirrt schaute sie ihn an und versuchte, die Nachricht richtig zu interpretieren. Wollte er ihr winken? Fingergymnastik? Oder Zeichensprache für: Ich bin cool? Kurz grinste Cathy, als sie überlegte, was es wohl hieße, wenn sie das machte: Ich bin ziemlich gut mit meinen Fingern. Als sie realisierte, dass Sherlock das auch meinen konnte – es sehr wahrscheinlich war, dass er es meinte – verging ihr das Grinsen und sie merkte, wie sich eine unangenehme Steifheit ihrer Beine bemächtigte.  „Sherlock!“, herrschte John und schaute seine Freundin – nun ja, nicht diese eine Freundin, aber er betrachtete es doch als Freundschaft, was ihn mit Cathy und inzwischen auch Jaina verband, wer sonst würde sonst in solch ekligen Situationen so loyal sein und trotzdem helfen? – besorgt an. Normalerweise hätte sie Sherlock schon längst die verbale Breitseite gegeben, doch jetzt stand sie stumm da wie ein Fisch der plötzlich am Strand liegt und nicht so recht weiß, ob er jetzt ersticken oder vertrocknen wird und was das schlimmere wäre.  „Cathy? Alles klar? Du bist so blass.“ Vorsichtig packte Jaina Cathy am Arm – nun ja, was man halt unter vorsichtig versteht wenn man seit Jahren befreundet ist und inzwischen zupackt wie ein Schraubstock – und schüttelte sie. „Geht’s dir nicht gut?“  „Doch, aber ich musste gerade einem Schock vorbeugen“, erwiderte diese da und schaute Jaina an. „Ich war nur kurz weggetreten.“ Cathy würde sich am liebsten ein Ohr abbeißen oder sowas. Warum hatte sie von einem Augenblick auf den anderen ihre Schlagfertigkeit – falls sie solche besaß – zumindest aber ihre verbale Fertigkeit verloren, anderen kurzzeitig die Sprache zu nehmen?  „Also, morgen waschen. Schön.“ Sherlock drehte den dreien den Rücken zu und schien schlafen zu wollen. Jaina, John und Cathy schauten sich gegenseitig an und zuckten mit den Schultern. Dann halt nicht, verstehe einer die Soziopathen.  „Okay, John. Was machst du morgen so?“, fragte Jaina dann nach und schaute sich um. Irgendwie war’s hier inzwischen schon viel sauberer als vorher. Was sie und Cathy alles schafften, wenn sie mal keine Wahl hatten.  „Ich geh wieder auf Arbeit. So lange können die im Krankenhaus auch nicht auf mich verzichten“, erklärte er und schaute betreten auf den Boden. Und Sarah stellt auch schon Fragen, fügte er in Gedanken hinzu, sprach es aber nicht aus, weil er vor seinem geistigen Auge sich am Dielenboden ausbluten sah, nachdem Cathy ihn niedergestochen hatte. Vielleicht würde sie ihn auch beglückwünschen, aber eher würde sie einen Wutanfall bekommen, weil er ihr das mit Sarah noch nicht erzählt hatte.  „Und ich hab‘ morgen eine Lesung und abends ein Date“, stellte Jaina fest.  „Ich hab Nachtschicht und muss Vormittags was erledigen“, fügte John hinzu.  „Und was mach‘ ich?! Ich hab jetzt drei Tage frei!“ Entsetzt schaute Cathy ihre Anker an. Die hatten alle was zu tun!  „Das Rätsel?“, schlug Jaina vor. Stimmt, das sollte Cathy vielleicht auch mal lösen, wäre von Vorteil. „Und dann – kannst du immer noch Sherlock waschen.“ „Ich bin krank, du musst mich füttern und waschen“, verlangte Sherlock vom Sofa.  „Sie sind mal still in Ihrer Ecke da“, wies Jaina ihn zurecht und schaute John an. „Tja, Cathy, dir bleibt wohl nichts anderes übrig. Du könntest auch Sherlock zu dem Fall hinzuziehen.“  „Leuteeeee!“ Kapitel 5: A GOOD VICTIM ------------------------ “It could be worse - it could be raining.” – Author unknown Cathy war nochmal in die RM gefahren, um dort alle möglichen Aufzeichnungen und Fotos und Röntgenbilder zu sammeln, damit Sherlock sich am nächsten Tag nicht langweilte. Den Teufel würde sie tun und ihn waschen. Das sah sie nicht ein. Zum einen, weil es wirklich irgendwie unangemessen war, einen erwachsenen Mann zu waschen, der dazu selbst perfekt in der Lage wäre. Zweitens hatte sie Angst, dass sie ihm irgendwann einfach einmal Gewalt antun würde und das wollte sie nicht und Sherlock hoffentlich auch nicht. Ein masochistischer Soziopath war im Moment so ziemlich das schlimmste, was sich Cathy vorstellen konnte. Das war so, als würde man sie mit einem gelangweilten Selbstmordattentäter zusammensperren. Und drittens war Cathy auf der Fahrt im Taxi der Gedanke gekommen, oder nun, es war ihr plötzlich klar geworden, dass sie Sherlocks Charakter so machohaft fand, dass es schon wieder antörnend war. Und außerdem hatte er einen süßen Hintern. „Oh nein, nicht schon wieder!“, stöhnte sie und sammelte Fotos ein. Doch schon erschien der halbnackte, schlanke und durchtrainierte Sherlock vor ihr. „Ich hasse schöne Männer!“ „Äh… kann mir einer sagen, wieso sie jetzt gegangen ist?“, wollte John wissen und streckte die Beine aus. Inzwischen saßen er und Jaina auch wieder in Sesseln herum. Jaina schaute Cathys Handy an, das hier vergessen worden war.   „Ich denke, sie holt Spielsachen“, schlug sie vor und betrachtete die vielen Kratzer auf dem neuen Gerät. Wieso musste ihre Freundin technisches Gerät so hassen? Spielsachen?, kam es ihr da in den Sinn. Was war denn das für ein behindertes Statement?   „Spielsachen?“, kommentierte John da auch ungläubig. „Was für Spielsachen habt ihr denn schon daheim?“ Da musste Jaina tatsächlich nachdenken. Sie hatten noch welche, das wusste sie ganz genau, weil Cathy hier in London welche gekauft hatte und sie auch ordentlich zugelangt hatte, bei den coolen kleinen Matchbox-Autos. Das musste nur keiner wissen. Sie wusste von den Autos, sie wusste von den Murmeln, den Pollys und dem Barbie-Pferd (wovon aber kein anderer Mensch jemals erfahren dufte, dass es in ihrem Haushalt so etwas gab) und dann gab es noch die Gesell-schaftsspiele, das waren ja auch Spielsachen. Das waren schon bessere. Mensch ärgere dich nicht, Clueso – aber Jaina war sich sicher, dass Cathy das nicht nehmen würde –, dann noch Twister – Jaina liebte dieses Spiel und Cathy aus, das war einfach der Kracher! – und Schach. Und Shogi, aber das glaubte die Dozentin dezent auch nicht.   „Naja, Gesellschaftsspiele“, wich sie nach der Überlegung aus und brauchte nicht lange nachzudenken, welches wohl hier landen würde. „Wahrscheinlich bringt sie Twister mit.“   „Okay“, gab John zurück, während er Jaina wie einen Alien musterte. Was war so schlimm an Twister?! Oder war es die Tatsache, dass sie überhaupt Spiele daheim hatten?   „Sherlock, wie geht’s dir eigentlich?”, wollte Jaina dann wissen, um das Thema zu wechseln.   „Eigentlich blendend“, rief er, drehte sich um, stand auf und lief über den leeren Wohnzimmertisch, der sehr niedrig war, an Jaina und John vorbei, um im Badezimmer zu verschwinden.   „Und warum will er sich dann immer noch waschen lassen?“ Stirnrunzelnd schaute Jaina den Arzt an und verstand Sherlocks Antriebe zu solch Unsinn nicht wirklich.   „Weil er faul ist und wenn jemand anderes die Hygiene für ihn erledigen kann, dann nimmt er das gerne in Anspruch“, erklärte John gelassen und stand auf. „Möchtest du auch noch etwas Tee?“   „Klar, gerne.“ Jaina blieb alleine im Wohnzimmer und dachte nach. Das erste, woran sie dachte, war de facto mehr ein geistiger Erinnerungszettel: Niemals Jim davon erzählen, dass sie jetzt Leute waschen konnte. Am Ende würde er sich als Sherlock-Verschnitt herausstellen. Der zweite Gedanke galt sich selbst. Sollte sie jetzt schnell selber die Düse machen? Es war nicht spät, sie könnte rein theoretisch schon mit ihrem Ballkleid anfangen, zumindest Schnitte sammeln und dann anfangen. Oder sich Mittagessen kaufen, mehr als gefrühstückt hatte sie heute nicht. Um ehrlich zu sich selbst zu sein, musste Jaina sich eingestehen, dass sie doch ziemlich Hunger hatte und ihr Sofa vermisste, auf das sie sich legen konnte, die kleine Schüssel gefüllt mit Cookies und ein Glas Milch dazu wären jetzt genau das Richtige. Aber sie saß hier, in dieser immer noch chaotischen Wohnung und kam sich überflüssig vor, weil die beiden Männer sich wieder gut selbst versorgen konnten. Sie fühlte sich wie, nun ja, wie ein … sie konnte es nicht mal definieren oder umschreiben und vielleicht war das auch besser so. Jaina war der Meinung, wenn man etwas nicht direkt benennen konnte, dann konnte es nur halb so schlimm sein, weil müsste und wollte man etwas beschreiben, dann funktionierte es auch – und Jaina befand sich nicht in solch einer Situation, sie könnte ja einfach gehen.   Sherlock kam zurück aus dem Bad und sah schon gesünder aus, die Dozentin nahm an, dass er sich sein Gesicht gewaschen hatte. Mal davon abgesehen, dass er schon gewaschen worden war.   „Sherlock, mir fällt da gerade etwas ein“, platzte es aus Jaina heraus, bevor sie überhaupt wusste, was ihr denn eingefallen war. Da war was, worüber sie sich heute schon aufgeregt hatte. Im Supermarkt, glaubte sie. Beim Kondom-Vorfall.   „Ja?“, fragte er höflich und holte seine Geige.   Jaina brauchte nicht mehr lange nachzudenken. Es war ihr wieder eingefallen, als sie an die Knochensäge gedacht hatte. „Wen wollen Sie denn heiraten?“ Gleichzeitig fiel ihr auf, wie indiskret diese Frage eigentlich war und dass das jetzt echt irgendwie komisch kam.   „Also hat Cathy Sie angerufen.“   Jaina sagte nichts, weil sie wusste, dass es eine Feststellung war und keine Frage.   „Ich dachte, es wäre eine gute Idee, meine Dankbarkeit so auszudrücken.“   „Wieso zur Hölle sollte das Dankbarkeit zeigen?“, entfuhr es Jaina entsetzt. Wenn das jeder so machen würde! Sie würde in einer riesigen … nunja, sie hätte einen Harem, mit dem sie verheiratet wäre. Das wäre ja grauenhaft! Jaina war jetzt nicht so der Fan von Polygamie, sie stand eher so auf das Traditionelle, die Ehe mit dem Mann, den man liebt und so.   „Cathy ist eindeutig erfolglos auf der Suche nach Männern und das schon seit einer Weile und da John und ich eine Haushälterin gebrauchen könnten-“, setzte er an, verstummte jedoch sofort.   „Das ist doch nicht zu fassen“, stieß Jaina hervor und schüttelte den Kopf. „Ich glaub ich spinne. Sie wollten Cathy aus reinem Selbstnutzen fragen, Sie zu heiraten und das als Dankbarkeit tarnen?! Noch nie hab‘ ich sowas Abwegiges gehört!“ Sie stand auf. Inzwischen wusste sie auch nicht mehr so genau, wann sie Sherlock siezte oder duzte. Es war ihr auch egal, damit kam er schon zurecht. „Wenn Cathy mir erzählt, dass Sie sie wirklich gefragt haben, dann…“ Sie überlegte. Was dann? Wollte sie ihm eine reinhauen? Sie nahm einfach mal an, dass er wohl stärker und geschickter im Faustkampf war als sie. Wollte sie ihn erpressen? Mit was denn? Mit seiner Krankheit? Nein, das würde alle ihre moralischen Grundsätze erstmal außer Kraft setzen und das wollte sie nicht.   „Ich habe davon abgesehen“, meinte Sherlock da gelassen.   „Hä?“ Verwirrt lies sie sich wieder in den Sessel sinken. Langsam verstand sie nichts mehr.   „John würde es nicht akzeptieren. Gut, das hat er vorher auch gesagt.“ Sherlock brach ab und überlegte.   „Ich muss von Sinnen gewesen sein.“   „Glaube ich auch“, versetzte Jaina ihm den Gnadenstoß und lehnte sich zurück. Nach einer halben Stunde hatte Cathy alles zusammengepackt, was sie brauchte und machte sich auf den Weg zur 221b Baker Street, diesmal aber nicht mit dem Taxi, sie beschloss, ein paar Meter zu Fuß zurück zu legen, damit sie wenigstens so tat, als würde sie in Form bleiben wollen. Sie hatte eine volle Tasche und auch die beiden Textzeilen der Zettelchen übersetzt, was bei der Cäsar-Scheibe ziemlich simpel gewesen war.   Sie bog gerade um die Ecke, an der immer ein Bus hielt, als sie sich einbildete, dass jemand ihren Namen rief. Neugierig sah sie sich um, blieb stehen und wunderte sich, was für Vorstellungen sie jetzt wieder hatte.   „Doktor Romeck!“   Sie drehte sich um. Da rief doch wirklich jemand.   „Wo bleibt sie nur?“ Nervös tigerte Jaina in der Wohnung herum, schaute immer wieder auf die Uhr und dachte nicht daran, einen Moment still stehen zu bleiben, nicht mal für den Tee, den trank sie im Laufen. John beobachtete sie angespannt, während Sherlock teilnahmslos an seinem Laptop spielte. „Sonst lässt sie mich nie mit irgendwelchen Leuten länger alleine.“ Außer auf Arbeit, aber da kannte Cathy niemanden, also zählte das nicht. „Es muss was passiert sein. Wieso hat sie ihr Handy nicht mitgenommen! Sherlock!“ Erbost starrte sie ihn an, während sie fast gegen die Wand rannte.   „Was?“, fragte er gelangweilt.   „Hören Sie auf, so unbetroffen zu wirken! Da stimmt was nicht!“, rief Jaina entnervt aus und stellte den Tee hin, lies sich auf die Couch nieder. „Da stimmt irgendwas gar nicht.“   „Woher wollen Sie das wissen?“, fragte Sherlock, schaute Jaina aber nicht an.   „Es ist einfach so, das … ist so aus dem Bauch“, erklärte sie und schaute aus dem Fenster. Die spätnachmittägliche Sonne schien goldorangen durch die Fenster, strahlte Wärme und Freude aus. Nur Jaina war irgendwie ganz kalt. Sie spürte ein dumpfes Ziehen im Bauch, es hatte keinen körperlichen Ursprung, es war mehr, als würde ihr Geist oder etwas anders, viel älteres als die Intelligenz, sie auf etwas aufmerksam machen wollen. Und Jaina wusste, dass es nichts Gutes war. Es war sogar so schlimm, dass sie in der Wärme eine Gänsehaut bekam. Sie sprang wieder auf, weil die Unruhe sie wieder mit eisernem Griff umklammerte. Diese Unruhe war so schlimm, dass sie am liebsten irgendwas umgeschmissen hätte, aber Jaina hielt sich zurück.   „Jaina, wenn du willst, können wir kurz bei eurer Wohnung vorbeischauen“, schlug John vor und stand auf.   „Tatsächlich finde ich, wäre das ganz angemessen.“   „Bitte!“ Sofort stand Jaina an der Tür und hielt sie auf. „Sherlock, wollen Sie vielleicht mitkommen? Cathy würde sich freuen, Sie zu sehen.“   „Ich wage es zu bezweifeln, aber na gut“, sagte er ohne zu zögern, stand auf und zog sich den Blazer zu seiner Anzughose an. Heute trug er ein weißes Hemd von –Jaina überlegte kurz – wahrscheinlich Boss.   „Das brauchen Sie nicht zu bezweifeln.“ Beinahe keifte sie. Irgendetwas machte die Dozentin dermaßen nervös und aufgekratzt, dass sie fast ihre Manieren vergaß. Zwanzig Minuten später standen sie vor der verschlossenen Haustür der Wohnung von Jaina und Cathy, Jaina war dem Explodieren nahe. „Cathy ist nicht hier.“   „Woher weißt du das?“, wollte John wissen.   „Ich höre weder Musik, noch riecht es nach Essen. Und eigentlich klebt sie mir immer einen Bonbon auf den Türgriff“, erklärte Jaina und sah sich um. „Wo ist sie?“ Jaina merkte, wie sie panisch wurde. Sie hatte auf dem Weg hierher im Scotland Yard und im DCC angerufen, nur das DCC konnte ihr Auskunft geben, dass Cathy schon seit mindestens einer Stunde das Gebäude verlassen hatte. Sie war weder in Eile gewesen, noch hatte sie gestresst gewirkt. Naja, wie immer halt, ein wenig fröhlich, aber verärgert. Und andersherum.   „Sie macht was?“, fragte John etwas erschrocken.   „Bonbons an den Türgriff kleben. Als willkommen-daheim Geschenk.“   „Offensichtlich sucht sie eine Familie“, schloss Sherlock von hinten mit leiser Stimme.   „Sherlock!“, schrie Jaina, „Können Sie auch mal einen sinnvollen Beitrag leisten?! Cathy ist weg! Und keiner weiß, wo sie ist!“ Sie lief rot an. „Das ist noch nie passiert!“   „Jaina, beruhige dich, für alles gibt es ein erstes Mal“, sagte John leise und fasste Jaina am Arm. „Wir werden sie jetzt suchen und den Weg von hier bis zum DCC ablaufen und keine Ahnung, Leute fragen oder so“, schlug er vor und zog sie weg von der Tür.   „Hallo meine Freunde. Ich habe mir erlaubt, ein Spiel zu spielen und ich denke, es ist interessant. Da ich eigentlich gegen Mr. Holmes antreten wollte, und niemand das bemerkt hat, musste ich mir leider Ihre kleine Freundin ausleihen. Sie ist sicher. Etwa sechs Stunden oder so.“ „Alter!“ Jaina riss sich von John los und brachte den Zettel, den Sherlock in der Hand hielt, gewaltsam an sich, um ihn durchzulesen. „Sie wurde entführt!?“   „Offensichtlich. Plus Morddrohung. Wie gewöhnlich“, gab Sherlock von sich und drehte sich um. „Können wir jetzt was anderes machen?“   „Nein, Sherlock“, widersprach John, fast sanft. „Wir werden jetzt Cathy suchen.“   „Aber das ist langweilig“, insistierte Sherlock.   „Dann wird dich keiner mehr waschen“, drohte Jaina und da merkte John, dass sie weinerlich in der Garderobe hing und an einem, wohl Cathys, Mantel schnüffelte.   „Sherlock, du wirst mithelfen“, drohte John, während er seinen Mitmieter langsam von Jaina wegzog, damit die ihren Schock verarbeiten konnte. „Es gibt nur Gründe, es zu tun. Außerdem hast du im Moment nur den einen Fall. Und was ist wichtiger? Jemand, den du kennst und magst oder jemand unbekanntes?“   „Mag ich sie?“, fragte Sherlock halb schockiert.   „Du lässt dich von ihr befummeln“, informierte John Sherlock, „da geht man davon aus, dass man den anderen durchaus mag.“ John fragte sich, wie er es dem Detektiv erklären sollte, dass das Waschen einer anderen Person ein Eingriff in die Intimsphäre war und dass man das nur von Leuten machen lies, denen man vertraut. Naja, wahrscheinlich war Sherlock die goldene Ausnahme.   „Hallo! Wollen wir vielleicht mal die Polizei anrufen?“, wollte Jaina plötzlich weinerlich aggressiv wissen, holte aber schon ihr Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer. John schaute nur verwundert rüber. Er hatte gar nicht daran gedacht, dass man das melden musste. Vielleicht war er es einfach zu gewöhnt, dass Sherlock eigentlich alle Probleme in dieser Richtung löste.   „Ja, hallo. Hier ist Professor Doktor Jaina White.“ Kurzes Schweigen. „Ich will eine Entführung melden.“ Wieder Stille. „Meine Freundin, Dr. Dr. Catherine Romeck. Ich hab vor der Wohnung eine Nachricht vom Entführer gefunden.“ Jaina schaute auf den Zettel und unterdrückte die Tränen. Einerseits war sie wirklich besorgt und hatte Angst um ihre Freundin, eine Angst, die man vielleicht auch hatte, wenn man in einem brennenden Zug sitzt. Aber zum anderen war sie auch wütend. Wer nahm sich das Recht heraus, einfach Leute zu stehlen? Und womöglich das Leben anderer damit zu zerstören! „Wie, Sie können jetzt keinen Beamten herschicken?!“, kreischte Jaina plötzlich los und schlug bei der Antwort gegen die Tür. „Sie müssen doch… Nein.“ Ihr Gesicht verzog sich und sie stierte den Zettel an. Jaina hätte die Frau am anderen Ende am liebsten erwürgt. Wieso war die Polizei so unfähig? „Auf dem Zettel steht, dass der Entführer eigentlich Sherlock Holmes für seinen Fall begeistern wollte, aber weil das nicht geht, hat er jetzt Cathy entführt, damit Sherlock aufmerksam darauf wird“, erklärte sie dann fast sachlich, aber immer noch sauer.   „Sehen Sie, dann lassen Sie Sherlock doch den Fall übernehmen“, sagte da die freundliche Frau vom Notruf und legte auf. Jaina schaute schockiert auf das Handy, realisierte, was gesagt worden war und warf einen Blick auf Sherlock. Wenn die beiden ihn nicht kennen gelernt hätten, dann wären Cathy und sie jetzt wahrscheinlich fröhlich am Sofa.     „Verdammt nochmal!“, fluchte sie laut und schmiss das Handy auf den Boden. „Verdammt!“   „Jaina? Was haben sie gesagt?“, wollte John schockiert wissen.   „Gar nichts, was sonst!“, rief sie frustriert. „Dass Sherlock sich darum kümmern muss!“ Verschwommene Umrisse zeichneten sich vor Cathys Augen ab, als sie langsam zu sich kam. Das Licht war sehr grell und sie fühlte sich benommen, aber erfüllt von Schmerzen. Wo war sie? Wieso war sie hier? Was zur Hölle war passiert? Sie öffnete die Augen noch ein bisschen mehr, konzentrierte sich ein wenig und stellte fest, dass sie aufrecht saß. Sie spürte, dass ihre Hände ein bisschen taub waren. Sie schloss die Augen. Ihre Hände waren gefesselt. Oh nein, ich bin entführt worden, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr rechter Fuß war an das rechte Stuhlbein und der linke an das linke Stuhlbein gefesselt. Cathys Kopf rollte nach rechts und sie machte die Augen wieder auf. Diesmal ging es besser, trotzdem taten nicht nur ihre Arme weh, ganz besonders schmerzte ihr Kopf. Wahrscheinlich hatte sie einen starken Schlag abbekommen, sie konnte sich an nichts erinnern, außer dass sie sich mit einem Studienkollegen von damals unterhalten hatte. Und dann – nichts mehr. Sie sah sich um und merkte da erst, dass sie einen ekligen Geschmack im Mund hatte und irgendwas das Atmen schwer machte. Ein Knebel, stellte sie trocken fest und schüttelte den Kopf. Schlimmer konnte es fast nicht kommen. Nun ja, sie könnte nackt sein. Das war sie zum Glück nicht. Sie sah sich um und stellte fest, dass sie sich in einem relativ großen Raum befand, der allerdings kahl und betonartig war. Der Boden war weder gefliest, noch mit Teppich ausgelegt, das Fenster war geschlossen, die Wände kahl und grau. Sie fühlte sich schwach und jeder Muskel tat weh, sie war gefesselt und geknebelt. Und wo war sie?   „Na, fühlen Sie sich schon heimisch?“, wollte da eine höhnische Stimme von der Ecke hinter Cathy wissen. Sie wollte sich umdrehen, aber es ging nicht. Dafür wollte sie was sagen, aber auch das war ihr nicht gegönnt. Wütend und leicht ängstlich huschten ihre Augen dahin, wo sie den Fremden vermutete. „Stimmt, Sie können ja nicht reden.“ Leises, böses Lachen. Cathys Wut wandelte sich in Unbehagen. Sie versuchte trotzdem, das nicht zu zeigen und knurrte.   „Und es gibt keinerlei Hinweise darauf, wer sie entführt hat?“, fragte John Sherlock und lies den Kopf hängen. Fast hatte er es erwartet, schließlich hatte Sherlock keinerlei Einblicke in Jainas und Cathys Leben gehabt. Auch kannte er keinen einzigen der vielen verschiedenen Bekannten der beiden.   „Nein. Wenn ihr erlaubt, würde ich gerne nach Hause gehen“, meinte Sherlock und drehte den beiden anderen den Rücken zu. Sie waren in der Wohnung auf dem Sofa gesessen, Jaina hatte noch dreimal beim Notruf angerufen, jedes Mal aber dieselbe Antwort erhalten. Jetzt schaute sie ihn mit rot unterlaufenen Augen an und schüttelte den Kopf. Jainas Hände zitterten leicht und vor ihr lagen ein paar vollgeweinte Taschentücher.   „Na los, gehen Sie schon, wenn Ihnen gar nichts daran liegt.“ Sie wischte sich über die Augen.   „Sehr schön. Wir sehen uns dann morgen.“ Er lächelte sie gezwungen an, stand auf und verlies die Wohnung, während John im selben Moment eine SMS bekam, die er dezent las. Damit erhellte sich sein Gesicht minimal.   „Jaina, willst du mir vielleicht erzählen, wer gegen Cathy irgendwie einen Groll hegen könnte?“   „Keine Ahnung, eigentlich reden wir nicht über unsere Bekannten“, gestand Jaina und wunderte sich im selben Moment, wieso sie das nie getan hatten. Zumindest nicht so ausführlich. „Naja, nur über die, die uns nerven“, meinte sie dann und dachte scharf nach. Es könnten so viele sein, Cathy hatte nicht gerade einen sanften Umgangston, sie neigte eher dazu, ehrlich einem die Meinung ins Gesicht zu sagen. „Also, da gab es einmal diesen Kerl, Cathy hat ihn gehasst, weil... ach genau, der mich gestalkt hat. Er war ein Semester über uns und hat Humanmedizin studiert, glaub‘ ich. Jedenfalls hat er über Cathy mich kennen gelernt und ist mir auf Schritt und Tritt gefolgt, das war ziemlich krass. Und dann hat sie ihm einmal eine verpasst, vor voll vielen von den coolen Studenten. Das hat ihn ganz schön sauer gemacht. Ich glaub‘, sein Name war irgendwie Logan Adams oder so. Doch, ich glaube, so heißt er. Aber da war nochmal jemand, ein Mädchen, die hat uns beide abscheulichst gehasst, weil ihr Freund was mit Cathy anfangen wollte, aber sie wollte ihn nicht. Das war eine Megan O’Connor. Es gibt so viele, John! Wir haben nicht mehr Freunde als Feinde, es ist anders herum!“   „Aber…“   „Oh, natürlich sind wir beliebt, ich bei den Studenten und Cathy auch und auf Arbeit auch. Aber früher war das anders. Es gab schon viele, die uns gemocht haben, vor allem halt unser gutes Aussehen und unser Charisma, aber es war so mehr… mehr Leute waren wirklich neidisch oder eifersüchtig.“ Jaina wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Es würde Cathy nichts bringen, wenn sie hier daheim rumsaß und heulte. Das war nicht so ihre Absicht.   „Naja, Sherlock hat mir vorhin geschrieben, dass er sich sehr wohl darum kümmern wird. Er stellt nur von daheim aus seine Nachforschungen an und wahrscheinlich geht er jetzt auch schnell zu Lestrade und zum DCC. Das kann er alleine am besten“, versuchte John dann Jaina aufzumuntern. Er legte seine Hand auf Jainas Knie und beugte sich zu ihr vor. „Ich glaub, du weißt am besten, dass so ein Entführer überhaupt keine Ahnung hat, mit was er sich anlegt, wenn er euch beide als Gegner hat.“   „Oh, er hat definitiv keine Ahnung.“ Böse lächelte Jaina, dann schaute sie aus dem Fenster. Wurde Zeit, dass sie jetzt auch mal in die Hände spuckte und mithalf, untätig herumsitzen war nicht so ihr Stil. Nein, überhaupt nicht. Sie stand auf und richtete sich die Haare. „Ich mach mich schnell fertig, dann gehen wir los und suchen die Leute, die es sein könnten.“ Damit ging sie ins Badezimmer und lies John allein im Wohnzimmer zurück.   Dieser blickte der jungen Frau schweigend stolz nach. Auch wenn Jaina es wahrscheinlich nicht so wahrnahm, war sie doch eines der mutigsten Mädchen, das er je getroffen hatte. Sie wusste auch, was wann zu tun war und wie sie mit einer Situation umgehen musste, es wirkte fast so, als hätte sie einen inneren Notfallplan, der für alle Fälle Geltung hatte. John fand sowas bemerkenswert, eigentlich entwickelten nur Soldaten solche Strategien, dass er es gerade hier wieder antreffen würde, hätte er nie gedacht.   „Das hätten Sie nie gedacht, dass es einmal anders herum laufen würde, nicht wahr?“, höhnte die Stimme, während Cathy immer noch versuchte, ihre Finger zum Leben zu erwecken. Zumindest bitzelten diese, das zerstreute schonmal den Zweifel, sie wären vom Blutkreislauf abgeschlossen.   „Sonst wollten sie alle dich oder deine Freundin. Sonst hast du auch alles bekommen, was du wolltest. Und jetzt willst du jemanden und er gehört mir“, keifte die Stimme. Hää?, dachte sich Cathy, Wovon spricht der? „Ich meine damit, Sherlock gehört mir. Schmink ihn dir einfach ab.“ Verdutzt runzelte Cathy die Stirn. „Er gehört mir, ich werde ihn töten.“   Aber ich will den doch noch gar nicht, widersprach Cathy in Gedanken, später vielleicht. Aber jetzt will ich doch erstmal frei sein.   Dann erschien der Fremde in ihrem Gesichtsfeld. Es war ein Mann mittleren Alters, er sah sehr ernst aus. Er trug ein schwarzes Hemd und eine dunkelblaue Jeans, das dichte blonde Haar war zurückgegeelt und das Grinsen in seinem Gesicht fand Cathy etwas schmierig. Aber sie kannte ihn und bei dem Gedanken wurde ihr schlecht. Sie war froh, geknebelt zu sein, sonst hätte sie entweder geflucht oder ihm die verbale Faust gegeben.   Jaina ging mit Hochdruck an die Sache ran, besuchte das DCC, quetschte jeden Mitarbeiter aus und versuchte dabei, nicht allzu aufdringlich zu wirken, was ihre Sorge jedoch nicht zuließ. Ein älterer Pathologe, der Cathys Lieblingskollege war, erkannte den Ernst der Situation an Jainas Verhalten und führte sie und John in sein Büro.   „Jaina, mein Kind, ich nehme an, es ist etwas schlimmes passiert“, fing er an und reichte beiden einen Traubenzucker. Wortlos griff Jaina danach, sie war froh, dass der Mann wusste, wie man Gehirne in Schwung brachte. Sie nickte und steckte sich das Zuckerstück in den Mund. John steckte es in seine Tasche und beschloss, dass er hier nichts zu melden hatte.   „Dr. McCorn, wer könnte Cathy und mich voll hassen?“, fragte Jaina gleich und zerbiss den weichen Zucker und spürte, wie sie wieder am liebsten weinen würde. Der alte Mann, der so viel Zuversicht ausstrahlte, lächelte sie aufmunternd an.   „Erst einmal, muss es denn gleich hassen sein? Und für das zweite, ich habe tatsächlich in letzter Zeit viele Beschwerden über die Telefonate, die Cathy mit Ihnen führt, bekommen. Außerdem wollte Jonathan gestern wissen, wo Sie beide sind, er habe gehört, dass Sie jetzt mit Mr. Holmes befreundet sind“, erklärte der Pathologe und sah John fragend an.   „Ich bin Dr. Watson, ein Freund von Mr. Holmes. Es stimmt, die beiden haben bei Sherlock und mir übernachtet, weil wir akut krank waren und uns nicht mal Wasser aus der Küche holen konnten“, stellte er sich kurz vor und erläuterte, wieso sie sich kannten. Irgendwie dachte John, war das nötig gewesen.   „Ich werde ihn sehr langsam töten. Und vielleicht, kommt ganz drauf an wie kooperativ du bist, werde ich dich verschonen“, fuhr er fort und ging vor Cathy in die Hocke, um sie von unten gehässig anzusehen. Schockiert sah sie ihn an und plötzlich war der Knebel im Weg. Sie wollte eigentlich atmen und ruhig bleiben, aber der Anblick der Waffe, die er zog, überwog doch und die Angst und das Grauen bewirkten, dass sie fast panisch im Stuhl nach hinten rutschte. Sie wusste, es war eine Walter P22, 9mm. Davon hatte sie schon ein paar Tote untersucht. Und wie soll ich nicht kooperativ sein?, fragte sie sich, halb panisch und halb ironisch. Cathy merkte, wie ihr das Blut in den Ohren rauschte, als er die Waffe auf sie richtete. „Ich dachte, ich würde mich nie rächen können. Aber erst-“, er unterbrach sich und schaute sich um, „sollte ich diesen Raum wohl hübscher gestalten. Lauf nicht weg, kleine Catherine.“   Wie auch, du behinderte Schwuchtel!?   „Jonathan?“, fragte Jaina entgeistert. Sie konnte sich noch gut an den jungen Mann erinnern. Er hatte die beiden immer misstrauisch beobachtet, irgendwann hatte sich herausgestellt, dass er schwul war und somit Jaina und Cathy für ihn eine potentielle Gefahr darstellten. Er wirkte auch mehr feminin, mit dem damals schulterlangem blonden Haar, den eisblauen Augen und dem schmalen Körper. Sie hatte ihn nach der Studienzeit nie wieder gesehen. „Er arbeitet hier?“   „Naja, ein Praktikum“, meinte der ältere Herr und zuckte mit den Schultern. „Hat Cathy immer umkreist wie ein Aasgeier. Ich dachte, er steht nur auf sie.“   „John, wir müssen zu Sherlock!“, rief Jaina aufgeregt, sprang auf und schüttelte dem Pathologen die Hand.   „Vielen, vielen Dank! Vielleicht haben Sie uns gerade wirklich geholfen!“ Damit stürmte sie aus dem Büro, John hinter ihr hereilend. Draußen hielt gleich ein Taxi, in welches sie sprang. „221b Baker Street!“ Dort erwartete Sherlock die beiden bereits.   „Wir fahren in die St. Vincent Street. Dort ist Cathy.“   „Häää?“, entfuhr es Jaina.   „Der Entführer war so dumm, sie auf offener Straße niederzuschlagen. Viele Bewohner haben nichts gesehen, aber wenn man die älteren fragt, erzählen die einem gerne, was passiert über den Tag. Er hat sie mit Richtung Süden genommen, so weit ist sie gar nicht von uns weg gewesen. Der Entführer musste sich also auch schnell einen geeigneten Ort suchen. In der St. Vincent Street gibt es zwei leere Lagerhäuser, beide ziemlich groß, perfekt geeignet für solch ein Unterfangen. Also werden wir jetzt dorthin gehen. Lestrade kommt nach.“   „Aber…“, setzte Jaina an, verstummte dann aber. Besser, sie gingen jetzt zu dritt los und überwältigten einen einzelnen Mann, als später mit einem ganzen Einsatzkommando. Außerdem war es jetzt schon fast später Abend und Jaina wollte dich darauf vertrauen, dass der Entführer auch sein Wort hielt. „Was ist, wenn es mehr sind?“, fragte sie dann. Diese Möglichkeit bestand ebenfalls. Wortlos zog John eine Waffe aus seiner Jacke, woraufhin Jaina einen kleinen Schritt zurückwich. Seit wann durfte man sowas mit sich herumtragen?! Voll der Kriminelle!   „Nun, John hat seine Waffe und ich auch.“ Damit zeigte Sherlock auf seinen Kopf.   „Äh.. ja.“ Kopfschüttelnd betrachtete die Dozentin die zwei Männer vor sich und kam zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich besser war, die beiden in dem Glauben zu lassen, dass das reichte, um einen Entführer zu überwältigen. Vielleicht war es ja so, schließlich wollte der ja Sherlock. Überhaupt! Das hätte Jaina fast vergessen! „Sherlock, auf dem Zettel stand, dass der Entführer eigentlich Sie will!“   „Ach, das ist doch nur Geschwätz“, winkte der Detektiv ab und richtete sein Jackett. „Gehen wir?“   Inzwischen war es halb neun und er hatte immer noch nichts von Jonathan gehört. So war das nicht geplant gewesen und er spielte mit dem Gedanken, diesen kleinen Nichtsnutz ausschalten zu lassen. Es brauchte nur einen einzigen Anruf, einen kurzen Satz, dann wäre das Problem gelöst. Doch er wollte Jonathan noch eine Chance geben, schließlich hatte dieser Möglichkeiten. Also wählte er dessen Nummer. Nach kurzem Klingeln hob er ab.   „Jonathan.