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Trust me

(Zorrobin)
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
@Stoechbiene
Der Krümel hat wirklich geholfen :D Er hat den Knoten zum Platzen gebracht. Und dafür danke, danke, danke!!! Komplett anzeigen

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Wer bin ich?

Robin
 

Wer bin ich?

Die Menschen sagen, ich sei ein Kind des Teufels – Devils Child. Ich agiere aus dem Hinterhalt und töte aus dem Schatten der Nacht heraus. Bedauern oder Mitleid sind Gefühle, die ich mir nicht leisten kann und will. Sie machen einen anfällig für die Hilflosigkeit und Probleme anderer Menschen – Belanglosigkeiten, für die ich weder Zeit noch Energie aufbringen kann. Stattdessen ist jeder Schritt und jeder Zug meines Handelns ein Resultat aus der Notwendigkeit heraus. Nur so habe ich es überhaupt geschafft in dieser kalten Welt zu überleben, indem ich alle Eventualitäten einkalkuliere und dementsprechend handle … kein Zögern, kein Erbarmen, keine Gefühle.

Aber bin ich wirklich so?

Es hatte eine Zeit gegeben, da war ich ganz anders – naiv, unschuldig und leichtgläubig. Es war eine Zeit, in denen ich den Menschen noch vertraute und an das Gute in ihnen geglaubt hatte. Doch dann musste ich feststellen, dass die bittere Wahrheit ganz anders aussieht. So etwas wie Nächstenliebe gibt es nicht – ein Irrglaube, der verbreitet wurde, um davon abzulenken, dass jeder Mensch nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Geld und Macht ist alles, wonach der Mensch letztendlich strebt … und nicht Liebe, Glück und Freude.

Das Kind von damals existiert heute nicht mehr. Durch die harte, unverfälschte Realität, als es tatenlos mit ansehen musste wie seine Heimat, seine Familie und Freunde aus dem Leben gerissen wurden, verstarb es mit ihnen. Und aus den Überresten dieser unschuldigen Seele wurde wie der Phönix aus der Asche schließlich Devils Child geboren – hart, unerbittlich, kalt und gefühllos.

Doch irgendetwas regt sich in meinem Inneren. Etwas, von dem ich gedacht habe, dass ich es für immer in die Tiefen meines dunklen Herzens verbannt hätte, und mich nun an den Weg zweifeln lässt, den ich vor so langer Zeit eingeschlagen habe und seitdem unbeirrt folge. Bedauern über meine begangenen Taten überkommen mich seither immer wieder, obwohl meine Handlungen und Entscheidungen die Richtigen waren.

Wer bin ich? – Ich weiß es nicht!

Ich weiß nur, dass ich mich in dieser einen Nacht zum ersten Mal im Leben wie ein richtiger Mensch gefühlt habe. Ich habe die Mauer um mich herum fallenlassen und mich ganz den Gefühlen hingegeben, die dieser Mann in mir hervorgerufen hat. Weder hatte es für mich ein Jetzt noch ein Morgen gegeben, sondern nur diesen einen Augenblick, in dem ich eine ganz normale Frau war.

Und jetzt stehe ich hier!

Nur eine hölzerne Tür trennt mich noch von ihm und seiner irritierenden Nähe. Aber meine Entscheidung ist die Richtige, denn alleine kann ich den Kampf nicht länger bestreiten. Und auch wenn mein Verstand sich nach wie vor weigert, auch nur einem Menschen zu vertrauen, so weiß ich, dass ich ihm gegenüber nicht Gefahr laufe verraten zu werden. Er wird mir helfen - so, wie wir uns vor einigen Monaten bereits gegenseitig geholfen haben.

Alabasta

Robin
 

Blaue und weiße Lichtreflexe wandern über den Boden, den Wänden und dem Mobiliar hinweg und verwandeln den leicht düsteren Raum in einen mystischen Ort, während das Licht der Morgensonne sich einen Weg durch das Wasser bahnt. Kurze Tentakel von roten, gelben und orangefarbigen Anemonen wiegen sich im selben sanften und langsamen Rhythmus wie das dunkelgrüne Seegras hin und her. Ein Schwarm silberfarbiger Heringe zieht seine morgendliche Runde. Mal durchbrechen sie flink das Wasser, um dann wieder gemächlich dahin zu treiben, bis sich ein dunkler Schatten über den Schwarm legt und sie geschwind in den unzähligen und namenlosen Wasserpflanzen Schutz suchen. Bei dem Schatten handelt es sich um eine Rotkopfschildkröte, die langsam und träge immer näher kommt. Ein paar Male umrundet sie ein Seegrasblatt, bevor sie dann ihr zahnloses Maul aufreißt und es – schneller als man es dem Tier zutrauen würde – in das satte Grün der Pflanze vergräbt.

Gedankenverloren betrachte ich die Szenerie dieser geheimnisvollen Welt, deren Erforschung mir für immer verwehrt bleiben wird. Beinahe zaghaft strecke ich meine Hand aus, bis meine Fingerspitzen das dicke, kalte Glas berühren, das mich von der traumhaften Unterwasserwelt mit seinen exotischen und farbenprächtigen Bewohnern trennt. Normalerweise könnte ich Stunden damit zubringen das Treiben der unzähligen Fische und Pflanzen zu beobachten, die im künstlich angelegten Aquarium rund um das Rainbase Casino leben. Aber heute vermögen es die Seepferdchen, Anemonen, Doktorenfische, Seesterne, Welse, Kugelfische, Schildkröten und all die anderen Arten es nicht mich in ihren sonst so faszinierenden Bann zu ziehen. Heute richten sich meine Augen und meine Gedanken nur auf meine Zukunft, die hinter einem tiefschwarzen Nichts verborgen liegt.

Seufzend wende ich mich von dem Panoramabild ab und trete langsam an den dunklen Eichenholzschreibtisch heran. Etliche Papiere, Zeichnungen und Notizen liegen verstreut auf der gesamten Schreibfläche herum – ein unordentlicher Haufen aus zwanzig Jahren Arbeit, in denen ich meine Beobachtungen und Erkenntnisse niedergeschrieben habe. Das durchbrechende Licht von Sonne und Wasser schwebt schimmernd über diese Zettelwirtschaft hinweg und lässt die Worte hell aufleuchten, als liege ein Zauberbann auf ihnen.

Die letzten zwei Tage habe ich damit zugebracht, sämtliche Unterlagen immer und immer wieder durchzugehen – Zettel für Zettel, Schriftstück für Schriftstück –, bis sich die Worte ausnahmslos in mein Gedächtnis eingeprägt haben. Und doch weiß ich nicht weiter.

Zwanzig Jahre habe ich nunmehr damit zugebracht nach dem Rio-Porneglyph zu suchen. Zwanzig Jahre, in denen ich Gelehrte nach den Porneglyphen und der Verlorenen Geschichte befragt habe. Zwanzig Jahre, in denen ich alte Pergamentrollen und Bücher – dicke Wälzer mit mehr als tausend Seiten – gelesen habe. Doch nichts und niemand konnte mir bei meiner Suche weiterhelfen, bis … ja, bis Sir Crocodile vor einigen Jahren in mein Leben trat und mich Schritt für Schritt, Jahr für Jahr nach Alabasta führte.

Ehrfurcht, Faszination, Ergriffenheit – bei dem Anblick des großen, schwarzen Steinquaders im Mausoleum hatte mir, im Wissen nun endlich das Ende meiner Reise erreicht zu haben, das Herz bis zum Halse geschlagen. Umso niederschmetternder war es, erkennen zu müssen, dass dem nicht so war … dass all die Jahre der Vorbereitungen, all die Arbeit und Mühen und Anstrengungen umsonst waren – und die Wahrheit weiterhin im Verborgenen liegt.

Ein schmerzhaftes Ziehen breitet sich in meiner linken Schulter aus, als ich mich schwer in die weichen Polster des Stuhles hinter dem Schreibtisch niederlasse. Vorsichtig umfasse ich die noch frische Wunde, die unter meinem Hemd wild pulsiert und mich an die kürzlich vergangenen Ereignisse im königlichen Mausoleum von Alabasta erinnern lässt. An dem Tag, an dem ich mich eigentlich schon mit dem Tode abgefunden hatte, dessen dunkle Schwingen bereits angefangen hatten mich einzuhüllen. Das Gift hatte heiß in meinen Adern gebrannt, während das Mausoleum langsam Stein für Stein in sich zusammenbrach. Und mein Traum, mein sehnlichster Wunsch war wie ein Spiegel in tausend Einzelteile zersprungen.

„Es ist vorbei“, murmle ich leise, während meine Augen blicklos auf die Papiere vor mir gerichtet sind. Was kann ich jetzt noch tun, was ich nicht schon in der Vergangenheit getan oder versucht habe? Im Stillen verfluche ich mich dafür, dass ich Sir Crocodile nie danach gefragt habe, wie er von dem Porneglyph in Alabasta erfahren hat. Ein grober und nachlässiger Fehler, wie sich jetzt herausstellt. Denn wie auch immer die Informationsquelle ausgesehen hat, sie hätte mich vielleicht zu anderen Porneglyphen führen können. Doch jetzt ist es zu spät. Sir Crocodile befindet sich mittlerweile auf dem Weg nach Impel Down, wo ihm in einigen Wochen der Prozess gemacht wird. Und ich werde ihm schon bald folgen, wenn ich noch länger hier verweile, geht es mir durch den Kopf.

Bislang sind sämtliche Einheiten der Marine, die wegen der Rebellion nach Alabasta abkommandiert wurden, noch in der Stadt stationiert, wo sie beim Wiederaufbau helfen und den Soldaten des Königs bei ihren Pflichten unterstützen, damit wieder Recht und Ordnung in den Straßen herrschen kann. Aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis zumindest eine Einheit zum Rainbase Casino entsendet wird, um nach versprengten Agenten der Baroquefirma zu suchen und weitere Beweise für Sir Crocodiles Vergehen zu sammeln. Doch kann ich mich nicht dazu aufraffen mich zu bewegen oder auch nur einen Muskel zu rühren. Wie festgefroren sitze ich in der fahlen Dunkelheit einfach nur da und starre vor mir hin.

Von Anfang an schon war meine Suche zum Scheitern verurteilt. Und irgendwo in meinem tiefsten Inneren habe ich es bereits geahnt. Die Regierung hat alles dafür getan, dass die Verlorene Geschichte ein ungelöstes Geheimnis bleiben soll. Sämtliche Spuren, sämtliche Hinweise wurden anscheinend vernichtet. Jeder, der etwas über diese Zeit hätte berichten können, ist schon vor Jahrhunderten zu Staub und Knochen zerfallen. Und jedes Buch, jede Schriftrolle, jedes Fetzen Papier, das auch nur die leisesten Andeutungen hätte liefern können, wurde sicherlich verbrannt. Was bleibt mir jetzt also noch zu tun? Weitersuchen? Aber wo, und wie?

Frustriert und mit einem Anflug von Wut fege ich die Papiere mit einer einzigen Armbewegung vom Tisch, nur um meinen Ausbruch in der nächsten Sekunde zu bereuen. Ein Schmerz wie tausend Messerstiche durchfährt meinen ganzen Körper und lässt mich qualvoll aufkeuchen. Fest beiße ich die Zähne aufeinander und atme mit einem zischenden Laut tief ein, während meine Augen auf die vereinzelten Blätter gerichtet sind, die in der Luft langsam zu Boden schweben, bis der Schmerz in meiner Schulter zu einem dumpfen, anhaltenden Pochen abklingt.

Und das war es auch schon. Der kurze Energieschub, der meinen Körper befallen hatte und nur wenige Sekunden andauerte, fällt von mir ab wie unnötiger Ballast, und ich sinke kraftlos tiefer in die Polster des Stuhles zurück. Müde massiere ich mir mit den Fingerspitzen die Schläfen, während ich das Gefühl habe mich im Kreis zu drehen. Unablässig stellt sich mir die Frage, was ich jetzt tun soll – und ich habe keine Antwort darauf. Wie soll man auch ein Ziel treffen, das man nicht sehen kann?

Als ich meine Augen langsam wieder öffne, fällt mein Blick auf die Tageszeitung neben mir auf dem Boden. Die Titelseite ist stark geprägt von den Ereignissen in Alabasta. In dicken, schwarzen Lettern sind Worte zu lesen wie Der Regen ist zurückgekehrt und Prinzessin Vivi bittet um Frieden. Jedoch ist meine Aufmerksamkeit auf ein großes Foto gerichtet, von dem mir ein breit grinsendes Gesicht eines jungen Burschen entgegenblickt. Die Überschrift darüber lautet Freund oder Feind?. Genauso wenig wie die Zeitung bin ich zu einer abschließenden Antwort auf diese Frage gekommen, obwohl wir beide Gegner waren. Und dennoch …

Mühsam beuge ich mich über die Armlehne und strecke meinen Arm nach der Zeitung aus. Das Ziehen und Stechen um der Wundnaht herum, das augenblicklich einsetzt, ignoriere ich dabei geflissentlich. Lange blicke ich anschließend auf das Foto in meiner Hand hinab, ohne herausfinden zu können, was dieses Etwas ist, das den Strohhutbengel umgibt. Er und seine Kameraden unterscheiden sich von den anderen Piraten wie Tag und Nacht, obwohl sie zu den wenigen gehören, die nicht rauben und plündern.

„Du hast nicht aufgegeben“, flüstere ich dem Bild halblaut in die Stille des Raumes zu.

Nein – aufgegeben hat er nicht … nicht einmal. Und das, obwohl er einen scheinbar aussichtslosen Kampf gegen Sir Crocodile geführt hatte. Immer und immer wieder hatte er sich dem Samurai der Meere in den Weg gestellt und dabei mehr als nur einmal fast sein Leben verloren. Trotzdem hat er nicht aufgegeben und den Kopf in den Sand gesteckt. Stattdessen ist er nach jeder Niederlage wieder mit neuer Kraft und voller Energie aufgestanden und hat unbeirrt weitergekämpft … entschlossen, willensstark und siegessicher.

„Aussichtslos“, sinniere ich leise, ohne meinen Blick von dem Jungen zu nehmen, während meine Gedanken sich langsam ordnen und sich vor mir allmählich ein Licht am Ende des Tunnels zeigt. Meine Annahme, dass es niemanden mehr gibt, der von den Porneglyphen berichten könnte, ist falsch, wie mir jetzt mit aller Deutlichkeit bewusst wird. König Kobra hat von dem Porneglyph im Mausoleum gewusst und davon gesprochen, dass er und seine Familie es beschützen und bewachen sollen. Was, wenn es noch andere wie ihn gibt?

Voller Tatendrang und neu erwachter Hoffnung, greife ich nach Papier und Federkiel, um meine Gedankengänge aufzuschreiben. Obwohl ich noch nicht genau weiß, wo ich meine Suche fortsetzen soll, bin ich mir mit einer absoluten Gewissheit sicher, dass irgendwo auf der Grandline noch weitere Porneglyphe existieren. Ich muss sie lediglich finden – und dann werde ich auch eines Tages vor dem Rio-Porneglyph stehen.

Kurói Bará

Drei Jahre später
 

Ein kühler Luftzug fährt über meinen Kopf hinweg, als es mir im letzten Augenblick noch gelingt den tödlichen Angriff auszuweichen. Noch im Fallen rolle ich mich auf dem weichen, laub- und grasbedeckten Erdboden ab und springe sofort wieder auf die Beine. Erst drei, vier Schritte weiter drehe ich mich meinem Angreifer wieder zu. Eine kurze Pause ist mir gegönnt, in der ich schwer atmend versuche Kraft zu schöpfen und mir zu überlegen, wie ich seinen aggressiven Kampfstil durchbrechen kann. Aufmerksam taxiere ich daher das wenige, dass ich von meinem Gegner im Dunkeln der Nacht erkennen kann. Nur die kalten, blauen Augen, die mich ebenfalls aufmerksam mustern, stechen in all dem Schwarz wie ein Signalfeuer hervor, während wir uns langsam im Kreis drehen und jede einzelne Bewegung des anderen genau beobachten. Von der Anstrengung des bisherigen Kampfes ist dem namenlosen Mann nichts anzumerken, derweil mir allmählich die Arme immer schwerer und schwerer werden und die zitternde Schwertspitze mittlerweile zu Boden zeigt.

Direkte Konfrontationen sind normalerweise nicht mein Stil, da ich aufgrund meiner Teufelskräfte eher aus der Ferne und dem Hinterhalt agiere. Doch die Vergangenheit hat mir gezeigt, dass ich auch in Situationen geraten kann, in denen meine Kräfte wirkungslos sind – so, wie es auch jetzt der Fall ist. Vermutlich wurde in die Kleidung meines Angreifers Seestein verarbeitet, weshalb es mir nicht gelungen ist, auch nur einen einzigen Arm an seinem Körper hervorzurufen. Umso vorteilhafter ist es jetzt auch, dass ich die Kunst des Schwertkampfes erlernt habe – denn immerhin ist es meinem Gegner bisher nicht gelungen mich zu töten. Doch ist dies wohl nur noch eine Frage der Zeit, wie ich in einem Anflug von Selbstironie bemerke.

Obwohl ich in Gedanken sämtliche Lektionen meines Senseis in Erinnerung gerufen habe, wie man am Effektivsten die Führung eines Kampfes übernehmen kann, sieht die Praxis zu meinem Leidwesen dagegen ganz anders aus. Es ist doch ein ziemlich großer Unterschied, ob man nun gegen den eigenen Lehrer in einem Übungskampf besteht oder gegen einen echten Gegner, dessen Angriffe ganz gezielt darauf ausgerichtet sind einen zu töten. Denn immer wieder drängt mich der Mann in die Defensive, in der mir nichts anderes übrig bleibt, als seine Angriffe abzuwehren. Für einen Gegenschlag lässt er mir wenig bis gar keinen Raum, da seine Hiebe und Bewegungen zu schnell vonstatten gehen. Ebenso wenig ist es mir auch möglich, seine Handlungen und Reaktionen vorherzusagen. Keine Regung, kein Muskelzucken verrät mir seine Taktik. Aber vielleicht ist das auch sein Ziel … mich müde zu machen und mir meine letzten Kraftreserven zu rauben, um dann zum alles entscheidenden Schlag auszuholen.

„Du besitzt einige herausragende Eigenschaften, die vielen meiner Schüler fehlen“, höre ich die kratzende Stimme des alten Senseis in meinem Kopf. „Diese Fähigkeiten werden dir im Kampf von großem Nutzen sein, wenn du denn lernst sie auch richtig einzusetzen. Denn der Kampf besteht nicht einfach nur darin, die Waffe wild in der Luft herumzufuchteln, in der Hoffnung einen Treffer zu landen. Du musst dir das Ganze wie eine Partie Schach vorstellen. Beobachte deinen Gegner ganz genau. Sieh dir seine Bewegungen, seine Gestiken, seine Augen und seine Mimik an. Versuche herauszufinden, was seine Taktik ist und wo seine Stärken und Schwächen liegen. Und plane deine eigenen Züge sorgfältig, aber schnell. Denn anders als beim Schach hast du im Kampf nicht sehr viel Zeit dir deine Schritte zu überlegen.“

Die Stärken und Schwächen eines Gegners herausfinden!

Nun, die größte Stärke meines Angreifers liegt wohl in seiner Schnelligkeit sowie auch darin, dass er, anders als es bei mir und meinem Schwert der Fall ist, für die Angriffe mit seinen Klauenhandschuhen weniger Raum beanspruchen muss. Diese Waffe besteht aus einem Metallgestell, das mit einem Lederband sowohl um die Handinnenfläche als auch ums Handgelenk geschnallt wird. Die Tödlichkeit allerdings befindet sich am oberen Ende des Gestells, wo jeweils rasierscharfe Messerklingen eingesetzt sind und auf skurrile Art an die Finger einer Hand erinnern. Doch in dieser Waffe liegt auch gleichzeitig die Schwäche meines Gegners, wie mir nach einem kurzen Moment der Überlegung auffällt. Dadurch, dass sie nur eine kurze Reichweite besitzt, ist mein Angreifer dazu gezwungen den direkten Körperkontakt zu suchen, um einen tödlichen Hieb auszuführen. Jetzt müsste es mir nur irgendwie gelingen diese Entdeckung zu meinem Vorteil zu nutzen, ohne dabei selber ums Leben zu kommen.

Plötzlich macht mein Gegner einen Satz nach vorne, woraufhin ich aus meinen Überlegungen gerissen werde. Eiligst versuche ich zur Seite auszuweichen, als er mir auch schon sofort nachsetzt, als hätte er meine Reaktion vorhergesehen. Zu spät erkenne ich, dass sein Angriff nur als Finte gedacht ist, während er mit seiner linken Hand ausholt. Ohne den Hauch einer Chance den Angriff irgendwie parieren zu können, sehe ich die scharfkantigen Klingen, die im fahlen Mondlicht hell aufblitzen, wie in Zeitlupe auf mich zukommen. Nur aus einem reinen Reflex heraus reiße ich den Kopf zur Seite, als meine linke Halsseite nur wenige Sekunden später auch schon wie flüssige Lava brennt, nachdem die zarte Haut durchtrennt wurde und warmes Blut meinen Hals herab läuft.