“   „Mister, es tut mir leid“, erklang die Stimme des ehemaligen Studenten. Im Hintergrund hörte man das Kratzen von Holz über Beton und von Stoff ersticktes…Gefluche? Geschreie? „Aber ich habe noch etwas tolles gemacht!“   Sofort war er misstrauisch. Hatte Jonathan – ohne es zu wissen – einen Hinweis auf seine Identität gegeben? Oder darauf, wo er sich aufhielt? „Was?“, wollte er ruhig wissen.   „Ich habe einen kleinen Brief hinterlassen, in dem ich eindeutig um Sherlock gebeten habe“, freute sich Jonathan wie ein Schnitzel, dann hörte man ihn fluchen und auf etwas schlagen.   Er schlug sich gegen die Stirn, holte tief Luft, um gelassen zu bleiben. Er konzentrierte sich auf etwas anderes. „Was hast du gerade geschlagen?“   „Na, die Gefangene“, erwiderte Jonathan und lies es nochmal klatschen, diesmal aber mit einer eindeutigen Antwort, die aus einem gedämpften Schrei bestand.   „Hör‘ auf damit. Sie soll noch lebendig aussehen, wenn sie gefunden wird. Außerdem solltest du sie nur entführen.“ Er war enttäuscht und wusste, dass Jonathan ihn verraten würde und das würde alles nur schlimmer machen. Aber dennoch war sein Ziel erreicht, Sherlock musste sich mit diesem sehr einfachen Rätsel befassen. Es war nur ein kleines Einleitungsspiel, die größeren, besseren, hob er für später auf. Wortlos legte er auf und tätigte einen anderen Anruf.   Unruhig hatte Cathy den Einbruch der Dunkelheit beobachtet, es war bestimmt schon halb Zehn. Ihr Entführer, den sie als Jonathan wiedererkannt hatte, war kurz pinkeln gegangen, sodass sie endlich einmal fünf Minuten hatte, in welchen sie keine verpasst bekam. Seit wann waren Schwule eigentlich so gewalttätig? Ihre Oberschenkel brannten, an ihrer linken Wange hatte er auch einen guten Treffer gelandet – wie auch nicht, sie konnte sich nicht so schnell bewegen, wenn sie den Stuhl noch mitnehmen musste. Jetzt dachte sie an Jaina, dass diese bestimmt schon zu Tode besorgt war und ob John und Sherlock schon davon wussten. Sie hoffte es inständig. Bei dem Gedanken, noch länger mit Jonathan in dieser Lagerhalle zu sein – das hatte er ihr erzählt – drehte sich Cathy der Magen um und unweigerlich schossen ihr Tränen in die Augen. Er hatte ihr auf die Finger geschlagen! Und die dünne Stoffhose, die sie trug, machte die Schläge auf die Beine auch nicht weniger schmerzhaft.   „Catherine, meine Liebe, da bin ich wieder“, lachte der Blonde, als er den Raum betrat, die Hemdsärmel hochgekrempelt. Innerlich seufzte sie und versuchte, ihn nicht zu beachten. „Jetzt wird’s lustig.“ Dies ankündigend kam er näher zu ihr, ein breites und zahnfleischentblößendes Lächeln im Gesicht, das Cathy eine erstklassige Gänsehaut bescherte. Leicht schüttelte sie den Kopf, leider half das nichts und Jonathan kam näher.   „Ich habe nur eine Frage an dich. Oder mehr“, fing er an und stützte sich auf den Armlehnen des Stuhls ab, seine rotgeschwitzte Stirn berührte fast ihre. Kurz flackerte der Gedanke in Cathy auf, ob er jetzt wohl gerade eben mastrubiert hatte, dann dachte sie lieber weg. Außerdem fand sie den Gedanken an sich, ihn irgendwie im Gesicht – wenn auch nur mit der Stirn – zu berühren, widerwärtig. „Was meinst du, wo sollte dich der Mistkerl mal anfassen?“   Entsetzt schaute Cathy ihn an. Oyy, langsam wird’s uncool!, schoss es ihr durch den Kopf. Und genauso schnell, wie der Gedanke wieder weg war, fand sich Jonathans Hand an ihrem Oberschenkel. „Ich wette, er soll hier anfangen.“ Cathy schaute weg, fixierte die kleinen Staubflocken, die im Zimmer herumwirbelten. Sie hatte das schlechte Gefühl, in so einem Krimi-Thriller-Roman festzustecken und gerade eine etwas schlimmere Erfahrung zu sammeln. Sie spürte genau, wie seine Hand langsam und unangenehm zwickend ihren Oberschenkel nach oben folgte. Doch bevor er sein Ziel erreicht hatte, schallte ein lauter Knall durch den Raum.   Kurz war sie wie betäubt, sie spürte einen Luftzug an sich vorbeizischen, es roch metallisch. Jonathan vor ihr blickte sie entsetzt an, alle Spannung wich aus seinem Körper und auf seiner Stirn prangte ein tiefrotes, schwarz gerändertes Loch. Es kam Cathy wie in Zeitlupe vor, als Jonathan in die Knie ging, der Oberkörper vornüber fiel, seine Waffe aus der Hosentasche glitt und er dann endgültig zum Fall kam, auf ihr aufschlug, abrutschte und direkt vor ihren Füßen landete, sodass sein Haar ihre Schuhe berührte. Sein Blut bildete rasch eine große Lache. Cathy hoffte, es wäre John gewesen, aber sie wusste, er war es nicht. Und jetzt war sie ganz alleine mit irgendeinem Scharfschützen. Sie vergaß ihre Vorsätze, sowas zu ignorieren und fing an zu schreien. Und zu weinen.   „Habt ihr das gehört?!“, rief Jaina ungehalten und sprang auf. Sie hatte keine Lust mehr, vor diesem Lagerhaus zu warten und aufzupassen, ob irgendjemand in das Gebäude ging oder es verlies. Da wurde geschossen und vielleicht war Cathy das Ziel! Ohne noch auf John oder Sherlock zu warten, sprintete sie los und war innerhalb von zwei Minuten im Lagerhaus. Dort drinnen war es ziemlich kühl, nicht so drückend warm wie draußen. Schnell hatte Jaina eine Gänsehaut, aber die kam auch von dem Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Aber sie hörte noch etwas anderes. Ein dumpfes Geräusch, das weiter aus dem Inneren kam. Vorsichtig schlich Jaina den Gang entlang, alle ihre Sinne waren bis zum Bersten gespannt. Jede Sekunde konnte dieser verrückte Kidnapper um die Ecke springen und sie erschießen. Und Jaina hatte nicht vor, zu sterben, zumindest jetzt noch nicht. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie Schritte hörte, die vom Eingang kamen und dann wurde sie von Sherlock überholt. Der hatte gar keine Angst und den totalen Stechschritt drauf. Sofort eilte Jaina hinterher. Der sollte mal vorsichtiger sein, der war doch eigentlich das Ziel. Jaina schüttelte den Kopf, folgte ihm aber unbeirrt, das Trappeln ihrer Füße wurde von den Wänden unheimlich wiedergehallt. Sie fühlte sich wie in einem schlechten Horrorfilm, bei dem es auch im Gebäude total dunkel war, obwohl draußen noch die Sonne schien. Gut, das war jetzt nicht der Fall, aber in solchen Filmen rannten die Leute auch immer in irgendwelchen schmodderigen und dunklen und kühlen, kahlen Gängen herum, um entweder vor irgendwas zu fliehen oder jemanden zu finden. Meistens war der dann schon tot. Oh nein!, dachte Jaina. Das darf ich nicht denken! Sie versuchte, das Bild, das sich ihr aufdrängte, zu vergessen und schaffte es bald auch. Das stumpfe Geräusch, das einem abgewürgten Weinen gleichkam, wurde immer lauter, bis sie vor einer halb geöffneten Türe standen. Das Geräusch hörte auf.   „Sie warten“, orderte Sherlock da leise an, schob Jaina zurück, was sie nur zu gerne zuließ. Sie wollte trotzdem keine Leiche sehen, das war ganz anders, als wenn Cathy die Toten aufschnitt, da war sie sich ziemlich sicher. Es roch auch nicht gut, metallisch und nach Blut eben.   Sherlock schob die Tür ein bisschen weiter auf und spähte in den Raum.   Beinahe hätte Cathy einen Nervenzusammenbruch bekommen, als sie bemerkte, dass sich die Tür bewegte. Sie hatte fest angenommen, dass der Scharfschütze nach unten gekommen war um ihr von Angesicht zu Angesicht ihr hübsches Gehirn herauszupusten. Doch dann sah sie eine ihr bekannte Frisur und eine Welle der Erleichterung durchflutete sie. Sie war sogar so froh, dass sie sich erlaubte, nochmal kurz zu weinen.   Sherlocks Blick fiel zuerst auf sie, dann auf den Toten vor ihren Füßen. Er trat ein, Abstand zu der Leiche haltend und kam zu Cathy rüber. Sie konnte nichts machen, außer ihn dankbar anzusehen. Sie war nicht lange gefangen gewesen – aber für den Anfang war das mehr als genug!   „Bist du okay?“, wollte Sherlock wissen, woraufhin sie automatisch nickte. Entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber sie hatte noch alle Gliedmaßen, gebrochen war auch nichts, also war sie doch noch ganz okay. Leider nahm der Detektiv das als Aufforderung, erstmal den Toten zu untersuchen. Aus ihrer Erleichterung wurde so in Sekundenschnelle Wut, sodass sie mit dem Stuhl nach vorne rutschte und Sherlock damit anstieß. Dann deutete sie mit ihrem Kopf auf die Fußfesseln.   „Sherlock, wie wär’s mal damit, sie zu befreien?“, schimpfte da Jaina, die in den Raum gerauscht kam. „Mann! Ich dachte, hier drin wär’s gefährlich, weil Sie gar nichts mehr gesagt haben!“ Sofort kniete sie neben Cathy, weinte vor Freude, dass der komische Fremde und nicht sie erschossen worden war und löste die Fußfesseln. Cathy war überglücklich, ihre Freundin gesund und munter zu sehen, dass alles gut war. Vor Erleichterung weinte sie noch ein wenig mehr, wobei sie sich nicht mal schämte, was sonst der Fall war. Sherlock löste in der Zeit die Handfesseln und trat vor Cathy.   „Du solltest nicht mehr alleine deine Wohnung verlassen. Am besten ziehst du ganz bei mir ein“, schlug er selbstherrlich vor und grinste kurz. Dann befasste er sich wieder mit dem Toten.   „Cathy! Was zur.. was ist das für ein blauer Fleck da?“ Entsetzt fasste Jaina auf die linke Wange von Cathy, die war blau und ein wenig geschwollen. Ein Fleck war das jetzt ja nicht mehr. „Hat der das gemacht?“ Sie zeigte auf den Toten, woraufhin die Ärztin nickte. Entschlossen stand Jaina auf, stemmte die Hände in die Hüfte und trat der Leiche mit vollem Karacho gegen den Kopf. Zweimal. „Du Arsch! Das hast du davon, meine beste Freundin zu entführen! Das ist kein Spaß! Da schaust du, he? Nee, du schaust nämlich gar nicht mehr!“, schrie sie dann und atmete ein paar mal tief ein. „So. Jetzt geht’s mir besser.“ Stolz schaute Cathy Jaina an. Da war doch Potential!   „Sag mal, wie hast du das eigentlich ausgehalten, mit diesem ekligen Knebel im Mund? So eine Redesperre tut doch keinem gut“, befand Jaina und entfernte langsam den Stoffbatzen. Vorsichtig bewegte Cathy ihren Kiefer.   „Ich glaub, ich muss sabbern“, sagte sie dann leise und hielt sich den Knebel vor den Mund. „Iiih.“ Sie grinste, während sie unbeholfen in das Tuch speichelte.   „Wie geht’s deinen Füßen und Händen?“, wollte Jaina wissen, konnte sich das Grinsen aber nicht verkneifen. Es war so unrealistisch, diese ganze Situation.   „Ich glaub, ich kann jetzt noch nicht laufen“, erwiderte Cathy und schaute auf ihre Beine, die sich seltsam kraftlos anfühlten. Zumindest waren sie nicht abgestorben, aber bestimmt betäubt, da musste der Blutfluss erst langsam wieder hinkommen. Sie wischte sich mit dem Unterarm die Augen trocken und schmiss den Knebel schwach in die Ecke. „Dieser Stuhl war so unbequem!“     Zehn Minuten später kam Jaina mit Sherlock aus dem Gebäude heraus, während Cathy auf Sherlocks Rücken getragen wurde. Sie war ziemlich müde geworden, Jaina dagegen war total aufgedreht und sauer und glücklich. Alles zusammen irgendwie. Und John hatte draußen warten müssen, um Lestrade zu empfangen, da tat er Jaina ein bisschen leid, dass er die Loser-Rolle bekommen hatte. Aber das war ihr auch irgendwie egal, wär er halt einfach mitgegangen.   „Sherlock! Wo ist der Arsch?“, wollte John sofort wissen, als die drei bei ihm ankamen.   „Der liegt tot rum!“, verkündete Jaina und umarmte John fest, sie hatte das Bedürfnis, ihre Freude jedem zu zeigen, und er war der dritte, dem dieses Schicksal zuteil wurde.   „Das ist jetzt etwas pietätlos“, kommentierte dieser nur, musste aber auch leicht grinsen.   „Ach was!“, widersprach Jaina und lies John los. Dieser warf einen vorsichtigen Blick zu Cathy, diese zwinkerte ihm zu und lehnte sich dann entspannt gegen Sherlocks Rücken, um dort ein wenig zu dösen. Kapitel 6: COMFORTING --------------------- “The antidote for fifty enemies is one friend.” ~Aristoteles   Den nächsten Tag verbrachten Jaina und John damit, einen halben Umzug zu organisieren. Auch, wenn es Cathy übertrieben fand, war die Mathedozentin der Meinung – und John, sowie Sherlock, teilten diese – dass es in der Wohnung inzwischen zu unsicher sei. Also wurde das ganze wichtige mitgenommen, die Ordner mit den Akten, Kleidung und die Lieblingssüßigkeiten der beiden jungen Frauen waren die erste Ladung gewesen. Während der ganzen Zeit fragte Jaina John aus, Sachen über seine Vergangenheit, seine Zukunftspläne – wobei sie sich da etwas komisch fühlte, der Mann war 40 und hatte wahrscheinlich schon die Hälfte seines Lebens herum, so viel an Zukunft war da nicht mehr übrig – und seine Hobbys. Irgendwann kamen sie auch auf das jeweils andere Geschlecht zu sprechen und John fand, dass es jetzt der richtige Zeitpunkt war, Sarah zu erwähnen.   „Also, John, du bist nicht fest liiert, oder?“, fragte Jaina freundlich nach.   „Nein“, antwortete er ehrlich. „Aber ich habe eine Freundin“, schob er gleich nach. Nur, um Unklarheiten zu beseitigen, die schon ewig da waren. Fast entschuldigend schaute er Jaina an, während er eine Tasche voller Klamotten ins Taxi lud. Diese lächelte aber fröhlich.   „Sehr gut.“ Zufrieden schaute sie ihn an. „Weil ich finde es schwierig, wenn Cathy in einer Wohnung wohnt, in der zwei Single-Männer leben.“ Sie hievte ein paar schwere Ordner in den Kofferraum und fühlte sich ein bisschen übernommen.   „Entschuldigung, aber Jaina – soviel ich weiß, bist du doch auch Single?“   „Schon, aber ich habe ein Date heute. Obwohl ich nicht weiß, ob ich wirklich hingehen soll. Ich lasse Cathy ungern alleine.“   „Also, so wie ich sie kenne, wird sie uns auf Arbeit scheuchen und dich danach zu deinem Date. Sie hasst es, Leute zu behindern“, versicherte John und hielt Jaina die Taxitüre auf, sodass sie einsteigen konnte,nachdem sie die Wohnung abgesperrt hatte. Das hier war die letzte Ladung gewesen, danach hieß es dann, in der 221b Baker Street auf- und einräumen. Und dann, im Taxi, „Du hast Dates?!“   „Klar, wieso schaust du so ungläubig?“ Leise lachte Jaina.   „Keine Ahnung, ich dachte, du tickst ähnlich wie Sherlock“, gab John peinlich berührt zu.   „Nein, leider nicht“, meinte Jaina nach kurzem Überlegen. „Ich hab‘ nur weniger Gelegenheit, überhaupt ein Treffen zu organisieren. Aber das heißt nicht, dass ich dem abgeneigt bin.“   „Hmm, das ist ein Argument“, gab John grinsend zu und lehnte sich zurück.   „Und, wer ist deine Freundin?“, fragte Jaina dann vollkommen unaufdringlich nach. Natürlich wollte sie alles wissen, die kam bestimmt dann auch mal vorbei und vielleicht wäre es besser, wenn sich dann sie und Cathy irgendwo versteckten, bevor diese Fremde auch noch die zwei hübschen Doktorinnen sehen musste.   „Sie heißt Sarah und ist Ärztin, so wie ich.“ Verträumt schaute John aus dem Fenster und dachte an die blonde Frau mit den sprühenden blauen Augen, die ihn immer wieder zum Lachen brachte und auf ihre erwachsene Weise so schön war. Natürlich war sie ganz anders als seine beiden neuen Mitbewohnerinnen, aber das machte es wahrscheinlich aus, Sarah war bei weitem nicht so aufbrausend wie Jaina oder Cathy.   „Und sie ist die wundervollste Person, der ich seit langem begegnet bin.“ Nur, um das mal festzuhalten. John wollte nicht, dass Jaina irgendwelche Sachen erzählte, die sich später als falsch herausstellten. Doch sie schwieg nur und lächelte.   Jaina war beruhigt bei der Aussage, freute sich für John und dachte daran, dass die Zeit in der einstigen Männer-WG vielleicht doch nicht ganz so schlimm werden würde. John wäre in der Lage, sich um die – manchmal wirklich faulen – Mädchen zu kümmern, vor allem wenn es ums Essen ging. Und wenn diese Sarah auch mal vorbeikam, und Jaina und Cathy vorzugsweise inzwischen mal kennengelernt hatte, könnte diese auch gleich mal den Haushalt schmeißen. Cathy tat unterdessen das, was sie am besten konnte: So tun, als würde sie schlafen. Sie hoffte auch, dass Sherlock ihr das glauben würde, denn sie fühlte sich immer noch ein wenig gerädert, ganz davon abgesehen, dass keiner der drei von den ganzen blauen Flecken wusste. Sie wollte das so lange wie möglich geheim halten, es würde nur für Aufregung sorgen und keinem was helfen.   „Hey, wach mal auf“, bestimmte da Sherlock schon zum vierten Mal. Er stand direkt neben ihrem Gesicht und es fiel der Rechtsmedizinerin redlich schwer, nicht zu lachen. Stattdessen atmete sie tief und kniff die Augen zusammen. Sie konnte es ja nicht ewig herausziehen, also machte sie lieber gleich die Augen auf. Sie erkannte eindeutig Beine. Sherlocks Beine.   „Seien Sie still“, flüsterte sie dann, bewegte sich aber nicht.   „Dutz mich mal endlich wieder“, forderte er sie unbeeindruckt auf. „Und mach dir Frühstück.“   „Hauen Sie ab“, grummelte Cathy und drehte sich um.   „Nein! Nicht. Aufwachen, hab‘ ich gesagt!“, insistierte Sherlock und packte Cathy etwas grober als gedacht am Oberarm. Sofort saß Cathy am Sofa, mit riesigen Augen und aufgerissenem Mund. Entsetzt schaute sie ihn an.   „Auuuuuuu“, machte sie dann ganz leise, als sie ausatmete. Er hatte voll eine der Lieblingsstellen des Entführers erwischt. Und so richtig reingedrückt. Verwirrt schaute Sherlock sie an, dann wirkte er fast ein wenig genervt. „Was?“   „Das tat weh“, erklärte sie dann und zog den Ärmel ihres Oberteils nach oben, sodass Sherlock ansatzweise den riesigen blauen Fleck sehen konnte. Er war davon allerdings keineswegs beeindruckt. Eher sachlich musterte er die Fläche und drehte sich um. „Hallo? Willst du dich vielleicht um mich kümmern?“   „Wieso denn?“, wollte Sherlock ehrlich überrascht wissen. Ein einziger blauer Fleck und die Mädchen weinen wieder, sowas fand er immer total übertrieben.   „Weil ich noch nicht laufen kann?“, schlug Cathy müde und erschöpft vor, vielleicht klang sie kurz wütend, aber wirklich nur minikurz, weil sie noch zu schwach war, um richtige Wut zu verspüren.   „Wieso kannst du nicht laufen?“   Seufzend schlug Cathy die Decke zurück – was schon an ihre Schmerzgrenze stieß – und fing an, ihre Hose hochzukrempeln. „Aber du darfst weder Jaina noch John davon erzählen.“   „Was willst du mir zeigen?“   „Ach“, fing Cathy an, überlegte es sich dann aber. Sherlock würde mit Sicherheit plaudern. Und sie würde es nicht ertragen, wenn sich jeder Sorgen um sie machte. Sie stülpte die Hose runter. „Mein perfekt rasiertes Bein. Aber das ist für dich ja sowieso nicht von Interesse. Weil, Frauen und so sind total uninteressant.“   Sherlock setzte sich zu ihr aufs Sofa und schaute Cathy nicht allzu lange an. Der subtile Seitenhieb war vermutlich komplett an ihm vorbeigegangen.   „Tee wäre nett“, meinte sie, sank zurück und deckte sich wieder zu. Eigentlich musste sie schlimm Pipi, aber in diesem Zustand war aufs Sofa pinkeln vielleicht sogar angenehmer und die bessere Option.   Sherlock hingegen dachte gar nicht daran, diesem Ärgernis von Mädchen irgendeinen Gefallen zu tun, sondern legte sich ebenfalls aufs Sofa, sodass seine Füße direkt neben Cathys Hinterkopf waren und ihre neben seinem Rücken. Er selbst wollte jetzt nämlich auch mal schlafen und fand es angenehm, jemand im Raum zu haben, das war ungemein beruhigend, hatte er vor einiger Zeit schon festgestellt. Aber es war irgendwie unbequem und Sherlock hatte den Grund sehr schnell herausgefunden. Die Decke. Ihm war ein bisschen frisch und Cathy musste nicht frieren. Also beschloss er, dass auch er nicht frieren wollte, deckte Cathy auf, legte sich passend hin und deckte beide zu.   Entsetzt schaute die Rechtsmedizinerin zu, wie der Abstand zwischen Sherlock und ihr schrumpfte und schrumpfte. Er ist schon heiß, dachte sie dabei, aber was soll das bitte?!   „Sherlock?“, murmelte sie seine Füße an. Zu seinem Glück rochen die nicht streng.   Er antwortete nicht, sondern legte einen Arm um ihre Knöchel. Cathy gab auf, schloss die Augen und versuchte, einzuschlafen, sowie Sherlock es anscheinend schon getan hatte. Ging nur nicht so einfach, wenn sie ungefähr jeden Zentimeter von seinem Körper an ihrem spürte, so groß war das Sofa dann doch nicht.   Cathy seufzte und kuschelte sich – in Ermangelung der Möglichkeit, es sich bequem zu machen – an Sherlocks Beine.   Jaina fühlte sich schon besser, als sie in die 221b Baker Street einbogen und sie sich wieder mit John unterhielt. Die Schrecken des gestrigen Tages waren zwar immer noch präsent, aber dennoch schien das jetzt so wie ein böser Traum, ein wenig surrealistisch und fantastisch. Sie fand es gut, dass sie sich abgelenkt hatte mit der Arbeit und war froh, dass sie Jim noch nicht abgesagt hatte. Jaina fand, dass der Alltag die beste Möglichkeit war, um schlimmes zu ver-arbeiten. Man könnte auch in Therapie gehen, aber Jaina fand, wenn man selber in der Lage war, sich wieder gut zu fühlen und keine Angstzustände bekam – wozu dann Geld aus dem Fenster werfen? Das konnte man anders besser anlegen. Zum Beispiel in alte Statuetten oder kulturelles Gut, das dann in der Wohnung Eindruck machte.   „Du warst gestern Abend jedenfalls total mutig“, lobte John sie mitten im Gespräch und, nachdem das Taxi angehalten hatte, öffnete er ihr die Tür. „So schnell hab ich noch nie jemanden aufspringen und handeln sehen, nicht mal im Krieg.“   Tja, ich bin halt die bessere Soldatin, dachte die Dozentin stolz und ein bisschen selbstgefällig, schließlich hatte John in dem Punkt wirklich Recht. Andere hätten gezögert und auf die Polizei gewartet, aber so war Jaina nicht. Wenn jemand in Gefahr schwebte, dann musste sie einfach los. Das geboten schon der Anstand und alles eigentlich, was man in der Schule lernte. So dachte sie jedenfalls, auch wenn sie oft allein damit dastand.   „Danke“, sagte sie dann doch artig, stieg aus und half John dann dabei, die ganzen Sachen aus dem Kofferraum zu holen. Es war – wie vorher auch schon – eine Heidenarbeit und sehr anstrengend. Jaina war froh, ihr einfaches, lila Top und die kurze Jeans Marke Eigenbau angezogen zu haben, die pralle Sonne am Rücken war nicht gerade das angenehmste. Sie lief vor zum Taximann und zahlte. Auch auf ihre Schuhwahl war sie stolz heute, einfache Sandalen ohne Absatz oder Schnick-Schnack. Sehr bequem und irgendwie auch hübsch.   „Jedenfalls wärst du ein guter Stabsoffizier“, grinste John, nahm den Rucksack und zwei Kartons und begann, die Treppen hochzusteigen. Nachdenklich schaute Jaina ihm nach. Vielleicht sollte sie diesen Berufszweig wirklich mal ausprobieren? Wäre bestimmt nicht so schwer, sie könnte wahrscheinlich mit ein bisschen mehr Einfluss sogar einige Kriege eindämmen. Ja, schön wär’s. Wäre sie halt in die Armee und nicht an die Uni.   „Find ich auch“, murmelte sie grinsend, nahm zwei volle Taschen und tigerte dann hinter John her, sich vorstellend, wie sie die Welt verbessern würde, wie sie die Militär-Struktur ändern würde und überhaupt täte sich unter ihrem Kommando ganz schön was ändern. Sofort fand sie sich viel cooler als vorher. Jaina wollte John gerade erzählen, wie schwer diese Taschen waren und ihn nötigen, ihr eine abzunehmen – obwohl es zur Wohnungstür ungefähr nur noch zwei Schritte waren und er sie schon offen hatte – als dieser ein Geräusch von sich gab, was sich nun mal so gar nicht zuordnen konnte. Es klang halb wie ein „Öüüwahh“ und „Ugghh“. Irgendwas überrascht und angewidert Entsetztes. Neugierig trippelte Jaina die zwei Schritte und lugte hinter John in das Wohnzimmer, der Arzt hatte sich nicht einen Zentimeter bewegt seit er die Tür geöffnet hatte. Sie schaute erstaunt auf das Sofa. Dort lagen Sherlock und Cathy, sie mit dem Rücken zur Tür, Sherlock aber schlief ganz offensichtlich. Jaina schüttelte leicht verwundert den Kopf, fragte sich, was ihre Freundin damit bezwecken wollte und quetschte sich an John vorbei in die Wohnung, so leise es ging. Sie musste noch ein Erpresserbild machen. Sie würde Cathy mal daran erinnern, dass es einem schon der Anstand verbot, gleich nach ein paar Tagen Bekanntschaft so eng neben jemanden zu schlafen. Das konnte doch auch überhaupt nicht bequem sein!   Cathy wurde davon wach, dass jemand leise Musik angemacht hatte. Musik wie daheim. Jainas Musik, die Cathy auch sehr schön fand. Sie blinzelte, gähnte und wollte sich strecken, als sie merkte, dass sie gerade Füße angegähnt hatte. Die Rechtsmedizinerin musste nicht eine Sekunde überlegen, um zu wissen, wo sie war.   „Bah, wie kitschig“, schimpfte sie leise und lies Sherlocks Beine los. Nicht, dass es nicht bequem gewesen wäre, aber – bitte! Wie romantisch kam denn so was? Sofort war Cathy sauer auf Sherlock, dass er einfach so was unverschämtes machte und sie in eine peinliche Situation brachte.   „Cathy, du bist wach!“, rief da Jaina hinter ihr und schon wurde eine Faust auf Cathys Schulter gerammt.   „Sag mal, was macht ihr da?! Ich meine – hast du noch was an?!“   „Hä? Na klar hab ich noch was an!“, erwiderte Cathy noch verschlafen und wollte sich aufsetzten, als ein stechender Schmerz sie daran erinnerte, dass das wohl keine so gute Idee war. Sie schaute Jaina an. „Hilf mir auf!“   „Warum?“   „Weil halt. Und – bring mich bitte zum Klo. Ich muss so dringend pinkeln!“   „Cathy, warum? Kannst du nicht laufen?“, fragte Jaina entsetzt. Sie war sich sicher, dass Cathy seit ihrer Befreiung noch keinen einzigen Schritt gelaufen war. Entweder war sie plötzlich superfaul geworden, oder jemand hatte sie geschlagen oder – schlimmeste Variante – jemand hatte ihre Freundin vergewaltigt. Aber dann wären zwei Tritte gegen den Kerl zu wenig gewesen.   „Das zeig ich dir im Bad“, erwiderte Cathy nur und lies sich von Jaina vorsichtig aufhelfen. Eigentlich taten Cathy nur ein paar Rippen und das linke Bein weh, aber sie wollte nicht riskieren, auf dem Weg zum Klo hinzufallen. In dem Moment, in dem Jaina und Cathy kurz vorm Badezimmer waren, hörten sie, wie John Sherlock anmotzte und der hellwache Detektiv schlagfertig antwortete. Irgendwas mit einem Experiment, von dem Jaina hoffte, es wäre nichts mit Sozialverhalten. Sowas konnte sie gar nicht leiden, sie hatte sich mal einen Film angeschaut über Wissenschaftler, die das Verhalten von Menschen herausfinden wollten, die absolute Macht über andere hatten. Es war nicht schön gewesen.   „Sherlock, im Ernst?! Ein Experiment?“, ranzte John und legte langsam die Sachen auf den Boden, die er hochgetragen hatte. Kurz war er geschockt gewesen, als er die Tür aufgemacht hatte, dann war er väterlich wütend geworden. Cathy war doch noch ein Kind! Mehr als ein Jahrzehnt jünger als Sherlock!   „Natürlich“, erwiderte dieser gelassen, stand auf und legte die Decke akribisch zusammen.   „Du kannst nicht einfach etwas vorspielen! Vielleicht solltest du den Leuten kurz Bescheid sagen, dass du ein Experiment planst!“, brach es frustriert aus John heraus. „Mit Gefühlen spielen ist absolut nicht okay, Sherlock!“   „Sie hat doch keine Gefühle für mich“, antwortete der Detektiv und schüttelte verständnislos den Kopf. Auf was für Ideen John beizeiten kam.   „Sherlock! Sie ist ein Mädchen und ist entführt worden und Cathy neigt dazu, in solchen Lagen alles zu ergreifen, was greifbar ist und es für sich zu beanspruchen. Ich rede nicht von romantischen Gefühlen. Sie will dich besitzen.“ John seufzte. Da war die Rechtsmedizinerin wie ihr verstorbener Vater, eigensinnig, schnell gelangweilt, noch schneller begeistert und unglaublich besitzergreifend. Leider auch noch so subtil, dass man es erst merkte, wenn es zu spät war. Die ganze Familie war so. Sie wickelten einen sachte und langsam um den Finger, bis man weiches Wachs in ihren Händen war und bis man es bemerkte, war man selbst ihnen verfallen und gehörte ihnen schon. Cathys Vater war der König dieser Disziplin und seine Tochter stand ihm inzwischen wahrscheinlich in nichts nach.   Und John wagte zu behaupten, wenn Jaina es so lange mit Cathy aushielt, dann hatte sie diese Vorgehensweise wahrscheinlich unwissentlich einfach übernommen, missbrauchte sie aber nicht. Was natürlich ein sehr guter Charakterzug von ihr war, wofür John sie auch am liebsten küssen würde.   „Jaina, schau dir das an“, hauchte Cathy, als sie am Klo saß und mit heruntergestrampelter Hose und Unterhose herumsaß. Ihr war es im Moment nicht peinlich, dass ihre Freundin direkt vor ihr stand, beider Aufmerksamkeit war auf die Beine und nicht den Unterleib gerichtet.   „Das ist ja schrecklich! Wie oft hat er denn zugeschlagen?“, entfuhr es Jaina entsetzt und sie fasste vorsichtig den Oberschenkel an, der von zahllosen blauen Flecken übersäht war. Sie hatte noch nie soetwas vorher gesehen und fand es grauenvoll. Das musste schmerzhaft gewesen sein! Jaina verabscheute sich dafür, auf Sherlock gehört und gewartet zu haben. Aber andererseits – wieso sollte sie sich das überhaupt anschauen? Sie hätte es Cathy doch sowieso geglaubt, da musste sie ihre Freundin ja nicht unbedingt zum Klo begleiten.   „Keine Ahnung, ich hab aufgehört zu zählen“, gab Cathy zu und schlenkerte mit den Beinen. „Ich will nicht, dass John oder Sherlock das sehen.“   „Wieso denn nicht?!“ Das konnte Jaina beim besten Willen nicht verstehen. Die Männer mussten doch wissen, wieso Cathy sich nur vorsichtig bewegte und nicht so herumsprang wie sonst. Jedenfalls fand Jaina das, sie würde auch nicht wollen, dass man sie behandelte wie immer, wenn es ihr schlecht ging.   „Halt so. Und schau mal, ich konnte bis jetzt noch nicht hingucken, aber an den Rippen hat er mich auch getroffen.“ Unbeholfen hob Cathy ihr Shirt bis zum BH hoch und lies ihre Freundin den freien Oberkörper betrachten. Jaina zog eine krause Stirn und schüttelte den Kopf. Auch hier fanden sich blaue Flecken.   „Vielleicht solltest du die nächsten drei Tage daheim verbringen. Lestrade hat gestern noch gemeint, dass du sowieso frei bekommst, aber eine Aussage machen musst.“ Sie richtete sich auf und schaute sich um. „Willst du vielleicht duschen?“   „Seh ich so aus, als könnte ich das?“, forderte Cathy Jaina vom Klo aus auf nachzudenken und schaute verdrießlich, als ihre Freundin das Lachen anfing. Jaina konnte es sich aber auch nicht verkneifen, sie war sich der Absurdität der Situation schon bewusst, nur irgendwie… war es schlimm, aber lustig. Wie Jackass manchmal.   „Neein“, kicherte sie dann und hielt sich am Waschbecken fest.   „Was für eine Aussage eigentlich? Der Mann ist doch schon tot!“, motzte Cathy und bedeutete Jaina, wegzuschauen, damit sie sich zumindest abputzen und die Unterhose hochziehen konnte, ohne vor Scham im Boden versinken zu müssen.   „Naja, der hat dich ja entführt und so. Deswegen vielleicht“, schlug Jaina vor und drehte sich erst um, als Cathy ihr OK gab.   „Ach, na dann.“   Inzwischen war es Abend geworden und Jaina hatte sich in ihre besseren Klamotten gekleidet. Sie trug jetzt ein knielanges, blassgelbes Kleid aus Jersey, welches unter der Brust eng geschnürt war und einen V-Ausschnitt hatte. Es flog schön, wenn man sich drehte, deswegen mochte Jaina dieses Kleid auch so sehr. Sie band sich ein passendes Haarband in ihre Locken, schminkte sich dezent und war am Ende sehr zufrieden mit ihrem Erscheinungsbild.   Sie hatte sich um alles gekümmert. John und Sherlock würden heute Nacht auf Cathy aufpassen – oder andersherum. Jedenfalls hatte Jaina sich versichert, dass sie sich keine Schuldgefühle machen musste.   Es war zehn vor Sieben. Die Brünette schaute auf die Uhr und freute sich diebisch. Jim hatte nochmal angerufen und ihr mitgeteilt, dass die beiden heute Abend in eine Operette gehen würden, danach in ein Restaurant und dass er sie dann nach Hause bringen würde. Wie lange war es her, dass Jaina sich so auf einen Abend gefreut hatte! Sie schlüpfte in ihre weißen halbhohen Sandalen und war gerade fertig damit, ihre Handtasche zusammenzupacken, als es an der Tür klingelte.   „Cathy! Das ist Jim! Machst du ihm schnell auf?“, rief sie aus dem Bad und schickte sich, noch schnell Haarspray zu benutzen. Sie wollte nicht, wenn es windig war, dass ihre ganze schöne Frisur zerstört wurde.   „Oke“, ertönte es aus dem Wohnzimmer, dann hörte Jaina auch schon, wie die Tür geöffnet wurde und sich Schritte nach oben näheren.   „Servus Jim“, hörte Jaina Cathy müde sagen, worauf ein herzliches „Guten Abend, Cathy“, folgte.   Hastig stopfte sie das Haarspray noch in ihre Handtasche, dann versuchte sie, nicht ganz stolpernd aus dem Badezimmer zu kommen, um Jim zu begrüßen. „Jim, hallo!“, lächelte sie ihn an und gab ihm formell die Hand, welche er angedeutet küsste, ganz ein Gentleman. Cathy, die dabei zusah, gähnte und ging wieder davon. Jaina schaute ihr fast besorgt nach.   „Stimmt etwas nicht?“, wollte ihr Date wissen. Er sah blendend aus.   „Nein, alles in Ordnung“, erwiderte Jaina schnell und schob Jim fast wieder aus der Tür. „Tschüss Cathy, John, Sherlock! Bis Morgen früh!“   „Viel Spaß“, tönte es im Duett John/Cathy zurück, dann zog Jaina die Tür hinter sich und Jim zu. Dieser sollte auf keinen Fall ahnen, dass hier noch der Norovirus war und sich eine zusammengeschlagene, ehemals entführte Person befand. Das waren alles so Informationen, die es nicht unbedingt bei einem Date brauchte.   „Jim, Sie sehen blendend aus!“, entfuhr es ihr dann doch im Treppenhaus, als sie ihn genauer betrachten konnte. Heute trug er einen anderen Westwood-Anzug in Nachtblau, darunter ein gestärktes weißes Hemd und schwarze Lackschuhe, die wahrscheinlich ein Vermögen gekostet hatten. Die Krawatte war passend zum Anzug, dem als hübsches Detail echtgoldene Manschetten von Torrini, die fast zwei Riesen das Stück kosteten, angesteckt worden waren. Jaina wusste das so genau, weil sie ihrem Vater in Deutschland vor zwei Jahren genau dieselben zu Weihnachten geschenkt hatte, 18k echtes Gelbgold hatte eben seinen Preis.   „Oh, dankesehr. Das Kompliment gebe ich gleich zurück“, grinste Jim und holte dann ein kleines viereckiges Ding aus seiner Anzugtasche. „Das hätte ich fast vergessen! Ich hab‘ ein Geschenk für Sie! Es ist nur etwas kleines, aber ich hoffe, Sie freuen sich!“   „Äh… danke“, sagte Jaina langsam und etwas überfordert. War das zweite Date nicht ein wenig früh, um schon mit Geschenken anzufangen? Etwas misstrauisch nahm sie das Päckchen und wollte es einstecken, als Jim sie auffordernd anschaute. Also blieb ihr keine Wahl, als es jetzt schon aufzumachen. Unter dem Geschenkpapier befand sich ein kleines Samtkästchen. Ein Schmuckkästchen, für genau ein Schmuckstück, stellte Jaina fest und merkte, wie sie schwitzige Hände bekam. Lass es nichts hässliches sein, bat sie im Sekundentakt, als sie das Deckelchen langsam öffnete. Ich will nicht undankbar aussehen! Als sie den Deckel ganz offen hatte, strahlte ihr eine wunderschöne Kette entgegen, sodass Jaina fast einen Erleichterungs-Herzinfarkt bekam. Der Anhänger war eine kleine sternförmige Blume, nicht größer als ein Zeigefinger-Fingernagel, in deren Mitte ein offensichtlich teurer Stein pragte. Alles war in Silber, beziehungsweise Durchsichtig gehalten, was die Sache noch edler machte. Jaina bekam erstmal gar kein Wort heraus, sondern stierte nur fasziniert auf dieses wunderschöne Schmuckstück herunter.   „Das ist eine exklusive Halskette von Incanto Royale“, fing Jim an zu erklären, holte die Kette vorsichtig heraus und stellte sich hinter Jaina, sodass er ihr den Schmuck umlegen konnte. „Sie besteht aus 18 Karat Weißgold und puren Diamanten.“   „Sie ist wunderschön“, hauchte Jaina und freute sich über die Kühle des Goldes an ihrem Schlüsselbein. „Wie teuer war sie?“, wollte sie dann sofort wissen. So was musste doch ein Vermögen gekostet haben!   „Nicht der Rede wert“, wiegelte Jim ab, doch Jaina insistierte gnadenlos, bis er schließlich schulterzuckend aufgab und ihr die Rechnung zeigte.   „Waaaas?!“ Entsetzt starrte Jaina auf das bedruckte Papier. „7.770,00 € für so eine Kette?! Sind Sie wahnsinnig?“, kreischte sie und hielt sich den Kopf. Das war doch viel zu teuer! In dieser Preisklasse befanden sich Weihnachtsgeschenke für die ganz Lieben in der Familie und für Cathy, aber doch nicht Sachen für zwischendurch!   „Also ich fand sie schön und dachte, sie stünde Ihnen, was eindeutig der Fall ist“, meinte Jim lässig, nahm Jaina am Arm und geleitete sie vollends aus dem Treppenhaus zum Taxi. „Und außerdem sind die Kosten für mich nicht nennenswert. Wenn mir etwas gefällt, was ich für Geld haben kann, dann kaufe ich es mir.“   Nein, dachte sich Cathy als sie zurück ins Wohnzimmer kam, in dem die beiden Männer saßen, jeder mit etwas anderem beschäftigt. Wieso immer ich?!   John ging es inzwischen wieder insofern gut, dass er sich selbstständig daran machte, die Möbel zu desinfizieren und das Geschirr von gestern Nacht wegzuräumen und überhaupt einmal Ordnung zu schaffen. Sherlock saß an seinem Laptop und klickte auf den Tasten herum. Also schienen beide wieder gesund zu sein, zumindest größtenteils.   Cathy beschloss, nachdem sie ihren körperlichen Zustand als inzwischen annehmbar tituliert hatte, mal in die Dusche zu gehen. Sie wusste, sie brauchte jetzt einfach das Abwaschen. Und sie wusste auch, dass die beiden Männer in den nächsten zwei Tagen die Wohnung nicht verlassen würden. Außer John für seine Arbeit, aber Sherlock wäre immer präsent.   Also nutzte sie die Gunst der Stunde und schlich sich ins Bad, wohl wissend, dass man da nicht so ganz wirkungsaktiv absperren konnte – das hieß, man konnte den Wäschekorb vor die Tür schieben. Das war nicht wirklich sicher.   Jaina war begeistert. Sie hatte, um ehrlich zu sein, sich noch nie so richtig für Operetten interessiert, mehr für Opern, das Ballett, das Musical und halt andere Sachen, da gingen so Subkulturen – und Jaina empfand Operetten als eine Subkultur – halt mal unter. „Das ist die schönste Operette, die ich je gesehen habe“, gab Jaina immer noch überwältigt von sich. Sie stand mit Jim an einem kleinen Stehtisch von vielen, die in dem langen, breiten Opernhausgang aufgebaut waren. Es war gerade Spielpause, Jaina hatte also eine halbe Stunde Zeit, sich zu erholen und sich auf weitere eineinhalb Stunden vorzufreuen. Vor allem neben Jim, der gut aussah, gut roch und sich zu benehmen wusste.   „Das freut mich“, lächelte Jim charmant und man konnte ihm ansehen, dass er sich wirklich darüber freute, mit Jaina unterwegs zu sein. Nun ja, unterwegs. Kultur genießen, so würde er es formulieren.   Mich auch, dachte Jaina und trank einen Schluck von dem Champagner, den Jim ihr spendiert hatte. Was für ein großzügiger Mann. Gut, das stellte sie jetzt schon zum zweiten Mal fest, aber es schadete nicht, es ab und zu noch einmal zu bemerken.   Schweigend musterten beide kurz den jeweils anderen, dann entschied sich Jaina, wegzugucken, um die anderen Operetten-Besucher zu begutachten. Das waren – zum Teil glücklicherweise – nicht ganz so schöne Leute wie Jim, der sie mit seinem guten Stil einfach ein wenig verwirrte. Vielleicht, weil Jaina sonst den ganzen Tag nur gammelig angezogene Studenten sah und nichts schönes mehr gewohnt war. Außer sich und Cathy ab und zu.   Cathy stieg gerade aus der Dusche, umwickelt mit einem Handtuch, als sie aus dem Wohnzimmer verdächtige, bekannte Geräusche hörte. Sie hatte sich lange geduscht und vermutlich war John schon unterwegs zu seiner Nachtschicht. Irgendwie war Cathy nicht wohl dabei, die ganze Nacht allein mit Sherlock verbringen zu müssen. Nicht, dass sie ihn nicht cool fand. Die Medizinerin war sogar der Meinung, dass Sherlock einer der coolsten Menschen überhaupt war, mal ganz davon abgesehen, dass er irgendwie attraktiv und faszinierend war. Abgesehen von all diesen Dingen machte sich Cathy wirklich Sorgen. Um ihr Nervenkostüm. Sie ging zur Tür, schob den Wäschekorb weg und schaute durch den entstandenen schmalen Spalt.   Sherlock saß am Sessel und spielte leise Geige. Er beobachtete die Badezimmertür; selbstverständlich hatte er sie jetzt auch bemerkt.   Cathy sah sich gezwungen angesichts dieser Situation etwas zu sagen. „John ist auf Arbeit gegangen?“ Sie war sich der Tatsache, dass sie nur ein Handtuch trug, unangenehm bewusst und versuchte, sich weitestgehend hinter der Tür zu verstecken.   „Korrekt“, meinte Sherlock nur, beobachtete sie weiter, hörte aber auch nicht mit dem Geigenspiel auf. Er fand es höchst erstaunlich, wie vorsichtig sich die junge Frau plötzlich bewegte. Als ob sie sich nicht wie zuhause fühlte oder als ob sie fürchtete, dass er etwas an ihr entdeckte. Dabei war Sherlock nur langweilig und etwas interessanteres als Cathys Verhalten gab es im Moment nunmal nicht. Inzwischen musste doch jeder wissen, wie seine Einstellung zu diesem romantischen Krimskrams war.   „Tja, okay.“ Murmelnd zog Cathy die Türe wieder zu und stellte den Wäschekorb unter den Knauf. Wie sollte sie das nur überleben? Der sprach ja nicht mal mit ihr! Und spielte ständig Geige! Dabei wollte Cathy doch einfach mal Ruhe haben und schlafen und … naja, vielleicht ein bisschen was essen, wenn sie so darüber nachdachte. Ob sie Sherlock schicken konnte?   „Oh mein Gott, das war fabelhaft!“, jubelte Jaina als sie und Jim im sicheren Taxi saßen, wo niemand außer dem Fahrer die beiden hören konnte. Genau diesen Moment hatte sie abgewartet, damit sie ihrer Freude endlich Luft verschaffen konnte. Sie umklammerte ihre Tasche und musste an sich halten, um Jim nicht um den Hals zu fallen.   „Stimmt. Es war sehr faszinierend“, stimmte der Mathedozent zu und lächelte über so viel Enthusiasmus. Diese junge Frau war so ansteckend mit ihrer guten Laune und dem Funkeln in ihren Augen, dass Jim fast vergaß, was er heute am eigenen Leib erfahren hatte. Dass Jaina zusammen mit ihrer Freundin bei Sherlock und John lebte. Das war ihm ein Dorn im Auge. Auch war Jim sich noch nicht so ganz bewusst, wieso er Jaina überhaupt angesprochen hatte. Eigentlich war er damals nur zufällig an ihrem Seminarraum vorbeigekommen und dann hatte er sie gesehen, ziemlich genervt und eindeutig nicht in der Stimmung, um jemand neues kennenzulernen. Hatte er sie deswegen angesprochen? Weil er auf einen Wutausbruch gehofft hatte? Und nun saß Jaina neben ihm und schaffte es beinah – nun, annähernd beinah – ihn noch einmal über seinen Plan nachzudenken zu lassen. Aber Sherlock war ihm wichtiger. Dieser Consulting Detective versprach so viel Spaß und Abwechslung. So sehr Jim auch Jainas Anwesenheit genoss, er freute sich noch mehr auf ein Zusammentreffen mit Sherlock.   „Kanntest du das Stück vorher?“, wollte sie wissen und klang immer noch aufgeregt.   „Natürlich nicht. Ich wollte doch nichts vorwegnehmen“, grinste Jim. Bei Sherlock wollte er sich auch nicht ein bisschen des Spaßes nehmen lassen.   „Cool.“ Jetzt hatte Jaina nichts mehr zu sagen, denn die Dinge, die ihr im Kopf herumschwirrten, waren eindeutig nicht tauglich für eine Konversation. Cool… Mega… Gleich nochmal!... Und in diesem Anzug sieht er zum Anbeißen aus! Jaina schüttelte den Kopf und schaute lieber aus dem Fenster, immer noch die großartige Schlussszene im Kopf, in welcher der intrigante Vater der Braut mit einem Todessprung von der Kirche zeigen wollte, dass er der beste war – leider hatte das nicht geklappt. Der war in den Tod gestürzt. Jaina war begeistert gewesen.   „Und? Hast du noch Lust mit mir essen zu gehen?“, frage Jim da glücklicherweise, sodass Jaina nickte und bemerkte, wie ihr Bauch leise grummelte. Zum Glück gab ihr Körper nur leise Signale, nicht so Mörder- Sirenen-Laute wie Cathys. Das käme jetzt gar nicht gut.   „Klhu lvw glh cdko, Klhu lvw glh cdko“, murmelte Cathy und drehte sich auf den Rücken. Sie lag am Wohnzimmerboden ausgestreckt, die Arme hatte sie lang über den Kopf gemacht. Sonst dachte sie nicht so nach, aber vielleicht half es ja. Allerdings kam sie sich im Moment mehr vor wie ein Alien, der auf irgendeiner Gurgelsprache versuchte, etwas zu erzählen. „Die Cäsar-Scheibe.“ Sie schloss die Augen und stellte sich dieses frühalterliche Mittel der Nachrichtenverschlüsselung bildlich vor. „Klhu… Hier. Luw glh – ist die. Was ist dort? Cdko. C ist das Z. Hier ist die Zahl. Aber wo ist die Zahl? Was für eine Zahl überhaupt?“ Cathy drehte sich auf den Bauch und betrachtete das Bildchen, das zu dem Rätsel gehörte. Die Cäsar-Scheibe war eine gute Idee gewesen, doch was sollte das darstellen? Ohne dieses Wissen war der Text vollkommen wertlos.   „Was redest du da unten?“, wollte Sherlock da wissen und beugte sich emotionslos über Cathy. Sie trug inzwischen ihre Schlafanzughose – die mit den Entchen – und ein eng anliegendes Unterhemd. Sherlock wunderte sich nur geringfügig wieso die junge Frau im Liegen nachdachte. Da war der Blutfluss doch überhaupt nicht so günstig wie in anderen Positionen.   „Ich denke nach, Herr Detektiv“, konterte Cathy, bewegte sich aber nicht einen Zentimeter, um Sherlock irgendwie auf das Bild sehen zu lassen. Das war ihr Rätsel, das wollte sie alleine lösen. Naja, zumindest gemeinsam mit der Polizei. Tatsächlich wusste Cathy nicht mal, wie weit die überhaupt damit waren. Aber sie traute sich anzunehmen, dass die bis jetzt noch gar nichts gerafft hatten.   „Kommst du immer noch nicht weiter mit diesem Rätsel?“, wollte Sherlock wissen. Er starrte sie weiter unverwandt an. Zumindest ihren schmalen Rücken. Außerdem begutachtete er die bedenklichen blauen Flecken, die sie noch am Oberarm hatte. Der im Gesicht hatte sich auch nicht großartig verfärbt und leuchtete weiter in einem grimmigen Violett.   „Natürlich komme ich weiter.“ Cathy überlegte nebenbei, ob sie ihn vielleicht wirklich mit einbeziehen sollte. Einerseits würde das die Arbeit wesentlich einfacher gestalten, andererseits wäre es in ihren Augen Schummeln.   „Oh nein, kommst du nicht“, triezte Sherlock in abwertendem Tonfall, stieg über Cathy hinweg und verschwand in die Küche.   „Oh doch, komme ich“, murmelte sie böse und starrte weiter auf das Bildchen. Es musste doch eine logische und sehr einfache Lösung dafür geben! Bestimmt war es so simpel, dass sie es nur nicht erkannte! Jaina hätte es wahrscheinlich schon längst herausgefunden. Verdammt aber auch! Einmal wenn man einen kleinen Impuls bräuchte!, dachte sie ärgerlich. Es ist bestimmt so simpel!   Sherlock räusperte sich in der Küche, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Er mochte es nicht, wenn seine wertvolle Anwesenheit von etwas überschattet wurde, das kein Verbrechen war.   „Seien Sie still!“, herrschte Cathy vom Wohnzimmer. „Ich brauche Ihre Hilfe nicht für so ein simples Drudel!“   Stille erfüllte den Raum.   „Ein gottverdammtes Drudel!“ Schreiend sprang Cathy auf und deutete auf das kleine Bild.   „Hätte ich dir gleich sagen können“, kam es gelangweilt aus der Küche.   „Das macht die Sache natürlich einfacher“, sinnierte Cathy, Sherlock ignorierend. „Drudels sind immer so abstrakt leicht. Sherlock, sag mir nichts!“ Sie ging im Kreis um das Drudel herum. Sie wusste, meistens waren diese kleinen Rätsel-Bildchen so zu betrachten, dass sie etwas von oben oder unten darstellten, oder einen kleinen Teil von etwas.   In dem Glas spiegelten sich die glänzenden Lichter der nächtlichen Stadt. In den meisten Bürogebäuden wurde über Nacht der Strom nicht abgeschaltet und so konnten Jaina und Jim die leuchtende Skyline von London genießen. Die beiden befanden sich in einem sehr exklusiven Restaurant, dem Paramount, das im gefühlten 40. Stock eines Hochhauses war. Jaina wusste, dass es natürlich nicht so hoch lag, aber der Ausblick über die halbe Stadt lies einen doch zu diesem trügerischen Schluss kommen.   Gerade war sie fertig mit ihrer Vorspeise, einem leckeren Tomaten-Carpaccio, fertig, als Jim das Wort ergriff. Tatsächlich hatten sie seit bestimmt zwanzig Minuten nicht mehr geredet, was auch etwas angenehmes an sich gehabt hatte.   „Wie gefällt dir die Aussicht?“, fragte er leise und gesittet. Dabei trank er einen Schluck von dem Cru Classé Sauternes von 1997, einem – mehr oder weniger – ausgesuchten Weißwein.   „Großartig“, erwiderte Jaina, wandte aber den Blick nicht von Jim ab. Im leicht gedimmten Licht sah er sogar noch besser aus als früher am Abend.   „Aber die Aussicht meinst du nicht?“ Er schmunzelte.   „Nein, die Aussicht meine ich nicht“, erwiderte sie lächelnd.   Wie kann es möglich sein, dass Sherlock sie bei sich wohnen lässt? Jim war aufs äußerste verwirrt. Sie war natürlich eine wunderbare Gesellschafterin, doch was wollte sie bei Sherlock Holmes? Hatte er sie eventuell wegen ihres Intellekts aufgenommen? Aber so besonders war ihr Talent nun wirklich nicht. Gut, sie war wirklich mit Abstand – sehr großem Abstand – die beste Mathematikdozentin in ganz London – natürlich neben ihm, James Moriarty.   „Dann schmeichelst du mir“, sagte Jim und schaute auf die Skyline.   „Nein. Ich habe mich vorhin in dem Spiegel da hinten gesehen“, konterte Jaina sofort. Sie wollte von dem Flirten wegkommen. Warum machte sie das? Wieso in aller Welt machte sie ihm Komplimente? Natürlich, weil er gut aussah, charmant und aufmerksam war, aber sie war immer noch Jaina, die junge Frau, die ihr Leben bis dreißig verplant hatte. Da war kein Mann in ihrer Vorstellung gewesen.   „Gut gekontert“, lobte der Mathedozent und wartete, bis der Kellner, der gerade an ihren Tisch kam, beide Hauptgerichte abgestellt hatte. Mit einer angedeuteten Verbeugung verlies er die zwei jungen Erwachsenen.   „Immer.“ Sie blickte ihm direkt in die Augen. Herausfordernd und mit für Jaina unbekannter Schamlosigkeit. Leise Musik spielte im Hintergrund. „Wollen wir tanzen?“ Sie legte die Serviette neben den Teller.   „Gerne doch.“ Sofort stand Jim auf und bot ihr die Hand. „Wenn Sie gestatten.“   „Aber sicher doch. Mit größter Freude“, erwiderte Jaina schelmisch grinsend und begleitete Jim elegant zum Tanzparkett, das im hinten Teil des Saales war. Das Essen war vergessen.   Es war ganz still in der Wohnung, Sherlock lag am Sofa und spielte mit seinem Laptop, als Cathy die Erleuchtung bekam. Sie hatte das Drudel gelöst.   „Oh mein Gott!“, entfuhr es ihr so leise wie ein leichter Windhauch. Es war wirklich sehr simpel. So einleuchtend. Eigentlich hatte Cathy gar nicht mehr daran gedacht, doch als sie das Läuten der Glocken um zehn Uhr gehört hatte und an die massigen, wertvollen Kirchglocken dachte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Zuerst saß sie wie versteinert am Sessel, halb zum Fenster gedreht und mit geöffnetem Mund.    „Oh yeah!“ Freudig sprang sie auf, machte Luftsprünge am Sessel, hüpfte dann zu Sherlock auf die Couch und riss ihm den Laptop aus den Händen. „Sherlock! Hammergeil!“ Sie packte seinen Kopf und drückte dem vollkommen überrumpelten Detektiv einen Kuss auf – der eigentlich auf die rechte Wange sollte, aber am Mundwinkel landete. „Yeah! Ich hab’s herausgefunden!“ Sie sprang vom Sofa und rannte vollkommen ziellos in die Küche.   Sherlock indes saß am Sofa und schaute der überdrehten jungen Frau nach. Hatte sie ihn gerade wirklich bei seinen Ermittlungen unterbrochen? Hatte sie jetzt erst das Rätsel gelöst? Und wieso zur Hölle hatte sie ihn geküsst? Oder war das so ein Freudenausbruch? Fragend zog er eine Augenbraue hoch. Menschen mit Emotionen waren ihm immer wieder suspekt.   Kapitel 7: FORTHCOMING ---------------------- “Do or do not, there is no try.” - Yoda, Empire Strikes Back   Als John am nächsten Morgen nach Hause kam, fand er etwas vor, was er nicht erwartet hätte. Eigentlich hatte er gedacht, dass alle friedlich schlafen würden, sogar Jaina. Da hatte John angenommen, dass sie nicht bei Jim schlafen würde. Nun, das hatte sie auch nicht getan. Aber offensichtlich war letzte Nacht etwas passiert, was höchst merkwürdig gewesen sein musste.  Der – immer noch leicht angeschlagene – Sherlock saß wach, aber offensichtlich todmüde im Sessel, während Jaina und Jim am Sofa nächtigten. Von Cathy war bis jetzt noch nichts zu sehen. Doch es war klar ersichtlich, dass die beiden Leute am Sofa letzten Abend einiges intus gehabt hatten, also wollte sich der Arzt nicht vorstellen, wie seine Berufsgenossin aussah.  „Sherlock, was ist hier passiert?“, wollte er dann leise wissen, obwohl John wusste, dass er selbst schnell ins Bett musste. Es war eine anstrengende Schicht gewesen, mit gefühlten zwanzig Herzinfarkten und bestimmt tausend Notoperationen. Was war nur los auf Londons Straßen?!  Der Befragte schüttelte nur mit dem Kopf und deutete in die Küche. Johns Blick folgte dem ausgestreckten Finger. Auf dem Küchentisch lag Cathy. Und das so friedlich und entspannt, als ob sie im Bett liegen würde. John schaute wieder auf Jaina und Jim. Sie lag auf dem Bauch an der Wand, zur Hälfte zugedeckt, während Jim ein Bein über ihre gelegt hatte und bis auf dieses eine Bein ganz zugedeckt war. Beide hatten kein Kissen. „Das erklärt noch gar nichts“, erwiderte John leicht grumpfelig.  „John, ich hoffe, Küsse bedeuten noch etwas anderes als Liebe“, brachte Sherlock da heraus. Er klang so rau, als ob jemand mit einem Sägefräser seine Stimmbänder bearbeitet hätte.  Verwundert schaute der Arzt den Detektiv an, schüttelte den Kopf und ging in die Küche. Wahrscheinlich konnte Cathy ihm mehr erklären als alle anderen. „Natürlich Sherlock. Sie können alles bedeuten. Küsse sind wie Sprechen, nur ausdrucksstärker. Wenn ich Sarah vermisse, sage ich ihr das nicht nur, sondern ich küsse sie lang, dann weiß sie das besser. Und wenn ich mich freue, weil Jaina aufgeräumt hat, dann küsse ich sie auf die Wange und sie weiß, dass ich mich freue. So läuft das“, erklärte er dann gemäßigt. Manche Menschen, natürlich, sahen einen Kuss einfach als Liebesbeweis, aber John hielt es lieber so, dass jedes Verhalten eine andere Bedeutung hatte. Wieso sollte er andere zum Beispiel nicht umarmen können? Nur, weil Umarmung mit richtig-viel-mögen-und-gleich-anfassen-wollen verbunden war?  „Cathy? Bist du wach?“  „Hmmm… nein.“  „Na gut, dann wecke ich erst Jaina und Jim auf“, beschloss John daraufhin und tigerte wieder ins Wohnzimmer. Er wollte sicherstellen, dass alle wach waren, wenn er ins Bett ging.    „Oh heilige Jungfrau“, stöhnte Jaina als sie am Wohnzimmertisch saß, vor ihr eine Tasse Kaffee, neben ihr Jim und ihr gegenüber eine verschlafene Cathy. „Was ist gestern Nacht passiert?!“  „Das kann ich dir genau sagen“, gähnte Jim und trank einen großen Schluck schwarzen Kaffee.    Jaina und James kommen gut gelaunt an Sherlocks Wohnung an, obwohl beider Füße schmerzen lachen sie ausgelassen. In der kristallklaren Nacht klingt es fast als würden zwei aufeinander abgestimmte Glocken klingen. Zumindest kommt es Jaina so vor, die inzwischen so angesäuselt ist, dass sie auch das Bellen eines Hundes romantisch finden würde. Jim – oder jetzt auch James – an ihrer Seite hat mindestens genauso viel intus wie sie und das liegt nur daran, dass der Wein so gut war in dem Hotel und dass man gar nicht merkt, wie viel man trinkt, bis man nach außen geht und es einem vorkommt, als verschwimme die Welt und man tauche in eine neue, magischere ein. Die beiden betreten die Wohnung, in der es fein nach frisch aufgebrühtem Tee duftet und die Wärme umfängt beide mit offenen Armen. Sofort legen sie die leichten Mäntel ab und streifen sich die Schuhe von den Füßen; Jaina ist dabei sehr erfreut über die Tatsache, dass Jim sich hier schon heimisch fühlt.  „Jaina! Jim!“, werden sie von einer überdrehten Cathy begrüßt. Sie stürmt auf beide zu und fällt erst Jaina um den Hals. Dann Jim.  „Cathy, was ist los?“, will die Mathedozentin wissen. Sie weiß schon allein an der Haltung ihrer Freundin, dass etwas großartiges passiert ist. Allerdings hat sie keine Vorstellung, was. Doch, hab ich. Verwundert schaut Jaina Cathy an. Ja, tatsächlich hat sie eine ganz konkrete Vorstellung davon, was vermutlich geschehen ist. Dennoch formten sich die Gedanken nicht ganz zu Ende, zum einen wegen dem Alkohol – sie nimmt sich vor, ihn in nächster Zeit nicht mehr anzurühren – und wegen Jim, der neben ihr so unverschämt gut riecht. Und zum anderen ist Jaina sehr müde und sehr geschafft.  „Sie hat das erste Rätsel gelöst“, ertönt da Sherlocks volle Stimme. Bis jetzt hat er sich in einem Sessel versteckt gehalten, doch offensichtlich hält er es jetzt für angebracht, etwas zu sagen. Jaina findet, mit Alkohol im Blut hört sich Sherlock noch besser an als sonst – fast so gut wie James. Dann realisiert sie, was er gesagt hat.  „Du hast was?!“, ruft sie und umarmt Cathy, die ganz rot im Gesicht vor Freude ist.  „Das Rätsel gelöst! Ganz alleine!“, freut diese sich ganz offen, springt in die Küche und kruscht herum. Währenddessen lassen sich Jaina und Jim auf das Sofa nieder. Sie streckt die Beine aus.  „So schön wie heute Abend war es schon lange nicht mehr“, grinst sie James an. Dieser lockert nur ganz cool seine Krawatte und grinst zurück. Seine Augen glänzen sehr von der Aufregung, die das Tanzen, der Spaß verursacht haben.  „Mit Sherlock hab ich schon um die Wette getrunken!“, verkündet da Cathy und tänzelt elegant in das Wohnzimmer, in der einen Hand hat sie zwei Schnapsgläser, in der anderen eine riesige Flasche Bourbon, der eine wunderschöne Farbe hat. Jaina weiß nicht so genau, ob sie das gut finden soll. „Er hat verloren und ich kann sogar noch sprechen!“, beschwert sich die Ärztin und knallt alles auf den Tisch. Erst jetzt fällt Jaina auf, dass an Cathys Unterhemd ein Ärmel fehlt. Wie das passiert ist, will sie gar nicht wissen, aber sie hat eine Ahnung.  „Ich habe nicht verloren, ich habe dich gewinnen lassen“, ranzt Sherlock, steht auf und verschwindet selbst in die Küche. Cathy tätschelt übermütig seinen Hintern im Vorbeigehen.  „Cathy!“ Entsetzt schaut Jaina ihre Freundin an. Was ist denn in diese gefahren? Jim sieht derweil – das kann Jaina erkennen – sehr amüsiert aus und öffnet zwei Knöpfe seines Hemdes.  „Was? Selbst Schuld wenn er sowas behauptet“, grinst die Angesprochene nur und die Mathematikerin wundert sich nicht zum ersten Mal, warum sie sich nicht öfter betranken. Das scheint wesentlich mehr Spaß zu machen als trockene und schlechte Hausaufgaben zu korrigieren.  „Also! Auf die Logik!“, ruft da schon Jainas beste Freundin, schenkt die Schnapsgläser voll mit dem Bourbon und schiebt sie Jaina und Jim hin. „Auf ex!“  Gehorsam kippen sie sich den Stoff runter.  Nur um danach in höllisches Gehuste auszubrechen.  „Was ist das denn für ein Gesöff?“, keucht James atemlos. Sein Gesicht ist gerötet und er sieht aus, als habe er soeben eine lebendige Ratte verspeist. Jaina hustet derweil und wischt sich eine Träne aus dem Auge. So etwas widerlich bitteres und brennendes hat sie noch nie getrunken.  „Bourbon aus Rumänien. Sehr billig“, erklärt Sherlock, kommt aus der Küche zurück – bewaffnet mit noch zwei Flaschen, Jaina vermutet Rum oder ähnliches, und zwei Schnapsgläsern. „Cathy und ich trinken mit.“    „Oh Himmel, will ich das alles erfahren?“, jammerte Cathy, trank ihren schwarzen Tee und vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich kann nicht glauben, dass ich wirklich Leute betatsche, wenn ich angetrunken bin.“  „Ich kann nicht glauben, dass ich bei sowas überhaupt mitmache“, stimmte Jaina in das Jammern ein, umklammerte ihre Tasse und schämte sich. „Wird es noch schlimmer?“  „Du willst wissen, ob es schlimmer ist, wenn ihr beide vollkommen betrunken seid oder wenn ihr nur angesäuselt seid? Ich glaube, das kannst du dir selber denken“, lachte Jim leise. John hatte sich inzwischen hingesetzt und wartete darauf, dass der Mathedozent, der ihm irgendwie immer noch suspekt war, weitererzählte. „Okay, okay! Passt auf!“, Jaina ringt um Atem, während die drei Leute um sie herum noch ausgiebig lachen. „Ich weiß einen guten! Was ist ein Ehepaar in Säure?“  Ratlose, heitere und leicht gerötete Gesichter blicken sie an.  „Ich sag’s euch“, gibt Jaina sofort nach, woraufhin Cathy schon zu kichern anfängt. Von den anfangs drei Flaschen ist noch eine übrig. „Cathy, ich hab doch noch gar nicht gesagt!“  „Du bist so süß!“, kichert ihre Freundin. Jaina übergeht die Bemerkung geflissentlich.  „Jedenfalls… ein Ehepaar in Säure iiiist: eine gelöste Bindung!“ Sie lacht schamlos los. James stimmt grölend ein, während Sherlock, inzwischen eindeutig heiterer, sich zu einem leisen Prusten verleiten lässt. Jaina weiß aus Erfahrung, dass schlechte Chemiewitze bei Betrunkenen sehr oft ziehen, vor allem bei Singles. Aber das weiß sie im Moment nicht so klar, gerade erzählt sie einfach jeden Witz, den sie kennt. Sie ist sich bewusst, dass sie mehr als angetrunken ist, aber das ist okay, denn das sind sie alle und solange sie sorglos sein können, ist es erlaubt.  „Jaina! Saugeil!“, kreischt Cathy, gießt allen das Glas voll und kippt ihres als erstes auf ex. Jaina weiß nicht genau, seit wann ihre Freundin so trinkfreudig und –fest ist, so betrunken sind beide auf einmal noch nie gewesen.  „Yeah!“, stimmt James mit ein, trinkt sein Glas leer und hebt es in die Höhe. „Nur die Harten kommen in den Garten! Nochns!“  Ich glaube, das bedeutet Noch eines, sinniert Jaina, doch schon sind die Gedanken wieder unklar. Nicht ganz. Sie weiß, sie fängt an zu denken, aber mitten im Satz, mitten im Gedanken, geht es verloren und sie fängt wo ganz anders wieder an, anzusetzen. Das ist das schlimme am Alkohol.  Sofort ist Sherlock zur Stelle und füllt Jims Glas. Sherlock selbst nimmt stehend einen großen Schluck aus der nun halb vollen Flasche, was von Jaina und Cathy mit erheitertem Fangekreische begleitet wird. Mutig ist, wer dieses eklige Zeug so runterbekommt, denk Jaina. Jim legt den Arm um sie und reibt ihre Schulter.  „Naja, so schlimm ist das doch gar nicht“, befand Jaina und strich sich die Haare aus der Stirn. Sherlock und Cathy sahen sie entsetzt an, was sie nicht ganz verstand.  „Nicht schlimm?“, wiederholte Cathy schockiert. „Also ich finde es schon bedenklich, was ich alles so betrunken mache! Hey – hat es mir wenigstens gefallen?“ Sie schob die Frage an Jim gleich nach. Dieser nickte nur schelmisch.  „Also ich finde es auch nicht gut, dass sie sich einfach so an mir vergeht!“ Sherlock wirkte entsetzt.  John fand das schon gut. Schon allein aus Schadenfreude.  „Ach, red nicht! Dir hat das bestimmt auch gefallen!“, grinste Cathy schwach.  „Stimmt. Später dann“, erwiderte James ernst. Sofort verging ihr das Lachen.  Was John nicht gut fand war, dass alle vier so aussahen, als würden sie dasselbe gleich nochmal machen, weil es offensichtlich doch witzig gewesen war. Obwohl er den Witz von Jaina so nüchtern nicht richtig lustig fand. Laaangweilig!, denkt sich Jaina. Sie hat Flaschendrehen schon lange nicht mehr gespielt, aber sie weiß, wie das eigentlich läuft. Und sie ist angetrunken genug, um sich einzugestehen, dass sie nicht nur Ringelpietz spielen will, sondern Ringelpietz mit Anfassen.  „Laangweilig!“, ruft Jim und deutet auf Sherlock. „Junge, wir sind betrunken! Nutz das aus!“  Fragend schaut Sherlock James an. „Dann“, fängt er an und lehnt sich vor. Jaina sieht, wie Cathy die Gläser unauffällig nachfüllt. „Mach einen Vorschlag“, beendet Sherlock den Satz. Die Flasche liegt schon, aber das interessiert niemanden.  „Du drehst nochmal und auf wen die Flasche zeigt, der muss dich ans Ohr beißen“, bestimmt Jim, sogar mit ziemlich klarer Sprache. Jaina und Cathy finden den Vorschlag gut.  Sherlock schüttelt den Kopf über soviel Unreifheit, stimmt aber zu. Er dreht die Flasche nochmal, diesmal mit wesentlich weniger Elan. Sie zeigt auf Jim.  „Faaiiil“, lacht Cathy und klopft auf den Boden, während Jaina nicht weiß, ob sie es heiß oder abtörnend finden soll, dass ihr Date plötzlich den Soziopathen anmachen muss. Doch als sie beobachtet, was Jim mit Sherlocks Ohr macht, entscheidet sie sich für heiß. Die Nacht ist noch lang und wer weiß, wie lange die vier das Spiel wirklich durchziehen können.  „Ich bin dran!“, freut sich Jim, packt die Flasche und schaut die anderen freudestrahlend an. Sherlock sieht etwas schockiert aus. „Wen die Flasche trifft, der muss“, fängt er an, bricht dann aber in eine Alkoholbedingte Lachsalve aus. „Der muss… Sherlock auf den Mund küssen!“  Wahnsinnig lustig, schießt es Jaina sarkastisch durch den Kopf. Endlich geht’s los!    „Okay! Und hier unterbrechen wir!“  Erstaunte Blicke flogen Cathy zu, die genervt die Hände auf Schulterhöhe hob, die Finger weit gespreizt und mit den Handflächen zum Tisch – eine Geste unterdrückter Aggression bei ihr – und tief einatmete. „Das ist ja grauenhaft! Ich will gar nicht wissen, wie tief ich gesunken bin gestern Nacht und mit wem oder nicht“, fuhr sie gereizt fort und stand auf.  „Und was willst du dagegen tun?“, wollte John müde wissen. Er hatte keine Lust auf so ein Theater, aber es interessierte ihn schon, was diese unreifen Würstchen so alles getrieben hatten.  „Auf Arbeit gehen“, zischte Cathy die Antwort, drehte sich schwungvoll um, strauchelte bedenklich aber schaffte es dennoch, zielstrebig ins Badezimmer zu verschwinden.  „Oh nein! Na toll! Cathy!“ Sofort sprang Jaina auf, taumelte selbst ein wenig, kam aber dann zum festen Stand. Eilig ging sie zur Badezimmertür. „Cathy! Was ist los?“  „Jim, wie kommt es, dass Sie sich noch an alles erinnern?“, wollte John derweil wissen. Sherlock war auch seltsam still geworden.  „Naja, ich bin vielleicht ein bisschen mehr gewöhnt als die anderen“, schlug Gefragter vor und grinste vage. „Im Großen und Ganzen geht die Sache so aus, dass Sherlock sich nicht mehr traut, an Cathy vorbeizugehen, vor allem vor ihr. Sie misstraut ihm wenn sie hinter ihm steht oder sitzt und Jaina und ich mussten uns ein anderes Eck zum Schlafen suchen.“  „Aber wieso auf dem Küchentisch?“  „Weit genug weg für Sherlock, vom Sessel aus ein perfekter Platz zum Beobachten“, klärte Jim John auf.  „Warte. Sherlock. Hast du das arme Mädchen gezwungen, auf dem Tisch zu schlafen? Ohne Decke? Ohne Kissen? So vollkommen betrunken?!“ Entsetzt schaute er seinen einzigen Freund an. Dieser zuckte nur mit den Schultern und schaute weg.  „Wenn sie sich zwingen lässt.“  „Sherlock! Sie ist vor nicht mal zwei Tagen entführt worden und jetzt darf sie nicht mal in einem sicheren Bett schlafen?! Du solltest dich übrigens um sie kümmern!“, entfuhr es John wütend. Er war enttäuscht ohne Ende, dass Sherlock nicht mal in der Lage war, auf einen einzigen Menschen für ein paar Stunden Acht zu geben. Er war nicht nur enttäuscht, er war zutiefst erschüttert.  „Pah! Als würden mich so ein paar blaue Flecken von der Arbeit abhalten!“, giftete Cathy vor sich hin, als sie in ihrem Büro im Scotland Yard saß und die zwei verschiedenen Zettel betrachtete. Den einen konnte sie jetzt getrost zur Seite legen, der zweite musste entschlüsselt werden. Auf dem neueren Zettel befand sich auch ein Drudel. Es bestand aus einem geraden Strich, der in der Mitte von einem Kreis, der einen kleinen Durchmesser von etwa zwei Zentimetern hatte, unterbrochen war. Sie hatte die Wahl: Drudel oder den toten Mann untersuchen, der auf ihrem Tisch lag. Seit gestern. Wieso kümmerte sich da keiner drum, wenn sie mal nicht konnte? „Na, da weiß ich doch gleich, wie mein Tag besser wird.“  Entschieden stand Cathy auf und zog sich ihren weißen Kittel an, einen Mundschutz und Latexhandschuhe. „Molly, rüberkommen!“  „Miss Romeck?“ Sofort war die knuffige Pathologin da.  „Ach, nenn mich einfach Cathy. Möchtest du mir vielleicht Gesellschaft leisen, während ich diesen armen toten Kerl auseinandernehme?“ Sie drückte Molly schon die Knochenzange in die Hände. „Aber sicher willst du das. Also, auf geht’s.“  „O-okay.“    „Weißt du, Sherlock, ich könnte dir gerade voll eins auf die Nuss geben!“, motzte Jaina den reglosen Mann im Sessel an. Er sah nicht sehr gut aus im Moment, sehr abgespannt und müde, aber es war ihr egal. Jaina war nicht blind. Auch wenn sie in letzter Zeit unverschämt viel Spaß mit James hatte – harmlosen, schönen Spaß, wie ihn Freunde haben – sie sah doch, was mit ihrer Freundin los war. Und so dauerwütend hatte sie Cathy noch nie erlebt. Das könnte genau zwei Ursachen haben. Die erste war: Cathy ist noch in John verliebt und ist genervt, weil er es nicht sieht. Die zweite – und die machte Jaina wirklich mehr Sorgen – Möglichkeit war die, dass Cathy ein Auge auf Sherlock geworfen hatte. Und da sie Absagen zwar eigentlich gut abkonnte, aber mit der Zeit unglaublich jähzornig und verletzlich wurde, hatte Sherlock ihr offensichtlich wehgetan. „Du bist so bescheuert wie ein Korb Brot!“  Sauer packte Jaina ihre Handtasche, pfefferte alles wichtige hinein und stürmte zur Tür. Dann drehte sie sich nochmal um. „Nein, dümmer! Hoffentlich wirst du glücklich damit, für immer allein zu sein, begleitet von einem Freund, der dich hoffentlich wegen einer Frau verlassen wird! Mal sehen, was du dann machst, wenn du merkst, dass sich keiner mehr um dich und deine Genialität kümmert!“, keifte sie ihren letzten, vernichtenden Schlag und knallte dann die Tür hinter sich zu. Zurück blieben drei Männer, die nicht wussten, wie man mit Furien umging.  „Molly, weißt du, wie lange Chan noch Urlaub hat?“, wollte Cathy wissen, während sie nebenbei im Mikroskop Spreißel und Haare untersuchte, die eindeutig dem Opfer zugefügt worden waren. Molly machte in der Zeit das, was sie auch gut konnte. Kleidung untersuchen. Auf Spuren. Der Mann lag entkleidet herum, aber auf dem Bauch, da am Rücken interessante Einstiche waren.  „Ich glaub‘ bis nächste Woche Mittwoch. Er ist doch jetzt weggeflogen“, schätzte Molly.  „Äh – weggeflogen? Wohin denn?“ Das hatte er ihr nicht erzählt. Und das fand sie nicht gut.  „Mir gegenüber hat er was von Thailand erzählt. Zu seinen Großeltern.“  „Schön. Schön. Ich könnte kotzen“, murmelte Cathy in sich hinein. Thailand! Da konnte sie ihn nicht mal von seinem Urlaub abziehen wenn sie es wollte. Das war nicht gut.  „Bitte was?“  „Nichts. Ich könnte kotzen.“  „Wegen was denn?“, wollte Molly interessiert wissen. Da erst sah sie, dass ihre Vorgesetzte wirklich schlecht aussah. Der riesige blaue Fleck, leicht rötlich unterlaufene Augen – und jetzt sah es auch noch so aus, als würde diese junge Frau, die Molly manchmal sehr gefühlskalt vorkam, gleich losweinen müssen!  „Molly, kennst du das; du siehst jemanden und bist sofort hin und weg und dann tut dir diese dubiose Person nur weh und – oh!“ Mitten im Satz brach Cathy ab und stand auf, sofort hatte sie die kühle Fassade wieder im Gesicht. „Die DNA von dem Haar, das du vorhin gefunden hast ist endlich fertig.“  „Cathy! Komm raus aus dem Labor, wir haben Sachen zu erledigen!“  „Jaina, was machst du denn hier?“ Verwundert schaute die Rechtsmedizinerin von ihrer Arbeit auf. Ihre Freundin sah sehr aufgewühlt aus und Cathy wusste nicht genau, wie sie darauf reagieren sollte.  „Du hast das Rätsel gelöst und deswegen werden wir uns jetzt um diese Sache kümmern!“  „Jaina, du weißt genau, dass Greg mich einen Kopf kürzer macht – okay, los. Gehen wir. Molly, du schmeißt den Laden hier schon. Und streich Chan seine letzten beiden Tage, aber ruf ihn auch an. Ich komm heute nicht mehr.“  „Aber er ist doch in Thailand…?“  „Yeah? Und?“  „Naja… also… ich hab seine Nummer nicht.“ Molly sah sehr verwirrt aus.  „Stimmt. Dann sprech ihm auf den AB, dass er gleich nach der Landung seinen thailändisch gegarten Hintern hierher schwingen soll. Jetlag oder nicht.“  Gerade als sich Cathy die Handschuhe auszog und den Mundschutz in den Müll schmiss, wurde die Tür aufgestoßen und Anderson, ein Beamter bei der Spurensicherung mit dunklem Haar, heller Haut und einer flachen Nase, schaute herein. Keiner konnte ihn leiden außer Sally Donovan, aber da die beiden was am Laufen hatten, zählte das nicht.  „Miss Romeck, ich störe ungern, aber-“, fing er an, wurde aber von Cathy unterbrochen.  „Halten Sie den Rand, Anderson. Ich bin nicht mehr auf Arbeit“, erklärte sie ihm eisig.  „Aber DI Lestrade-…“  „Ja, der kann sich einen schönen Feierabend machen. Sie sind hier in der falschen Adresse, Anderson. Na los, verschwinden Sie, belästigen Sie andere mit Ihrer verbalen Diarrhoe“, scheuchte die Rechtsmedizinerin weiter, während Jaina ihr grinsend nachging. Dieser aufdringliche Schleimer hatte es schon so richtig verdient. Und jedes Mal, wenn sie ein Gespräch zwischen den beiden mitbekam, dann mobbte Cathy diese Person einfach aus dem Raum – innerhalb zweier Minuten. Irgendwann, da war sich Jaina sicher, würde Anderson ein zivilrechtliches Verfahren gegen ihre beste Freundin einleiten.    Keine halbe Stunde später befanden sich die beiden jungen Frauen auf dem Außengelände des Scotland Yard und beratschlagten, was als erstes zu tun sei. Cathy hatte beide Zettel dabei und las sie übersetzt vor.  „Also, der erste ist: Hier ist die Zahl. Und der zweite heißt: Unter dem Kaktus. Irgendwie ist das vollkommen sinnfrei. Zumindest macht der zweite Zettel keinerlei Sinn“, meinte Cathy und rieb sich die Stirn.  „Stimmt. Aber egal. Ich hab über dieses Bildchen nachgedacht und ich hab eine Idee.“  „Echt?“  „Klar. Du hast ja schon rausgefunden, dass es sich wohl um eine Kirchenglocke handelt. Und ich denke, er wird nicht irgendeine Kirchenglocke ausgewählt haben, wenn er so ein Rätsel startet, sondern etwas Besonderes. Etwas so offensichtliches, dass wir es übersehen würden.“  „Okay, ich weiß was du meinst.“  „Der Big Ben.“  Bevor die beiden den Abstecher zu der Touristenattraktion begannen, wollten sie sich allerdings noch etwas anderes anziehen. Cathy wollte sich auch duschen, sowie Jaina; beide fühlten sich nach dieser durchzechten Nacht etwas angeranzt. Und was half da besser als eine Dusche, schöne Kleidung und aufgefrischte Schminke?  „Also ich weiß nicht. Wie sollen wir am Big Ben irgendwas brauchbares finden?“ Jaina stand neben Cathy, die die Frage gestellt hatte, schick wie immer. Die Rechtsmedizinerin trug jetzt eine modisch kurze Latzhose, darunter ein knappes T-Shirt  „Keine Ahnung, vielleicht ist es ja im Glockenturm“, schlug die Designerin vor. Sie hoffte, dass sie beide da nicht hochsteigen mussten. Sie hatte sich für braune Shorts und ein weißes Top entschieden, dazu trug sie schwarze Turnschuhe.   „Irgendwie würde ich mich dem nicht so ganz gewachsen fühlen.“  „Ja, nee, so eine Klettertour wär jetzt auch nicht das Richtige für mich.“ Beide sahen sich den hohen Turm misstrauisch an. Es schlug gerade ein Uhr und der tiefe Glockenton lies die Luft vibrieren.  „Aber wenn die Zahl direkt an der Glocke dran ist?“, gab Jaina nachdenklich von sich.  „Dann gibt es einen Denkmalschänder unter uns“, stellte Cathy trocken fest. „Ich denke nicht, dass es direkt an der Glocke ist. Eher an einer Turmwand. Wieso sollte sich der Mörder für sowas in Lebensgefahr bringen, wenn er dabei das Risiko hat, etwas unvollendetes zurückzulassen?“  „Meinst du?“  „Naja, meistens stehen diese Leute doch darauf, etwas ganz zu machen. Halbe Sachen finden die nicht so cool“, erwiderte Cathy und schaute Jaina an. „Wollen wir mal außenrum laufen?“  „Klar. Bevor wir uns einen Ast klettern“, stimmte die Mathedozentin zu und lief dann neben ihrer Freundin her zum großen Glockenturm hin, was um diese Uhrzeit eine wirkliche Herausforderung war, da Touristen und dubiose Mandelhändler den Weg versperrten. Sie hätten besser die U-Bahn genommen, denn die vielen Menschen auf der Westminster-Bridge machten Jaina und Cathy nur nervös.  „Oh Mann, jedes Mal ist hier so viel los!“, beschwerte sich Cathy auch schon und wich einer chinesischen Reisegruppe aus, die Jaina und sie trennte.  „Vielleicht sollten wir uns – ich weiß nicht…“, fing Jaina an, doch die Medizinerin wedelte mit der Hand.  „Wir sollten gar nichts! Die sollten nicht immer zu den Sightseeing-Sachen gehen. Man sollte für eine bestimmte Zeit im Jahr Einreiseverbot machen oder Touristengefängnisse!“  „Bitte?“, entfuhr es der Modedesignerin, doch sie konnte nicht umhin als zu schmunzeln. Etwas Ruhe hier in der Stadt würde bestimmt nicht schaden, da hatte Cathy eindeutig recht.  „Du weißt schon, die ganzen Im-Weg-Steher einsperren!“, erklärte die Kupferhaarige grinsend und stemmte die Hände in die Hüfte, um den Big Ben aus dieser Entfernung zu betrachten. „Ich kann immer noch nichts sehen.“  „Ich auch nicht“, bestätigte Jaina, stellte sich neben Cathy und schaute sich um. „Vielleicht ist es auch nur in der Nähe.“  „Definiere Nähe“, forderte Cathy ihre Freundin auf.  „Einhundert Meter?“, schlug Jaina vor und schaute auf die Themse herunter, die trüb und verschmutzt träge im Flussbett lag und sich kaum zu bewegen schien. Manchmal wünschte sich Jaina zurück in ihr Heimatdorf, da gab es einen kleinen Bach, der war immer klar und lebendig.  „Das kann ich gerade noch vertreten.“ Damit stiefelte Cathy los, Jaina musste über so viel offene Faulheit grinsen und setzte sich ebenfalls in Bewegung.  „Es tut mir leid, aber ich sehe einfach absolut nichts! Nada!“ Cathy verschränkte die Arme hinterm Kopf und schaute sich um. Sie stand mit Jaina an der U-Bahn Station Westminster und blickte nach oben zum Glockenturm, die Sonne blendete sie.  „Nicht nur du“, meinte Jaina leicht enttäuscht und holte ihr Handy raus. Sie hatte eine SMS bekommen und beschloss, da sich die Suche nun ausdehnen würde, dass sie noch schnell darauf antworten wollte. Hi Jaina, ich hoffe, ich habe dich nicht vergrault heute Morgen Ich würde mich bald gerne wieder mit dir treffen xoxo Jim  „Jaina? Hörst du mir zu?“  „Ja bitte?“  „Ich sagte: Ist dir dieser komische Penner in dem leuchtgelben T-Shirt auch aufgefallen?“ Genervt seufzte Cathy und starrte auf Jainas Handy. „Mit Jim kannst du doch später auch noch flirten!“  „Les nicht meine SMSen!“, entrüstete sich Jaina und schaute sich um, um den Penner in Gelb zu entdecken.  „Nicht da hinten“, korrigierte die Rechtsmedizinerin. „Direkt neben dem Big Ben.“ Sie deutete mit dem Finger dahin.  „Hübscher Ring“, bemerkte Jaina und musterte das Schmuckstück, das aus einem hauchdünnen goldenen Ring und einer daran hingearbeiteten Flamme bestand. „Wo hast du den her?“  „Ich glaube, das war auf demSchwarzmarkt“, meinte Cathy und schaute ihn an. „Aber jetzt musst du auf das T-Shirt gucken.“  „Okay, ich schau!“  Cathy beobachtete genau, wie Jaina den verdächtigen, verranzten Mann betrachtete und stellte zufrieden fest, dass ihrer Freundin auch das auffiel, was ihr aufgefallen war. Dieser verwahrloste Obdachlose trug ein T-Shirt von Gucci und lief ständig hin und her, immer in der gleichen Bahn, sodass jeder die Zahl, die auf gelben Untergrund gedruckt war, sehen konnte.  „Neun. Eine riesige Neun“, hauchte Jaina und lehnte sich gegen den Pfeiler des Gebäudes hinter sich.  „Und zwei sind schon tot“, sagte Cathy langsam und holte ihr Handy heraus. Sie tippte eine Nummer ein, doch bevor sie auf den grünen Knopf drückte, tippte sie Jaina an die Schulter. „Glaubst du, du kannst hingehen und ihn fragen, wieso er so herumläuft?“  „Ja – klar. Klar. Sorry“, meinte die Brünette schnell und versuchte die Tatsache, dass noch sieben Menschen sterben sollten, zu verdrängen. Noch nie hatte sie bei Ermittlungen mitgemacht und jetzt dabei zu sein war nicht gerade das, was Jaina als Zuckerschlecken empfand. Viel eher hatte sie die Erkenntniss getroffen, dass man wahllos morden konnte, ohne dass einem jemand so schnell auf die Schliche kam. Der Gedanke war beängstigend und Jaina war kurz sehr schockiert gewesen.  „Dankeschön.“ Cathy drehte sich weg und hörte dann das stete Tuten einer freien Leitung.  „DI Lestrade. Wer ist dran?“  „Hi Greg. Ich bin’s, Cathy.“ Sie schaute zu Jaina, die über die Straße joggte als gerade kein Auto fuhr und sie keine Angst haben musste, überfahren zu werden. „Ich glaube, wir haben ein großes Problem.“  „Hallo, Mister“, keuchte Jaina, als sie unbeschadet über die Straße gekommen war. Das war jedes Mal voll der Nervenkitzel und sie wusste, warum sie hier keinen Führerschein gemacht hatte. Der Verkehr in Deutschland war ja schon gräßlich, aber hier würde sie jeden Tag wegen fahrlässiger Tötung verurteilt werden. Der Obdachlose sah von Nahem sogar noch schäbiger aus. Er hatte eingefallene, bleiche Haut, dunkle Augen und wirres Haar, das zwischen Nebelgrau und Hellbraun schwankte. Tiefe Falten und deutliche Tränensäcke prägten das Gesicht, das zudem von einer sehr großen Nase dominiert wurde.  „Mister, entschuldigen Sie!“ Jaina wollte ihn nicht anfassen, deswegen stellte sie sich nonchalant neben ihn.  Da erst reagierte er und hörte auf zu laufen. „Entschuldigung, aber ich beobachte Sie schon seit einer Stunde. Wieso laufen Sie denn ständig hin und her?“, erkundigte sie sich, ganz die besorgte Passantin.  „Ich weiß nicht. Man hat mir Geld dafür gegeben, dieses Shirt zu tragen und damit hier herumzulaufen. Seit zwei Tagen mache ich das schon und ich wurde für die restliche Woche noch bezahlt.“ Er begann wieder, auf und ab zu gehen,    Jaina folgte ihm geflissentlich.  „Und wer hat Sie bezahlt soetwas zu tun?“, wollte sie wissen.  „Sorry, Lady, aber wieso sind Sie so neugierig?“, erwiderte der Penner etwas unwirsch.  „Entschuldigung, ich wollte nicht aufdringlich wirken“, sagte Jaina schnell. „Ich dachte mir nur, dass das ein etwas sinnloser Job ist.“ Aber Anschweigen ist für dich auch keine Möglichkeit, mein Lieber. Aus dir bringe ich schon noch das heraus, was ich hören will, dachte sie entschlossen. Unverdrossen lief sie dem Kerl hinterher und kümmerte sich nicht um die Blicke, die ihr die anderen Passanten zuwarfen. „Würden Sie mir etwas mehr verraten, wenn ich Ihr Gehalt  aufstocken würde?“  „Um wieviel würde es sich denn handeln?“, hinterfragte der alte Mann schamlos, ohne Jaina anzusehen.  Diese verzog ihr hübsches Gesicht zu einer missgünstigen Grimasse und kalkulierte, wieviel für jemanden wie ihn viel wäre.  „Hundert Pfund für den Namen.“  „In Ordnung“, stimmte der Penner zu, drehte sich zu Jaina um und hielt die Hand auf. „Erst das Geld, dann die Information.“  „Wehe, Sie versuchen mich zu betrügen“, warnte sie und kramte aus ihrem Geldbeutel zwei fünfzig Pfund Scheine hervor. Diese überreichte sie ihm, was er mit einem breiten, zahnlückenreichen Grinsen bedachte.  „Dankeschön, Miss. Gott segne Sie, Miss“, sagte er dann hastig und drehte sich schnell um.  „Der Name“, erinnerte sie ihn eisig.  „Oh, Namen gibt es viele“, wich der Penner aus. „Leider kann ich Ihnen keinen nennen, denn mir wurde auch keiner genannt.“ Sie hörte ihn lachen und ihre Geduld wich langsam einer wachsenden Wut. Sie packte den Obdachlosen am T-Shirtkragen und zog ihn mit einer strengen Bewegung zu sich hin.  „Der Name – oder ich nehme mir mein Geld zurück!“, zischte sie.  „Aber Miss, ich habe Ihnen doch nichts getan!“, winselte er plötzlich sehr laut, sodass sich Touristen und Passanten nach den beiden umdrehten. Jaina war sich der Situation bewusst, dass sie gerade wie eine böse Schlägertante rüberkam, doch hundert Pfund waren ihr das wert.  „Sie haben mich bestohlen!“, beschwerte sie sich lauthals und ballte eine Hand zur Faust.  „Aber nein! Ich stehle nicht! Bitte, tun Sie mir ni-“ Doch Jainas Faust hatte ihn schon an der Wange getroffen und der Obdachlose taumelte entsetzt und verstört zurück. Er hielt sich die Schlagstelle und starrte Jaina schockiert an. Diese sah ihn belehrend an und zuckte hochmütig und affektiert mit den Schultern.  „Das war die hundert Pfund annähernd wert“, befand sie und beschloss, zu Cathy zurückzukehren. Dies wurde misstrauisch von vielen Augenpaaren beobachtet.  „Mhm“, machte Cathy, als Jaina wieder zurückkam. Sie bedeutete ihrer Freundin, dass sie gleich zuhören würde. „Und weiter sind die Ermittlungen nicht? Irgendwelche Zusammenhänge zwischen den Opfern, die nichts mit der Pathologie zu tun haben? Wohnort oder so?“  Da das Gespräch doch noch zu dauern schien, entschied sich Jaina, Jim zurückzuschreiben. Sie las seine SMS noch einmal durch und wunderte sich – nicht zu ersten Mal – was sie an ihm so besonders fand. Er war ganz gewiss kein Model, aber er hatte Stil. Reichte das wohl schon, um Eindruck bei ihr zu machen? War das genug, um sie ins Teenageralter zurückzukatapultieren? Jaina schüttelte den Kopf und verbannte diese Gedanken. Es waren doch nur Treffen. Hey Jim, Klar würde ich dich gerne wiedersehen Bald ist der Uniball! Jaina  „Okay, dankeschön. Bis bald“, verabschiedete sich Cathy und legte auf. Dann schaute sie Jaina an. „Die haben nicht mal die Cäsar-Scheibe erkannt“, gab sie dann von sich.  „Ich hab den Penner zusammengeschlagen“, erwiderte Jaina in Ermangelung einer passenderen Erwiderung. Aber auch das hatte einen guten Effekt, Cathy schnappte nach Luft und nickte dann. „Er wollte keinen Namen verraten, aber er wird dafür bezahlt, die ganze Woche so herumzulaufen.“  „Aha. Das ist ja interessant.“ Cathy steckte ihr Handy elegant in die Hosentasche und sah sich um. „Tja, hier werden wir nichts mehr finden. Die Zahl haben wir.“ Kapitel 8: DOWN-TO-EARTH ------------------------ Curiosity is the very basis of education and if you tell me that curiosity killed the cat, I say only that the cat died nobly. – Arnold Edinborough    „Es tut mir Leid, aber ich kann dir nicht ganz folgen.“  „Jaina, ich glaube, ich habe ein Problem.“  „Ja, der Meinung bin ich auch.“ Jaina hatte die langen Beine übereinandergeschlagen und musterte ihre Freundin, die eine filigrane Tasse Tee in den Händen hielt und aus dem Fenster blickte. Sie hatten sich in ein kleines Café in der Nähe des Big Ben zurückgezogen um über die nächsten Schritte zu reden. Allerdings waren sie beim Thema Sherlock Holmes stecken geblieben.  „Ich kann mir nicht helfen, aber er gefällt mir“, erklärte Cathy, stellte die Tasse ab und stützte ihr Kinn auf die gefalteten Hände. „Ich weiß nicht mal, wieso.“  „Vielleicht findest du ihn attraktiv?“, schlug Jaina geduldig vor.  „Nur halb!“ Cathy streckte ihre schlanken Beine aus und wackelte mit den Füßen.  „Bist du sapiosexuell?“  „Dann wäre ich ja vollkommen verloren!“, entfuhr es Cathy. „Wenn ich auf die Intelligenz von anderen stehen würde. Aber oh… er ist so intelligent!“  „Sapiosexuell“, stellte Jaina nüchtern fest. „Wenden wir uns jetzt bitte wieder dem Verbrechen zu?“  „Danke. Ja.“ Cathy atmete gestresst aus und verzichtete darauf, zu erwähnen, dass das ihren Verdacht nur bestätigte. „Also, wir müssen jetzt noch sieben Morde verhindern. Und dazu müssen wir einen Platz oder jemand finden, der unter einem Kaktus ist. Irgendwie sowas.“  „Meinst du, es könnte ein Gebäude gemeint sein?“, schlug Jaina vor und biss in ihr Tomate-Mozzarella Brötchen, das sie sich heute als Mittagssnack gönnte.  „Glaub ich kaum“, gab Cathy zu bedenken. „Solche Mörder leben von der Abwechslung.“  „Woher willst du das wissen?“  „So würde ich es machen“, grinste die Medizinerin und nahm einen Schluck Tee. „Wenn ich schon bei dem Arrangement gleich bleibe, dann werde ich wohl die Schauplätze ändern.“  „Das stimmt“, gab die Designerin zu und nickte. „Also vielleicht der Name von einem Gebäude?“  „Und wenn es vielleicht nicht nur der Name von einem ganzen Gebäude – sondern der Name eines ganz bestimmten Ortes, wie eines Pubs, wäre? Wäre das nicht fantastisch?“  „Das wäre bravurös.“  Die beiden hatten beschlossen, die weiteren Ermittlungen – die ja sowieso illegal waren – auf den nächsten oder übernächsten Tag zu verschieben, da sie beide eine Auszeit gebrauchen konnten. Jede hatte also ein wenig Zeit für sich selber, bevor sie wieder zu Sherlock und John in die Wohnung gingen um dort zu übernachten. Außerdem war es Donnerstag und an den vorletzten drei Tagen der Woche war in London immer die größte Party, das wollte sich Cathy nicht entgehen lassen; während sich Jaina auf einen ruhigen Abend mit ihren Ballkleid-Schnitten freute.  „Uhhh, ein Abend zum Ausgehen!“ Cathy tanzte in der verlassenen Wohnung herum und sammelte die Sachen ein, die sie für den heutigen Abend brauchen würde. Sie würde alle Bars und Discos abklappern die sie kannte! Sie hatte schon geduscht und ihr Haar zu kunstvollen Locken geformt. Jetzt trug sie ihren schwarzen Spitzen-BH und das passende Höschen und suchte zu den schwarzen, sündhaft hohen Pumps das passende kleine Schwarze, was schnell gefunden war. Es ging gerade mal bis unter den Po und war eng anliegend, mit einem tiefen, eckigen Ausschnitt. Sie schlüpfte hinein, stellte sich den CD-Spieler ins Badezimmer und lies ihr Lieblingsalbum von Simon Curtis laufen, während sie sich die Augen schwarz umrahmte und die Wimpern sorgfältig tuschte. Sie entschied sich für durchsichtigen Lipgloss und bronzefarbenes Puder. Cathy war gerade fertig mit Schminken, als ihr Handy klingelte. Arglos nahm sie ab.  „Hi“, grüßte sie fröhlich.  „Cathy, wo bist du?“, wollte ein besorgter John vom anderen Ende der Leitung wissen.  „In der Wohnung“, erwiderte sie und korrigierte den Lidstrich nochmal. „Wieso?“  „Haben wir nicht etwas ausgemacht?“ Er klang gar nicht amüsiert.  „Was denn?“ Sie betrachtete ihr Gesicht genau und befand, dass sie den blauen Fleck gut weggeschminkt hatte. Sowas konnte nicht jeder von sich behaupten!  „Dass du nicht mehr alleine ausgehst!“, rief John entnervt und sie hörte, wie er es an jemanden weitergab.  „Öh, wieso ich?“ Das war Jaina. Sie schien mit dem Arzt zu reden.  „Weil du ihre Freundin bist!“  „Aber mir macht das doch nichts aus! Sie weiß schon, wo sie hin geht!“  Ja, genau deswegen möchte ich einen Abend frei von dir haben, John, dachte sich Cathy bitter.  „Aber wir wissen doch gar nicht, wo sie hingeht!“, rief John.  „Cathy?“ Das war Jaina.  „Jo, Jaina?“  „Geh bitte einfach aus und hab Spaß“, schlug ihre Freundin vor. „Lass dir den Abend nur nicht von John verderben. Du weißt ja, wo du hin musst wenn was ist.“  „Dankeschön Jaina. Und du wirst Kleider schneidern?“ Cathy kam sich ein bisschen doof vor, dass sie ihre Freundin allein bei den beiden Männern lies, doch sie musste einfach die letzten Tage wegfeiern.  „Klar. Das macht mir doch sowieso viel Spaß“, erwiderte Jaina. „Fühl dich nur nicht schlecht. Das nächste Mal komm ich mit.“  „Also Jaina, was genau wird das?“, wollte John wissen, nachdem er sich mit der Tatsache abfinden hatte müssen, dass die Designerin nichts tun würde, um Cathy vom Ausgehen abzuhalten.  „Abendkleider“, erklärte sie simpel und breitete die Stoffe vor sich aus. Sie hatte beschlossen, den Abend doch hier zu verbringen, da sie zu hause wohl weniger sicher war als hier und ihr die Gesellschaft nichts ausmachte, solange es still war.  „Und für was?“  „Für einen Ball natürlich.“  „Für welchen Ball?“  „Uniball.“ Sie fand ein Kleid, das sie sehr schön fand. Es war mehr ein glamuröser Faltenberg als ein eindeutiger Schnitt, aber genau das gefiel ihr gut. Vor allem für die gedeckte Farbe, die sie tragen würde – das würde bestimmt super aussehen! Der Schnitt bestand aus einem Korsett und einem darangenähten, oberschenkellangen Rock, beides wurde üppig mit durchsichtigen Stoffen dekoriert, sodass das Kleid an Volumen und Dramatik gewann. An einigen Stellen würde das Kleid knöchellang werden, doch nur mit dem durchsichtigen, festen Stoff; an der Hüfte wollte Jaina eine überdimensionale und abstrakte Blume aus verschiedenen Stoffen anbringen, die dann bis zu den Knien fallen sollte, genauso wie sie die eine Hälfte des Korsetts bilden sollte. Zumindest hatte sie das für ihr Kleid gedacht. Auffällig und doch sehr grazil.  „Für wen ist das Kleid?“  „Für den Weihnachtsmann“, erwiderte Jaina sarkastisch und und schaute John streng an. „Tu‘ mir einen Gefallen, John. Einen. Entspann dich und les ein Buch, aber stell nicht so viele Fragen.“ Sie widmete sich wieder ihrer Arbeit, dem Abmessen des Stoffes. Glücklicherweise kannte sie ihre Maße inzwischen auswendig, 82-55-90 ging schon ziemlich leicht zu merken.  „Dankesehr, Jaina“, murmelte Sherlock aus seinem Eck.  „Oh, gern geschehen.“    Cathy befand sich vor einer Disco in der Nähe der Innenstadt, ausgerüstet mit einem Long Island Ice Tea und ihrer schmalen Handtasche. Drei gutaussehende Geschäftsmänner rangen um ihre Aufmerksamkeit, während sie schon darüber nachdachte, wo sie als nächstes hingehen wollte. Sie war jetzt schon seit zwei Stunden hier drin gewesen und es wartete noch fast die ganze Stadt! Da spürte sie, wie ihr Handy vibrierte.  „Sorry, da muss ich leider ran“, entschuldigte sie sich mit einem verschwörerischen Lächeln und verzog sich in ein stilleres Eck, in welchem die Raucher standen. „Hi?“  „Cathy, siehst du Sherlock?“  „Bitte was?“, entfuhr es ihr.  „Sherlock. Siehst du ihn?“, wollte Jaina ungeduldig wissen.  „Warum sollte ich ihn sehen?“  „Weil John ihn geschickt hat, dich zu suchen.“ Jaina klang gepresst und Cathy hatte das Gefühl, dass ihre Freundin diesen Anruf heimlich tätigte. Sie trank einen Schluck von ihrem Drink.  „John macht sich viel zu viele Sorgen. Aber ich schau mich gerne um“, meinte sie dann und lies ihren Blick streifen, über die Häuser in der Nähe und über die Straße. „Also, ich sehe keinen-“ Sie stockte.  „Cathy?“ Ihr Blick war an etwas anderem kleben geblieben.  „Jaina, zieh dir was an. Cactus en bici, in zwanzig Minuten bist du hier.“  „Nein, denkst du das wirklich?“ Jaina hatte sich eine kurze schwarze Hose und ein enges, blutrotes Top angezogen, dazu eine silberne Strumpfhose und schwarze Pumps. Sie starrte mit Cathy auf die kleine Texasbar, die gegenüber der Disco lag. Das Logo war ein grinsender Kaktus, der auf einem Fahrrad fuhr.  „Mir fällt sonst nichts ein, was sonst auf das Drudel und den Spruch passen würde“, erwiderte Cathy und zog ihren halterlosen Strumpf zurecht.  „Mir auch nicht. Und jetzt?“  „Wie und jetzt?“ Verständnislos sahen sich die beiden an. Cathy verstand nicht, was Jaina wollte.  „Der Laden hat zu. Was willst du jetzt machen? Den Besitzer rausklingeln? Weißt du schon, was auf dem Drudel ist? Willst du den Kerl um ein Uhr in der Nacht zu Tode erschrecken?“, wollte Jaina wissen und verschränkte die Arme.  „Also, das hätte ich jetzt schon so gemacht“, verteidigte sich Cathy, die sich sofort bescheuert vorkam. Dabei hatte sie nur zwei alkoholhaltige Getränke gehabt, über den ganzen Abend. Aber gut, sie hatte lange nicht mehr getanzt und getrunken. Da wirkte das nochmal ganz anders.  „Komm, geh lieber mit mir nach Hause.“  „Oh, aber dann hast du dich ganz umsonst schön gemacht!“    Jaina wachte für ihre Verhältnisse relativ früh auf und stellte mit einem Blick auf den Wecker fest, dass sie noch gute drei Stunden Zeit hatte, bis ihre erste Lesung begann. Schlaftrunken drehte sie sich auf dem ausgezogenen Sofa um und schaute in Cathys ruhiges aber zerknautschtes Gesicht.  „Aufwachen“, sagte Jaina und schüttelte die Freundin. Feste. „Du musst heute deine Aussage machen – und außerdem sollst du auch mal wieder was arbeiten!“ Damit stand Jaina auf und begab sich ins Bad, um zu duschen.  „Puhhh, nee“, döste Cathy eine Antwort und gähnte herzhaft. Dann dachte sie an den letzten Abend.  „Cactus en bici!“, entfuhr es ihr. Das allein war nötig, um sie aufrecht sitzen zu lassen. Sie sah sich um und wunderte sich, warum sie noch in Johns und Sherlocks Wohnung war. „Ohhh und das Verhör! Und der Kurs! Und Arbeit!“ Geschafft lies sie sich zurückfallen, nur um im nächsten Moment die Ohren zu spitzen.  „Das geht so unglaublich schnell, ich glaub‘ es nicht“, ertönte es gedämpft aus der Küche. Cathy drehte sich auf den Bauch und spähte über die Sofalehne. „Das ist dann schon der dritte, oder?“ Sie runzelte die Stirn. „Ich frage mich wirklich, wer es witzig findet, Bildchen zu benutzen.“ John klang sehr niedergeschlagen, doch in Cathy regten sich die Lebensgeister. Ein dritter Mord! Letzte Nacht! Sie sprang auf und zog sich in Windeseile ihr gestriges Party-Outfit an. Sie musste unbedingt in die Rechtsmedizin! Aber noch während sie sich aus der Wohnung schleichen wollte, fiel ihr ein, dass sie auch noch Studenten hatte. Und vielleicht doch vorher zur Polizei. Und da davor wäre Zähneputzen eventuell auch angebracht. Meine Güte, muss denn immer alles auf einmal sein? Gräßlich! Jaina befand sich gerade in der U-Bahn zur University, als ihr Handy das Vibrieren anfing. Sie hatte zwar einen Klingelton, da sie aber nie sicher sein konnte, wann wer etwas von ihr wollte, hatte sie ihn schon lange abgestellt und gegen diese langweilige Bewegung eingetauscht. Locker holte sie es aus ihrer Tasche und hielt es an ihr Ohr.  „Jaina White, hallo.“ Mit der Schulter klemmte sie das mobile Telefon fest und kruschte nach ihrer Wasserflasche.  „Hi, hier ist Jim. Wie geht es dir?“  „Jim – meine Güte, ich dachte schon, jemand mit einem Problem ruft mich an.“ Kurz lachte Jaina, ihr Blick glitt über die anderen Fahrgäste der U-Bahn. „Fast hast du mich erschreckt.“ Sie fühlte sie beobachtet und aus dem linken Augenwinkel nahm sie jemanden wahr, den sie zu kennen glaubte. Aber sie war sich nicht ganz sicher und es konnte doch auch nicht sein, oder? Schließlich war diese Person noch für ein paar Tage im Urlaub verreist – und was ging es Jaina an, über die Tätigkeiten von anderen zu urteilen? Sie schüttelte kurz das Unbehagen von sich, bestimmt täuschte sie sich, manche Personengruppen waren sich einfach untereinander ähnlicher als andere, und widmete sich Jim, der fröhlich weitergeredet hatte. Die Mathematikerin war sich bewusst, dass sie das halbe Gespräch verpasst hatte, aber das konnte man ja schließlich überspielen.  „…abends.“ Jim holte gerade Luft, das war kein gutes Zeichen. Jaina hatte wohl viel verpasst.  „Ja. Total“, stimmte sie hastig zu.  „Okay. Ich war nur kurz verwirrt. Aber ich bin froh, dass du es in Orndung findest, bei mir zu übernachten“, hörte sie Jim erleichtert sagen.  Bitte was?!, fuhr es ihr durch den Kopf. ÜBERNACHTEN?! „Ja klar, wir sind doch erwachsen.