Meine Sicht verschwimmt vor mir, als der sengende Schmerz Welle für Welle über mich hinwegrollt. Doch ich beiße die Zähne fest aufeinander und blinzle ein paar Male mit den Augen, während ich die schwarze Klinge von Kurói Bará höher hebe. Trotz meiner Verletzung und deren Auswirkungen auf meinen Körper entgeht mir nicht die Gelegenheit, die sich mir augenblicklich bietet, so dass ich mit dem Katana kraftvoll zustoße. Bis in die Schultern hinauf spüre ich den schwachen Widerstand, als die Klinge sich einen Weg durch Haut, Fleisch, Muskeln und Sehnen bahnt, bis die Spitze des Schwertes von einem undurchwindbaren Knochen aufgehalten wird.

Sekunden, vielleicht auch Minuten, stehen wir so nah beieinander, dass ich die Überraschung in den Augen des Mannes erkennen kann, bis sich langsam ein stumpfer, grauer Schleier über sie legt. Am ganzen Körper zitternd, ziehe ich mein Schwert aus der tödlichen Wunde und stolpere einige Schritte zurück. Gleichzeitig sackt der leblose Leib meines Gegners in sich zusammen und schlägt mit einem dumpfen Laut auf den weichen Untergrund auf. Ich selbst gebe der verzweifelten Bitte meiner weichen Knie nach und sacke ebenfalls zu Boden. Angst und die Kraftanstrengung des Kampfes zollen nun ihren Tribut, als ich mit zitternder Hand den kalten Schweiß von der Stirn wische, während ich versuche wieder zu einer normalen Atmung überzugehen, in der Hoffnung, dass sich dadurch auch mein Herzschlag wieder normalisiert.

„Danke“, flüstere ich mit gebrochener Stimme in die unheimliche Stille hinein und streiche beinahe liebevoll über den unteren Schaft des Katanas. Für einen kurzen Moment blitzt das schwarze Metall der Klinge hell auf, als wolle es mir antworten. Irritiert blinzle ich ein paar Male mit den Augen, unsicher geworden, ob ich mir die Reflektion nicht vielleicht eingebildet habe. Und dennoch kommen mir unvermittelt die Worte des alten Senseis in den Sinn, als er mir das Schwert zum Abschied überreicht hatte.

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„Dies ist Kurói Bará“, spricht der Sensei langsam mit vor altersgrauer Stimme, während sein Blick unverwandt auf das pechschwarze Klingenblatt des Katanas in seinen Händen gerichtet ist. „Es ist ein Oowazamono – ein Königsschwert, von denen es auf der ganzen Welt nur 21 Stück gibt. Leider ist mir die genaue Herkunft nicht bekannt, aber es befindet sich schon seit sehr vielen Jahrzehnten im Besitz meiner Familie.“

Ein leiser Seufzer entweicht seinen rauen, spröden Lippen, während er gedankenverloren sanft über die Klinge streicht, bevor er das Katana schließlich zurück in die Scheide steckt, die genauso schwarz und schmucklos wie das Schwert selber ist.

„Wie du weißt, habe ich keine Kinder, an die ich das Katana eines Tages weiterreichen kann. Deshalb möchte ich es dir geben.“

Es vergehen mehrere Minuten der Überraschung, in denen ich den alten Mann vor mir mit leiser Vorsicht mustere. Die grauen Augen unter den weißen, buschigen Brauen blicken mir dabei mit einem sanften Ausdruck geduldig entgegen.

„Warum?“, frage ich schließlich, da ich mir keinen Grund denken kann, warum man mir ein so wertvolles Geschenk machen sollte. Ich war nur eine Schülerin wie viele andere, zumeist jüngere Leute vor mir auch. Doch keiner von ihnen hatte auch nur das kleinste Geschenk vom Sensei erhalten, nachdem sie ihre Ausbildung beendet haben.

„Dir ist doch der Name Kitetsu bestimmt ein Begriff.“

„Ich habe von der Familie gehört“, antworte ich leise, ohne zu wissen, worauf der alte Mann hinaus will, während ich mir die wenigen Details der Familie in Erinnerung rufe. „Sie haben viele hochwertige Schwerter geschmiedet, von denen es allerdings heißt, dass sie ihrem Träger irgendwann den Tod bringen würden.“

„Es heißt, die Schwerter der Familie Kitetsu seien alle miteinander verflucht“, nickt er mir zu. „Und das Gleiche wird auch von Kurói Bará behauptet.“

„Ihr wollt mir ein verfluchtes Schwert schenken?“

„Es gibt keine verfluchten Schwerter“, schüttelt er langsam mit dem Kopf, während ein sanftes Lächeln seine Lippen umspielt. „Zumindest glaube ich das nicht. Aber was ich glaube, ist, dass Kurói Bará seinen eigenen Willen besitzt. Es sucht sich seinen Träger selber aus – was wahrscheinlich auch auf die Schwerter der Kitetsus zutrifft.“

„Ihr sprecht von dem Schwert, als würde es leben.“

„Jedes Schwert lebt! Jedes Einzelne, das bis heute angefertigt wurde, besitzt eine eigene Seele. Doch die Meisten von ihnen fügen sich widerstandslos den Befehlen seines Trägers, während sich im Gegensatz nur die Wenigsten dagegen wehren. Diese Lektion solltest du dir gut merken.“

„Aber wenn es sich den Träger selbst aussucht“, erwidere ich schließlich, nachdem ich eine Weile über die Worte des alten Sensei nachgedacht habe, „warum glaubt Ihr, dass Kurói Bará mich als seinen Besitzer akzeptieren wird?“

„Nicht als Besitzer – als Seelenverwandter“, antwortet er mir ohne Umschweife, als hätte er meinen Einwand vorausgeahnt. „Du und das Katana – ihr beide seid euch vom Wesen her sehr ähnlich. Aus diesem Grunde glaube ich auch, dass Kurói Bará dich nur allzu gerne begleiten würde.“

~

Ohne weitere Erklärungen abzugeben, hatte mir damals der Sensei das Katana stumm entgegen gehalten, bis ich es schließlich in die Hände nahm. Danach war er wortlos in seine kleine Hütte verschwunden, ohne sich noch einmal umzublicken – und hat mich voller Fragen zurückgelassen.

Jedes Schwert besitzt eine Seele!

Lange Zeit habe ich über diese Worte nachgedacht – über deren Sinn und Wahrheitsgehalt, ohne dabei wirklich auf eine Antwort gestoßen zu sein. Doch heute … in diesem Augenblick … bin ich wirklich versucht, seinen Worten Glauben zu schenken. Vielleicht besitzt dieses Katana tatsächlich eine Seele?! Denn, wenn ich ehrlich bin, so bin ich eine blutige Anfängerin. All die Lektionen und Übungen sind nichts im Vergleich zu einem richtigen Kampf, bei dem es um das nackte Überleben geht. Und dennoch bin ich heute als Siegerin hervorgegangen – in einem Kampf, bei dem Kurói Bará zum ersten Mal zum Einsatz gekommen ist.

Während meiner Ausbildung habe ich gelernt, dass jedes Schwert in seiner Führung anders ist. Dies hängt mit dem Gewicht, der Form und der Länge sowie der Dicke der Klinge eines Schwertes zusammen. Schwerter mit dünnen Klingen sind meist leichter und handlicher. Man verbraucht bei der Handhabung weniger Energie und Kraft als es bei Schwertern mit dickerer Klinge der Fall ist. Zumindest waren dies meine bisherigen Beobachtungen, da ich in meiner Ausbildung mit verschiedenen Ausführungen trainiert habe. Darum habe ich auch nach meiner Ausbildung auch sehr oft mit Kurói Bará trainiert, um mich an sein Gewicht in der Hand zu gewöhnen und um ein Gefühl für die Führung zu bekommen. Heute jedoch hatte ich das Gefühl, als hätte das Katana leichter als sonst in der Hand gelegen, als würde es weniger als eine Feder wiegen. Ebenso hatte ich auch den Eindruck, dass es während des Kampfes eine seltsame Aura ausgestrahlt hatte, sobald es die Luft durchschnitt und die Angriffe meines Gegners parierte.

Besitzt du tatsächlich eine Seele, frage ich mich im Stillen meiner Gedanken, während ich die Klinge vorsichtig und sanft mit dem dunklen Stoff meines Umhangs sauber wische.

Das dumpfe Röhren eines Krokodils, das an das langsame Herannahen eines Gewitters erinnert, lässt mich aufblicken und mir wieder bewusst werden, was mich auf diese Insel verschlagen hat. Wieder voll und ganz auf mein Vorhaben konzentriert, stehe ich daher vom Boden auf und stecke Kurói Bará zurück in die Scheide, die an meiner linken Seite am Gürtel befestigt ist. Noch immer ist es ein ungewohntes Gefühl das Gewicht an der Seite zu spüren. Ebenso muss ich auch noch lernen, dass meine sonstige Bewegungsfreiheit nunmehr eingeschränkter ist. Bei der Kletterpartie in den riesigen Mammutbäumen zuvor ist die Scheide immer wieder zwischen Zweigen und Ästen hängen geblieben. Dies hatte die Verfolgung meines Angreifers unnötig erschwert, wodurch ich ihn sogar beinahe ganz aus den Augen verloren hatte. In Gedanken mache ich mir daher einen Vermerk, mir zu einem späteren Zeitpunkt eine Lösung für dieses Problem zu überlegen, während ich energisch einen langen Stoffstreifen von meinem Umhang reiße.

Vorsichtig betaste ich die tiefen Kratzer an der Seite meines Halses. Der Schmerz ist mittlerweile zu einem dumpfen Pochen abgeklungen. Dennoch atme ich die Luft mit einem zischenden Laut ein, als die Berührung ein tiefes, verzehrendes Brennen auslöst. Mit einem stummen Fluch auf den Lippen wische ich daraufhin die warme Feuchtigkeit an meinen Fingern am Stoffstreifen ab, die mir besagt, dass aus der Wunde immer noch Blut sickert. Da mir aber bis zum Morgengrauen nicht mehr viel Zeit bleibt, muss ich mich vorerst mit einem provisorischen Verband begnügen, bevor ich die Verletzungen richtig versorgen kann. Zudem ist es auch angebracht, dass ich schleunigst von hier verschwinde, da der Geruch des Leichnams bestimmt schon von einigen Raubtieren wahrgenommen wurde. Und ich verspüre nur wenig Lust darauf, auf der Speisekarte eines Krokodils oder eines Tigers zu landen.
 

Bei Sonnenuntergang war der Dschungel noch erfüllt gewesen von dem quirligen Tschirpen der Zikaden und Grillen, dem lauten Krächzen der Papageien und Kakadus und dem Gebrüll und Geschrei von Primaten. Jetzt jedoch herrscht eine gespenstische Stille über den Bäumen, als wäre jedes Leben mit Anbruch der Nacht aus dem Urwald verschwunden. Nur das sanfte Rauschen der Blätter, sobald sich ein Windzug in das tiefe Dickicht verirrt, ist hin und wieder zu hören. Doch die Stille ist ebenso wie die Dunkelheit trügerisch, denn irgendwo in dem tiefen, schwarzen Nichts pirschen die nachtaktiven Raubtiere auf der Suche nach Nahrung umher. Und das Blut, das in dieser Nacht vergossen wurde, wird ihren Hunger nur noch mehr angestachelt haben. Aber es sind weniger die Tiere als vielmehr die Menschen, vor denen ich mich in Acht nehmen muss.

Zu Beginn meines Vorhabens habe ich es noch für klug gehalten, die Insel bei Nacht zu betreten. So bin ich vor neugierigen Augen geschützt und kann mich unentdeckt weiter ins Inselinnere begeben. Womit ich aber nicht gerechnet habe, sind die Wachen, die in schwarzer Montur durch den Dschungel patrouillieren. Im Schutz der Dunkelheit verschmelzen sie somit mit den übrigen Schatten, weshalb ich sie zum Teil erst dann entdeckt habe, als ich ihnen schon beinahe auf die Füße getreten bin. Aufmerksam betrachte ich daher auch meine Umgebung, als ich mir vorsichtig einen Weg durch das dichte Unterholz suche. Meine rechte Hand liegt dabei griffbereit auf dem Schaft von Kurói Bará, um jederzeit das Katana aus der Scheide zu ziehen, sollte ich noch einmal angegriffen werden.

Mir behagt das ganze Unterfangen kein bisschen. Obwohl die Insel mit ihrer dichten Vegetation eher einen verlassenen Eindruck macht, so zeugt lediglich ein kleiner Anlegesteg am südöstlichen Küstenabschnitt zumindest von einem Hauch Zivilisation. Wie viele Menschen sich aber letztendlich auf der Insel befinden, vermag ich nicht zu sagen. Mein Abenteuer ist wohl eher mit einem Sprung ins kalte Wasser zu vergleichen, da ich genau genommen rein gar nichts über die Insel zu berichten weiß – oder über deren Besitzer. Jede Nachforschung und jedes Hinterfragen hat zu einem Kopfschütteln und einem nichts sagenden Achselzucken geführt, was nicht nur meine Aufmerksamkeit und Neugier erregt hat, sondern in mir auch sämtliche Alarmglocken zum Läuten gebracht hat. Einzig den Namen Jean D. Plessis konnte ich in Erfahrung bringen, der angeblich der Besitzer dieser namenlosen Insel sein soll. Doch wer ist er? Diese Frage scheint niemand beantworten zu können.

Jean D. Plessis ist einflussreich und mächtig, so viel steht für mich schon mal fest. Denn ohne Geld und ohne Freunde oder Geschäftspartnern, die an der richtigen Stelle in der richtigen Position stehen, ist es nicht möglich, sämtliche auf sich bezogene Informationen unter Verschluss zu halten oder gar aus den Archiven zu löschen. Es existiert ja noch nicht einmal eine Geburtsurkunde von ihm, sofern dies auch sein richtiger Name ist. Aber ungeachtet dessen, allein die Tatsache, dass es diesen Mann scheinbar gar nicht gibt, macht ihn zu einer gefährlichen Person. Jean D. Plessis ist ein großes Mysterium … ein Rätsel, dass ich mit meinem Aufenthalt auf seiner Insel zu lösen gedenke.

Mit diesem Gedanken beschäftigt, trete ich plötzlich ins Freie und finde mich am Rande eines breiten Weges oder einer Art Straße wieder. Einige Sekunden vergehen, in denen ich in die Dunkelheit lausche, ob sich irgendwelche Laute in die nächtliche Stille mischen, die nicht dazugehören, während meine Augen langsam und aufmerksam über die dunklen Schatten wandern. Erst als ich mir sicher bin, keine unliebsame Überraschung zu erleben, gehe ich in die Hocke, um die Spuren in dem teils trockenen, teils sandigen Erdboden genauer betrachten zu können. Vorsichtig fahre ich mit den Fingerspitzen über die Abdrücke, um sie nicht versehentlich zu verwischen. Neben den tierischen Spuren der verschiedenen Dschungelbewohner, die kreuz und quer über der Straße verlaufen, finde ich auch Spuren von Pferdehufen sowie verschiedene Abdrücke von Schuhen, die in beide Richtungen der Straße führen. Viel interessanter finde ich aber die länglichen Furchen inmitten der Straße, die allem Anschein nach von irgendwelchen Fuhrwerken stammen. Der Haupttransportweg, geht es mir durch den Kopf, der wahrscheinlich den Anlegesteg mit einem Dorf, einer Stadt oder was auch immer miteinander verbindet. Kurzerhand entschließe ich mich dazu dem Verlauf der Straße zu meiner Linken zu folgen, da diese Richtung scheinbar weiter ins Landesinnere führt.
 

Nach gefühlten zwei Stunden, in denen ich der Straße unbeirrt und ohne nennenswerte Vorkommnisse gefolgt bin, bemerke ich, wie der Dschungel um mich herum langsam wieder zu Leben erwacht. Zunächst höre ich von irgendwoher ein zaghaftes Gezwitscher eines einzelnen Vogels, dessen Gesang schon bald von weiteren Vögeln in den unterschiedlichsten Höhen und Tiefen und Lauten begleitet wird. Und immer öfters vernehme ich zu beiden Seiten hin ein Rascheln und Kratzen in den Gräsern und Büschen, das von Mäusen, Kaninchen und anderes Getier verursacht wird, während sich über mir das Schwarz der Nacht langsam in ein tiefdunkles Grün verwandelt. Stellenweise gibt das dichte Blattwerk den Blick auf den Himmel frei, so dass ich erkennen kann, wie der dunkle Nachthimmel sich mit seinem Sternenzelt langsam und kaum wahrnehmbar gräulich verfärbt.

Als ich meinen Blick wieder auf die Straße vor mir richte, denke ich für einen Moment über mein weiteres Vorgehen nach, denn mit dem heranbrechenden Tag steigt auch das Risiko meiner Entdeckung. Mein Verstand rät mir dazu, einen sicheren Unterschlupf zu suchen, um die nächste Nacht abzuwarten. Dadurch bekäme ich nicht nur die Gelegenheit wieder zu Kräften zu kommen, sondern ich könnte mich dann auch um die Versorgung meiner Verletzungen kümmern. Aber andererseits kann ich meine Umgebung bei Tageslicht viel besser wahrnehmen und unliebsame Begegnungen wesentlich früher vermeiden als es bei Nacht der Fall ist.

Im Zwiespalt dessen, was die richtige, klügere und angebrachte Entscheidung wäre, fällt mir auf, dass der Weg ein Stück weit vor mir in ein etwas helleres Licht getaucht ist als der Rest meiner Umgebung. Nunmehr vorsichtiger geworden, gehe ich langsam darauf zu und lasse meine Augen dabei flink über die Straße, die Bäume und Büsche hinweg wandern und jedes Detail in sich aufnehmen. Erst als das dichte Grün den Blick auf eine riesige freie Fläche von der Größe eines kleinen Dorfes freigibt, bleibe ich unvermittelt stehen. Zwischen zahllosen Baumstümpfen, deren Stämme ordentlich nahe der Straße aufeinander gereiht wurden, bedecken nur noch Äste, Laub, Gras und Wurzeln den Boden.

Was davon wird mehr benötigt – das Holz oder der Platz?

Vielleicht aber auch beides, denke ich mir im Stillen, während ein ungutes Gefühl in mir aufsteigt, als ich versuche die Zusammenhänge miteinander zu kombinieren. Eine geisterhafte Person, die nicht zu existieren scheint … eine namenlose Insel, die auf keiner Karte verzeichnet ist … schwarzgekleidete Kämpfer, die lautlos durch den Dschungel pirschen. Irgendetwas soll anscheinend geheim gehalten werden – etwas Großes … da bin ich mir sicher.

Während meine Augen immer wieder über die gefällten Bäume und über den gerodeten Platz schweifen, vergehen noch weitere Sekunden, bis ich meine Aufmerksamkeit schließlich auf eine Stelle abseits des Platzes richte, wo ein kutschenähnliches Fuhrwerk abgestellt ist, das augenscheinlich als Gefangenentransporter dient. Etwa eine handvoll Männer unterschiedlichen Alters sitzen eingepfercht in dem engen Käfig und sehen mir mit teils ängstlichen, teils trostlosen Blicken entgegen, als ich mich dem Wagen langsam nähere. Sie alle befinden sich in einen verwahrlosten Zustand, da sie sich scheinbar seit Tagen nicht mehr gewaschen haben. Ihre fettigen und verklebten Haare stehen ihnen zu allen Seiten hin vom Kopf ab, ihre Gesichter sind mit Dreck beschmiert und ihre Hände, die aussehen, als hätten sie mit ihnen tief in der Erde gegraben, weisen sowohl frische als auch verheilende Kratzer auf. Ihre Kleidung sieht ebenfalls nicht besser aus. Stellenweise sind ihre Hemden und Hosen zerrissen und dunkle Schweißflecken haben sich unter den Achseln, auf den Rücken und an der Brust gebildet. Ein wenig angewidert rümpfe ich die Nase, als mir ihr säuerlicher Geruch entgegenweht.

„Wer seid Ihr?“, werde ich von einem alten Greis gefragt, dessen Mundhöhle mehr Zahnlücken aufweist als ein Käse Löcher hat. Doch das ist nicht der Grund, warum ich meinen Blick nicht von ihm abwenden kann, sondern seine Augen, die von einer weißbläulichen Farbe sind und in deren Mitte eine purpurrote Iris einen in den Bann zieht. Solche Augen – eine Laune der Natur, wie mir scheint – habe ich noch nie zuvor gesehen. Schließlich mustere ich auch die übrigen Männer, die mich weiterhin nur still beobachten. Ein unbestimmtes Gefühl nagt an der Oberfläche und drängt mich dazu meine Aufmerksamkeit auf diese Männer genauer zu lenken. Irgendetwas scheint besonders an ihnen zu sein, doch den Grund dafür kann ich nicht erkennen. Dafür aber regt sich ein anderer Verdacht in mir und mein Blick wandert zurück zu dem gerodeten Platz und den gefällten Bäumen hinüber. Diese armseligen Gestalten sind keine Gefangenen im üblichen Sinne, wovon ich zunächst ausgegangen bin, sondern Sklavenarbeiter, die die Drecksarbeit ihrer Herren erledigen sollen. Und der Tatsache entsprechend, dass sie sich immer noch auf dieser Lichtung befinden, besagt mir, dass ihre Arbeit hier noch längst nicht beendet ist. Doch zu welchem Zweck genau? Dieser Plessis scheint doch ein recht einflussreicher Mann zu sein. Wenn hier wirklich etwas gebaut werden soll, warum setzt er dann nur so wenige Sklaven dafür ein?