“ Wieso sprach er vom Übernachten? Auf was hatte sie sich da gerade eben eingelassen?  „Das stimmt.“  Jaina konnte ihn praktisch lächeln hören. Sie fühlte sich überfordert. Schon allein wenn sie daran dachte, wie unverschämt niedlich und wunderschön Jim aussah, wenn er sie so anlächelte, wollte sie schmelzen – das auch noch zu hören, war für sie wie ein Todesstoß ins Gewissen. Jaina konnte Jim einfach nichts ausschlagen.  „Ja. Ähm… Jim“, fing sie daher an und kaute nervös auf ihrer Lippe. „Sei mir nicht böse, aber ich irgendwie hab ich vorhin nur die Hälfte von dem mitbekommen, was du erzählt hast. Wann soll ich nochmal bei dir sein?“ Hoffentlich erst beim Uniball, betete sie währenddessen inständig. Sie betete nicht oft und an Gott glaubte Jaina allenfalls halbherzig, aber sie hoffte, dass irgendetwas ihre starken Gedanken beherzigen würde.  „Kein Problem“, lachte der Mann am anderen Ende herzlich. „Heute Abend nach deinen Lesungen – da hast du doch nichts vor, oder?“ Jetzt klang Jim fast besorgt. „Ich wollte dich eigentlich mit einem DVDAbend überraschen, aber wenn du was anderes vorhast, dann ist das auch in Ordnung.“  „Äh…erm.. ähh hä“, stotterte Jaina und bemerkte, dass sie ihre Haltestelle gerade verpasste. Sie dachte an die Texasbar, an die lustigen Ermittlungen mit Cathy – und entschied sich dagegen. „Wenn du mich an der Baker Street Haltestelle abholst, dann würde ich sehr gerne einen DVD-Abend mit dir verbrigen.“    „Nein, er hat mir nicht an die Brust gefasst“, sagte Cathy und rutschte unangenehm berührt auf dem Stuhl herum. „Aber er hat versucht, mit zu töten. Reicht das nicht?“ Sie strich sich eine verirrte Strähne ihres ungekämmten Haares aus dem Gesicht.  „Miss Romeck, es ist nuneinmal so, dass-“  „Miss Dr. Dr. Romeck“, unterbrach die Rechtsmedizinerin den Polizisten, der sich sichtlich anstrengte, seinen Job gut zu machen. Jedoch wirkte er hinter der großen Brille und dem etwas dürftig rasierten Drei- Tage-Bart sehr unbeholfen.  „Ähm… Entschuldigung“, murmelte der junge Mann, kratzte sich am Kopf und starrte auf seine Unterlagen.  „Jedenfalls… müssen wir wissen, ob er Sie sexuell missbraucht oder angegriffen hat.“  „Er ist tot.“ Sie schnaubte und faltete die Hände. „Hören Sie, ich weiß, dass Sie das wissen müssen, weil Sie so eventuell ähnliche Fälle mit diesem verknüpfen können, aber diese Entführung war nicht gegen mich gerichtet. Es ging in erster Linie um Sherlock Holmes, der damit angegriffen werden sollte. Der Penner hat mich nur begrapscht und in … Bedrängnis gebracht, weil er dachte, dass Sherlock und ich ein Verhältnis miteinander hätten“, erklärte Cathy dann und lehnte sich zurück. „Was vollkommener Schwachsinn ist“, murmelte sie dann.  „Dankeschön“, erwiderte der Polizist, hob bedeutungsschwer eine Augenbraue und schrieb etwas auf seinen Block.  „Kann ich gehen? Ich hab‘ noch Unterricht zu halten.“  „Sie haben nicht frei?“  „Nein, seh‘ ich aus wie eine Mimose? Außerdem gibt der Alltag den Opfern doch Sicherheit“, grinste die Kupferhaarige, stand auf und verlies den Vernehmungsraum. Sie trug immer noch ihr Partyoutfit. An: Cathy Von: Jaina Hey! Heute Abend bin ich leider nicht daheim! Spontaner DVDAbend mit Jim! ;)  „Ach, Jaina, wo bleibt deine Neugierde?“, fragte sich Cathy während sie den Zettel zum zehnten Mal las. Sie hatte keine Lust, alleine zu ermitteln! Sie konnte nicht mal Chan mitschleppen, der hatte immer noch Urlaub. Sie hasste Urlaub. Vor allem, wenn ihre Mitarbeiter welchen hatten, dann ganz besonders, und am meisten, wenn sie auch noch wegflogen. Am liebsten würde Cathy Überstunden ausbezahlen und jeden zwingen, zwölf Stunden am Tag zu arbeiten, so wie sie! Und jeder, der nicht jammert, der würde eine Prämie am Ende des Monats bekommen. Das war ihre Vorstellung vom perfekten Arbeitsplatz, leider teilte niemand ihre Ansicht. Sie stand in der Rechtsmedizin, den Kopf vor sich liegend und nicht genau wissend, wo sie anfangen sollte. Köpfe alleine waren ja fast langweilig. Allerdings brachte der ein bisschen Farbe in den Alltag! Es handelte sich bei diesem Opfer um eine junge Frau mit afrikanischen sowie chinesischen Vorfahren. Sie hatte schwarze Korkenzieherlocken und volle Lippen. Cathy schätzte sie auf Anfang bis Mitte Zwanzig – wie sie selbst. Solche Momente machten die Arbeit meist schwer für sie. Die junge Frau hätte ihr Leben noch vor sich gehabt und irgendein Mistkerl hatte sich angemaßt, ihr einfach alle Möglichkeiten zu stehlen. Genau deswegen hatte sie diesen Beruf gewählt. Niemand sollte für eine Schandtat ungestraft davon kommen.Sie hatte ihren Nachmittagskurs in der Uni schon gehalten, die Studenten wie immer verplant und lernunwillig, am besten den Doktor nach dem zweiten Semester geschenkt; ihre Laune wurde nicht gerade besser. Zudem hatte der medizinische Leiter der Uni ihr ans Herz gelegt, etwas kürzer zu treten und den Lehrposten eventuell abzutreten. Einen Burn-out würde er nicht gerne riskieren, vor allem nach den letzten Ereignissen. Burn-out – so ein Schwachsinn!, dachte Cathy gereizt.  „Dr. Romeck? Geht es Ihnen gut?“  Cathy zwang sich zu einem Lächeln und schaute zu Molly rüber, die ihr heute assistieren sollte.  „Ja ja. Komm, lass mal anfangen. Sonst werden wir nie fertig.“  „Es ist nur ein Kopf“, meinte die junge Frau mit den haselnussbraunen Haaren.  „Genau. Ein Kopf. Und, was haben wir schon? Irgendwas brauchbares? Oder möchtest du erst pathologisch und spurensicherungstechnisch tätig werden?“ Ungeduldig schob sich Cathy die Kopie des neuen Zettels in die Manteltasche.     Jaina hatte ihr schlechtes Gewissen verbannt, sich umgezogen und stand nun – im dämmrigen Abendlicht – an der U-Bahn Haltestelle Baker Street um von Jim abgeholt zu werden. Sie hatte sich für etwas schlichtes und bequemes entschieden, da sie keine Lust hatte, den ganzen Abend und die halbe Nacht an einer zwickenden Jeans zu leiden. Eine bequeme und hübsche Jogginghose und ein sportlich anliegendes T-Shirt würden schon genügen. Die Straße war voller Menschen, die gerade zur Arbeit gingen oder nach Hause wollten. Und zum ersten Mal, seit Jaina in London lebte, fragte sie sich, wie viele wohl sagten, sie gingen nach Hause – oder zu einer Freundin – um dann ungestört zu einem Liebhaber zu gehen. Warte – Liebhaber? Jaina schüttelte den Kopf. Jim war defintiv nicht ihr Lover! Er war ihr… Date. Sie schluckte. Und sah sich um, als ob jemand ihre Gedanken lesen könnte und das Unbehagen spüren, das von ihr ausging. Sie mochte das Wort nicht und die Bedeutung schon gar nicht, aber die Dozentin musste es wohl als das hinnehmen, was es war.  „Jaina! Sie entwickeln sich ja geradezu zu einem tauben Nüsschen!“  „Jim!“ Entsetzt fuhr sie herum – sie hatte ihn überhaupt nicht kommen gehört! Wie peinlich! Er kam lässig auf sie zugelaufen, die Hände in den Hosentaschen und ein anzügliches Grinsen auf seinem Gesicht. Er trug eine maßgeschneiderte Anzughose und ein ordentliches weißes Hemd. „Sie schleichen sich aber gut an.“  „Ich kann noch ganz andere Sachen gut“, erwiderte er nur und fasste sie unaufdringlich am Ellenbogen.  „Entschuldige wenn ich dich habe warten lassen.“  „Nicht so schlimm“, wiegelte Jaina ab, immer noch beschämt über ihre Unaufmerksamkeit.  „Wunderbar.“ Sie gingen ein Stück zusammen, bis Jim stehen blieb. „Jaina, ich muss dir etwas sagen.“  Oh nein, jetzt gesteht er mir seine Liebe und ich? Ich werde bestimmt ohnmächtig werden!, dachte die Dozentin sofort gestresst. Nicht, dass sie Jim nicht leiden konnte. Aber das wäre ihr schon zu viel des Guten. Obowhl – diese Kette, die er ihr geschenkt hatte – die war auch schon zu viel des Guten gewesen. Und sie trug sie heute auch. Dennoch schaute sie ihn an, als ob er ihr gleich mitteilen wollte, sie hätte Krebs oder Lepra.  „Du bist ziemlich blass – geht’s dir gut?“ Jim blieb stehen, hielt sie an beiden Oberarmen von sich gestreckt und musterte sie besorgt. Er machte sich nicht wirklich Sorgen um sie. Nicht große zumindest, schließlich war er James Moriarty. Aber langsam wuchs ihm diese kleine Person ans Herz und sie so schockiert zu sehen war für ihn etwas – komisch.  „Ja ja, klar!“, wiegelte sie schnell ab. „Klar geht’s mir gut. Los, sag schon.“ Aber bitte sag nicht, dass ich Lepra hab und du dich deswegen in mich verliebt hast. Im selben Moment schalt sich Jaina für diese Gedanken. Das machte ja sowas von keinen Sinn! Sie würde auf ihre jungen Tage doch nicht etwa schon an Wahnsinn erkranken? Nicht, dass Genies das selten taten. Aber für sie war es nun doch etwas früh.  „Ich wollte dir nur sagen, dass ich kein Gästebett hab.“  „Kein Ding, dann schläfst du halt auf der Couch.“ Und Jim mochte irgendwie ihre Art, selbstverständlich auf das beste zu bestehen. Erinnerte ihn an sich selbst. Dabei war die junge Frau in jedem Fall sehr charmant und überzeugend. Für Jaina war der Fall damit erledigt und sie war sehr erleichtert, dass es sich bloß um die Schlafgelegenheit gehandelt hatte. Sie wusste schon, auf was Jim hinaus wollte, aber so leicht würde sie es ihm nicht machen, sie war doch kein billiges und williges Schulmädchen! Auch wenn sie sich manchmal in seiner Gegenwart so fühlte. Sie war nie eines gewesen und würde damit jetzt auch nicht anfangen. Obwohl er in seinen schicken Sachen immer wieder hinreißend aussah.    „Öh – wo ist denn Jaina?“, wollte John wissen, als Cathy ohne ihre beste Freundin durch die Tür geschlendert kam. So gut sie auf ihren High Heels schlendern konnte. Der Arzt selbst trug eine Jeans und einen beigen Pullover, hielt eine Tasse Kamillentee in seinen Händen.  „Weg. Bei ihrem Date.“  „Oh – bei diesem Jim.“  „Genau bei dem!“ Cathy grinste verwegen und fand es immer leichter, John nicht mehr als potentiellen Lebensgefährten anzusehen. „Und deswegen hab ich mir für heute Abend auch mal frei genommen.“ Sie runzelte die Stirn. „Aber wieso bist du da?“  „Ich fang erst in zwei Stunden an.“  „Und wo steckt Sherlock?“  „Bei Ermittlungen. Geheim.“  „Aha.“ Sie kickte ihre Schuhe weg und verschwand dann ins Schlafzimmer. Dort warf sie sich einen übergroßen Pulli von John über und schlüpfte in eine schwarze Leggins. Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, stand eine Tasse Kakao für sie dort. „Danke, John.“ Doch der Arzt war schon weg, was Cathy noch mehr die Stirn runzeln lies. Was war los mit ihm? Lief es mit Sarah nicht gut? Hatte er keinen Bock auf Jaina und sie? Die Rechtsmedizinerin schaltete den Fernseher an, schnappte sich den Kakao, löschte alle Lichter und lümmelte sich dann in den Sessel. An: Jaina Von: Cathy Jaina, wehe du hast heute weniger Spaß als ich! Ich will morgen was lustiges von dir hören! Ich drohe dir, deine Cathy Jaina schaute auf die SMS und musste unwillkürlich grinsen. Sie hockte bei Jim im Schneidersitz gemütlich am Sofa, lies sich den lieblichen Wein und die Chilichips schmecken, während sie sich vom Film unterhalten lies. Der schwarzhaarige Mann hatte sich allein für Verblendung, einen Thriller-Krimi entschieden. Davon war Jaina zwar nicht der größte Fan, aber es war allemal besser als Liebesfilme. Lieber folgte sie der Handlung und überlegte, wie lange sie es schaffen konnte, nicht aufs Klo zu müssen. Das mochte sie nicht, zumindest nicht beim ersten Besuch. Da wollte sie einfach noch nicht die Toilette nutzen – und damit war sie genauso paranoid wie ihre beste Freundin. Man fühlte sich noch nicht so ganz sicher in der neuen Umgebung und vermied es daher, pinkeln zu gehen.  „Und Jaina, wie gefällt dir meine Wohnung?“, wollte da Jim wissen, der auf der anderen Seite des Sofas saß. Er sah sie nicht an, aber das war nicht nötig. Die junge Frau schaute auch eher auf den Fernseher.  „Gut.“ Man wollte ja nicht übertreiben. Und Jaina wollte Jim schon gar nicht zeigen, wie mega sie seine Luxuswohnung fand. Er hatte das beste vom besten und so viel davon. Die Küche war wie neu, hoch modern, voller Glas, Chrom und schwarzen Fliesen. Das Bad war in Weiß und Silber gehalten, mit einigen Grünpflanzen dazwischen. Das Wohnzimmer wurde von dem riesigen Flatscreen-Bildschirm beherrscht, davor die dunkelgraue Couch, die auf dem Mahagoni-Boden stand. Es gab noch einen alten Schreibtisch, zwei bequem anmutende Sessel und einen Couchtisch in schwarz. Sie war angetan davon. Alles sah so ordentlich und schön aus. Gut, fand sie, war das richtige Wort, um nicht überwältigt zu wirken.  „Schön.“  Ja, schön fand sie seine Wohnung auch. Aber das rieb sie ihm nicht unter die Nase. Noch nicht. Man musste sich schließlich die Komplimente, die man machen konnte, sorgfältig aufteilen, um sie in den richtigen Momenten von sich zu geben. So lachte Jaina nur leise, schob einen Chilichip nach und atmete unhörbar zufrieden und glücklich aus. Sie wusste eine gute Freundschaft, leckeres Essen und ein gemütliches Plätzchen sehr zu schätzen und war sich im Klaren, dass sie dies den Abenteuern manchmal vorzog. Offenbar wurde sie langsam erwachsen.   Es war etwa zehn Uhr, als die Wohnungstür sich öffnete und der Detektiv mit einigem Lärm durch die Küche eintrat. Cathy war gerade in eine Art Überentspannung – oder einfach Halbschlaf – gesunken und wurde davon geweckt, dass er etwas, vermutlich seine Schuhe, achtlos in die nächste Ecke kickte. Sie hörte, wie er sein Jackett an die Garderobe hängte und durch die Küche ins Wohnzimmer kam. Dann stockte er. Aber nur kurz.  „Was machst du denn noch auf?“ Seine Stimme klang wie immer: tief, melodisch und irgendwie desinteressiert.  „Fernseh gucken“, erwiderte Cathy mit geschlossenen Augen. Sie lag inzwischen am Sofa, das Gesicht in die hintere Ecke vergraben, sodass man nur ihren Rücken sehen konnte.  „Nun, mit dem Gesicht im Sofa lässt sich schlecht die Sendung über das Aussterben der Dodos ansehen.“  Nun war eindeutig Spott in seiner Stimme.  „Irgendwas neues für die Ermittlungen?“ Eigentlich wollte sie es gar nicht so genau wissen.  „Ich weiß, wer der Mörder ist.“ Sherlock, der sich mit allem beschäftigte, was halbwegs interessant war, hatte selbstverständlich schon lange über Greg Lestrade von den seltsamen Morden gehört. Und von Molly die Details über die Köpfe erhalten. Und nachdem er gemerkt hatte, dass die Polizei – wie immer – kläglich am Versagen war, war er auf eigene Faust los gegangen. Wie so oft. Aber noch nie hatte er es erlebt, dass sich sogar schon die Rechtsmediziner auf Ermittlungen begaben. Hier waren wirklich Defizite seitens der City Police anzukreiden! Und er hatte schon jemanden im Visier, der ein dünnes Alibi hatte.  „Schön für dich“, murmelte Cathy herrlich uninteressiert. Der Schwarzhaarige wusste, dass sie keine Ahnung hatte, dass er von ihren Fällen redete. Sie kniepte mit den Augen, schaltete den Fernsehapparat aus, stand auf und streckte sich.  „Gehen wir ins Bett?“  „In getrennte Betten, meinst du.“  „Nein, ich möchte gerne mit dir das Nachtlager teilen, weil du mich immer so gut unterhälst und ich mich im Dunkeln fürchte“, gab sie lakonisch zurück, was Sherlock erstarren lies. Kurz fragte sich Cathy, ob er Sarkasmus verstand. Offenbar nicht. Deswegen zuckte sie nur ergeben mit den Schultern. „War ein Witz. Ich geh hoch.“ Und das tat sie dann auch, nicht ohne einen Gedanken an Jaina zu haben, ob diese wohl hoffentlich mehr Spaß als sie gerade hatte und ob es die Mathematikerin endlich geschafft hatte, diesen Jim aufzureißen. Oder anders herum. Aber vermutlich sahen sie sich gerade politsch wichtige Sendungen oder sozialkritische Filme an und später würden sie bei Wein diskutieren und sich verstehen und vollkommen brav und unschuldig in verschiedene Nachtlager sinken. Dass Cathy damit im Unrecht war, konnte sie um diese Zeit noch nicht wissen. Sie wusste nur, dass es doch gut gewesen war, die Ermittlungen kurz ruhen zu lassen. So hatte sie sich sammeln und konzentrieren und entspannen können – etwas, was sie zu Studienzeiten nie getan hatte. Kapitel 9: SHARP SIGHTED ------------------------ “I like persons better than principles, and I like persons with no principles better than anything else in the world.” – Oscar Wilde, The Picture of Dorian Gray   Der nächste Tag begann für Jaina wie im besten Urlaub, den sie jemals hatte. Es fing schon damit an, als sie die Augen öffnete: die wundervolle Skyline von London begrüßte sie, strahlend im frühen Sonnenschein, leuchtend und einladend. Und was sie roch, war noch besser. Frische Brötchen, der Duft von aufgebrühtem Kaffee und dem zarten Rest von Jims Parfum. Sie schnupperte lächelnd und richtete sich auf. Das mit ihr in seinem Bett und ihm auf seinem Sofa hatte nach dem vierten Glas Wein nicht mehr so ganz geklappt, deswegen hatte Jim sein Sofa ausgezogen – was Jaina am liebsten beklatscht hätte, sie hatte ewig kein ausziehbares Sofa mehr gesehen seit sie aus der Mode gekommen waren! – und sein Bettzeug ins Wohnzimmer geschleppt. Danach waren sie beide schnell eingeschlafen, was um zwei Uhr in der Nacht kein Wunder war. Jim hatte seinen Arm um sie gelegt und was für ein wunderbar leichtes Gefühl das gewesen war!  Als Jaina nun im Morgenlicht saß und sich daran erinnerte, überlegte sie, ob sie sich wohl gerade auf eine Romanze einlies. Sahen so Romanzen aus? Gab es davon wirklich eine Definition oder bestanden solche Dinge eher aus dem Gefühl, dass es etwas sein könnte?  Da war Jaina froh, dass sie Philosophie nicht im Zweitfach studiert hatte. Viel zu viel zum Nachdenken! Zu viele Fragen, die man nicht beantworten konnte, zu viel Unlogik.  „Guten Morgen“, hörte sie da schon Jim sagen, während er in der geöffneten Küchentür stand. Mit zwei Tassen in der Hand. Er sah umwerfend aus, ein wenig verschlafen, mit leichten Bartstoppeln, das Haar zerzaust. Es passte hervorragend zu der Jogginghose, die er trug und dem engen, schwarzen Unterhemd.  „Morgen“, erwiderte sie sehr freundlich.  „Magst du deinen Kaffee schwarz oder mit Milch?“  „Mit Milch und Zucker.“ Schwarz ist nur für möchtegern-Machos, dachte sie bei sich und hoffte inständig, dass Jim seinen Kaffe mit Milch trank.      „Ja, grüß dich Gott!“  „Hi auch.“ Jaina schaute ihre beste Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen an und fragte sich, wer daran schuld war, dass Cathy so gut aufgelegt war. Die Mathematikdozentin fühlte sich nie besonders wohl in der Rechtsmedizin und auch diesmal, als sie in die Kühlen Kellerräume trat, fröstelte sie. Was auch daran liegen konnte, dass sie in einem hübschen Sommerkleid unterwegs war.  „Jaina, ich habe eine Bitte.“  „Die wäre?“  Cathy legte das Skalpell zur Seite und legte ein Stück Gewebe in ein Probedöschen ein. „Ich muss mal hoch zu Molly.“  „Was machen?“ Jaina war sich nicht ganz sicher, ob sie damit was zu tun haben wollte. Der Kopf, der hier so rumlag, beruhigte sie nicht wirklich.  „Ihr das Gewebe geben, ich glaube, da könnte was interessantes dran sein.“  „Und?“ Etwas verwirrt schaute Jaina Cathy an.  „Ich möchte, dass du kurz hier auf meine Freundin aufpasst.“  „Öhh… wie lange wird das dauern?“ Lange wollte sie nicht hier bei den ganzen Toten, die in den Kühlfächern eingeschlossen waren, allein bleiben!  „Zwei Minuten oder so“, grinste Cathy, die das Unwohlsein ihrer Freundin in deren Gesicht lesen konnte.  „Falls du dich ablenken willst oder Detektiv spielen – hinten in meinem Schreibtisch ist eine Lupe.“  „Eine … Lupe?“ Aber Cathy war schon weg und Jaina stand allein im weiß gekachelten Raum. Kurz überlegte sie, ob sie sich hier drin benehmen wollte wie eine Lady. Dann ging sie doch lieber zu Cathys Schreibtisch.    Als Cathy zurückkam, beugte Jaina noch immer über dem Kopf, die Stirn gerunzelt und die Augen zusammengekniffen. Leise lächelte die Rechtsmedizinerin – so hatte sie auch immer ausgesehen, wenn sie etwas interessantes gefunden hatte. Inzwischen war das leider selbstverständlich geworden.  „Cathy, ich will dir ja nicht reinreden oder so…“, begann Jaina da, ohne sich jedoch zu bewegen.  „Tust du schon, aber weiter im Text.“ Cathy band ihr Haar zu einem unordentlichen Knoten.  „Ich glaube, da ist ein Haar, das nicht wirklich zu diesem lockigen Kopf gehört.“  „Ein Haar?“ Neugierig beugte sich Cathy neben Jaina. „Wo?“ Sie reichte ihrer Freundin eine Pinzette.  „Da.“ Jaina nutzte das Werkzeug effektiv und kurz darauf hatte sie das corpus delicti aus dem Zahnzwischenraum gepflückt. Es war schwarz und starr, kein europäisches und auch ganz sicher kein dickes, festes afrikanisches Haar. Beide Frauen sahen es im strahlenden Licht der Neonlampe an.  „Denkst du, das bringt uns weiter?“, wollte Jaina leise wissen.  „Die Wurzel ist noch dran. Definitiv.“ Cathy nahm das Haar mit der behandschuhten Hand von der Pinzette und brachte es zum Mikroskop. „Ich werde es dann gleich untersuchen.“  „Okay.“ Jaina legte die Lupe zurück in die Schublade, dabei entdeckte sie ein Bild an der Wand. Darauf waren Cathy, Chan und Lestrade zu sehen, die alle breit in die Kamera grinsten. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Chan nicht ganz sauber war und es wurde nicht gerade besser, nachdem sie ein Haar, das so leicht einem Chinesen gehören konnte, an einer Leiche gefunden hatte. Sie fühlte sich ein wenig schlecht. „Cahty?“  „Ja?“ Sie werkelte gerade am Rachenraum herum.  „Glaubst du, das Haar könnte von einem Chinesen sein?“ Jaina hoffte auf eine Verneinung.  „Klar.“  „Denkst du, man braucht ein sinnvolles Motiv für solche Morde?“ Sie hoffte auf ein Ja.  „In heutiger Zeit nicht mehr. Die Opfer sind willkürlich, es gibt keinerlei Verbindung. Also, nein. Wieso?“  „Ich dachte nur… vielleicht…“  „Ja, du dachtest?“ Cathy blickte auf und legte ihre Sachen weg. „Was ist los?“ Sie lehnte sich mit verschränkten Armen an den Stahltisch und musterte Jaina, die etwas unbeholfen vor ihrem Büro stand.  „Nun, ich dachte mir, also, ich hab ja nie Psychologie studiert oder so, aber wenn dieser Mörder wirklich kein richtiges Rache- oder Vergeltungsmotiv hat, auch kein Hass oder Rassissmus, dann muss es etwas anderes sein. Vielleicht etwas wie eine Mutprobe?“  „Hmm.“ Zustimmend nickte Cathy. Kurz hatte sie auch daran mal gedacht, den Gedanken aber nie weiter gesponnen.  „Und vielleicht will der Mörder einem anderen was beweisen – sowas wie einem Supermörder, der sich einfach nicht schnappen lässt?“ Jaina fragte sich kurz, ob das etwas überzogen oder blöd klang. Andererseits passierten auf dieser Welt so viele zweifelhafte und seltsame Dinge, dass solch ein Supermörder doch gerade noch als plausibel durchgehen konnte.  Cathy indes dachte an die vielen ungelösten Mordfälle und an so einige Ermittlungen, die sie von Lestrade mitbekommen hatte. Es schien tatsächlich so jemanden zu geben. „Also meinst du, dieser Mörder ist so etwas wie ein Schüler?       Jemand, der erst eine Aufnahmeprüfung für die richtige Liga ablegen muss?“  „Du hast doch Psycho-Unterricht bekommen!“, verteidigte sich Jaina.  „Und ich befürchte, du hast Recht.“    Jaina arbeitete gerade an der Fertigstellung der Kleider – sie hatte die Stoffe bekommen, die Muster und alles Notwendige – und dachte darüber nach, wie gedankenverloren Cathy gewesen war, als sie die Dozentin herausgeworfen hatte. Jaina hoffte, dass das Haar jemanden unbekannten gehörte. Sie hoffte es inständig. Und sie hoffte inständig, dass die Kleider bis in einer Woche komplett fertig würden, denn dann stand nämlich der Uniball bevor. Sie war allein in der Wohnung und schätzte die Ruhe und Entspannung. John war wieder auf Arbeit und Sherlock trieb sich herum, um irgendwelchen mysteriösen Hinweisen nachzugehen. Gerade setzte sie zum Rock ihres Kleides an, als es an der Tür klopfte. Ich bin nicht da, dachte Jaina und war sich sicher, dass das der Besuch auch bald denken würde.  „John!“, rief da eine weibliche Stimme, die Jaina noch nicht kannte. Es klopfte noch einmal. Lauter.  Nein, nicht für dich. Jaina mochte Besuch nicht so sehr.  „John, mach die Tür jetzt auf! Ich bin’s, Sarah!“  Sarah? Die Dozentin kannte den Namen! Irgendwoher. Und als es erneut an der Tür klopfte, fiel es ihr wieder ein. John’s Freundin! Diese Ärztin, die Leben retten wollte! Jetzt war Jaina in der Zwickmühle – machte sie die Tür auf, würde Sarah sich unweigerlich fragen, was da so lange gedauert hatte. Würde sie nicht öffnen, würde Sarah von John später erfahren, dass Jaina nicht geöffnet hatte. Mist.  „John ist nicht da!“ Gleich nachdem Jaina das gerufen hatte, hätte sie sich schlagen können. John ist nicht da? Aber dafür eine fremde Frau. Cool, wenn man bedachte, wie eifersüchtig die heutigen Damen waren.  „Wer sind Sie?!“, kam es auch gleich erzürnt von der Tür.  „Jaina White! Und Sie?“  „John’s Freundin!“  „Schön für Sie!“ Es war ja nicht unbedingt der Grund Nummer Eins, um Sarah einzulassen. Und Jaina wollte wirklich gerne weiter an ihren Kleider arbeiten, ohne gestört zu werden. Da hatte sie schon ihre Prinzipien.  „Wo ist John denn?“  „Auf Arbeit!!“ Und ich lass dich nicht rein.  „Bitte, darf ich rein? Ich hätte gerne ein wenig Gesellschaft.“ Jetzt klag diese Sarah sogar ein wenig traurig.  Genervt seufzte Jaina, stand auf und öffnete die Tür. „Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, mich zu stören.“  „Stören?“ Sarah sah die Mathematikerin aus großen, hellblauen Augen an. Offensichtlich hatte sie geweint, sie hatte noch Kajalspuren die Wangen hinunter und die Nasenspitze war noch gerötet. „Bei was?“  Keine Ahung, beim Existieren, schlug Jaina in Gedanken vor. „Nichts. Kommen Sie rein. Tee?“  „Gerne. Schwarz.“  „Zucker?“  „Bitte. Aber den Beutel nur eine Minute ziehen lassen.“  Nur eine Minute? Niemand lies seinen Tee nur so kurz ziehen! Das machte Sarah Jaina auch nicht sympathischer. Doppel-Mist.    „Hmmm.“ Cathy betrachtete das Haar und das Ergebnis, das der Computer zu der DNA-Anfrage ausgespuckt hatte. „Merkwürdig.“ Das, was sie sah, war eigentlich nicht möglich. Aber das Haar stammte eindeutig von Chan. Sie schaltete das Mikroskop aus und fand sich in einer Glaubenskrise wieder. Sollte sie das Haar vernichten? So wäre ihr Assisstent sicher. Aber wenn er es wirklich war, wenn er diese Leute umgebracht hatte – Cathy konnte nicht gut mit Schulgefühlen umgehen. Und es würde für immer unerledigt bleiben, was noch schlimmer war. Außerdem würde sie damit Jainas Adlerauge beleidigen. Aber wenn sie das Haar nicht vernichtete, sondern als Beweismittel listete, würde Chan als Hauptverdächtiger gelten. Dabei kannte sie ihn doch schon seit zwei Jahren. Tief atmete sie ein, tütete das Haar in eine Beweismitteltüte und verschloss diese luftdicht. Und dann versteckte sie es in ihrem Schreibtisch. Sie musste Rücksprache mit jemanden ihres Vertrauens halten. Sie wollte nicht glauben, dass ihr persönlicher Assi so etwas Schreckliches tun konnte. Sie wollte an seine Unschuld glauben.    „Ich fühle mich einfach nicht ganz geliebt – ich bin immer an zweiter Stelle für John!“, weinte Sarah vor sich hin. Kaum hatte Jaina den Tee fertig gehabt, hatte die Ärztin angefangen, der Dozentin ihr Leid zu klagen.  „Und… äh… wer ist an erster Stelle?“, wagte die Brünette nachzufragen. Wenn es John selbst wäre, dann wäre Jaina nämlich gezwungen, die Besucherin rauszuschmeißen. Das konnte man nämlich niemanden zum Vorwurf machen, sich selbst wichtiger als die anderen Menschen zu nehmen. Jaina nahm sich ja auch am wichtigsten und fand nichts Schlechtes dabei. Sie war halt egoistisch und das war jeder, alles andere wäre Heuchelei.  „Sherlock! Ständig spricht er von ihm, rennt weg wenn dieser Detektiv etwas von ihm braucht! Es ist nicht zum Aushalten!“ Sarah knallte die schon leere Teetasse auf den Tisch und schniefte herzzerreißend. „Es tut mir Leid, Miss Jaina. Ich wollte Sie nicht mit meinen Problemen beladen.“  Nun, Jaina hatte der guten Frau auch nur zur Hälfte zugehört und sich eher ihrem Kleid gewidmet, deswegen zuckte sie nur mit den Schultern und schaute zu der Besucherin. „Nicht im Geringsten.“  „Ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe. Es tut mir leid. Und sagen Sie John bitte nicht, dass ich hier war.“  Damit stand sie auf und ging einfach aus der Wohnung, Jaina schaute ihr noch mit hochgezogenen Brauen und einem etwas verwunderten Ausdruck hinterher. Im Ernst, dachte sie sich und verzog den Mund. Wie kann diese Frau eine eigene Praxis leiten? Sie nähte noch eine Weile weiter, ohne groß Nachzudenken – beim Nähen entspannte sie am besten.  Doch dann kam Jaina doch ins Grübeln, zuerst über John und Sarah, dann über Jim. Er war so nett, so zuvorkommend und höflich und warm und schön. Er machte ihr Geschenke und Komplimente, unterbrach sie nie wenn sie sprach und würdigte ihre Arbeit. Außerdem war er intelligent und selbstständig und stilsicher und konnte tanzen und wusste um die Benimmregeln. Irgendwie wollte Jaina wissen, was er denn jetzt von ihr wollte – und vor allem: Was sie von ihm wollte und wie viel von dem. Sie legte ihr Nähzeug weg. Sie hatte das dringende Gefühl, diese Frage jetzt zu klären, sofort und auf der Stelle. Und außerdem wollte sie ihn zum Uniball mitnehmen. Das musste sie ihm auch noch sagen. Sie ging zu ihrem Handy, das am Wohnzimmertisch lag und wählte seine Nummer aus. Selbstverständlich konnte Jaina seine Nummer noch nicht ganz auswendig, aber die ersten sechs Zahlen, schließlich war sie kein autistisches Genie. Es wählte ein paar Mal, dann hörte sie Jims vertraute Stimme. „Jim Moriarty, hi!“  Und plötzich hatte Jaina ein wenig Zweifel, ob es so schlau wäre, ihn zu fragen, was er von ihr wollte. Panisch drückte sie auf dem Display herum, verhaspelte sich dabei und warf das Handy weg. Der Uniball war ihr plötzlich nicht mehr so wichtig.  „Oh Schande!“, fluchte sie dann laut, während sie nach dem Handy suchte. „Ich kann es nicht fragen! Mist! Warum nicht? Wieso kann ich Jim nicht fragen, was genau da zwischen uns ist? Ist da was? Kacke, ich weiß es ja selber nicht, wie soll’s er dann wissen?? Oh Mann! Und warum versteck‘ ich diese… diese… diese Emotionen so wie Cathy dieses beschissene Haar von Chan?! Kann mir das mal einer erklären?! Ich hasse Unklarheiten! Oh ja, das tue ich! Ich werde Jim gleich fragen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe! Oh Mann, das muss aber auch bald sein! Zum Uniball will ich ja auch mit ihm! Verdammt!“ Sie schlug auf die Sofalehne und richtete sich auf. „ Aber das will ich nicht am Telefon machen – wie bescheuert bin ich eigentlich?“  „Überhaupt nicht!“, kam es da aus dem Telefon, das neben dem Couchtisch auf dem Boden lag.  „Ahhhhh!“ Entsetzt sprang Jaina über den Tisch und drückte auf den roten Hörer. Jim hatte mitgehört. Alles. Sie hatte auf Lautsprecher statt auf Aus gedrückt. Sie könnte heulen. Und in ihrem ganzen Ärger bemerkte Jaina auch nicht, dass Sherlock heim gekommen war und sie auch belauscht hatte. Das hatte seinen Verdacht bestätigt, aber das musste er der jungen Mathematikerin ja nicht auf die Nase binden. Stattdessen beschloss der Dunkelhaarige, wieder nach draußen zu gehen. So hörte er nicht, wie Jaina ganz außer sich den Wohnzimmertisch leerfegte und zwei Glasschüsseln zerstörte. Kapitel 10: BAD COMPANY ----------------------- “We can’t command our love, but we can our actions.” - Sir Arthur Conan Doyle   Es waren einige Tage vergangen, in welchen sich die Wogen langsam glätteten. In diesen Tagen hatten Jaina und Cathy auch endlich Mrs. Hudson kennengelernt, eine eigensinnige aber herzliche und liebenswerte Person. Sie war wohl an die sechzig, aber immer noch fit. Jaina hatte sie gleich nach ihrem Tobsuchtanfall kennen gelernt, die gute Frau hatte sich dann doch Sorgen gemacht, was oben in der Wohnung von Sherlock so vor sich gegangen war.   Und nun saßen die drei Frauen bei Mrs. Hudson in der Wohnung und tranken eine Tasse Tee gemeinsam. Es war inzwischen neun Uhr Abends und alle waren erschöpft. Jaina hatte einen harten Tag Arbeit hinter sich, mit stets unwilligen Studenten und schlecht gelaunten Kollegen. Außerdem kannte keine ihrer weiblichen Kolleginnen Jim. Das fand sie komisch, aber nicht verwunderlich – diese Frauen hatten schließlich nur Augen für ihren Kurs und irgendwelche weiteren Titel. Jaina ging es mehr um das Wissen an sich und es weiterzugeben. An würdige Leute. Die Dozentin trug im Moment eine lockere Stoffhose und ein anliegendes Top, dazu lässige, etwas zu große Strümpfe, die Beine hatte sie unter dem Tisch ausgestreckt. Ihr Haar lag offen und ungebändigt auf ihren Schultern auf. Sie rührte etwas lustlos in ihrem Tee herum.   Cathy indes nippte an ihrem Tee und seufzte unbehaglich. Sie mochte Mrs. Hudson sehr gerne, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass die Frau ein falsches Bild von Jaina und ihr hatte. Die Rechtsmedizinerin war ebenfalls wieder an der Uni gewesen und hatte – wie Jaina – ein Erinnerungsschreiben an den Japanischkurs bekommen. Den hatte sie im ganzen Stress und Ärger der letzten Tage gänzlich vergessen und es war den beiden jungen Frauen sehr unangenehm. Sie kratzte sich mit ihrem Fuß an der Wade und verzerrte damit ihre Jogginghose, aber es war ihr gleich.   „Nun, ihr zwei – wollt ihr mir nicht endlich sagen, was da oben die ganze Zeit los ist? Die zwei Jungs sind ja so aufgekratzt in letzter Zeit!“, eröffnete Mrs. Hudson das Gespräch, das die zwei Studierten fürchteten.   „Naja…“ Jaina verkroch sich hinter ihrer Tasse und überwand sich, einen Schluck des fürchterlich starken schwarzen Tees zu nehmen.   „Ja?“ Die ältere Frau hob die Augenbrauen, sehr neugierig.   „Also, ja…“ Die Rechtsmedizinerin kratzte sich am Hinterkopf und verstrubbelte so den sowieso schon unordentlichen Dutt. „So viel ist da gar nicht los.“ Sie versuchte es mit Diplomatie.   „Ihr dürft ruhig ehrlich zu mir sein. Ich bin ja froh, dass Sherlock endlich mal eine junge Frau an seiner Seite hat, die ihn ein wenig erdet.“ Damit sah sie Jaina so nett an, dass diese ganz große Augen machte.   Meinte Mrs. Hudson wohl sie?! „Es hat ihm so lange an einer gefehlt!“ Dann drehte sie sich zu Cathy und legte ihr die Hand auf den Unterarm. „Und ich bin wirklich erleichtert, dass sich John eine so lebhafte junge Dame ausgesucht hat.“   Cathy prustete den Tee direkt auf den Tisch. „Nein… also!“, hustete sie dann und tupfte mit ihrer Serviette die kleine Schweinerei auf. „Ich… also.. nein.“   „Was ist denn, meine Liebe? Darf es denn noch niemand wissen?“ Mrs. Hudson wirkte fast ein wenig verstört und auch sehr in Sorge. Sie streichelte Cathys Arm.   „Nein!“   „Was sie meint ist… also, Mrs. Hudson…“ Jaina wusste auch nicht so recht, was sie denn jetzt sagen sollte. Obwohl die Wahrheit wohl das beste wäre. Nur, wie verpackte man die geschickt? Anlügen wollte sie die nette Frau auch nicht!   „Sherlock ist mein Freund!“, lachte da die Rechtsmedizinerin. Also doch gelogen. „Jaina’s Freund wohnt in der Stadt.“   „Oh!“ Nun wurde die ältere Frau fast ein wenig rot im Gesicht und kicherte verlegen. „Das tut mir leid. Ich wusste nicht, dass…“ Nun, damit war wohl auch alles gesagt. Mrs. Hudson hatte es einfach nicht besser gewusst.   „Peinliche Sache“, meinte Jaina eine halbe Stunde später, als die zwei alleine in Sherlocks Wohnung saßen, umgeben von den Ballkleidern und sich eine Pizza gönnend.   „Ehrlich“, stimmte Cathy zu und guckte auf den Stoffbatzen, der ihr Kleid war. „Wie soll ich das bitte tragen?“ Sie hatte den Entwurf gesehen, und der sah schon zum Dahinschmelzen aus. Es war vorne knielang, hinten wurde es v-förmig länger, sodass es bis zur Mitte der Waden reichte, und weiß; ärmellos und im Gegensatz zu Jainas fast schlicht. Fast. Auf Höhe der linken Brust befanden sich diverse Stoffteile, die wie halb hängende Federn aussahen und dieser Eindruck hielt sich von der präzise geschnittenen Taille bis hin zum absichtlich zerfransten Ende des Kleides.   „Hallo? Das ist dir auf den Leib geschneidert! Außer du hast zugenommen, dann wird’s schwierig.“   „Hab ich nicht.“ Sie dachte an die zuletzt gemessenen Maße und hoffte, dass sie wirklich nicht zugenommen hatte. Eigentlich fand sie 102-66-97 ganz angemessen für sich. Auch wenn sich ihre Brüste schlecht in solch ein schönes Kleid verpacken liesen.   „Will ich auch für dich hoffen!“   Sie aßen beide weiter und schauten sich in der Unordnung um. „Hier schaut’s echt furchbar aus.“   „Halt die Klappe, Cathy. Oder willst du das aufräumen?“   „Willst du mir damit drohen?“, fragte die Genannte und biss herzhaft in ein Stück der Pizza.   „Wenn ich dir drohen wollte, würde ich sagen: Ich erzähle Sherlock, dass du gesagt hast, dass er dein Freund ist“, klärte Jaina ihre Freundin auf, wischte ihre Finger an einem Erfrischungstuch ab und stellte dann den Pizzateller weg.   „Ist das nicht ein bisschen Kindergarten?“, wollte Cathy wissen.   „Nah, eher Realschule.“   Beide sahen sich mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann prusteten sie gleichermaßen los. Dreißig Minuten später standen beide aufgestylt an der nächsten Poststation und warfen ein paar Briefe an ihre Familien ein. Das machten sie eher unregelmäßig, aber meistens, wenn etwas spannendes passierte. Jaina trug ein schwarzes, lässiges Top mit einem Totenkopfanstecker an der rechten Schulter, dazu eine hellblaue Jeans, die komplett destroyed war – sehr zerissen und fransig – mit zwei schmalen Ledergürteln, die sich überkreuzten, dazu trug sie schwarze Ankle-Boots aus Leder. Sie hatte ihre coolste Riesensonnenbrille aufgesetzt, die sie besaß. Das Haar fiel ihr locker und wie immer lockig über den Rücken.   Cathy hingegen hatte sich für ein lockeres, weißes Jack-Daniels-Top entschieden, welches an ihr schlabberte, aber teilweise in die Hose gestopft war und wie bei Jaina einen Sideboob verursachte – beide hatten ihre BHs nicht unbedingt immer nötig. Sie trug eine ausgewaschene Hotpant, die ebenfalls sehr zerstört aussah. Ihre Füße steckten in dunkelgrauen Cowboystiefeletten die vorne aber nicht spitz zusammenliefen, sondern abgerundet waren. Um die Hüfte trug sie zwei Tücher geschlungen, die im leichten Wind flattern würden.   „Ähem!“, machte da eine Frau hinter ihnen, die ein strenges Kostüm trug.   „Ja, kann ich Ihnen helfen?“ fragte Jaina abschätzig und musterte die Frau.   „Wie lange wollen Sie denn noch den Schalter blockieren?“, wollte diese Frau wissen und hob die Augenbrauen, ganz, als wäre sie etwas Besseres. Ihr helles Haar war zu einem strengen Knoten gebunden.   „Solange wir es für nötig erachten“, erwiderte Jaina und schaute auf Cathy, die versuchte, ihren etwas zu dicken Briefumschlag in den normalen Schlitz zu stopfen. Fast hatte sie es geschafft.   „Ihre Begleitung scheint sich ja nicht unbedingt mit Briefkästen auszukennen“, gab die Frau von sich.   Da machte es Plopp! und der zu dicke Umschlag fiel durch den Schlitz.   „Ich sagte doch, nix ist zu dick für diese Ritze!“, feierte Cathy und drehte sich breit grinsend zu Jaina um. Der strengen Frau war bei diesen Worten die Haltung aus den Gesichtsmuskeln gefallen.     „Du hättest ihr Gesicht sehen sollen!“   „Du hättest die Oma hinter der Frau sehen sollen!“, grinste Jaina, während sie neben Cathy an einem Milkshake-Stand wartete. Vor ihnen waren noch zwei Leute. Sie freute sich so auf einen Erdbeer-Banane-Shake!   „Was hat die Oma gemacht?“, wollte Cathy gleich wissen, während sie mit ihrem kleinen Geldbeutel in Form einer Eule spielte.   „Die war mit einer anderen Oma-Freundin da und hätte sie noch reden können, hätte sie’s der blonden Tante echt gegeben. Die hat uns so gefeiert.“   „Tja, Omas wissen halt, was gut ist“, fand die Medizinerin und lachte schäbig.   „Also ich will einen großen Erdbeer-Banane-Shake!“ Jaina warf dem Verkäufer eine zehn Pfund Note zu, drängelte sich so vor drei jugendliche Kerle, die nicht gerade gut gelaunt aussahen. Sie trugen alle diese wieder-modernen Hipster-Klamotten, zu große Brillen und Cordhosen, natürlich mit einem Undercut – Warum verstehen manche nicht, dass das an ihnen einfach scheiße aussieht?, dachte sich Jaina – und einer eher nicht modernen schlechten Laune.   „Blaubeer-Vanille für mich!“, rief Cathy hinterher und schnippte dem Verkäufer zwei Pfund zu. Dieser fing die Münze, grinste und steckte sie ein.   Alsdann bereitete er die Shakes zu, etwas, was die zwei jungen Frauen immer gerne sahen. Es war auch immer der selbe Verkäufer, mit Glatze, ein bisschen dick, braungebrannt – fast wie ein übergewichtiger und niemals strenger Mr. America – und jeden Tag mit einem Lächeln. Seine Uniform war einfach hinreißend, rot-weiße Längsstreifen und eine rote Cap mit einem lächelnden Shake darauf.   „Ihr habt euch voll vorgedrängelt!“, motzte da der Chef der Hipster-Gang los. Es war klar ersichtlich, dass er das Sagen hatte, schließlich hatte er die größte Brille und die hässlichste Hose.   „Wer zuerst kommt, malt zuerst“, gab Jaina ein Sprichwort zum besten. Neben ihr grinste Cathy. Sie fanden sich gegenseitig bei solchen Gelegenheiten immer wieder richtig cool.   „Solche Sprüche sind echt out“, plärrte der kleinste Hipster. Jaina hob nur die Augenbrauen.   „Jungs, ihr habt Sachen an, die sind out. Und eure Frisuren auch. Und die Brillen auch.“   „Ergo: Ihr seid out“, schloss Jaina aus Cathys Aufzählung.   „Die Shakes für die zwei Mädels!“, rief da der Shaker-Mann.   „Heey, danke!“, erwiderten die beiden grinsend und nahmen ihre Zuckerbomben entgegen.   „Wollt ihr uns verarschen?“, fragte der Hipster-Chef böse und kam einen großen Schritt auf Jaina zu. Diese beschloss, ihn nicht zu beachten. Die Jugend. „Hey! Ihr könnt mich nicht ignorieren!“   Klar können wir das machen, dachte Jaina noch, doch plötzlich spürte die Mathematik-Dozentin einen harten Schlag in den Rücken, sie verschluckte sich am Shake – und ihr Becher fiel ihr aus der Hand, auf die Straße und platze auf!   „Jaina!“, rief Cathy entsetzt und hielt ihre Freundin gerade noch so am Arm fest, sodass diese nicht in die Pampe reinfiel oder sich eine Verletzung auf dem Asphalt holte!   „Los Dustin, gib’s den Zicken!“, feuerten die zwei anderen Teenager diesen Dustin an.   Aber ehe weder Jaina noch Cathy etwas erwidern konnten, wurde Dustin gepackt, herumgeworfen und auf den den Boden geschleudert! Von einem Mann in Schwarz.   „Nur Feiglinge greifen von hinten an. Und Idioten schubsen meine Freundin.“   „Jim!“ Jaina war erstaunt, ihn hier in der Innenstadt zu sehen. Aber auch erleichtert. Er nahm ihre Hand in seine und ihre Knie wurden Pudding.   „Woah! Jaina! Hast du das gesehen?!“ Begeistert zeigte Cathy von Jim auf Dustin und zurück. „Dein Date hat dem Hosenscheißer gezeigt, wer den Hammer hat!“   „Ich glaube, du meinst: Wo der Hammer hängt“, wollte Jaina Cathy auf die Sprünge helfen.   „Nein, Jim hat den Hammer.“   „Cathy!“ Entsetzt schaute Jaina ihre beste Freundin an, dann beschämt zu Jim, der grinste.   „Hi auch.“ Er gab der Medizinerin die andere Hand und schüttelte sie freundlich fest. „Freut mich, dass du das stark fandest.“ Er hatte Jaina einen neuen Shake gekauft und spazierte nun mit den beiden jungen Frauen durch den Park. Das Bild, das sie abgaben, war etwas irritierend – ein Businessmann umgeben von zwei Rockröhren. Doch Jim fühlte sich sichtlich gut, denn er grinste über das ganze Gesicht und Jaina fühlte sich wohl hinter ihrer Sonnenbrille. Keiner ihrer Studenten würde sie erkennen oder den Umstand, dass sie mit einem anderen Dozenten abhing.   „Wo hast du das nur gelernt?“, wollte Jaina gerade wissen und schlürfte genüsslich ihren Shake.   „Es gibt vieles, was du nicht weißt“, meinte Jim nur und zuckte mit den Achseln. Dann grinste er sie verschwörerisch an, was Cathy natürlich nicht entging.   „Also, Leute, nein. Ich geh jetzt heim. Das nenn ich ’nen Reim.“ Sie lachte kurz über ihre eigenen Worte, dann blieb sie stehen. „Ich hau jetzt wirklich ab. Bei dem Gespräch möchte ich eher ungern dabei sein, obwohl ich dich danach so gut damit ärgern könnte.“ Sie guckte Jaina eindringlich an und nickte.   „Okay, ciao!“, rief Jim schon, drückte Cathy und war bereit, weiterzulaufen. Jaina guckte ihn nur schräg an, dann Cathy.   „Worauf auch immer du hinaus willst, meine Gute – nichts dergleichen wird passieren. Viel Spaß beim Abgammeln.“   Die Freundinnen winkten sich fröhlich und gingen dann getrennte Wege.   Schade, dachte Cathy, dass du nicht weißt, dass ich dachte, dass ihr nur brav flirten werdet. Jetzt muss da natürlich erstmal eine starke Nummer von euch kommen. Sie lachte sich ins Fäustchen, beschloss aber, es der Mathematikerin durchgehen zu lassen. Normalerweise hätte Jaina ja auch recht gehabt.     Kühle Luft begrüßte Cathy, als sie in Sherlocks Wohnung eintrat. Sie legte ihre Sonnenbrille ab und sah sich um. Offenbar war niemand daheim. Es fühlte sich immer noch fremd an, auch wenn sie das keinem sagte. Wäre ja noch schöner, sich so viele Schwächen einzugestehen. Im Wohnzimmer lagen noch immer die –nun fast fertigen – Ballkleider. Bombastisch schöne Dinger, wofür Cathy Jaina echt beneidete, so ein Talent zu haben.   „Kannst du nicht mal Hallo sagen?“   „Sherlock – was machst du denn schon daheim?“   „Ich könnte dich das selbe fragen“, schoss er zurück, zusammengekauert in seinen Sessel.   „Aber das weißt du doch, ich habe dich so sehr vermisst“, konterte sie in ihrer besten Schmalz-Stimme. Sein Kopf ruckte zu ihr herum und er starrte sie kühl an. „Jetzt im Ernst, was machst du hier allein?“   „Nachdenken.“ Er drehte sich weg. „Allein ist das allerdings leichter als mit einer auditiv störenden Quelle.“ Dass er gerade über Chan nachdachte, war für Sherlock ohne Belang. Das würde diese Quasseltante schon noch merken, und zwar früh genug. Nun, eigentlich, wenn der Detektiv ehrlich war, dachte er nicht wirklich über Chan nach, sondern er versuchte, sich nicht zu langweilen. Doch wenn es keinen Fall gab und er niemanden hatte, der ihn ablenken konnte, musste er es wohl selbst tun. Nicht einmal Mrs. Hudson war da, um ihn zu ertragen!   „Schade für dich.“ Cathy ging neben ihn in die Hocke und schaute ihn mit einem Schmollmund an.   „Sherlock, sei doch mal fröhlich. Lach mal!“ Er drehte sich um mit der schlimmsten Lach-Grimasse, die die junge Frau jemals gesehen hatte und verpasste ihr damit fast einen Herzinfarkt. Die Augen hatte er zusammengekniffen und den Mund wie ein blutrünstiger Vampir mit Maulsperre aufgerissen, die Mundwinkel nach hinten gezogen und die Nase gerümpft.   „Lach bitte nie wieder!“, bat sie ihn dann – musste aber selbst ein Kichern unterdrücken, nachdem sie sich vom Schock erholt hatte. Dann hatte sie eine Idee. Vielleicht würde das den Kerl ja knacken. Sie wüsste  wirklich gerne, ob er richtig nett sein konnte. „Wie schaut’s aus? Du hast doch gerade Zeit, oder?“   „Zeit wofür?“   Mist, wieso riecht der immer den Braten?!, grummelte sie innerlich. „Ich wollte fragen, ob du Lust hättest, mit mir ein Eis essen zu gehen.“   „Wenn ich kein Eis will?“   „Was möchtest du denn machen?“   „Nachdenken. Alleine.“   „Ach, geh sterben, Sherlock Holmes.“ Sie stand auf und in einem spontanen Anfall von Bestrafungswut drückte sie ihm ihren bestrumpften Fuß ins Gesicht. Nicht lange, aber lange genug für ihre Häme. Sherlock zappelte wie ein Fisch an Land und die junge Frau ging pfeifend aus der Wohnung, ein Eis essen.     „Ich kann immer noch nicht fassen, dass du diesen Kerl einfach umgeworfen hast“, kicherte Jaina und schaute den Menschen zu, wie sie im Green Park herumliefen, sich unterhielten oder mit den Kindern spielten. Sie und Jim saßen nebeneinander auf einem Brunnenrand und genossen das schöne Wetter. Inzwischen hatte er auch eine schmucke Sonnenbrille aufgesetzt und Jaina fand, sie sahen aus wie Gangster.   „Der hat es wirklich herausgefordert“, meinte Jim und biss von seinem Käsebrötchen ab, das er sich bei einer kleinen, versteckten Bäckerei gekauft hatte. Jaina fand ihn in diesem Moment richtig niedlich und konnte sich gut den Jungen vorstellen, der er wohl mal gewesen war. Jim sah sie an und grinste mit Krumen in den Mundwinkeln. „Ist was?“   „Nein“, erwiderte sie lachend. „Nichts. Nur, ich liebe Käsebrötchen.“   „Na, das ist aber schön.“ Sie sahen sich lange an, grinsten ein wenig und Jaina fragte sich, ob er sie als normale ich-kenne-sie-einwenig-Freundin sah oder als wir-lieben-uns-fast-Freundin sah. Und sie war sich nicht sicher, welches von beiden ihr wohl besser gefallen würde. Dann schauten sie wieder in verschiedene Richtungen, Jainas Kopf leicht geneigt, während sie schräg in die Sonne blinzelte und Jims erhoben um ein paar vorbeifliegende Schwäne zu beobachten. Um sie herum lärmte das Leben und die Menschen und der Dozentin wurde bewusst, wie pärchenhaft sie sich verhielten. Gerade, als sie darüber lamentieren wollte – sie fand solche Sachen in der Öffentlichkeit eigentlich nicht so gut, Gefühle durfte man gerne daheim ausleben, aber nicht auf der Straße – da spürte sie, wie seine Finger sich um ihre schlossen und sie hielt lieber den Mund. Jims Finger waren nämlich schön kühl und weich. Jaina erinnerte sich an ein japanisches oder chinesisches Sprichwort: Kalte Finger bedeuten ein großes Herz. Das blieb noch abzuwarten. Bis jetzt hatte er ein wirklich großes und spendables Herz bewiesen.   Am Freitag Abend war es soweit, der Uniball stand für den nächsten Abend vor der Tür und im Haushalt Holmes waren alle Beteiligten aufgeregt. Alle außer Sherlock. Diesen langweilte eine solche Veranstaltung eher und er hielt sich fern von jeder Diskussion, die diese betraf. Letzten Endes hatte Jim Jaina gefragt, ob sie ihn begleiten wollte – er wusste ja um ihre Bedenken – und sie hatte erleichtert eingewilligt. Cathy hatte Sherlock fragen wollen, doch dieser war nach nicht einmal der Hälfte des Satzes einfach weggegangen. So hatte sich die Medizinerin an John gewandt, der gerne mal wieder tanzen würde.   Noch war für die jungen Frauen die Welt fast in Ordnung. Würde ihnen nicht beiden noch Chan im Kopf herumschwirren. Er war wieder aus seinem Urlaub zurück und hatte sich auf den neuesten Stand bringen lassen – nicht von Cathy, sondern von Molly. Auf Cathys Wunsch hin. Ihr war das ganze noch zu heikel und nicht ganz koscher. Sie hatte Chan auch erstmal in die histologische Abteilung verbannt. Dort sollte er schmoren und verschiedenste kleine Stücke von Körpern, eingelegt in Formaldehyd, begutachten.   Jaina musste noch die letzten Schliffe an den Kleidern vollbringen, stresste sich und Cathy und die Welt und brachte aber ein Wunder zustande in dem kleinen Zimmer, dass sie sich teilten. Die Kleider passten und weder John noch Sherlock hatten sie bis jetzt gesehen. Nur Mrs. Hudson, die mit ihnen im Zimmer stand. Sie hatte die Hände gefaltet und blickte die jungen Frauen in den außergewöhnlichen Kleidern mit Tränen in den Augen an.   „Ich kann es kaum glauben, dass ich diesen Tag erleben darf“, sagte sie dann. „Die Jungs haben so ein Glück mit euch!“   „Danke, Mrs. Hudson“, sagte Jaina brav. Sie wollte schließlich nicht unhöflich sein und die Frau hatte ihr gerade indirekt ein Kompliment für ihre Schneider-Künste gemacht. Zurecht.   „Ach, ihr jungen Dinger bringt wirklich ein wenig Ordnung hier herein“, fand dann die ältere Frau, die sich allerdings noch die Lippen rot schminkte. Cathy fand das außerordentlich bestaunenswert und glotzte jedes Mal, wenn sie Mrs. Hudson sah.   „Finden Sie?“, fragte die Kupferhaarige dann und drehte sich vor dem Spiegel, dabei dachte sie: Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich in das da verlieben. Stirnrunzelnd ging ihr Gedankengang den Weg des Schade, dass Sherlock kein Mann, sondern ein Alien ist. Sie fand ja – und damit war sie sich mit Jaina einig – dass, seit sie eingezogen waren, nur noch mehr Chaos herrschte. Vielleicht war die Wohnung aufgeräumter, aber zwischenmenschlich ging dann doch schon einiges ab. Einiges mehr, als vorher. „Ich bin so aufgeregt, ich bin so aufgeregt!“ Tänzelnd stöckelte Jaina durch die Wohnung, ihre ordentlichen und frisch hindrapierten hellbraunen Locken wirbelten herum, während sie sich in der Küche um ihre Clutch kümmerte und dabei sorglos herumtanzte. Sie war fertig geschminkt – Mascara, Lidstrich und hellrosa Lippengloss – und angezogen, sie trug weiße High-Heel-Riemchen-Sandaletten von Jimmy Choo mit echten Kristallen darauf, im Haar hatte sie eine weiße ausgefallen abstrakte Blüte, die noch mit leichtem Tüll verfeinert wurde. Natürlich durfte die Halskette von Jim nicht fehlen. „Bist du dann bald soweit?“, rief sie dann ins Badezimmer hinter. John und Sherlock saßen im Wohnzimmer, Sherlock gelangweilt in seinem Anzug mit dem lila Hemd und der Arzt, ungewohnt aber schick, mit dunkelgrauer Anzughose und Weste, darunter trug er ein weißes Hemd.   „Eeey Macarena!“, erwiderte Cathy nur, sang zu dem sehr alten Hit im Radio und steckte sich gerade ihre Ohrringe an. Es waren schlichte, aber unsäglich teure – weil handgefertigte – Stücke von Torrini, aus Echtgold und Diamanten. Ihr kupferfarbenes Haar hatte sie geglättet und dann die Spitzen leicht gedreht, sodass sie edler aussah als sonst. Als Jaina rief, drückte sie sich noch schnell einen creme-farbenen Fascinator mit großmaschigem Netz – das ihr noch bis über das linke Auge ging – ins Haar und stürmte dann aus dem Bad, hübsch hergerichtet mit Eyeliner, Mascara und durchsichtigem Lipgloss. „Ich mach mir gleich in die Hose!“, gab sie dann kund und schaute sich nach Jaina um. Diese winkte sie in die Küche. Auf dem Weg dorthin zog sich Cathy noch ihre cremefarbenen Peeptoe-High-Heels mit Echtseide an.   John saß am Sessel wie erstarrt. Er konnte nur noch die beiden Gestalten in der Küche ansehen, von denen er glaubte, dass sich darunter Jaina und Cathy versteckten. Was hatten sie getan? Wo waren die verschrullten, schicken und frechen jungen Frauen hin? Wer hatte sie mit diesen engelsgleichen Wesen ersetzt? War sowas erlaubt? Erinnern konnte er sich nicht, die zwei jemals so schön gesehen zu haben – oder jemals so etwas schönes zu Gesicht bekommen zu haben.   Noch während Jaina und Cathy über den Inhalt der Tasche diskutierten, klingelte es an der Tür. Sie sahen sich verdutzt an. Jim konnte es nicht sein, sie hatten extra mit ihm als Treffpunkt den Eingang zum Ballsaal ausgemacht. Wer war es also dann? Niemand sonst hier ging zum Uniball, außer John, aber der ging ja mit Cathy. Und Sherlock war nicht eingeladen.   Jaina rannte ins Wohnzimmer und schaute aus dem Fenster. Da unten stand eine Limousine, ganz in schwarz mit einem Fahrer darin. Der Fahrgast allerdings war nicht zu sehen. „Cathy – sag mir sofort, was du dir da schon wieder ausgedacht hast!“, forderte die Mathematikerin barsch. Sie wollten doch mit dem Taxi fahren! Und es war so offensichtlich, dass es auf dem Mist von Cathy gewachsen war!   „Gib nicht immer mir die Schuld!“, kam es gedämft aus der Küche zurück.   „Was machst du da hinten?!“, rief Jaina panisch. Die Geräusche von Cathy klangen nicht gut.   „Gar nix!“ Es klingelte nochmal.   „Wenn ich herausfinde, dass du etwas isst, während du dein Kleid an hast, dann erwürge ich dich!“ Jaina machte sich daran, in die Küche zu gehen. Und als sie dort ankam, stand Cathy unschuldig herum und zählte ihre Geldscheine. Mit gespitzten Lippen schaute Cathy Jaina an.   „Und, ich sagte doch, dass nichts ist“, meinte die Medizinerin gelangweilt.   „Mund auf.“   „Nein.“   „Mund auf.“   „Na gut! Ich hab‘ ein Mini-Snickers gegessen!“ Entnervt warf Cathy die Arme in die Luft und bewies damit, dass das Kleid noch blütenrein war. „Es kommt nicht mehr vor.“   „Ich wusste, dass da was faul ist.“ Gerade wollte Jaina ihrer Freundin einen Vortrag über den Preis der verwendeten Stoffe und über die Sicherstellung der Qualität auch nach der Verarbeitung halten, da hörte sie, wie jemand die Tür öffnete. Sie hatte die Klingel doch mit Absicht überhört! Hatte das denn niemand so erkannt außer Cathy? Aber die war ja mit ihrem Snickers beschäftigt gewesen, das war also auch kein Kunstwerk, da die Türglocke zu ignorieren.   „Jim, hallo!“, freute sich da John – obwohl er den Kerl immer noch nicht leiden konnte.   „Jim?“ Nun schaute Cathy Jaina vorwurfsvoll an. „Ich dachte, wir fahren alle gemeinsam.“   „Das war nicht meine Idee“, gab Jaina leise zurück und ging dann zur Tür. John stand ihr noch im Weg, also schob sie ihn nonchalant weg, während sie den Dozenten anstrahlte. „Was machst du hier?“   „Ich wollte dich überraschen und abholen“, lächelte er sie an. Er musterte sie. Jim fand Jaina heute sehr hübsch, er wusste, das Kleid war selbst gemacht und sie hatte sich viel Mühe gegeben. Er freute sich halb, sie zu sehen. Noch war er nicht gänzlich von ihr überzeugt, auch wenn sie das vielleicht anders sah. Dann entdeckte er, dass die junge Frau die Kette trug, die er ihr vor einiger Zeit geschenkt hatte. Ein echtes, kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Du trägst die Kette.“   Wie ertappt fasste sich Jaina am Schlüsselbein und nickte dann, ebenfalls lächelnd. „Es ist schließlich ein besonderer Tag.“   „Sie sieht wundervoll an dir aus.“ Moriarty legte den Kopf schief. „Aber etwas fehlt noch.“ Dann grinste er und holte etwas aus seiner Jackentasche. Ein noch kleineres schwarzes Samtkästchen.   Als Jaina das sah, bekam sie fast einen Herzstillstand. Nicht viel passte da rein!   Cathy, indes, guckte neugierig aus der Küche auf die Szenerie und stellte fest, dass Jim ein wahrer Gentleman war, auch wenn er trotz allem etwas abgelenkt wirkte. Sherlock schaute inzwischen aus dem Fenster auf die Limousine und John fielen fast die Augen aus, weil er nicht wusste, wo er zuerst hinsehen sollte.   „Ich dachte, nachdem dir die Kette so wunderbar steht, dass das hier dazu passt.“ Damit gab Jim der Brünetten das Kästchen. Sie fasste es mit spitzen Fingern an und war sich nicht sicher, ob sie das wirklich tun wollte. Immer schenkte er ihr etwas. Sie hatte noch nicht einmal das U-Bahn-Ticket zu ihm nach Hause gezahlt. Weder für sich, noch für ihn. Immer lud er sie ein. „Mach’s auf“, forderte Jim sie auf.   Langsam öffnete sie das Samtkästchen und sah erstmal nur dunkelvioletten Stoff. Dann verschlug es ihr den Atem. Es waren Ohrstecker, die dem Anhänger ihrer Kette einer wie der andere glichen. „Das… die sind wundervoll!“ Entzückt nahm sie einen heraus. „Das selbe Material?“   „Selbstverständlich. Für dich, Jaina, gibt es nur das beste“, meinte Jim charmant. „Möchtest du mich begleiten? Die Limousine wartet.“   „Klar!“   „Vorher solltest du aber die Stecker anlegen, meinst du nicht auch?“   Allerdings meinte sie! Fast genüsslich legte sie die blumenförmigen Ohrringe an und nahm dann den Arm, den ihr ein breit lächelnder Jim anbot. „Ach so – John und Cathy?“ Fragend sah sie Moriarty an.   „Wir kommen dann schon nach“, sagte Jainas Freundin nur schulterzuckend und stopfte sich nun ungeniert ein Mars in den Rachen. „Außer ihr wollt uns mitnehmen.“ Das wäre natürlich noch besser.   „Hör auf zu essen!“, befahl die Mathematikerin allerdings nur streng. Dann ging sie mit Moriarty in den Hausflur und schloss die Tür hinter sich.   Entgeistert starrte Cathy ihnen hinterher.   „Ist was?“, wollte John wissen. Er stand auf und richtete seine Weste. Er sah wirklich gut aus.   „Ich dachte, die will mich verarschen. Jetzt geht die echt mit dem alleine in der Limo mit. Was mach ich denn jetzt?!“   Ohne auf sie zu achten, lief Sherlock den beiden hinterher.   „Shlerock?“, rief John, doch der Detektiv war schon aus der Haustür.   Der Fahrer der Limousine war ausgestiegen und hielt nun die Tür für Moriarty und Jaina auf. Die Inneneinrichtung war luxuriös, es gab sogar einen Behälter mit Eis und darin gekühlten Champagner, die Sitze waren aus schwarzem Leder und der Boden war mit schwarzem Teppich ausgelegt. Unauffällige, gedimmte Lichter waren spartanisch verteilt, um die Romantik zu steigern. Jaina enthielt sich jeden Kommentars, auch wenn sie überwältigt war. Bestimmt sah man es ihr an, sie fühlte sich wie Cinderella, die zum Ball in ihrer wundervollen Kutsche fuhr. Sobald sie saß, überschlug sie die penibel enthaarten Beine übereinander und schnallte sich an. Kurz darauf stieg Jim ein und nahm neben ihr Platz. Gleich nachdem er seine graue Krawatte gerichtet hatte, schnallte er sie wieder ab. „Das wirst du nicht brauchen.“   „Fahren wir doch nicht hiermit?“, wollte sie etwas irritiert wissen. Man hatte sie nicht mehr abgeschnallt, seit sie fünf Jahre alt war. Es jetzt zu erleben war ein wenig komisch.   „Doch!“, beruhigte Jim sie lachend. „Aber Alan raucht noch eine. Und der braucht dafür ewig.“   „Oh“, machte Jaina nur und schaute sich um, um ihre Überraschung und die langsam auftretende Aufregung zu überspielen. Als sie etwas nervös zu Jim rübersah, schaute er gerade auf seine teure Uhr, dann zu ihr, diesmal ohne Lächeln, sondern nachdenklich. Noch während er ihren forschenden Blick bemerkte, musste er ein wenig schmunzeln, unterbrach jedoch nicht das Schweigen.   Und Jaina wusste auch nicht so sehr, was sie sagen sollte. Stattdessen sprang sie über ihren, manchmal viel zu großen, Schatten, rutschte näher zu Jim und lehnte dann ihren Kopf an seine Schulter. Er war warm und roch gut. Und der Stoff seines anthrazitgrauen Anzuges war weich und geschmeidig, sie wollte ihre Wange daran reiben – doch das lies sie lieber. Sie wollte wie eine Frau wirken, nicht wie eine rollige Katze. Sie spürte, wie Jims Kopf sich drehte, um in ihre Richtung zu sehen, seine Hand strich sanft über ihre linke Wange und hinterließ ein prickelndes Gefühl. Langsam sah sie auf, während Jim ihre freie Hand in seine nahm. Sein Gesicht war ganz nah und sie konnte sehen, dass er frisch rasiert war. Seine Augen wirkten in dem Licht unendlich tief und sie war sich sicher, würde sie länger in die Iren starren, würde sie darin verloren gehen. Noch während sie darüber sinnierte, beugte sich Jim zu ihr hinunter, nun konnte sie seinen Atem nicht nur hören, sondern auch an ihrer Haut spüren. Sie war ganz aufgeregt, ihre Bauch fühlte sich leicht an, als ob er gleich im Körper abheben würde – schließlich würde das ihr erster richtiger Kuss werden. Sie schloss die Augen, verschlang ihre Finger mit seinen und bog ihren Hals ein bisschen nach hinten, während Jim sie zu sich zog, der Moment war perfekt…   „Das würde ich nicht machen. Beim Küssen können Krankheiten vor allem durch Tröpfcheninfektion übertragen werden. Influenza, Enzephalitis, Scharlach und Tuberkulose zum Beispiel. Will man das wirklich nur wegen dem bisschen semi-Romantik riskieren? Ich rate dringend davon ab.“   „Sherlock!“ Entsetzt rückte Jaina weg von Jim und atmete schwer ein. „Was machst du hier drin?!“ Irgendwie war der Detektiv in die Limo gekommen, ohne bemerkt zu werden. Und er hatte diesen Moment zerstört! Jim sah den anderen Mann böse an und konnte nur mit Mühe ein Entgleisen der Mimik verhindern.   „Wieso haben Sie das getan?“, wollte der Mathematiker dann mühsam beherrscht wissen. „Ich habe euch beide vor gefährlichen Krankheiten gerettet“, fand Sherlock und schnallte sich an.   „Sherlock, warum schnallst du dich an?“, fragte Jaina misstrauisch. Irgendwas führte der im Schilde.   „Ich komme doch mit.“ Damit war für den hoch gewachsenen Mann alles gesagt und er schaute stur gerade aus. John war ebenfalls aus der Wohnung gestürmt, immer Sherlock hinterher. Und obwohl Cathy ihr Interesse nun auf den Detektiv gelegt hatte, musste sie zugeben, dass der Arzt ein hübsches Hinterteil hatte. Sie stand in der Küche, packte ihr Handy in die Clutch und alle vier Karten für den Ball. Was wären die nur alle ohne sie? Kopfschüttelnd schenkte sie sich ein Glas Weißwein ein und trank es in einem Schluck leer. Wenn die das da unten nicht bald regelten, hätte sie die ganze Flasche weg. Sie füllte ihr Glas wieder auf und trat ans Fenster. John stand am hintersten Fenster, welches geöffnet worden war. Neugierig machte sie das Wohnzimmerfenster einen Spalt auf und horchte. John motzte etwas wegen Taxi und dass Sherlock ein Idiot sei – dabei gab Cathy ihm auch recht – und dass das alles jetzt irgendwie kacke geplant war. Dann stieg auch John in die Limousine ein. Was sollte das denn jetzt werden?   Cathy beschloss, sich nicht stressen zu lassen, ihr Glas in aller Ruhe zu leeren und dann vielleicht nochmal aufs Klo zu gehen, bevor auch sie aus dem Haus ging.     Wo bleibt die nur?, fragte sich Jaina und rutschte unruhig auf ihrem Sitz herum. Das Leder rieb an ihrem Kleid und es raschelte leise. John hatte sich zwischen sie und Jim gesetzt, aus welchem Grund auch immer und ihre Laune sank von Minute zu Minute. Und wo zu Hölle war Cathy? Hing die immer noch in der Wohnung rum? Sah die nicht, dass alle auf sie warteten?   „Ach kommt, Leute, ehrlich?“ Cathy öffnete die Tür der Limousine und wurde von vier wütenden Augenpaaren begrüßt. „Ihr hättet mir auch sagen können, dass ich nicht allein mit dem Taxi fahren muss.“   „Steig jetzt endlich ein“, sagte John genervt und schnaubte.   „Ja ja, immer sachte“, erwiderte die Medizinerin leicht gereizt und quetschte sich durch die Tür. „Ja, und wohin bitte?