Der alte Greis könnte mir sicher einige der Fragen beantworten, die mir im Geiste herumschwirren – und ich bin auch versucht ihn zu befragen, doch will ich kein weiteres Risiko mehr eingehen. Schon viel zu lange halte ich mich an diesem Ort auf, so dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis weitere Leute hier auftauchen, die sich um die Sklaven kümmern wollen. Und diese werden ihren Wärtern mit Sicherheit von meiner Anwesenheit erzählen. Deshalb ist es besser, wenn ich jetzt von hier verschwinde und mir die Informationen auf eine andere Weise besorge, die meine Absichten weiterhin im Verborgenen halten.

„Holst du uns jetzt hier heraus, oder nicht?“

Ich neige ein kleinwenig den Kopf zur Seite, als die gelangweilt klingende Stimme die morgendliche Stille unterbricht. Seltsamerweise kommt sie mir bekannt vor, doch weiß ich nicht sie einzuordnen. Es muss demnach schon einige Jahre her sein, als ich sie das letzte Mal gehört habe.

Mit einer leisen Neugier gehe ich daher langsam um den Wagen herum zum Heck, um herauszufinden, wem diese Stimme gehört. Es überrascht mich schon ein wenig, jemanden hier auf der Insel anzutreffen, den ich möglicherweise kenne. Und meine Überraschung nimmt sogar einiges an Stärke zu, als meine Augen dann auf den jungen Mann treffen, der am anderen Ende des Käfigs auf dem Boden sitzt und mir entgegenblickt.

Ich habe meine Zweifel daran, dass er mich erkennt, da mein Gesicht in der Tiefe meiner Kapuze verborgen liegt. Ihn dagegen erkenne ich schon – ebenso auch wie ich seinen Kapitän und den Rest der Piratenbande erkennen würde, wenn sie denn hier wären.

Seit den Ereignissen auf dem Sabaody Archipel vor zwei Jahren hat man nichts mehr von ihnen gehört, weswegen ich mich schon gefragt habe, was aus ihnen wohl geworden ist. Nur ihr Kapitän hatte danach noch für einiges an Aufsehen gesorgt, als Puma D. Ace hingerichtet werden sollte und in Folge dessen, was darauf geschah, Impel Down und das Marineford so gut wie vernichtet wurden. Danach ist auch er spurlos verschwunden.

Einige Gerüchte besagen, die Strohhutbande sei ums Leben gekommen oder wurde von der Marine geschnappt, was ich jedoch für sinnloses Gerede halte. In Anbetracht dessen, was diese Bande bereits alles erreicht und getan hat, hätte man die Tatsache einer möglichen Ergreifung durch die Marine nicht lange geheim halten können. Irgendjemand hätte früher oder später geplaudert und alles wäre ans Tageslicht gekommen. Zwar wäre ein mögliches Ableben der Bande dahingehend wahrscheinlicher gewesen, zumal die Grandline unzählige Gefahren birgt, aber auch daran hatte ich die ganze Zeit über meine Zweifel, insbesondere, da sie selbst einen Buster Call überlebt haben.

Der schrille Schrei eines Papageis hallt mit einem Male über den Platz hinweg und lässt mich erschreckt bewusst werden, wie viel sinnlose Zeit ich bereits vergeudet habe. Ich sollte jetzt wirklich von hier verschwinden, geht es mir für einen Moment durch den Sinn, ohne den Schwertkämpfer dabei aus den Augen zu lassen.

Die einstige jugendliche Frische und Unbeschwertheit, die ich schon damals in Alabasta bei ihm wahrgenommen hatte, ist mittlerweile aus seinem Gesicht verschwunden. Stattdessen sehe ich heute einen jungen erwachsenen Mann vor mir, dessen Gesichtszüge härter und markanter geworden sind. Vielleicht hängt diese Veränderung mit der Narbe zusammen, die sich über sein linkes Auge zieht. Diese Verletzung hatte er damals noch nicht gehabt. Sein rechtes Auge dagegen ist unverwandt auf mich gerichtet. Trotz der Entfernung zwischen uns beiden kann ich eine tiefe Ernsthaftigkeit sowie einen kleinen Funken Neugier darin geschrieben sehen. Doch mehr lässt er mich nicht erkennen, so dass ich nicht sagen kann, was in seinem Kopf vor sich geht.

Ich vermag nicht zu sagen, wie lange dieser Augenblick bereits andauert, in dem ich den Schwertkämpfer einfach nur ansehe. Doch irgendwann lässt mich ein unbestimmtes Gefühl, das ich nicht näher erläutern kann, mich dazu hinreißen meinen Rucksack auf den Boden abzustellen. Das ist doch Irrsinn, fechte ich innerlich einen Kampf mit mir selbst aus, während ich im Inneren der Tasche nach meinen Dietrichen suche. Mein Instinkt rät mir dazu, diesen Ort endlich zu verlassen, da mit jeder verstreichenden Sekunde das Risiko meiner Entdeckung steigt. Aber andererseits … würde eine Flucht der Sklaven mir nicht einen Vorteil verschaffen? Denn immerhin wären dann die Wärter damit beschäftigt diese wieder einzufangen, was mir wiederum mehr Zeit verschaffen würde, um ungesehen weiter ins Inselinnere vorzudringen. So zumindest versuche ich mir mein Vorhaben einzureden. In Wahrheit jedoch behagt mir der Gedanke, den Schwertkämpfer einfach so hier in diesem Käfig zurückzulassen, seltsamerweise überhaupt nicht. Doch ich versuche erst gar nicht weiter über diese merkwürdige Gefühlsregung nachzudenken, sondern dränge sie stattdessen in eine dunkle Ecke meiner Gedanken zurück. Ich kann mich auch noch später damit befassen und mich mit dem Wieso, Weshalb, Warum auseinandersetzen.

Die Eisengittertür des Käfigs ist mit einem einfachen Vorhängeschloss verriegelt, das für mich und meine Fingerfertigkeit absolut keine Herausforderung darstellt. Die beiden Stifte im Inneren des Schlosses habe ich mit meinen Dietrichen daher schnell zurückgeschoben, so dass der Verschlusshaken bereits nach kürzester Zeit mit einem leisen Klicken aufspringt.

„Wir sind frei“, höre ich einen der Männer leise murmeln, als dieser sich auch schon von seinem Platz erhebt. Damit wäre jetzt eigentlich der Zeitpunkt meines Verschwindens gekommen. Meine Arbeit hier ist getan und die Sklaven sind aus ihrem beengten Käfig befreit, auch wenn sie wahrscheinlich zum heutigen Abend hin wieder darin sitzen werden. In ihrem Zustand und mit ihrer Unerfahrenheit glaube ich kaum, dass sie es alleine bis zur Küste schaffen werden, geschweige denn überhaupt einen Weg aus dem Urwald finden würden. Vorher wird es eher so sein, dass sie von ihren Gefängniswärtern wieder eingefangen werden oder, gar schlimmer noch, als Mahlzeit irgendeines Raubtieres enden.

Diese Gedanken und weitere gehen mir durch den Kopf, während ich regungslos den Männern dabei zusehe, wie sie ihre müden Arme und Beine strecken, und sich dabei über ihre kurze, aber dennoch neugewonnene Freiheit erfreuen. Doch eine Bewegung zu meiner Rechten reißt mich aus der Betrachtung heraus und sofort wandern meine Augen zum Schwertkämpfer hinüber, der als Letzter aus dem Käfig herausklettert. Aber anstatt sich zu den anderen Männern zu gesellen, um sie vielleicht aus dem Dschungel hinauszuführen, bleibt er direkt vor mir stehen. Für einen kurzen Moment blitzt etwas in seinem Auge auf, so dass ich davon ausgehe, dass er mich nun doch erkannt hat, da die kurze Distanz zwischen uns nicht mehr länger ausreicht, um mein Gesicht im Dunkel der Kapuze verborgen zu halten.

So verharren wir bewegungslos und stumm und mustern einander, während ich das Gefühl habe mich in der Tiefe dieses dunklen Grün seines Auges zu verlieren, das mich in seinen Bann zu ziehen scheint. Keine Wärme, keine Wut, keine Kälte, keine Sanftheit – nichts ist in der Iris zu erkennen bis auf mein eigenes Spiegelbild. Und unvermittelt frage ich mich, ob die Leute das Gleiche auch in meinen Augen sehen … diese Leere … diese Ausdruckslosigkeit … als würde kein Leben darin existieren.

Leben – was bedeutet das Wort schon, außer die Luft um einen herum einzuatmen? Für so Manchen scheint es zu bedeuten einfach nur Spaß und Freude empfinden zu können, hoffnungsvoll einer glücklichen Zukunft entgegenzublicken und stolz auf die Dinge zu sein, die man geleistet und geschaffen hat oder nach einem harten Arbeitstag in die Arme einer liebenden Familie zurückzukehren. Doch nicht für mich! Für mich bedeutet das Leben einen immerwährenden Kampf – tagein, tagaus. Ein Kampf ums Überleben verbunden mit einer nie nachlassenden Achtsamkeit und einem permanenten Misstrauen gegen alles und jeden. Und dabei ist man nur sich selbst die einzige Person, der man vertrauen kann – bis jetzt zumindest.

Schon allein die Nähe zu diesem Mann wirkt verstörend auf mich und verleitet mich zu irrationalen Handlungen, die ich mir keineswegs erklären kann. Sämtliche Warnungen meines Verstandes und meines Instinktes schlage ich aus dem Wind und setze meine Mission aufs Spiel, nur um diese nichtsnutzigen Leute zu befreien. Was kümmert es mich denn, was aus ihnen wird? Schließlich sind sie selber für ihre Lage verantwortlich, dann sollen sie auch selber zusehen, wie sie da wieder herauskommen. Und der Schwertkämpfer hätte sich früher oder später sicherlich auch ohne meine Hilfe befreien können.

Innerlich schüttle ich den Kopf, um wieder zu Verstand zu kommen, während ich meinen Rücken und meine Schultern straffe. Meine Konzentration ist wieder voll und ganz auf mein ursprüngliches Vorhaben gerichtet, weswegen ich den Blickkontakt zwischen mir und dem Mann vor mir abreißen lasse. Stattdessen blicke ich hinauf zum Himmelszelt, um mich an die Himmelsrichtung zu orientieren, als ich aus der Ferne Hufgetrappel vernehme, das sich schnell und gleichmäßig nähert.

„Die Arbeiter – sie kommen“, ruft der alte Greis leise auf, und in seiner Stimme schwingt deutlich die Angst mit. Sofort richten sich sämtliche Augen der Männer auf mich und den Schwertkämpfer, als könnten wir ihnen bei ihrem Problem helfen. Für mich jedoch steht es außer Frage noch länger hier zu verweilen, denn viel Zeit bleibt mir nicht mehr, bis die Reiter den Platz erreicht haben und ich ungesehen ins dunkle Dickicht des Dschungels verschwinden kann.