“   Als Antwort deutete Jim auf die vier freien Plätze gegenüber. Cathy rollte mit den Augen und setzte sich dann ans Fenster, schnallte sich an – etwas, was die vier Insassen schon längst getan hatten.   „Alan, wir können los!“, rief da Jim und der Fahrer nickte. Alle waren froh, als die Fahrt zu Ende war und sie aussteigen konnten. Jaina sehnte sich danach, Sherlock zu verprügeln für den vermasselten Kuss, John wollte diesem überheblichen Jim eine reinzimmern, Cathy würde am liebsten eine rauchen und Sherlock wusste gar nicht mehr so genau, warum er mitgegangen war. Es war nicht so, dass er nicht gerne allein war. Er vermisste auch niemanden, weder John, noch Mrs. Hudson, noch seinen Bruder. Er kam gut allein zurecht. Dann trat Cathy die Tür mit ihrem eleganten Stöckelschuh zu und zwinkerte frech zu ihm rüber. Sherlock wollte sich nicht vorstellen, wegen ihr hier zu sein. Er hoffte nur, dass er alsbald einen Grund für seine Anwesenheit finden würde. Als sie durch das riesige Foyer gingen, bewunderten Jaina und Cathy – trotz der noch anhaltenden schlechten Laune – das Gebäude. Der Boden war aus Marmor, die Wände ebenfalls, nur, dass an ihnen deckenhohe Spiegel hingen, gehalten von dünnen, goldenen Rahmen. Vor den Spiegeln standen hohe Grünpflanzen. Ein riesiger Kronleuchter erhellte den Raum, dazu unzählige kleine Wandlichter. Alle waren schick gekleidet und es herrschte eine entspannte und lockere Atmosphäre. Leichte klassische Musik wallte durch die Luft.   Jaina dachte beleidigt, wie schön alles sein könnte, hätte Jim sie geküsst und hätte niemand gestört. Sie würden jetzt Hand in Hand hier sein, sich verstohlen anblicken und sich später gegenseitig mit Kuchen füttern. Wie man es eben machte! Und alles verdorben, nur wegen Sherlock.   Und Cathys Ärger war eigentlich verflogen, sie wollte nur die allgemein schlechte Stimmung nicht mit einem wirklich guten Witz zerstören. Selten hatte man das Gefühl, so unerwünscht zu sein und manchmal genoss sie das auch. Trotzdem wäre eine Zigarette im Moment wirklich nett.   „Die Karten bitte.“   „Oh, die Karten…“ John begann, in seinen zwei Westentaschen zu suchen und zu gruschen, fand jedoch nichts. Jim schaute Jaina an, diese hob nur fragend die Augenbrauen. Sie hatte gerade nicht aufgepasst, sondern sich im Spiegel bewundert.   „Weißt du, wo die Eintrittskarten sind?“, flüsterte Jim und nahm Jaina am Arm.   „Keine Ahnung, die lagen das letzte Mal am – oh nein, am Küchentisch.“ Jaina schlug sich die Hand gegen die Stirn. „Ich hab sie noch nicht in meine…“   „In deine Tasche gepackt, nicht wahr?“ Cathy kam angeschlendert und gab ihrer Freundin die Clutch. „Mit Karten und Handy und Geldbeutel.“ Die Medizinerin nickte grinsend und richtete dann ihren Fascinator.   „Du hast daran gedacht?!“ Jaina wollte vom Glauben abfallen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Cathy mal an was Wichtiges gedacht hatte, ohne nicht erinnert worden zu sein. Sonst musste sie sich immer um solche Dinge kümmern und das war auch gut so, so fehlte wenigstens nie etwas. „Danke!“ Zehn Minuten später standen sie im großen Ballsaal, in dem noch nicht getanzt wurde, und stießen auf den Abend an, obwohl jeder unausgesprochen bezweifelte, dass man das Limousinen-Ereignis dazu zählen sollte. Nun, Sherlock stieß nicht mit an, der stand noch an der Abendkasse an. Es hatte schließlich nur vier Karten gegeben und niemand hatte Mitleid mit dem Detektiv. Am wenigsten John, der war froh, mal auf so einer Veranstaltung zu sein.   „Jaina! Cathy! Was macht ihr denn hier?!“ Die Genannten drehten sich zu der Stimme um und kniffen kurz die Augen zusammen, dann strahlten sie ungläubig. Das konnte doch nicht sein!   „Herr Reinstriezel!“ Cathy stellte ihr Glas schleunigst auf dem Tisch ab, um den älteren ehemaligen Deutsch-Lehrer zu umarmen. Er hatte sich kaum verändert, immer noch die dunkelgrauen Haare und die schelmisch blitzenden blauen Augen. Er trug ein weißes Hemd, eine dunkle Jeans und ein schwarzes Sakko.   Gerührt drückte er die Medizinerin an sich, dann lies sie endlich von ihm ab. „Ich sollte eher fragen, was Sie hier machen!“   Er lachte, dann umarmte er auch Jaina, die es nicht fassen konnte, ihn hier zu sehen. Wie hatte sie diesen schrulligen Mann manchmal vermisst! Er hatte sie schließlich immer aufgeheitert in der Schule!   „Ich wurde eingeladen von einem Freund von der Universität. Wir kennen uns schon Ewigkeiten“, grinste der penisonierte Lehrer dann und musterte die zwei jungen Frauen dann. „Ich wusste, dass du damit großes Schaffen wirst.“ Damit meinte er wohl offensichtlich die Kleider und Jainas damaliges Hobby – nun ihren Job – der Schneiderei.   „Ach so, wo bleiben denn unsere Manieren!“ Cathy fasste John an der Hand und zog ihn zu sich. „Herr Reinstriezel, das ist John Watson, ein Freund meiner Familie! John, das ist Herr Reinstriezel. Er ist einfach der beste.“ Damit hatte sie, wie Cathy fand, ihren Part erledigt. Die beiden Männer gaben sich grinsend die Hand, während Jaina zu Jim trat.   „Herr Reinstriezel!“, rief sie dann und der pensionierte Lehrer kam zu ihr. „Darf ich Ihnen James Moriarty vorstellen? Er ist meine Begleitung heute Abend.“ Sie konnte sich ein breites Lächeln nicht verkneifen. „Jim, das ist Herr Reinstriezel, wir kennen uns noch von der Schule.“   „Ich freue mich sehr“, sagte Herr Reinstriezel und drückte die Hand des viel jüngeren Mannes.   „Ebenfalls. Sie hört es nicht gerne in der Öffentlichkeit, aber sie ist meine Freundin“, erklärte Jim und lächelte zu der jungen Mathematikerin, die sich gerade unauffällig das Kleid richten wollte.   „Das dachte ich mir schon“, gab der Lehrer augenzwinkernd zurück und schaute zu John. „Ist Cathy mit ihm zusammen?“   „Nein“, flüsterte Jim bestimmt.   „Schade, er scheint nett zu sein.“ Herr Reinstriezel zuckte mit den Schultern. „Sie machen auf jeden Fall einen sehr höflichen Eindruck, Mr. Moriarty. Ich muss nur gerade zu meinen Bekannten gehen. Bis dann.“   „Ich glaub es nicht! Cathy! Schau mal!“ Vor Aufregung lies Jaina ihr Glas in den neben ihr stehenden Blumentopf fallen und merkte es nicht einmal. Sie deutete auf zwei Leute, die sie kannten, die bei Herrn Reinstriezel standen.   „Häää?“, machte die Kupferhaarige bloß, trank aus und guckte dann dahin, wo Jaina hinschaute. Dann fiel ihr die Kinnlade runter. „Ernsthaft?“ Im nächsten Augenblick kamen die drei Männer schon auf Jaina und Cathy zugelaufen.   „Ich dachte mir doch, dass ihr euch freuen würdet!“, lachte Herr Reinstriezel und sah zufrieden zu, wie begeistert die jungen Frauen über die schicken Anzüge von Mr America und Señor Matemática waren.   „Hi!“ Stürmisch umarmte Cathy die zwei Männer. „Sie hätte ich hier nie im Leben erwartet! Bestalken Sie uns etwa? Kann man ja auch verstehen, so schön wie wir sind!“ Sie lachte frech und zeigte dann auf die Anzüge. „So schick kenn‘ ich Sie gar nicht.“   „Hi“, meinte Jaina dann etwas gediegener und wollte den Lehrern schon die Hand geben, doch losgelöst von einem Glas Wein, drückten sie die Dozentin ebenfalls kurz an sich. Jaina konnte ihr Glück kaum fassen, ihre drei Lieblingslehrer vereint an einem Platz. Wie wundervoll! „Cathy hat recht, wie kommen Sie hier her?“   „Naja, unser Freund hier“, fing Mr America an und zeigte auf Herrn Reinstriezel, „hat uns noch zwei Karten besorgt.“ Er lachte und die hellblauen Augen funkelten.   „Und außerdem dachten wir uns schon, dass ihr hier seid. Schließlich bist du Dozentin an der Uni“, fügte Señor Matemática hinzu. Dann runzelte er die Stirn. „Wer sind denn die drei Männer da hinten, die ständig zu euch rüberschielen?“ Er war schon immer auch freundschaftlich väterlich gegenüber den beiden gewesen.   Jaina drehte sich halb um, legte den Kopf dann nachdenklich schief. „Sherlock ist schon hier.“   „Äh, kann er gar nicht sein, die Abendkasse macht erst in zehn Minuten auf“, widersprach Cathy.   „Aber er ist es.“ Jaina spitzte die Lippen. „Das sind John, Sherlock und Jim.“ Dabei deutete sie der Reihe nach auf Genannten. „John ist ein Freund von Cathys Familie, Sherlock ist sein Mitbewohner und Jim ist-“ „Jainas Freund, sie sagt es nur nicht“, fiel ihr ihre beste Freundin ins Wort und ging dann davon, zu Sherlock.   „Ist das so?“, wollte Mr America da wissen. Er erinnerte sich, dass Jaina immer sehr schüchtern gewesen war, wenn es um zwischenmenschliches gegangen war, karrieretechnisch war sie allerdings sehr offensiv gewesen.   „Er hat es mir schon bestätigt“, gab Herr Reinstriezel seinen Senf dazu.   „Hat er?“, wollte Jaina mit gefährlich zusammengekniffenen Augen wissen. Was Jim in ihrer Abwesenheit so alles erzählte. Das war ja interessant, dass er es schon als so selbstverständlich ansah.   „Ja. Er wirkt sehr gebildet und höflich“, lobte der älteste des Trios.   „Danke.“ Was sollte man auch anderes darauf antworten? Man konnte sich nur für das Kompliment für den guten Geschmack bedanken.   „Willst du ihn uns vielleicht vorstellen?“, fragte Mr America ganz unschuldig. Wahrscheinlich wollte er nur sicherstellen, dass Jim wirklich anständig war, ansonsten würde es was auf den Deckel geben. Für wen, da war sich Jaina noch nicht sicher. Entweder für sie, wegen schlechtem Urteilsvermögen oder für Jim, wegen gespielt gutem Benehmen.   „Sherlock, du hast keine Karte!“, begann Cathy das Gespräch, ohne auf die hier übliche Etikette zu achten. Sherlock sah sie nur abschätzig an, die graublauen Augen ohne jegliches Gefühl.   „Man wird mich nicht kontrollieren“, meinte er nur gleichgültig.   „Warum bist du eigentlich hier?“, wollte sie jedoch wissen und packte ihn am Ärmel seines Jacketts. Sie guckte kurz zu Jim und John, die gerade einvernehmlich tranken, und zog Sherlock dann in eine ruhigere Ecke. „Du sagtest, du willst nicht mit! Und jetzt doch! Warum?“ Sie fragte sich das ernsthaft und hatte auch schon in Betracht gezogen, dass er wegen ihr nicht hinwollte. War sie zu aufdringlich? Zu nervig? Jeder nervte Sherlock!   „Nun, ich wollte doch. Dazu braucht es keinen Grund.“   „Aber ich will einen! Sonst hätte ich John nicht gefragt und er hätte mit Sarah ausgehen können!“ Sie merkte schon, sie bekam hektische rote Punkte am Hals. Hätte Sherlock gleich zugesagt, dann könnte sie die ganze Zeit nur mit ihm tanzen – das dachte sie wirklich, Mitgefühl mit John war nur der gesellschaftlich anerkannte Grund den sie anbrachte.   Während die junge Frau ihn aufgebracht anstarrte, fiel ihm auf, dass ihn etwas an ihrem Outfit störte. Langsam griff er danach und beobachtete dabei, wie Cathys Iren seiner Hand folgten, ihr Blick wurde etwas unsicherer. Er verbat sich das Grinsen, aber mit dieser Person konnte man so leicht spielen. Dann berührte er dieses Netzding, das ihr linkes Auge noch leicht verdeckte. Ohne etwas zu sagen, trat er einen Schritt näher an sie heran, strich dann leicht über ihr weiches Haar und pflückte den Fascinator heraus.   „H-hey…“   „Viel besser“, befand Sherlock – jetzt konnte er beide Augen sehen, das war wichtig für’s Deduzieren.   „Besser? Inwiefern?“, fragte Cathy irritiert, das letzte Mal war er so nah bei ihr gewesen, da hatten sie auf der Couch geschlafen. Sie musste ihre Selbstbeherrschung bewahren – Himmel, sie hatte ganz verdrängt, wie gut Sherlock aus der Nähe aussah! Und wie fantastisch er roch!   „Jetzt kann ich wieder dein hübsches Gesicht sehen.“ Dabei lächelte er ein halbes Lächeln, drehte sich um und ging weg. Sie war darauf hereingefallen. Warum musste sie so einfältig sein? Wäre Cathy nur ein wenig mehr wie er, dann könnte er sie fast mögen.   Cathy starrte ihm nur hinterher – ihr Schopf fühlte sich nackt an ohne den Haarschmuck. Er hatte ihr ein Kompliment gemacht. Ihr Bauch war voller Torpedo-Schmetterlingen und ihr Brustkorb fühlte sich vor Aufregungs-Atemnot ganz eng an.   „Hi! Sie müssen die ehemaligen Lehrer von Jaina und Cathy sein!“, rief Sherlock und gab jedem der drei die Hand und schüttelte sie höflich. Inzwischen standen sie schon bei John und Jim, Jaina schaute verstohlen zu Moriarty, was er sich wohl dabei gedacht hatte, einfach zu behaupten, sie hätten eine feste Beziehung. Das hatten sie nicht!   „Stimmt!“, freute sich Señor Matemática. Er strahlte regelrecht, hatte er doch viel von dem Detektiv gehört. Zwar nicht von Jaina oder Cathy, aber in den allgemeinen Medien kam er manchmal vor. Natürlich nicht in den großen Nachrichten, dazu war dieser Mann viel zu, nun, exzentrisch. Sherlock musste sich anstrengen, nichts weiter zu sagen, fast jedes Detail, welches er an den Lehrern fand, würde seine beiden Mitbewohnerinnen nur wütend machen und im Moment brauchte er sie noch.   Mr America schaute den hoch gewachsenen, schwarzhaarigen Mann prüfend an, er hatte genau beobachtet, was zwischen Sherlock und Cathy gelaufen war und fragte sich, welcher Art die Beziehung zwischen den beiden war. Jim fand er in Ordnung, etwas zu streberhaft für Jaina vielleicht, da sie selbst so perfektionistisch war, aber er musste ja nicht mit ihm leben. Der junge Englischlehrer war überhaupt froh, dass die zwei Kontakte gefunden hatten in dieser Großstadt. Aber bevor irgendetwas weiter erläutert werden konnte, fing die Musik an zu spielen und Paare bildeten sich. Jim schnappte sich gleich Jaina und zog sie auf die Tanzfläche, die nun reichlich gefüllt war. Es lief She’s the one von Robbie Williams, das Licht wurde so gedimmt, dass man noch genügend sehen konnte, es aber auch schon recht romantisch war. Jaina war froh, dass sie sich jetzt bewegen konnte, auch wenn es nur ein langsamer Walzer war. Jims Hände waren warm und seine Bewegungen sicher, sie fühlte sich wohl und auch ein Stückchen weit aufgeräumt, sie hatte das Gefühl des hier-gehöre-ich-hin, nämlich in Jims Arme. Cathy stand noch immer an der selben Stelle, wie versteinert und überlegte, was sie denn jetzt machen sollte. Sie befürchtete das schlimmste, dass sie sich ernsthaft in Sherlock verknallt – furchbarer noch: verliebt – hatte. Jemand unterbrach ihre Gedanken.   „Möchtest du nicht tanzen?“, fragte John und legte ihr seinen Arm um die Schultern.   „Doch“, meinte sie langsam. Zwar lieber mit Sherlock, aber das musste der gute John nicht wissen. Also ging sie mit ihm auf die Tanzfläche und schmiegte sich in seine Arme. Die Zeit verging wie im Flug und Jaina tanzte fast nur mit Jim, nur unterbrochen von einem Foxtrott mit Señor Matemática, einem Rumba mit Mr America und einem Discofox mit Herrn Reinstriezel. Dazwischen lag sie jedoch immer in Jims Armen, obwohl John wohl auch gerne mal mit ihr getanzt hätte. Aber sie nahm sich dieses Privileg heraus, schließlich hatte man ihr schon den Kuss für den Abend verdorben. Da sollte wenigstens das Tanzen ganz nach ihrem Geschmack sein! Da war Jaina eigen. Und sie tanzte ausgesprochen gerne, ihre Ballett-Erfahrung zahlte sich hier eindeutig aus, sie bewegte sich immer noch so leicht und grazil wie gewohnt. In diesem Augenblick überlegte sie kurz, wieder öfter bei Aufführungen mitzumachen. Es würde sicherlich Spaß machen.   Cathy tanzte dreimal mit John, dann schwang sie mit Mr America das Tanzbein bei einem schnellen Cha-Cha-Cha, dann tanzte sie mit Herrn Reinstriezel den Rumba und mit Señor Matemática einen Blues. Mit Jim tanzte sie auch mal kurz, einen einfachen Discofox, er konnte gut tanzen. Aber dann zog es sie wieder zu John und zu Herrn Reinstriezel, mit dem machte es einfach wahnsinnig Spaß, auch wenn man sich auf die Füße trat – was glücklicherweise kaum der Fall war. Beim zweiten Rumba verlies sie die Tanzfläche und suchte nach Sherlock, doch der war nirgends zu finden. Und John tanzte mit einer jungen Dozentin. Cathy verschränkte die Arme und beobachtete die Leute, die sie als ihre Freunde betrachtete. Sie gönnte ihnen allen das beste, jeder war auf seine Art einfach herzerwärmend.   „Schon müde?“, trietzte da jemand von hinten.   „Sherlock!“ Freudig drehte sie sich um und strahlte ihn an. Bis ihr auffiel, was sie gerade tat. Sofort lies sie das Lächeln bleiben und räsuperte sich verlegen. „Möchtest du tanzen?“ Er hatte heute schon ein wenig Spaß gehabt und auch den Mörder, den Jaina und Cathy suchten, gefunden. Sein Job hier war getan. Warum also als Miesepeter dastehen? Auch wenn es keiner wusste, Sherlock konnte tanzen. Und eigentlich mochte er es sehr gerne. Und innerhalb von einer Minute wusste das jeder, denn er tanzte nicht nur die normalen Rumba-Figuren, auch die etwas ausgefalleneren konnte er und da er so gut führte, machte Cathy nichts falsch. Sie wusste eigentlich gar nicht, was gerade um sie geschah – hielt Sherlock sie wirklich fest? Drückte sie an seine Brust? Fasste sie ihn echt an?! Sie konnte ihr temporäres Glück kaum fassen. Jaina war auch mehr als erstaunt, als sie sah, wer da an ihr vorbeidrehte und dabei auch noch so eine gute Figur machte. Seit wann hatte der Detektiv andere Talente als denken? Sie war beeindruckt. „Meine Damen und Herren.“ Das Licht wurde ein wenig heller und ein älterer Herr in Anzug klopfte auf sein Mikrofon. „Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass in zwanzig Minuten das alljährliche Feuerwerk gezündet wird. Von der Dachterasse aus können Sie es gut beobachten.“ Dann wurde das Licht wieder weniger und einige der tanzenden Paare lösten sich voneinander. Jaina würde am liebsten den ganzen Abend und die ganze Nacht in Jims Armen verbringen, für immer einfach weitertanzen und sich anschmiegen und wohlfühlen und seine Hand an ihrem Rücken spüren und seine rasierte Wange an ihrer Stirn.   „Wollen wir das Feuerwerk sehen? Oder möchtest du lieber hier bleiben?“, fragte Jim leise und dachte nicht daran, Jaina loszulassen. Gab es ein besseres Alibi für ihn als den sich kümmernden Freund? Nein. Außerdem tanzte Jaina vorzüglich, so etwas war ihm wahrhaft noch nie untergekommen.   „Ich würde schon gerne das Feuerwerk sehen“, meinte sie und löste sich dann aus seinem Griff. „Danach tanzen wir dann weiter.“ Sie lächelten sich an und Jaina fragte sich – nicht zum ersten Mal – was er genau an ihr fand. Sie war überhaupt nicht so wie Cathy, die gleich nach Dates fragte oder einfach mal zufällige Berührungen einfließen lies, nein. Jaina war eher schüchtern und lies die anderen machen. Aber Jim schien das in Ordnung zu finden. Sie hoffte sehr, dass er es auch ehrlich mit ihr meinte, eine andere Chance auf eine nette Zeit mit einem Mann hatte sie nicht. Zumindest empfand sie es so.   „Mr America, Jim und ich gehen schonmal auf’s Dach! Nur, falls die anderen fragen“, rief sie dann dem glatzköpfigen Lehrer zu, der ihr nur ein O.K. Zeichen gab, während Jim sie an der Hand nahm und aufs Dach führte.   Oben am Dach waren sie im Moment noch die einzigen, über ihnen schien ein gelber, großer Dreiviertelmond, die Sterne glänzten verhalten. Das Stadtlicht war hier näher an der Erde einfach stärker als das zarte Sternenlicht im All. Und trotzdem dass es Sommer war, war es etwas kühl inzwischen. Jaina merkte das besonders und verfluchte sich, kein Jäckchen mitgenommen zu haben. Sie spürte schon die Gänsehaut an ihren Armen.   „Hey, dir ist ja kalt“, bemerkte auch Jim.   „Ach, das geht schon“, erwiderte Jaina schnell und dachte dabei mit einem leichten Grauen an die verbleibende halbe Stunde in der Kälte. Und dann noch das Feuerwerk. Doch ehe sie sich versah, legte Jim ihr seine Jacke über die Schultern. Die Wärme darin war leicht verblasst, wie eine Erinnerung, aber die junge Frau war froh, dass Jim sie kurz getragen hatte. So war der Stoff nicht gänzlich kühl. „Dankeschön.“ Sie schmiegte sich in die Jacke und sah zu Jim. Er trug ein hellblaues Hemd mit silbernen Manschetten, die Krawatte war schon wieder ein wenig verrutscht.   „Ich bin froh, mit dir hier zu sein“, sagte der Dozent plötzlich und drehte sich zu Jaina. In ihrem Kleid sah sie aus wie eine kleine Fee, die gar nicht wusste, wie ihr geschah – es machte sie unglaublich zart und zerbrechlich. Würde sein Augenmerk nicht auf einer gewissen Aufgabe liegen, würde er Jaina tatsächlich als eine Freundin in Betracht ziehen. Sie hatte es aber verdient, über alle Maße höflich und schmeichelhaft behandelt zu werden – außerdem musste noch der Kuss nachgeholt werden. Moriarty fragte sich, während er seinen Arm um ihre Schultern legte, ob er etwa ein romantisches Interesse an Jaina entwickelte. Es würde ihn überraschen. Jaina lies die Worte auf sich wirken und lehnte sich an Jim, stellte sich vor, sie wäre jetzt nicht in London, sondern bei ihr zu Hause. In Deutschland, bei der einen Bank hoch auf dem Hügel, man würde jeden einzelnen Stern funkeln sehen und der Mond würde zum Greifen nah sein. Dazu noch ein Feuerwerk und sie wäre Wachs in seinen Händen . So langsam bekam sie ein Gefühl dafür, was manche der Autoren beschrieben – vor allem die Autoren der Schundromane, die Cathy manchmal las. Trotzdem war die Luft hier oben schön und fast sauber, Jaina atmete tief ein und schloss glücklich die Augen. Da spürte sie Jims Hand an ihrer linken Wange. Langsam hob sie ihre Augenlider, nur um direkt in Jims dunkle Iren zu starren. Er sah sie so verträumt und verloren an, dass sie gar nicht anders konnte, als seinen Blick zu erwidern. Jim zog Jaina an sich – und im nächsten Moment legten sich seine Lippen auf ihre. Sie konnte sein edles Parfum riechen und spürte seinen Herzschlag unter seinem Hemd – vor allem aber spürte sie die Wärme, die von ihm ausging. Vorsichtig legte Jaina beide Hände auf Jims Schultern, damit sie nicht vor Entzücken zusammensackte. Alles an ihr war gleichzeitig angespannt und vollkommen losgelöst, sie nahm die Kontur seiner Lippen und das leichte Kratzen seines Bartes an ihrer Haut wahr. Sie könnte eine Ewigkeit damit verbringen.   „Hey, Jaina, weißt du zufällig, wo Sh-“ Cathy blieb mitten im Satz stehen. Und glotzte auf das sich küssende Pärchen im romantischen Mondschein. Jaina mit Jims Jacke über den Schultern, an ihn gedrückt, ihre Hände auf seinen Schultern, lag die Mathematikerin in Jims Armen. Und sie küssten sich. Bei dem Klang von Cathys Stimme allerdings waren beide gleich auseinandergefahren. Jim guckte die Kupferhaarige – zu recht – etwas grumpfelig an, während Jaina vollkommen entrückt zu ihrer besten Freundin sah, die Wangen hochrot. „Sorry, ich wollte nicht… naja.“ Cathy machte eine aussagekräftige Grimasse, die genau beschrieb, wie unwohl sie sich fühlte. „Die Stimmung zerstören.“ Damit drehte sie sich um und ging wie ein Roboter davon.   Ehrlich, dachte sich Jim, zuerst Sherlock und dann die? Wollen die mich etwa sabotieren?   Jaina konnte kaum an sich halten, ihr war zum Lachen und Heulen zumute. Jim hatte sie geküsst und es war so wunderbar romantisch gewesen! Wieso zur Hölle musste sie dann so ein Pech haben, dass immer jemand störte?!   Sie fand Sherlock im Gang zur Küche. Eigentlich hatte Cathy sich dorthin schleichen wollen, um vielleicht ein Schälchen Schoko-Pudding zu bekommen. Sie fühlte sich miserabel – verständlicherweise, sie hatte gerade den ersten Kuss ihrer besten Freundin derart gestört und behindert, dass Jaina vermutlich für immer sauer sein würde. Außerdem würde Cathy jetzt selber gerne geküsst werden! Sie vermisste das! Sie würde jeden nehmen, der ihr jetzt über den Weg laufen würde! Gut, dachte Cathy, außer die Lehrer. Ich glaube, das kommt nicht so gut. Oder Anderson. Den küsst keiner freiwillig. Außer Sally. Und dann kam ihr Sherlock entgegen. Und er sah umwerfend aus, wenn er sich unbeobachtet fühlte und sich genau umschaute. Dies tat er, indem er auch in die Hocke ging.   „Was machst du da?“, wollte Cathy nonchalant wissen, als sie neben Sherlock trat.   „Mich umsehen.“   „Ja, das sehe ich.“   Er sah auf – etwas, mit was die junge Medizinerin nicht gerechnet hatte – und erwiderte ihren herausfordernden Blick. „Vielleicht willst du lieber mit John reden“, schlug der Detektiv vor.   „Nein. Das möchte ich mitnichten.“ Und du machst mich wahnsinnig, fügte sie gedanklich hinzu. Sie betrachtete sein dichtes schwarzes Haar und wünschte, er liese sie mit ihren Fingern daran. Cathy liebte schöne Haare. Sherlock blieb in der Hocke und schaute sich etwas am Boden an. In der Kupferhaarigen reifte der Verdacht, dass er sie verarschen wollte. „Sherlock, ich habe dich gesucht.“ Damit ging sie selber in die Hocke. Und stützte sich mit ihren Ellenbogen auf seinen Knien ab. Das brachte den Detektiv dazu, sie nochmal anzusehen. Es wirkte geradezu so, als würde er sie zum ersten Mal richtig sehen.   „Und – warum hast du mich gesucht?“, wollte er dann wissen, die Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen.   „Das… weiß ich selber auch nicht so genau“, musste Cathy zugeben. Sie grinste entschuldigend und machte Anstalten, aufzustehen. Doch sie hatte nicht mit ihren Schuhen und dem Fliesenboden gerechnet. Sobald sie sich leicht erhob, rutschte ihr der rechte Fuß weg und sie fiel nach hinten! Reflexartig griff sie nach Sherlock – der war ebenso überrascht wie Cathy und verlor seinen Bodenhalt. John hatte einen lauten Rumms gehört und war besorgt. Das Geräusch war aus dem Gang gekommen, in welchen Sherlock gegangen war. Der Gang zur Küche. Neben John stand noch Mr America, beide hatten sich ein wenig über das Militär unterhalten, sie verstanden sich ziemlich gut.   „Also, ich glaube… ich glaube, ich sollte nachsehen, was da los ist“, fand John und schaute seinen Gesprächspartner entschuldigend an.   „Ich komme mit“, befand Mr America. So eine kleine Abwechslung lies er sich doch nicht entgehen! Gemeinsam gingen die zwei Männer den Gang entlang und fanden nach nicht einmal zehn Sekunden heraus, was den Lärm verursacht hatte. Was John aber noch lange nicht die Situation erklärte. Sherlock lag fast ausgestreckt zwischen Cathys Beinen, das Gesicht an ihrem Hals geparkt. Die junge Frau hielt sich den Kopf und Sherlocks linke Hand.   „Was ist hier los?“, wollte John misstrauisch wissen.   „Das wäre schön zu wissen“, fand auch Mr America, dem dieser Sherlock immer suspekter vorkam. Cathy sah an sich hinunter, bemerkte, dass Sherlock sie etwas verdutzt anstarrte und lies den Kopf mit einem ergebenen Seufzen nach hinten sinken. „Ich bin ausgerutscht.“ Sie versuchte, sich nicht zu Tode zu schämen. Sherlocks Atem strich ihren Hals entlang und verursachte die verrückteste Gänsehaut, die Cathy jemals gehabt hatte.   „Und Sherlock ist auf dich draufgerutscht?“, fragte der Englischlehrer mit hochgezogenen Augenbrauen.   „Besser als reingerutscht“, ertönte da der Kommentar von – Jaina. Diese kam gerade mit Jim vom Dach. Ihr war doch etwas frischer geworden und nachdem die romantische Stimmung im Eimer war, hatte sie für mehr Wein plädiert.   „Jaina!“ Sofort stützte sich Cathy auf ihre Unterarme und glotzte zu ihrer Freundin hinter, wobei sie sich den Hals fast verrenkte. Und Sherlock in eine noch unangenehmere Position – nämlich in beträchtliche Brustnähe – zwang. „Seit wann bist du so vulgär!“   „Mr America hat recht – wie kann er so auf dich drauffallen?“ Jaina beobachtete fasziniert, wie Sherlock geschmeidig aufstand, sich das Jackett richtete und dann Cathy auf die Füße zog. Die Frage ihrer Freundin lies sie mit Absicht unbeantwortet. Viel eher betrachtete sie das Kleid, fand aber keinen Riss und keinen Dreck daran. Da hatte Cathy nochmal Glück gehabt.   „Meine Schuld.“ Die ältere der beiden klopfte das Kleid ab. „Ich hab mich an ihm festgehalten und…“   „Und das habe ich nicht erwartet und bin hinterhergefallen“, beendete Sherlock für sie. Er würde sich gerne räuspern, verschob das aber auf später. Was für eine unangenehme Erfahrung. Nicht, dass Cathy dafür etwas konnte, es war ein Unfall, doch seltsamerweise beschämte es ihn fast, sie in diese Situation gebracht zu haben. Andererseits – es war auch nicht seine Schuld. Und sie trug ein angenehmes Parfum. So unangenehm war es vielleicht doch nicht gewesen. Trotz der unvorhergesehenen Zwischenfälle gingen alle gemeinsam auf die Dachterrasse, um das Feuerwerk zu bewundern. Es war riesig, verschwenderisch und wunderschön. Jaina stand mit Jim, Señor Matemática und Mr America weit vorne und genoss das Lichterspiel. Cathy hockte am Rand der Dachterrasse, lies die Beine baumeln und grinste zu John rüber, der sie immer noch nachdenklich ansah. Er machte sich Sorgen. Um beide. Er vertraute diesem Jim einfach nicht, er wusste auch nicht, warum. Vielleicht hatte John auch einfach nur einen zu starken Beschützerinstinkt entwickelt. Und er fürchtete, dass sich Cathy in Sherlock verliebt hatte. Der Detektiv würde der jungen Frau nur weh tun. Zum Glück war Sherlock innen geblieben.   „Ich vertrete mir kurz die Beine“, sagte Cathy plötzlich und stand auf. John sah ihr nach, wie sie durch die Menge verschwand. Er schüttelte den Kopf. Jetzt lief sie ihm auch noch nach.   Jaina drehte den Kopf, als sie ihr selbst genähtes Kleid an sich vorbeilaufen sah und war neugierig, wohin ihre Freundin während diesem schönen Schauspiel ging. Aber Jim hielt sie fest an seiner Hand, und Jaina wollte wenigstens, dass das Feuerwerk nicht von irgendwas gestört wurde. Was für ein verkorster, komischer und doch schöner Abend!   „Greg!“ Froh, den Detective Inspector zu sehen, küsste Cathy ihn auf beide Wangen und strahlte ihn an.   „Ich dachte, Sie würden nicht mehr kommen.“   „Das lasse ich mir doch nicht entgehen“, erwiderte Lestrade und musterte Cathy. „Mit diesem Kleid hat sich Jaina selbst übertroffen.“   „Sie sollten ihres erst sehen!“, schwärmte die Medizinerin. „Es ist wahnsinnig schön! Sind Molly und die anderen auch da?“   „Molly nicht, aber Anderson. Und Chan. Ich dachte mir, dass Sie sich über ihn eher freuen würden.“   „Über Anderson? Über den freut sich doch keiner!“   „Ich meinte Chan!“   „Ach, den.“ Cathy runzelte die Stirn. Den wollte sie hier eigentlich nicht haben. Kapitel 11: CRIME SOLVING ------------------------- “Any truth is better than indefinite doubt” – Sir Arthur Conan Doyle   Als das Feuerwerk vorbei war, fanden sich alle Gäste – geladen und ungeladen – wieder im Tanzsaal ein. Dort wartete eine Überraschung auf die zwei jungen Frauen. Sherlock stritt sich gerade – in einer dezenten Lautstärke – mit jemanden, der nochmal ein wenig größer war als der Detektiv. Der Mann trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, ein weißes Hemd, eine Weste und eine rote Krawatte. Er hatte rötlich braunes Haar, hellblaue Augen und eine markante Nase. Sein schmaler Mund sah verkniffen aus.   „Was ist denn das für einer?“, fragte Cathy und trank ihr Weinglas auf ex aus.   „Keine Ahnung. Die scheinen sich ja nicht unbedingt gut zu verstehen“, erwiderte Jaina, die inzwischen neben Cathy stand. Die Männer hatten sich zum geöffneten Buffet begeben. „Wollen wir hingehen?“   „Da bin ich dabei.“ Die beiden nickten sich verschwörerisch grinsend zu und gingen dann zu Sherlock und dem Mann.   „Ah, Sherlock. Deine Mitbewohnerinnen“, sagte der Unbekannte. Er lächelte säuerlich.   „Hey, hi! Ich bin-“   „Dr. Dr. Catherine Romeck“, beendete der Mann und ignorierte die Hand, die sie ausgestreckt hatte. „Und Prof. Dr. Jaina White.“ Er bedachte die beiden mit einem desinteressierten Blick.   „Ja, also… ich wusste gar nicht, dass du von uns erzählst“, sagte Jaina etwas verwundert zu Sherlock.   „Habe ich auch nicht“, antwortete dieser bloß.   „Aber wie…“ Cathy hob nur abschätzend eine Augenbraue.   „Mycroft Holmes!“, platzte es aus Jaina heraus. „Wow! Was für eine Ehre, Sie kennen zu lernen!“ Da stand er, in persona vor ihnen, der schlauste Mann der Welt! Sie war beeindruckt. Er wirkte genauso unterkühlt, wie sie es sich vorgestellt hatte.   „Ah, der mysteriöse Bruder.“ Cathy verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie haben ja nicht das beste Verhältnis mit Sherlock.“   „Sherlock, wirklich?“, wollte Mycroft stattdessen wissen und warf seinem Bruder einen vorwurfsvollen Blick zu. Der jüngere wusste, was der hieß: Im Ernst, solche Dumpfbacken lässt du bei dir wohnen? Wie erträgst du das nur.   „Nun, sie erweisen sich von Zeit zu Zeit recht nützlich“, verteidigte Sherlock seine Entscheidung.   „Nützlich?“, entfuhr es Jaina und Cathy gleichzeitig. Die Kupferhaarige warf dem Detektiv einen entgeisterten Blick zu, den Sherlock schon zu gut von John kannte. Jaina fasste sich an die Stirn. „Cathy, wir ziehen wieder in unsere Wohnung. Was meinst du?“   „Oh, davon bin ich überzeugt.