„Du haust ab?“, hält mich die Stimme des Schwertkämpfers auf, als ich mich gerade umwende, um meinen Plan in die Tat umzusetzen. Nichts an seinem Tonfall oder an seiner Mimik lässt mich erkennen, was er von meinem Verhalten hält. Nicht der kleinste Vorwurf schwingt in seiner Stimme mit, und dennoch fühle ich mich schlecht bei dem Gedanken ihn im Stich zu lassen.

„Das ist nicht mein Kampf“, antworte ich ihm fast schon trotzig, als auch schon die ersten beiden Reiter in mein Blickfeld treten. Trotz der Entfernung erkenne ich, wie sie ihre Pferde zu einem schnelleren Tempo anspornen, kaum dass sie die befreiten Sklaven gesichtet haben. Dies ist jetzt endgültig meine letzte Chance unbemerkt zu verschwinden, und trotzdem bleibe ich wie festgewachsen stehen, als wäre ich zu keiner Regung mehr fähig. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie einige Männer in ihrer Panik ins Dickicht flüchten, während die Verbliebenen uns weiterhin aus flehenden Augen beobachten.

„Wenn du nichts tun willst …“, höre ich den Schwertkämpfer murmeln. Seine Stimme ist weiterhin ausdruckslos. Trotzdem zucke ich innerlich zusammen, als hätte er mir ins Gesicht geschlagen. Doch für eine Erwiderung bleibt mir keine Zeit. Es bleibt mir ja nicht einmal Zeit erschrocken zurückzuweichen, als der Schwertkämpfer sich in Sekundenbruchteil zu mir herüber beugt und Kurói Bará aus der Scheide zieht. Bevor ich überhaupt verstanden habe, was geschehen ist, hat er sich bereits von mir abgewendet und stürmt mit ausgreifenden Schritten auf die Reiter zu.

Stillschweigend beobachte ich eine Weile das tumultartige Geschehen, bei dem der Schwertkämpfer sich gegen die beiden Angreifer zur Wehr setzt. Dabei komme ich nicht umhin, ihn für seine unglaubliche Schnelligkeit zu bewundern, mit der er trotz seiner hochgewachsenen Gestalt den Hieben und Schlägen ausweicht. Obwohl die Männer hoch zu Ross sitzen und sich somit in der augenscheinlich überlegeneren Position befinden müssten, haben sie mit ihren kräftiggebauten Pferden, die eher als Zug- denn als Reittiere geeignet sind, gegen seine Wendigkeit nichts entgegenzusetzen, so dass sie mit ihren Gewehren, die sie wie Schlagstöcke benutzen, nichts als leere Luft treffen.

Schon nach kurzer Zeit sind die Kontrahenten eingehüllt vom Staub der Straße, der von den schweren Hufen der Pferde aufgewirbelt wird. Dennoch entgeht mir nicht, dass der Schwertkämpfer zu keinem einzigen Angriff übergeht, obwohl es ihm eigentlich mühelos gelingen müsste, die beiden Gegner zu überwältigen. Aber bevor ich weiter darüber nachdenken kann, treffen auch schon weitere Reiter ein – fünf an der Zahl –, die sich ohne zögern in den Kampf hineinwerfen.

Ein stummer Fluch und ein abfälliges Schnauben entweichen meinen Lippen, als ich es den Arbeitern gleichtue – und mich in den Kampf einmische. In dem Wissen, dass meine Teufelskräfte an den Männern ohne Wirkung bleiben, wende ich sie daher anderweitig an und lasse direkt vor dem vordersten Pferd ein Spiegelbild meiner eigenen Person erscheinen. Erschreckt über das plötzliche Hindernis stellt es sich daraufhin wiehernd auf die Hinterbeine, wodurch sein Reiter hintenüber abgeworfen wird. Und noch bevor dieser auf den Boden aufschlägt, lasse ich bereits eine Hand aus dem Hals des nachfolgenden Pferdes sprießen, die mit festem Griff das Zaumzeug am Maul packt und kräftig zur Seite hin wegzieht. Dem Reiter gelingt es noch sich für wenige Sekunden im Sattel halten zu können. Aber die Schwerkraft und die ungleichmäßige Balance aufgrund des ruckartigen Wendemanövers führen schließlich doch dazu, dass der Mann zu Boden fällt.

Vor wenigen Minuten noch war es hier ruhig und friedlich – die reinste Bilderbuchszene wie aus einem Märchen. Nun jedoch hat es den Anschein, als wäre das totale Chaos ausgebrochen. Die verbliebenen Gefangenen rennen schreiend und voller Angst umher, nicht wissend, wie sie ihren Wärtern entfliehen können. Die beiden reiterlosen Pferde preschen ihrem Instinkt folgend in gestrecktem Galopp über die Lichtung hinweg – nur fort von dem Ort, dessen Luft erfüllt ist von Angst und Schrecken. Derweil ist der Schwertkämpfer immer noch in dem Scharmützel mit seinen beiden Kontrahenten verstrickt, ohne dabei auch nur einmal Kurói Bará gezielt zu benutzen. Ein wenig irritiert es mich, ihn so passiv zu sehen, da ich ihn bisher für einen offensiven Kämpfer gehalten habe, der ganz gezielt den Angriff sucht.

Für einen Augenblick nehme ich mir die Zeit und betrachte den durchtrainierten Körper des Schwertkämpfers aus den Augenwinkeln heraus, ohne dabei auch nur das kleinste Anzeichen einer Verletzung auszumachen, die die seltsame Passivität erklärt hätte. Weder weisen seine vor schmutzstarrende Kleidung irgendwelche Blutflecken auf noch sind seine schnellen Bewegungen und Reflexe auf irgendeine Art und Weise beeinträchtigt. Doch warum greift er dann nicht an? Was hält ihn davon ab?

Bevor ich aber weiter über eine Antwort nachdenken kann, muss ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die restlichen Arbeiter richten. Mittlerweile laufen mehrere Abbilder meiner eigenen Person auf der Lichtung umher und verwirren die Angreifer, die nicht wissen, welcher Person sie folgen sollen. Aber lange wird diese Ablenkung nicht anhalten. Früher oder später werden sie bemerken, dass sie Spiegelbildern nachjagen. Und ohne Waffe und ohne Teufelskräfte bin ich für sie leichte Beute. Schnell lasse ich daher meine Augen über die Bäume und Büsche fliegen, um nach einer Möglichkeit zu suchen, wie man sich dieser Männer entledigen kann. Doch anstelle einer Lösung findet mein Blick einen Mann mittleren Alters, der stolpernd auf mich zukommt. Zweige und Blätter haben sich in dem hellen Haar und in der Kleidung verfangen, was mich vermuten lässt, dass dieser Mann einer von denen ist, die bei der Ankunft der Reiter ins Dickicht geflüchtet sind.

„Weg hier!“, flüstert er mir um Atem ringend zu. Seine Hände packen so fest meinen Arm, dass ich selbst durch den Stoff meines Mantels hindurch seine Fingernägel spüren kann. Blut läuft von einer Wunde am Kopf an seiner rechten Schläfe hinab, während in seinen kugelrunden Augen das pure Entsetzen geschrieben steht. Doch bevor ich überhaupt nachfragen kann, was los ist, stößt er mich auch schon von sich und läuft mit müden Beinen quer über die Lichtung.

In meinem Inneren schrillen sämtliche Alarmglocken, während ich dem Mann hinterher blicke. Die Panik in seinen Augen rührt nicht von den Arbeitern her, sondern von einer gänzlich anderen Gefahr, die augenblicklich in Form einer großen Raubkatze aus den Büschen gesprungen kommt.

Wie zu einer Salzsäule erstarrt, beobachte ich das prachtvolle Tier, dessen schwarzes Fell in der Morgensonne dunkelbläulich glänzt. Für mich steht die Zeit still, während um mich herum nun wirklich das Chaos ausbricht. Die Pferde wittern den Geruch der Katze und schrecken davor zurück. Unruhig tänzeln sie umher, während ihre Reiter Mühe haben, sie zu kontrollieren. Doch der Fluchtinstinkt ist stärker als die Hand am Zügel, so dass sich schnell Panik unter den Pferden ausbreitet. Ein angstvolles Wiehern erfüllt die Luft, als die Tiere zur Flucht ansetzen. In diesem Moment setzt der Panther auch schon zum Spurt an und es dauert nur wenige Sekunden, bis er eines der Pferde erreicht hat. Das angstgepeinigte Wiehern wandelt sich um in ein tiefes entsetzliches Kreischen, als die Katze ihre ausgefahrenen Krallen tief ins Fleisch seiner Beute gräbt. Durch das Gewicht der Raubkatze hinuntergezogen, geben die Hinterbeine des Tieres nach, während sein Reiter im letzten Augenblick noch aus dem Sattel springen kann.

„Wir verschwinden hier besser.“

Ich werfe dem Schwertkämpfer einen Blick aus den Augenwinkeln heraus zu, als er mit ausgreifenden Schritten an mir vorbeigeht. Seine Gesichtszüge sind zu einer harten Maske verzogen und der kalte Blick seines Auges ist nach vorn gerichtet. Kurói Barás schwarze Klinge glänzt bei jedem seiner Schritte hell auf. Kein einziger Tropfen Blut wurde mit Hilfe dieses Schwertes vergossen.
 

Kritisch werfe ich einen Blick in das dunkle Innere hinein. Stellenweise ist das Holz morsch und feucht, und in der Luft kann man den Gestank von längst verwesten Kadavern noch immer riechen. Einige Knochenreste liegen verstreut auf dem mit Blättern und Zweigen übersäten Boden herum sowie ein paar Fellbüschel, die wahrscheinlich von dem Tier stammen, das einst in dieser Baumhöhle gehaust hatte. Jetzt jedoch liegt der Bau verlassen da, und nur noch Käfer, Ameisen und andere Insekten krabbeln auf der Suche nach Nahrung an der Rinde entlang.

Zwar bietet der Unterschlupf kaum Schutz von außen, da das Innere für jeden deutlich sichtbar ist. Doch für den Augenblick sollte es erst einmal genügen, bis ich mir über meine weiteren Schritte im Klaren bin. Vorsichtig betrete ich daher den kleinen Höhlenbau und lasse mich auf den feuchten Boden nieder, woraufhin mein Körper sofort von einer bleiernen Schwere erfüllt wird.

Eine tiefe Erschöpfung breitet sich in meinem Inneren aus und müde reibe ich mir die steife Muskulatur meiner Oberarme. Die Strapazen der letzten sieben Stunden zollen nun ihren Tribut und ich sehne mich nach ein wenig Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen. Doch allein die reine Anwesenheit des Schwertkämpfers sorgt bereits dafür, dass ich mich nicht entspannen kann, da sämtliche meiner Sinne nur auf ihn ausgerichtet sind und jegliche Regung an ihm wahrnehmen. So entgeht mir auch nicht der stechende Blick, mit dem er mich die ganze Zeit über mustert.

Die Arme vor dem breiten Brustkorb verschränkt, beobachtet er mich stillschweigend, ohne dabei Anstalten zu machen den Bau zu betreten. Nach wie vor ist sein Blick ausdruckslos, so dass ich seine Gedankengänge nicht erraten kann. Doch die Härte in seinem Gesicht, die sich seit dem Kampf auf der Lichtung darin eingegraben hat und noch immer nicht daraus verschwunden ist, verrät mir eine leise Wut. Auf sich, auf mich oder vielleicht auf die ganze Situation?

„Du wolltest sie also im Stich lassen?“, lässt sich der Schwertkämpfer nach einigen endlos erscheinenden Minuten dann doch dazu herab, das Schweigen zwischen uns zu brechen. Obwohl seine Stimme genauso ausdruckslos ist wie sein Blick, so meine ich dennoch einen leisen Vorwurf hinter seinen Worten herauszuhören, was seltsamerweise erneut Bedauern über mein Handeln in mir erwachen lässt. Nicht, weil ich es tatsächlich vorhatte ihnen den Rücken zu kehren, sondern weil … Weil, was? Weil ich den Schwertkämpfer womöglich enttäuscht habe? Weil ich nicht seinen Vorstellungen einer warmherzigen und zartfühlenden Frau entspreche? Weil ich nicht so selbstlos handle wie er, und stattdessen lieber Vorteile aus meinem Tun ziehe?

Das ist doch lächerlich! Ich bin niemanden außer mir selbst eine Rechenschaft schuldig. Was kümmert es mich also, wie der Schwertkämpfer mein Verhalten bewertet? Habe ich nicht bereits schon vor einer sehr langen Zeit damit aufgehört, mir Gedanken darüber zu machen, was die Leute von mir denken? Habe ich nicht schon lange sämtliche unnütze Gefühle ausgeschaltet, die mein Überleben gefährden? Warum fange ich dann wieder damit an? Warum lasse ich die Worte des Schwertkämpfers so nahe an mich heran, dass sie meinen Verstand überwiegen und an der Kiste rütteln, in die ich mein Herz gesperrt habe?

„Diese Männer, meint ihr? Ich habe nichts mit ihnen zu schaffen.“

Unbekümmert zucke ich mit den Schultern, während ich meine Selbstzweifel in die hinterste Ecke meines Verstandes zurückdränge und mich nunmehr den wesentlichen Dingen widme und meinen Rucksack näher zu mir heranziehe. Eine Feldflasche, die nur noch halb mit Wasser gefüllt ist, ein bisschen Verbandszeug, einen kleinen Taschenspiegel und ein kleines Fläschchen reinen Alkohols hole ich aus dem Inneren heraus.

„Schon klar – ist ja nicht dein Kampf.“

Die letzten Worte, die von tiefem Sarkasmus begleitet werden, lassen mich in meinem Tun innehalten, und neugierig und irritiert zugleich blicke ich wieder zu dem Schwertkämpfer hinüber. Abscheu und Verachtung steht nun in seinem Auge geschrieben, und innerlich schrecke ich vor diesem Anblick zurück. Etwas regt sich im Inneren meines Herzens; etwas, das sich für das egoistische Verhalten entschuldigen will. Gleichzeitig aber steigt auch eine kalte Wut in mir auf. Wut auf diesen Mann, der meint, mich für mein Verhalten maßregeln zu können, aber auch Wut auf mich selbst – insbesondere auf mich selbst. Denn ich habe es zugelassen, dass ich mich von unangebrachten Gefühlen und Handlungen hab ablenken lassen.

„Begeht nicht den Fehler und steckt mich in die Rolle eines guten Samariters, nur weil ich Euch und diese Männer aus dem Käfig befreit habe“, antworte ich ihm mit eisiger Stimme.

„Wenn du es nicht bist, warum hast du uns dann erst befreit?“

Ja, warum eigentlich? Warum habe ich in diesem einen Augenblick gegen meinen Instinkt gehandelt? Normalerweise basieren sämtliche meiner Handlungen auf persönliche Interessen und Vorteile. Doch in diesem winzigen Moment konnte ich keinen einzigen Nutzen daraus ziehen. Stattdessen habe ich auf eine innere Stimme gehört und mich von ihr leiten lassen, von der ich dachte, dass ich sie schon vor mehr als einem Jahrzehnt zum Verstummen gebracht hätte.

„Ich war Eurem Kapitän noch etwas schuldig“, erkläre ich ausweichend, bevor die Stille zwischen uns zu unangenehm und verräterisch wird. Völlig unbeeindruckt halte ich seinem prüfenden Blick mühelos stand, ohne mir dabei meine Ratlosigkeit oder Verwirrung anmerken zu lassen. Diese gefühllose Fassade habe ich mir bereits im Kindesalter aneignen müssen, um in dieser kaltherzigen Welt überleben zu können. Und es hat viel Zeit und noch mehr an Geduld gebraucht, bis ich sie so dermaßen perfektioniert habe, dass ich mir manchmal die Frage stelle, ob die Frau in dem Spiegel wirklich ich selbst bin.

Ich vermag nicht zu sagen, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist, als der Schwertkämpfer schließlich seine abwehrende Haltung aufgibt und seine Schultern sich sichtlich entspannen. Das Thema scheint für ihn damit erledigt zu sein, so dass er sich nun auch endlich dazu bereiterklärt den Höhlenbau zu betreten. Und erst jetzt wird mir bewusst, wie klein der Bau tatsächlich ist, als der Schwertkämpfer sich mir gegenüber auf den Boden niederlässt und seine Schuhspitzen meine Knie berühren. Nicht einmal ein dünnes Blatt Papier würde zwischen uns noch Platz finden. Doch es ist nicht nur sein imposanter Körper, der die Enge des Baus weiter verstärkt, sondern auch seine Nähe … seine Ausstrahlung … seine Dominanz. Einerseits drängt es mich diesen Unterschlupf fluchtartig zu verlassen, um diesen Mann und seiner verstörenden Nähe zu entkommen, aber andererseits fühle ich mich seltsam sicher und … geborgen.

Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht, und augenblicklich jagt sie mir eine Heidenangst ein und lässt kaltes Eiswasser durch meine Adern fließen. Dieses Gefühl von Geborgenheit ist mir so vertraut, obwohl es Jahre her ist, als ich mich das letzte Mal so beschützt gefühlt habe. Doch genauso gut kann ich mich auch noch an den Schmerz des Verrats erinnern und an die verzehrende Wut, weil ich nicht aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt habe. Stattdessen habe ich dem Wunsch meines Herzens nachgegeben und eine Person so nah an mein wahres Ich herangelassen, dass es mir beinahe den Tod gebracht hätte.

„Dieses Schwert … was ist das für eins?“, dringt die Stimme des Schwertkämpfers wie durch einen Nebel hindurch in mein Bewusstsein ein. Es gelingt mir nur sehr mühsam mich aus den Fängen meiner Erinnerungen zu lösen und mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

„Ein Königsschwert“, antworte ich daher eher automatisch, während ich versuche meine dunklen Gedanken abzuschütteln.

„Man muss dir wohl alles aus der Nase ziehen, was?“

Obwohl seiner Stimme keinerlei Gefühlsregungen anzumerken ist, so verrät mir ein kurzer Blick auf ihn, dass er über meine Einsilbigkeit eher amüsiert als verärgert ist. Ein kleines Lächeln stiehlt sich bei diesem Anblick auf meine Lippen, bevor ich meine Augen von ihm abwende.

„Ich habe nicht oft Gesellschaft.“

„Ist es verflucht?“

Erneut suchen meine Augen seinen Blick, doch dieser ist eher gedankenverloren auf Kurói Bará gerichtet, dessen Scheide seelenruhig an meiner Seite liegt.

„Wie kommt Ihr darauf?“, frage ich, da mir seine Gesichtszüge keinerlei Antworten liefern. Sofort richtet sich die grüne Iris auf mich und es fällt mir schwer, ihrem Blick standzuhalten. Ich habe das Gefühl, dass sie hinter die Fassade bis tief in meine Seele schauen kann und erkennt, wie verkümmert diese doch ist.

„Ich konnte mit dem Schwert nicht kämpfen. Es war so, als hätte es sich gegen mich gewehrt.“

Nachdenklich blicke ich auf die schwarze Scheide hinab, in der die Klinge Kurói Barás steckt. In meiner Hand fühlt sich das Schwert jedes Mal federleicht an und es folgt mühelos meiner Führung, als würde ich mit einem Pinsel über eine Leinwand fahren. Es sucht sich seinen Träger selber aus – diese Worte hatte der alte Sensei gebraucht, als er mir erklärte, dass jede Waffe einen eigenen Willen besitzt. Und wenn ich an das passive Verhalten des Schwertkämpfers zurückdenke, mit dem er sich gegen seine beiden Kontrahenten gewehrt hatte, ohne dabei Kurói Bará auch nur einmal durch die Luft zu schwingen, so fange ich allmählich an zu glauben, dass der Sensei mit seinen Worten recht behält.

Fehler

Robin
 

Kritisch begutachte ich im kleinen Taschenspiegel die Verletzungen an meinem Hals. Vier lange Striemen haben die Haut vom Nackenansatz bis zum Schlüsselbein durchtrennt, als wäre ich von einer Raubkatze angefallen worden. Die Wunden sind rot und geschwollen, und pochen und pulsieren heiß unter der Haut, seitdem ich sie mit Wasser ausgewaschen und mit Alkohol desinfiziert habe. Zwar sind die Schnitte nicht tief, dennoch werden am Ende blasse Narben zurückbleiben, die mich immer wieder daran erinnern werden, wie viel Glück ich letztendlich hatte. Und unwillkürlich lege ich meine freie Hand oberhalb auf meine rechte Brust; genau an die Stelle, wo unter dem groben Stoff meiner Kleidung eine kleine sternenförmige Narbe meine Haut ziert. Auch damals hatte ich unwahrscheinliches Glück, obwohl das Gift kochendheiß in meinen Adern pulsierte und ich mich bereits mit dem Tod abgefunden hatte. Aber wie lange wird es noch anhalten? Wie lange noch, bis mein Vorrat an Glück verbraucht ist?

In meiner Vergangenheit gab es schon unzählige Situationen, aus denen ich nie heil herausgekommen wäre, wenn die Umstände vielleicht ganz andere gewesen wären - trotz meines Verstandes und meiner Wachsamkeit. Gerade als naives und vertrauensseliges Kind, das ich einst war, hatte das Glück sehr oft auf meiner Seite gestanden; ein zufällig belauschtes Gespräch hier, Abwesenheit im passenden Augenblick dort. In solchen Momenten fragt man sich dann doch, ob das Leben nicht vielleicht tatsächlich vom Schicksal vorherbestimmt ist.