“   „Sie werden nicht ausziehen“, prophezeite Mycroft und wandte sich wieder an Sherlock. „Du weißt schon, dass Dr. Romeck ein romantisches Interesse für dich hegt, kleiner Bruder?“   Cathy schnappte empört nach Luft und setzte an, um dies zu dementieren, doch der Detektiv brachte sie mit einer einfachen Bewegung seiner Hand zum Schweigen. „Natürlich weiß ich das.“   Jaina schaute ihre Freundin ratlos an, während Cathys Kopf immer röter wurde. Das hatte Jaina ja noch nie erlebt! Dass sich die vorlaute Medizinerin einmal schämte!   „Das stimmt nicht“, murmelte Cathy erbost.   „Natürlich stimmt es“, sagte Mycroft wenig beeindruckt und drehte sich zu Jaina. „Genauso wie es stimmt, dass Sie immer noch an starker Migräne leiden. Es tut mir Leid, Sie werden heute noch abserviert.“   Die Mathematikerin schnaubte kurz und fasste einen Entschluss. „Gut, also… äh. Mycroft, es war…interessant… Sie kennenzu lernen. Sie, ähm… viel Spaß noch.“ Jaina entfernte sich so schnell sie konnte, bevor sie ihre Beherrschung verlor.     Was für eine unangenehme Person dieser Mycroft war. Schlau, ja, um jeden Preis. Aber Diskretion im privaten Bereich schien ihm unbekannt.   „Also, ich mach mich dann auch mal… äh… vom Acker“, stammelte Cathy und lief zum Buffet. Sie fühlte sich entblößt und gedemütigt. Sie hatte keine romantischen Gefühle für Sherlock. Keine Minute später stand sie wieder bei den Brüdern Holmes. „Nur um das klarzustellen: Ich bin nicht verliebt in Sherlock!“   Dann erst machte sie sich wieder davon und gönnte sich, neben Jaina stehend, ein Schinken-Ei-Sandwich.   Jaina hatte sich für einen kleinen Wurstsalat mit einem Stück Weißbrot entschieden. Die Engländer hatten es nicht so mit Schwarzbrot, das vermissten die zwei Frauen schon.   „Super unverschämt“, motzte Jaina plötzlich los.   „Echt wahr“, stimmte Cathy bröselnd zu.   Beide aßen noch ein wenig harmonisch vor sich hin, beobachteten die Leute, die wieder tanzten und die, die noch am Buffet waren und waren sich einig, dass der Abend schon hätte besser laufen können.   Da knackte das Mikrofon erneut. Fragend guckten sich die zwei an.   „Noch ein Feuerwerk?“, schlug Cathy vor.   „Oder eine Tombola?“, sagte Jaina hoffnungsfroh. Tombolas waren irgendwie schön. Nicht das beste, aber doch schon erheiternd.   „Meine Damen und Herren, ich bin Philipp Anderson vom Scotland Yard“, ertönte da eine vertraute Stimme. Die Leute hörten auf sich zu vergnügen und schauten zu dem Mann in dem furchbaren Anzug, der auf der Bühne stand.   „Um Gottes Willen“, entfuhr es Cathy.   „Steh mir bei, was ist das denn für ein hässlicher Fummel?“ Jaina, eher nicht religiös, tat das, was sie in englischen Filmen oft sah: Sie bekreuzigte sich. Anderson trug eine schwarze, viel zu enge Hose, ein weißes Unterhemd und – das Schlimmste – ein blau-leopardengemustertes Jackett mit Glitzereinsätzen. Die Knöpfe bestanden aus rosa Sternen. Es war zum Fürchten. Er konnte doch nur eine Wette verloren haben, so ging man doch nicht freiwillig vor die Haustür!   „Wie Sie alle wissen, geht in London der Beheader um, ein Mörder, der seine Opfer köpft und die Körper versteckt.“ Anderson verschwieg, wie Cathy bemerkte, wohlweislich, dass keiner der Körper gefunden worden war. „Und wir haben allen Grund zu der Annahme, dass der Mörder heute unter uns ist.“   Schockiert hörte Jaina das Kauen auf, sowie Cathy. Der Mörder – hier? Langsam schluckte Cathy ihr Sandwich und wischte ihre Hände am Tischtuch des Buffets ab. Jaina verlor keinen Kommentar über dieses schlechte Benehmen – besser das Tuch als das Kleid. Die Mathematikerin stellte ihren Wurstsalat und ihr Brot weg, nahm ihr Weinglas und leerte es eilig. Die Bedienung, die gerade vorbeihuschte, wurde von Jaina angeschnipst. „Noch zwei Gläser von dem roten Wein. Randvoll.“ Schon nach zwei Minuten hielten die zwei jungen Frauen die erneut gefüllten Gläser in ihren Händen.   „Und ich werde ihn überführen!“, triumphierte Anderson.   „Lass mich bitte sterben“, flüsterte Jaina, trank einen großen Schluck und sah sich um. „Wo sind eigentlich die anderen?“ Sie sah sich um, fand aber nur Jim und winkte ihm zu. Er zwinkerte zurück.   „Welche anderen?“ Cathy schaute ergeben in ihr Glas. Dann kippte sie es weg. „Anderson zerstört unseren Ruf.“ Sie rief die Bedienung. „Noch eines, randvoll!“   „Und eines für mich auch!“, warf Jaina ein, leerte ihren Wein und gab das leere Glas ab. Cathy sah ihre Freundin erschüttert an. „Was?!“   „Du trinkst fast nie!“   „Und?“   „Warum heute?“   „Der Abend ist grauenhaft! Da darf man doch noch trinken!“, verteidigte sich Jaina. Die neu gefüllten Gläser wurden den beiden gereicht.   „Darauf trinke ich!“, lachte Cathy plötzlich und nahm einen guten Schluck. Dann stießen die beiden an, während Anderson vom Podest sprang.   „Der Mörder muss ein geheimes Versteck haben, wo er die Leichen lagert. Er ist schnell und unauffällig. Er kann jeden überwältigen und sieht harmlos aus, man vertraut ihm. Entweder eine große, starke Frau oder ein Mann, der den Schein erweckt, nicht allzu kräftig zu sein.“   „Blabla“, machte Cathy nur und trank weiter. „So findet der den Mörder nie.“   „Und dann lässt der sich nie wieder in so einer Gesellschaft sehen! Cathy, wir müssen ihn schnappen!“, rief Jaina, trank ihr Glas schnell aus und sah ihre Freundin eindringlich an. „Du weißt doch alles nötige!“   „Ach, komm, Lestrade wird schon den richtigen einfangen“, widersprach Cathy, trank ihr Glas aber auch leer. „Komm, lass uns mal sehen, wen er denn für den Täter hält.“   Dass Chan immer noch auf ihrer Liste der Verdächtigen stand, das verbargen Jaina und Cathy geschickt, während sie suchend herumliefen, um Anderson zu finden. Das durfte bei der Kleidung allerdings kein Problem sein.   Sie entdeckten Anderson, der gerade herumlief und den Leuten erzählte, warum sie nicht der Täter sein konnten. Zu Chan sagte er tatsächlich: Zu liebenswürdig. Liebenswürdig? Dass Cathy nicht lachte! Der flog einfach nach Thailand und sagte ihr nichts davon! Das war überhaupt nicht freundlich gewesen.   Nach etwa einer halben Stunde war nur noch eine Person übrig. Cathy kannte ihn, Jaina – zu ihrem Glück –nicht. Es war der Leiter eines Opernhauses in London, eines ziemlich bekannten Opernhauses. Doch Anderson machte keinen Halt davor. Mr Zhao war ein begnadeter Sänger und auch Sportler. Nur sein enges Team – Cathy hatte einst dazugehört – wusste, dass er Kampfsport jeglicher Art liebte. Er war ein Meister des Wushu, einer anspruchsvollen chinesischen Kampfkunst, und hatte immer damit angegeben, jemanden mit einer speziellen Technik des Wushu innerhalb von Sekundenbruchteilen K.O. schlagen zu können. Anderson nun vor ihm stehen zu sehen schien für Cathy wie ein zweites Weihnachten!   „Wer ist das?“, flüsterte Jaina nicht halb so leise, wie sie im angeheiterten Zustand dachte.   „Akuma Zhao, der Besitzer des Opernhauses, in dem ich mal gearbeitet hab neben dem Studium. Du erinnerst dich?“   „Klar. Ich war doch mal bei zwei oder drei Vorstellungen von dir.“ Jaina nickte und starrte den ältlichen Chinesen beeindruckt an.   „Er ist ein Meister des Wushu. Irgendwie hatte er in China sogar eine eigene Schule dafür, aber dann hat er die Oper entdeckt. Er ist genial. Und superstark. Aber sau unhöflich, wenn man was nicht genau so macht, wie er es will“, führte Cathy weiter aus.   „Sie sind der Beheader, Mr Zhao. Sie haben kein Alibi! Sie haben nur Menschen einer anderen Rasse als Ihrer getötet!“ Dramatisch deutete Anderson auf den Chinesen.   Jaina und Cathy konnten sich nur kopfschüttelnd ansehen, dann wanderte der Blick der beiden zu Chan, der seltsamerweise lächelte. War er etwa erleichtert?!   „Mr Anderson, wieso sollte ich unschuldige Leute töten?“, fragte Zhao und rümpfte die Nase. Er sah sogar aus, wie ein Kampfkunst-Opa. Sein Oberlippenbart – über der Lippe gestutzt, seitlich hängend – war lang und weiß, sein Haar voll und ebenfalls farblos. Die Haut war wettergegerbt, doch der dunkle Anzug stand ihm gut.   „Nun, Sie sind der einzige, der übrig bleibt“, erwiderte Philipp Anderson im Brustton der Überzeugung. Schon lies er Handschellen schnappen, Jaina registrierte aus den Augenwinkeln, wie Chan fast befriedigt an seinem Glas nippte und stellte ihn immer mehr unter Verdacht. Der war garantiert nicht ganz sauber.   „Ach, na dann“, machte der Opernhausbesitzer, schürzte die Lippen – und im nächsten Moment lag Anderson niedergeschlagen am Boden! Der Wushu-Meister hatte so schnell und effizient zugetreten, dass viele Leute schockiert und irritiert miteinander das Schwätzen anfingen.   Der Zeitpunkt für Cathy, loszuklatschen. Und Jaina, überwältigt von solcher Schnelligkeit, machte begeistert mit. Zhao verbeugte sich in die Richtung der beiden, erkannte seine ehemalige Mitarbeiterin und warf ihnen dann noch zwei Luftküsse zu.   „Der wahre Täter ist jedoch immer noch hier.“   Die Leute verstummten und starrten auf Sherlock, der neben Chan aufgetaucht war. Groß und kühl stand der Detektiv neben dem schrulligen Chinesen. Dieser schien ein wenig zu schrumpfen und sah gar nicht mehr so entspannt aus, was Jaina in ihrer Vermutung nur noch mehr bestätigte. Cathy hingegen musste sich einen Würgereiz unterdrücken – Chan war ihr Asisstent, sie hatte ihn mit wichtigen Aufgaben betraut!   „Oh nein“, machte die Medizinerin und lehnte sich an die nächstbeste Schulter, die sich ihr bot. Diese Schulter hing an Señor Matemática, dieser schaute etwas verwirrt. „Er ist mein Angestellter.“   „Das… ist ja…“ Der Mathematiklehrer wusste gar nicht, was er dazu sagen sollte.   „…echt kacke“, fand Jaina.   „Er ist niemand anderes als Tao Chan. Der forensische Assistent weiß genau, was er zu beachten hatte bei seinen Morden“, meinte Sherlock vernichtend. Dann sah er Jaina und Cathy, die beide ziemlich gequält aussahen.   „Ich? Wieso sollte ich so etwas tun?“, höhnte Chan da plötzlich und sah Sherlock herablassend an. Er stellte sein Glas jedoch gleich auf den nächstbesten Tisch ab.   „Nun, mal von den gesamten persönlichen Gründen abgesehen, hat man ein unanfechtbares Beweisstück gefunden. Ihr Haar war zwischen den Zähnen des letzten Opfers“, erwiderte Sherlock lässig. „Außerdem ist es Ihnen leicht anzusehen, dass…“   „Halt! Stop!“   „Cathy?!“ Jaina versuchte noch, ihre beste Freundin am Arm zu packen, verfehlte sie aber. Entsetzt beobachtete sie, wie die Kupferhaarige auf Sherlock zustöckelte, zielstrebig aber elegant. Die Rechtsmedizinerin starrte Chan böse an, dann drehte sie sich zu Sherlock.   „Das kannst du unmöglich wissen! Dieses Haar ist bis jetzt unter Verschluss und Geheimhaltung gewesen!“   Beim Sprechen merkte Cathy, dass es vielleicht nicht gerade intelligent war, von dem Haar zu sprechen, da Lestrade im Raum war.   „Jaina hat es im Wohnzimmer herumgebrüllt, nachdem sie Jim angerufen hat. Es war schwer, diese Information zu überhören.“   „Jaina?“ Erbost drehte sich Cathy um und funkelte ihre Freundin an.   „Was?! Ich dachte, ich hätte auf Auflegen gedrückt!“ Sie warf die Hände in die Luft und versuchte, nicht zu erröten. Es war Jaina sehr peinlich, dass Sherlock durch sie von dem Haar erfahren hatte. Furchbar!   „Ja, du dachtest! Das war voll geheim!“   „Er rennt weg!“, schrie da plötzlich eine ältere Dame in großgeblümt – wohl eine Wirtschaftsdozentin – und zeigte auf Chan, der schon fast den Ausgang erreicht hätte. Doch Sherlock und alle anderen waren schneller. Ungehemmt zog der Detektiv plötzlich eine Pistole und schoss damit in die Luft!   Alle Gäste – einschließlich Chan – starrten den schwarzhaarigen Mann erschrocken an, in diesem Moment warfen sich Lestrade, John und Mr America auf den Mörder. Dieser ging unter so viel geballter Kraft unter.   Nachdem Chan abgeführt worden war, legte sich der Trubel im Tanzsaal etwas, man verzieh sogar Sherlock für das Auslösen eines Herzinfarktes eines alten Geschichtedozenten – dieser wurde mit weniger Brimborium abtransportiert. Cathy und Jaina hockten auf dem abgeräumten Buffet und schlürften alkoholfreie Cocktails, noch aufgewühlt und schockiert.   „Also wirklich, kaum lässt man euch alleine, passieren die unglaublichsten Dinge.“   „Ach, Herr Reinstriezel“, seufzte Jaina und zog eine Schnute. „Am Anfang macht das alles ja auch noch Spaß. Bis dann einer weint.“   „Das war doch nicht böse gemeint“, sagte der pensionierte Lehrer und setzte sich zwischen die zwei hübschen Frauen und legte jeder einen Arm um die Schulter. „Ihr könnt doch nichts dafür.“ Gleichzeitig lehnten sich Jaina und Cathy an den Mann, der ihr Opa sein könnte und genau das ausstrahlte.   „Aber Jim geht nicht an sein Handy – und finden konnte ich ihn auch nicht!“   „Jaina! So kenne ich dich ja gar nicht!“, entfuhr es Herrn Reinstriezel, der ganz offenbar überrascht war von solch heftiger Reaktion.   „Ich mich auch nicht“, bestätigte sie etwas aufgebracht.   „Der hängt bestimmt völlig abgestürzt in einer Ecke rum! Viel schlimmer ist, dass Chan ein Mörder ist! Er hat Leuten den Kopf abgehackt!“, jammerte Cathy auf der anderen Seite nicht sehr empathisch für ihre Freundin herum.   „Dieser Abend ist für euch beide nicht so einfach, oder?“   „Señor Matemática!“, rief Jaina, als sie den Spanier näher kommen sah. „Haben wenigstens Sie Jim gesehen?“   „Deinen Freund?“ Er schaute sich um. „Nein.“   „Hier ist er ja auch nicht“, gab Jaina erschlagen zurück und trank den Rest des Cocktails.   „Wer hat uns eigentlich diesen alkoholfreien Mist gegeben?“, stänkerte Cathy plötzlich los und starrte ihr Glas vorwurfsvoll an.   „Das war ich“, warf Mr America ein und kam mit zwei Gläsern Wasser fast gangsicher angeschlendert. „Ihr zwei habt schon weitaus zu viel getrunken. Wird Zeit, dass ihr wieder ausnüchtert.“   „Ausnüchtern!“ Die Mathematikerin starrte den selbstbewussten Englischlehrer nur an. „Im Ernst?“ Sie kniff die Augen zusammen. „Außerdem… torkeln Sie etwa?!“   „Wir müssen erstmal richtig betrunken werden dafür. Mr America, da sind Sie uns halt schon voraus“, befand Cathy und lachte leise. Einem vorbeilaufenden Kellner bedeutete sie, eine Runde Tequila für die Lehrer, Jaina und sie zu schmeißen.   Sie waren betrunken, ganz sicher. Fast so betrunken wie damals, als Jaina und Jim auf Sherlocks Couch geschlafen hatten. Allerdings waren sie heute vergleichsweise nicht so gut drauf. Die Lehrer erzählten zwar allerlei Schwänke aus dem Unterricht und versuchten so, die Stimmung zu bessern, aber das half nur unzureichend. Inzwischen hatte Jaina nämlich erkannt, dass Mycroft wohl doch die Wahrheit gesagt hatte und sie von Jim versetzt wurde. Das machte sie wütend und tat weh. Vor allem aber fühlte sie sich allein gelassen, in ihrem betrunkenen Zustand. Die ganzen Leute, die um sie geschart waren, waren bloß ein jämmerlicher Ersatz für den charmanten Mathematiker – der sie versetzt hatte. Die Brünette hätte am liebsten geweint vor lauter Enttäuschung, verbarg das aber relativ schnell wieder. Den anderen den Abend versauen, das war nicht ihre Art. Da spürte sie, wie jemand einen Arm um sie legte. Jaina schaute auf und sah, dass es Cathy war, die sie besorgt anschaute. Anschielte traf es wohl besser, aber darauf kam Jaina in ihrem Zustand nicht.   „Jaina, warum weinst du?“, wollte die Kupferhaarige wissen und versuchte, den sich anbahnenden Schluckauf zu unterdrücken.   „Ich weine gar nicht“, erwiderte Jaina trotzig.   „Und was ist dann das Nasse in deinem Gesicht? Regenwasser?“   „Ich weine nicht wegen Jim!“ Sie versuchte, böse zu klingen, schaffte das aber nur mäßig bis nicht.   „Du musst doch nicht wegen einem Kerl heulen! Ehrlich! Du hast auf jeden Fall was besseres verdient, als jemand, der dich auf so einer tollen Party sitzen lässt!“   „Er soll mich aber nicht sitzen lassen!!“ Und das brachte das Fass dann zum Überlaufen und Jaina schluchzte los, schnäuzte sich in das Tuch, das Cathy ihr hinhielt und wischte sich mit dem Handrücken unladylike über das Gesicht. Neben ihr hörte sie Gelächter. „Was gibt’s da zu lachen?!“, giftete Jaina weiter und musste wegen so viel Unhöflichkeit gleich noch mehr weinen. Es war alles so ungerecht!   „John! Lach nicht!“, rügte Cathy zischelnd und hielt dem Arzt das vollgeschnäuzte Tischtuch hin. „Lass das lieber verschwinden!“   „Aber ihr zwei hockt auf dem Rest vom Tuch!“, keuchte John kichernd. Er hätte sich im Traum nicht vorstellen können, wie lustig es aussehen würde, wenn sich jemand mit einer Tischdecke die Nase putzte!   Und Jaina hatte das mit so viel Enthusiasmus und Konzentration getan, dass er sich nicht mehr hatte halten können.   „Hör auf zu lachen!“, verlange da Jaina mit einer wütend und verletzt bebenden Stimme, während sie aufstand. „Ich will hier nicht mehr sein.“   „Was? Du willst schon gehen?“, wollte da Herr Reinstriezel wissen, der gerade vorbeilief, um auf die Herrentoilette zu gehen. Dann bemerkte er, in welch erbärmlichen Zustand die Dozentin war. „Jaina, was ist denn los?“   „Jim hat mich sitzen lassen und alles ist schrecklich!“   „Jaina kommt nur nicht mit Abfuhren zurecht!“, berichtigte Cathy und legte mit einer großen Geste der Trunkenheit ihren Arm um die beste Freundin. „Aber das bekommen wir auch noch hin!“   „Wir können doch nicht schon gehen!“, rief John entrüstet, als er sah, dass Jaina und Cathy zielstrebig zum Ausgang gingen. Sofort eilte er den beiden hinterher, mit Sherlock im Schlepptau. „Jaina! Cathy!“ Doch die beiden hörten nicht oder wollten nicht hören und torkelten fröhlich weiter.   „Was soll das, John? Warum bleiben wir nicht?“, stänkerte Sherlock und weigerte sich, mit seinem Mitbewohner Schritt zu halten. „Du wolltest doch die Nacht durchfeiern, also hab ich mich darauf eigestellt.   Und jetzt kneifst du?“   „Halt die Klappe, Sherlock.“ Genervt verdrehte John die Augen und erblickte dabei eher zufällig Herrn Reinstriezel, der die beiden jungen Frauen gerade eben eingeholt hatte. „Eeey! Herr Reinstriezel!“   „Was denn?“ Der ältere Mann drehte sich gleich um, eine erfreuliche Reaktion, wie der Arzt fand.   „Wo wollt ihr hin?“   „Limousinen-Party! Habt ihr das nicht mitbekommen?“ Herr Reinstriezel schaute etwas irritiert und wartete höflich auf die Nachzügler. „Die zwei Mädels sind so schlecht drauf, dass Señor Matemática auf die Idee gekommen ist, sie nach hause zu fahren und während der Fahrt weiterzufeiern, damit sie unser Vorhaben nicht bemerken.“   „Brilliant, echt wahr.“ Warum hatten die Leute immer so verkorkste Ideen, fragte sich John mit zunehmender Verzweiflung.   „Also ich geh da nicht mit“, verkündete Sherlock, der sich noch immer von John wegen dem frühen Verlassen der Feier verraten fühlte.     „Was macht’n der jetz‘ im Auto?“, murmelte Jaina unzufrieden und zeigte mit dem Mittelfinger auf Sherlock, der schon in der Limousine hockte, die Fenster heruntergelassen hatte und trotzig glotzte.   „Weiß ich auch nich‘“, erwiderte Cathy eher schmollend. „Hab‘ gehofft, den für heute los zu sein.“   „Also ‘ne Party sieht anders aus“, fand auch Mr America, der sich zu den beiden anderen Lehrern gesellte.   „Kommt noch, ich hab die beste Musik rausgesucht“, grinste Herr Reinstriezel.   In der Limousine stellte sich heraus, dass das wohl nur Herr Reinstriezel so sah. Alle anderen schauten eher gequält aus der Wäsche, als die blecherne 90er-Jahre-Party Musik aus den Lautsprechern plärrte.   „Wer ist denn dafür verantwortlich?!“ John schaute sich etwas entsetzt in der Limousine um, und im selben Moment wurde ihm von irgendwoher eine Flasche Rotwein an den Kopf geworfen. Kommentarlos öffnete er diese und nahm einen großen Schluck daraus. Anders lies sich das auch nicht ertragen. Gleich darauf wurde ihm die Flasche von Jaina entwendet und sie kam auch zu keinem anderen Insassen mehr.   Kapitel 12: UPRIGHT ------------------- „And where the offence is, let the great axe fall.“ - William Shakespeare   Chan war also nun in Untersuchungshaft, weggesperrt und definitiv arbeitslos, auch wenn es Cathy irgendwie schmerzte. Jetzt hatte sie niemanden mehr, dem sie vorjammern konnte, wie viel Urlaub die Leute doch immer hatten und dass man so zu nichts kam. Seit zwei Wochen war sie allein in ihren Laboren, schmollte vor sich hin und knirschte mir ihren Zähnen – vor allem aber auch wegen Sherlock, der so tat, als wäre sie Luft. So ein Schuft.   Und jeden Tag die SMSen von Jaina. Jim ist noch nicht aufgetaucht. – Hast du Jim gesehen? – Ich glaube, ich habe ihn gesehen! – Er ruft einfach nicht zurück. Es tat der Rechtsmedizinerin leid, von ganzem Herzen. Aber wie konnte sie nur ihrer besten Freundin helfen? Sie würde so gerne! Aber Cathy wusste einfach nicht, wie. Wo sollte sie mit der Suche nach Jim anfangen? Keiner kannte ihn. Jainas Trauer und Wut verstand sie dafür aber umso besser.   Nun hockten beide im Wohnzimmer von Sherlock und John, Jaina las einen der Schundromane von Cathy, irgendwas im Stil von Mein Herz ist für immer Dein, während Cathy ihre Post durchging. Beide Frauen taten sich mit der jeweiligen Tätigkeit keinen Gefallen, aber was sollten sie anderes tun?   Viel Lust auf Spaß hatte Jaina definitv nicht, lieber stürzte sie sich in den ersten Liebeskummer. Und hatte sie nicht an ihrem letzten gemeisnamen Abend gedacht, Jim wäre ihre eine große Chance, richtig wahre Gefühle zu erleben? Nun, richtig echter Liebeskummer war beschissen – und jetzt hatte sie die Gelegenheit, das am eigenen Leib zu erfahren. Appetitlosigkeit, Schlafmangel und schlechte Laune kennzeichneten die lezten Tage. Es war ätzend. Und sie wusste es. Sie suhlte sich praktisch darin. Jeder sollte an ihrem Verlust teilhaben und sie bemitleiden.   Während Jaina also vor sich hinlitt, ging Cathy die Post durch. Rechnung um Rechnung, ab und zu ein wenig Werbung. Und dann ein dicker Brief in seriösem Umschlag. Sie sah auf den Absender. Eine Vorladung zu Gericht. Als Zeugin im Fall Chan. Oh Mann, auch noch. Kurz überflog sie den Text, legte den Brief und dann ihre Beine auf den Couchtisch. „John, mach mir bitte mal einen Tee!“, rief sie dann in die Küche, in welcher sie den Arzt vermutete.   „John ist vorhin auf’s Klo gegangen“, meinte Jaina trocken und blätterte um. Zumindest hatte sie ihn absperren gehört. Vielleicht duschte er auch gerade. Es war ihr egal. Eigentlich war ihr alles egal. Wenn Jim nur ein Lebenszeichen von sich geben würde!   „Schlecht“, murmelte Cathy, stand auf und tigerte in die Küche. Sie bot Jaina schon seit zwei Wochen Tee an, doch diese verweigerte jedes Mal. Heute war Zahltag, diesmal würde die Modedesignerin das liebevoll zubereitete Getränk schlucken – ob sie wollte oder nicht. Denn es gab teueren Tee. Extra aus China eingeschifften Tee. Sie hatte ihre Dose voll mit Yellow Gold Tea Buds gefunden. Ihr Onkel hatte ihn ihr gekauft, als er in Singapur gewesen war. Ein Kilo hatte er ihr für damals 1.810,50 Pfund erstanden. Ein stolzer Preis, für einen stolzen Tee. Der wurde nur einmal im Jahr, an einem einzigen Tag geerntet – mit goldenen Scheren. Außerdem wuchs dieser Tee an nur einem Berg, an einer ganz bestimmten Stelle auf der ganzen Welt – schon ziemlich exklusiv. Nach der Ernte wurden die Blätter sonnengetrocknet, dann ins Dunkel geworfen und danach mit Echtgold bepinselt.   Langsam und gemächlich bereitete Cathy diesen Luxus zu und schnüffelte an dem aromatisiertem Wasser. Nichts ging über einen guten Tee. Nichts ging über Tee, den man nicht einmal online bestellen konnte. Nach einer viertel Stunde betrat sie wieder das Wohnzimmer. Jaina hatte sich nicht bewegt. Vermutlich war sie drei Seiten weiter im Buch, ihr Blick war immer noch konzentriert abwesend. Die jungen Frauen trugen nur ihre Pyjamas – wozu mehr anziehen, wenn man eh frei hatte? Obwohl Cathy eigentlich auf Arbeit müsste, das wusste sie. Heute würde sie halt eine Nachtschicht einlegen.   „Hier, Jaina. Der ist für dich.“ Damit stellte sie ihrer besten Freundin die dampfende Tasse vor’s Gesicht.   „Danke, nein.“   „Doch.“   „Nein.“   „Doch.“   „Ich sagte: Nein.“ Diesmal sah Jaina ihre Freundin herausfordernd an. „Zu vergoldetem Tee sagt man nicht Nein“, provozierte Cathy. „Man sagt gar nix und trinkt. Denn Gold ist gut für dich.“   „Neue Wohnung, neues Glück!“ Mit diesen Worten sperrte Cathy zum ersten Mal offiziell die Wohnungstür in der Downing Street auf – mit direktem Blick auf das London Eye und mit Fenster zum Big Ben. Diese Wohnung zu finden war endlos schwer gewesen, aber es hatte sich gelohnt. Diese Wohnung war größer, schöner und heller als die alte. Und das beste: Die ganzen Sachen aus der alten Wohnung waren schon längst geliefert worden und die beiden jungen Frauen brauchten sich um nichts mehr zu kümmern.   „Du bist so verrückt! Wieso ziehen wir nochmal um?“, fragte Jaina und schüttelte den Kopf, als sie in den ausladenden, hell gestrichenen Gang trat. Sogar ein schöner, verschnörkelter Spiegel hing schon an der Wand.   „Weil uns dieser Tapetenwechsel gut tun wird. Außerdem wohnen wir jetzt voll exklusiv“, grinste Cathy.   „Und zur Feier des Tages wird es was geben?“   „Pferdefleisch!“   „Ich kann nicht glauben, dass heute die Verhandlungen sind“, staunte Jaina, trotz ihrer vorgenommenen schlechten Laune. Eigentlich wollte sie ständig sauer und traurig sein, aber nachdem Cathy sie zu immer anderen Dingen zwang – wie Haarewaschen, Einkaufen und Arbeiten und sogar UMZIEHEN in eine neue Behausung – besserte sich ihr Gemütszustand. Was sie wirklich wütend machte. Freude und sowas wollte sie einfach nicht im Programm haben.   Beide standen vor dem Old Bailey Court, dem Zentralen Strafgerichtshof, dessen Grundstein schon im 16.Jahrhundert gelegt worden war. Es war ein beeindruckeneder Bau, neobarock und trotzdem respekteinflößend, mit der Justitia, die oben auf der Kuppel stand und immer so aussah, als würde sie auf die Straftäter hinunterfallen – und sie mit ihrem Schwert aufspießen.   „Ich auch nicht. Der blöde Bastard wird Augen machen, wenn sein Boss gegen ihn aussagt“, meinte Cathy, sie war immer noch stark enttäuscht und fühlte sich hintergangen. Zum einen verfluchte sie Chan für seine Dummheit, ein Haar von sich an einem Opfer zu lassen – zum anderen hasste sie sich selbst für diesen Gedanken. Es war doch gut, dass dieser Mörder nun gefasst war! Besser, als ihn herumlaufen zu haben. Auch, wenn es ihr – manchmal etwas unnütze – Assistent war.   „Schimpf doch nicht ständig so“, belehrte Jaina ihre beste Freundin. Vor Gericht würde das bestimmt keinen guten Eindruck hinterlassen. Aber da musste sie sich daran erinnern, dass Cathy mit großer Regelmäßigkeit vor Gericht aussagte. Zwar nicht als Zeugin, aber als Rechtsmedizinerin, wenn es um Verletzungen und Todesursachen ging. Also konnte man wohl davon ausgehen, dass die Medizinerin ihr Temperament doch besser unter Kontrolle halten konnte, als  angenommen. Sie sah auch so aus. Anders als sonst hatte sich Cathy mal so richtig männlich angezogen – mit schwarzem Anzug und weißer Bluse, die kleine Rüschen am Hals und den Ärmelenden hatte, und zugeknöpft. Sogar eine  schwarze Weste trug sie. Volles Programm also, fand Jaina. Die Modedesignerin hingegen hatte sich für etwas feminines entschieden, für ein schwarzes, knielanges Kleid mit schrägem V-Ausschnitt und schulterbreiten Ärmeln. Um seriöser zu wirken, hatte Jaina sich noch in eine blickdichte schwarze Strumpfhose gezwängt, die dazu besser als erwartet aussah.   „Schimpfen? Das ist doch noch gar nix“, winkte die ältere lässig ab und betrat dann das Gericht.   Nach etwa fünf Stunden, mit einem kleinen Kaffeepäuschen für die Jury, waren die Verhöre beendet, sogar Chan hatte schon ausgesagt, wobei Cathy eine mittleren Herzinfarkt erlitt und Jaina sich etwas fehl am Platze fühlte, während sich der Assistent aus der ganzen Affäre zu reden versuchte. Jedoch war Sherlock auch als Zeuge geladen, schließlich hatte er Chan irgendwie ja dingfest gemacht – und dieser gab so sehr mit seinem Intellekt und seinen Deduktionen an, dass die Jury sich voreilig in ihre Kammer zog um zu beraten. Der Detektiv hatte noch nicht einmal zu Ende geredet.   Jaina und Cathy hatten das heiter hingenommen. Selber Schuld, dachten sie sich einstimmig.   Draußen war das Wetter besser, mild mit ein paar Wolken am Himmel und einer leichten Brise. Jaina war froh, einen Blazer mitgenommen zu haben, während Cathy in ihrem schwarzen Anzug, trotz Weste und dünnem Blazer, etwas fror. Der Preis für einen besonders hübschen Auftritt. Vor dem Gebäude standen gerade ein paar Bauarbeiter, die an einer anderen Statue herumzerrten. Das war ja interessant, was wollten die hier? Hatten die sich in der Haustür geirrt? Auf diesem Gericht jedenfalls befand sich schon eine. Oder fühlte die sich etwa einsam? Das wäre natürlich schändlich.   „Hallo“, sagte Cathy lässig, während sie sich nach einer Zigarrette sehnte. Das wäre jetzt perfekt. Die Bauarbeiter grüßten zurück, wirkten fast ein wenig euphorisch.   „Nicht ansprechen“, flüsterte Jaina da, fast panisch. „Vielleicht sind die alle verrückt!“   „Ach, Jaina. Doch nicht diese netten Kerle“, widersprach die ältere grinsend und trat zu der Statue. „Was wird das eigentlich, wenn’s fertig wird? Da oben ist doch schon eine von der Sorte.“   „Ja, aber die wird alle heilige Zeit mal ausgetauscht und restauriert“, erklärte einer der Männer und wischte sich den Schweiß von der Stirn.   Wieso schwitzt der?, dachte sich Jaina. Es ist doch gar nicht heiß.   Aber ihr wurde im gleichen Moment eiskalt, als sie einen lauten Schrei und Glas splittern hörte. Alle Blicke fuhren nach oben, von wo der Lärm kam. Eine Person fiel im Sturzflug aus dem Fenster – direkt auf die Staute zu! Im nächsten Augenblick schon spritzte Blut auf die Kleidung der umstehenden Leute, ein knackendes und irgendwie widerliches Geräusch wie ein Fluurpsh verursachte eine eigentümlich entsetzte Stille. Jaina sah das und als der Geruch von Innereien sie so unvorbereitet traf übergab sie sich spontan, zusammen mit drei Bauarbeitern, begleitet von einem „Oh Scheiße“ von Cathy.   Die Rechtsmedizinerin trat näher an die Statue und blinzelte zu dem zappelnden halbtoten Chan, der auf Justitias Schwert aufgespießt war. Er hatte wohl aus dem zweiten Stock auf den Boden springen wollen. Ganz offenbar. Er gurgelte panisch und spuckte Blut. Seine Augen rollten und die Beine bewegten sich unkontrolliert – er hatte direkt seine Wirbelsäule getroffen mit diesem waghalsigen Sprung. Die verletzten Nerven taten das Übrige und liesen den Sterbenden wie eine sich schüttelnde Marionette aussehen.   „Cathy, geh da weg!“, bat Jaina, wischte sich mit einem Taschentuch über den Mund und nahm dankbar einen Schluck Wasser von einem Bauarbeiter – der plötzlich gar nicht mehr wie ein gefährlicher Krimineller aussah – um sich den Mund auszuspülen. Sie beschloss, weniger Vorurteile zu haben.   „Nein. Erst muss ich Chan was fragen.“ Sie ging so um die Statue, bis sie ihn sein Gesicht sehen konnte, das schmerzverzerrt war. Blut lief die Steinfigur hinunter und tropfte auf den Boden – die Medizinerin machte einen kleinen aber doch vorsichtigen Bogen darum.   „Der ist gleich tot!“   „Ja, genau deswegen.“ Sie schüttelte den Kopf und sah ihren ehemaligen Assistenten an. „Chan, wie haben Sie es geschafft, so clever zu töten? Selber wären Sie dazu nie in der Lage gewesen. Wer hat geholfen?“   Doch der Mann war schon tot und hinterlies eine sehr interessante Frage unbeantwortet.   „Cathy! Du kannst nicht so unhöflich sein! Das waren jetzt die letzten Worte, die er gehört hat!“, keifte Jaina. Ihr wurde wieder übel, schon allein bei dem Anblick. Und bei der Tatsache, dass ihre guten Klamotten mit seinem Blut besudelt waren. Und Cathys. Beide Kostüme waren so sündhaft teuer gewesen! Jaina wollte gar nicht an die Reinigungskosten denken.   „Ja und? Er hat es sich selber zuzuschreiben; schließlich ist er ja aus dem Fenster gesprungen. Keiner hat ihn geschubst.“   Niemand vor dem Gericht sprach aus, was sich alle dachten. Dass es eine Ironie des Schicksals war, dass ein flüchtiger Mörder von Justitia getötet wurde.   In dieser Woche verbrachten Jaina und Cathy viel Zeit in ihrer neuen Wohnung und gönnten sich zur Feier der letzten Monate den teueren Wein, der bis dahin unberührt im Schrank gestanden war. Dazu naschten sie ungesunde Schokokekse und Chips, während sie etliche harmlose Actionfilme ohne Liebe und ohne verräterische Mitarbeiter ansahen.   So lässt es sich leben, dachte Cathy.   So kann es bleiben, befand Jaina.     ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)