Automatisch wandern meine Augen hinüber zum Schwertkämpfer, dessen stechenden Blick ich bisher erfolgreich ignoriert habe. In seinem Auge steht deutlich die Neugier über meine Verletzung geschrieben. Doch irgendetwas scheint ihn davon abzuhalten, seine Frage laut auszusprechen. Stattdessen sitzt er einfach nur schweigend da und beobachtet wie eine Spinne in ihrem Netz jede meiner Bewegungen.

Wenn es so etwas wie Schicksal wirklich geben sollte, dann hätte ich nichts – absolut gar nichts! – tun können, um diese Begegnung zu vermeiden. Selbst wenn ich dem Käfig den Rücken gekehrt und die Gefangenen nicht befreit hätte, hätte das Schicksal trotz allem einen Weg gefunden, durch das ich jetzt hier mit dem Schwertkämpfer zusammen sitzen würde. Und dieser Gedanke gefällt mir nicht und bereitet mir Unbehagen. Denn es würde bedeuten, dass es keinen freien Willen gäbe; dass jede Entscheidung, jede Tat – ja, selbst jeder Gedanke bereits von der Geburt eines Menschen an vorherbestimmt ist. Es würde bedeuten, dass alles, was bisher geschehen ist, und jeden Weg, den ich beschritten habe, zu keinem Zeitpunkt hätte geändert werden können. Egal, wie ich mich entschieden hätte, alles wäre genau so gekommen, wie es passiert ist. Da glaube ich dann doch lieber daran, dass ich selbst Herr über mein eigenes Leben bin und Entscheidungen treffe, die auf den Verstand, der Logik und den gegebenen Umständen basieren – oder auf Gefühle.

„Wie geht es nun weiter?“, durchbricht der Schwertkämpfer schließlich die Stille zwischen uns. Das tiefe Timbre seiner Stimme sendet wohlige Schauer über meinen Rücken und vertreibt die dunklen Gedanken über das Schicksal aus meinem Kopf. Stattdessen richte ich meinen inneren Blick auf den Weg vor mir, während meine Augen hinaus über die dichte Vegetation des Waldes wandern.

Im Augenblick ist die Luft noch recht angenehm. Doch ich weiß, dass mit vorrückender Stunde Hitze und Luftfeuchtigkeit immer weiter ansteigen werden, bis man das Gefühl hat nicht mehr richtig atmen zu können. Die Luft wird drückender und schwerer, und die hohen Temperaturen werden zu einer Belastung für den Körper. Hinzu kommt dann noch der körpereigene Wasserverbrauch, der bei steigender Hitze stetig zunehmen wird. Und ich weiß nicht, ob in der Nähe ein Bach, ein Fluss oder ein See ist oder ob ich auf meinem Weg an einer kleinen Wasserstelle vorbeikomme. Denn mit dem wenigen Wasser, das sich noch in der Flasche befindet, werde ich nicht sehr weit kommen. Von daher wäre es eigentlich am Besten, bis zum Einbruch der Nacht zu warten, wenn sich langsam alles wieder abkühlt. Doch durch die Flucht der Sklavenarbeiter, insbesondere der des Schwertkämpfers, muss ich nun davon ausgehen, verfolgt zu werden. Länger an einen Ort zu verweilen, ist daher viel zu gefährlich, auch wenn der hohle Baumstamm uns einen gewissen Grad an Schutz bietet.

Die Stille in dem kleinen Bau dehnt sich immer weiter aus, während die Minuten vergehen, in denen ich mich langsam zu einer Entscheidung durchringe. Ich muss an mich denken und an mein Vorhaben. Mein Unterfangen wurde bereits kompliziert, als ich die Gefangenen befreit habe. Und Plessis´ Männer, sofern sie den Angriff des Panthers überlebt haben, werden irgendwann im Laufe des Tages in ihrem Lager Alarm schlagen – wenn dies nicht schon bereits geschehen ist.

Meine Kleidung gibt leise raschelnde Töne von sich, als ich meinen Rucksack näher zu mir heranziehe und ihn öffne. Es vergeht nur ein Wimpernschlag, bis meine kundigen Finger den kleinen hexagonförmigen Kompass finden, dessen Deckel sich mit einem leisen Klicken öffnet. Geduldig warte ich daraufhin, ob die kleine schmale Nadel sich einpendelt, da ich nicht sagen kann, ob der Kompass bei all den Magnetströmen auf der Insel überhaupt funktioniert. Doch nach einigem Hin und Her weist die Nadel schließlich nach Norden – direkt auf den Schwertkämpfer.

Welch eine Ironie, bemerke ich nicht ohne einen Anflug bissigen Humors, während ich den Kämpfer aus aufmerksamen Augen taxiere.

Oberflächlich betrachtet scheint er ein Mann zu sein, der außer Muskelmasse und Körperkraft nicht sehr viel zu bieten hat. Er ist eher der typische Gefolgsmann als ein Anführer; jemand, der Befehle stumm und blind befolgt als welche zu geben. Aber ich habe gelernt, niemals jemanden zu unterschätzen und genauer hinzusehen. So habe ich damals nach seinem Kampf mit Jazz Boner bereits erkannt, dass hinter seiner undurchdringlichen Fassade weitaus mehr steckt. Er ist nicht einfach nur ein Kämpfer – ein Krieger, der zum Töten ausgebildet wurde. Er ist auch kein junger Heißsporn, der nach Ruhm und Ehre lechzt, und sich deshalb kopfüber in den Kampf stürzt, was zumeist zum Tode führt. Nein, er weiß ganz genau, was er tut und welchem Gegner er sich stellt, denn er sucht ganz bewusst die Herausforderung. Er will sich an ihr messen und an ihr wachsen, seine Fähigkeiten verbessern und stärker werden. Er will über seine Grenzen hinausgehen, bis irgendwann der Zeitpunkt gekommen ist, an dem er sein volles Potenzial erreicht hat, das noch irgendwo in seinem Inneren verborgen liegt und schläft. Sein unermesslicher Ehrgeiz und seine übermäßige Willenskraft machen ihn daher zu einem gefährlichen Gegner, den man besser nicht unterschätzen sollte.

Doch im Augenblick ist für mich die einzige Gefahr, die von ihm ausgeht, seine Anziehungskraft. Sie macht mich blind und scheinbar willenlos. Sie lässt mich die Erfahrungen und Fehler der Vergangenheit vergessen. Und nur allzu gerne würde etwas in meinem Inneren diesem Wunsch nachkommen und sich von seiner Nähe einhüllen lassen. Aber das darf nicht passieren! Ich darf nicht vergessen, wer ich bin und was ich bin. Ich darf nicht vergessen, warum ich hier bin und was meine Aufgabe ist. Aber vor allem darf ich nicht die wahre Natur des Menschen vergessen, die sich nur allzu gerne hinter falscher Freundlichkeit und vorgetäuschter Unschuld verbirgt.

Beinahe schon gewaltsam reiße ich mich daher von seinem Anblick los und blicke auf den Kompass hinab. Nach wie vor zeigt die rote Nadel nach Norden, ohne dass sie ihre Richtung auch nur einmal geändert hätte. Natürlich, bei richtiger Funktion zeigen Kompasse immer nach Norden, und dennoch … Ich habe den Eindruck, als wolle mich der Pfeil genau in diese Richtung – in seine Richtung – drängen, als wäre das der richtige Weg. Doch das ist nicht der richtige Weg!

Wie ein Mantra gehen mir diese Worte immer wieder durch den Kopf, bis ich schließlich den Deckel mit einem leisen Schnappen zuklappe. Mit einer lockeren Bewegung aus dem Handgelenk werfe ich den Kompass dann dem Schwertkämpfer zu, den er mühelos in der Luft auffängt, als hätte er bereits damit gerechnet. Gleichzeitig zieht sich eine seiner Augenbrauen fragend in die Höhe, während er mich aufmerksam und neugierig zugleich mustert.

„Wenn Ihr Euch südlich haltet, werdet Ihr bei Anbruch der Nacht die Küste erreichen“, fange ich an zu erklären, ohne ihn dabei sehen zu lassen, welch ein Gefühlschaos er in mir ausgelöst hat. „Folgt dabei den Wildwechseln. Sie könnten Euch zu Wasserstellen führen. Sobald Ihr dann die Küste erreicht habt …“

„Ich hole mir erst meine Schwerter zurück.“

Sein Blick ist unnachgiebig und zeugt von einer wilden Entschlossenheit, als er mir den Kompass zurückwirft. Damit gibt er mir deutlich zu verstehen, dass er unter keinen Umständen vorhätte von meiner Seite zu weichen.

Es vergehen einige Minuten, in denen wir uns einfach nur schweigend mustern. Dabei entgeht mir nicht, dass seine Gesichtsmuskeln leicht angespannt sind, als rechne er jeden Augenblick mit einem Protest. Doch instinktiv weiß ich, dass es nichts bringen würde. Lorenor Zorro hat seinen eigenen Kopf. Selbst wenn ich ihm sagen würde, dass er sich zum Teufel scheren solle, würde er mir dennoch nachgehen.

„Dann solltet Ihr versuchen mit mir Schritt zu halten“, antworte ich schließlich, nachdem ich leise seufzend mich meinem Schicksal ergeben habe, „denn ich werde keine Rücksicht auf Euch nehmen. Fallt Ihr hinter mir zurück, seid Ihr auf Euch allein gestellt.“
 

Ein Fehler.

Einer von vielen am heutigen Tage, wie ich mir mit einem bitteren Beigeschmack im Mund eingestehen muss. Und allmählich frage ich mich, ob diese Insel nicht vielleicht verflucht ist. Wie sonst ist es zu erklären, dass ich immer wieder von meiner Norm abweiche und völlig konfuse Entscheidungen treffe, für die es keine logischen Erklärungen gibt?

Unter halbgesenkten Lidern werfe ich meinem stillen Begleiter einen Blick zu, der seit unserem Aufbruch kein einziges Wort mehr von sich gegeben hat. Seine Stille könnte ich eigentlich als recht angenehm empfinden, da sie weder meine Gedanken stört noch die friedliche Atmosphäre um uns herum – eigentlich. Doch viel zu intensiv nehme ich seine Nähe – seine Männlichkeit, seine Dominanz, seine Härte und Stärke – wahr; auf eine Art und Weise, wie ich sie bisher nur ein einziges Mal in meinem Leben verspürt habe.

Dunkle Schwingen regen sich in meinem Inneren, während ich an diese Zeit zurückdenke. Trotz so vieler vergangener Jahre schmerzt es immer noch so sehr, dass ich kaum atmen kann, und mein Herz von einer schwarzen Klaue qualvoll zusammengepresst wird. Ich glaube, dass es nie eine Zeit gegeben hat, in der ich so glücklich war wie in dieser – nicht einmal als Kind und als meine Welt noch heile war. Aber als Kind hatte ich auch noch eine ganze andere Sicht der Dinge, trotz meiner Sehnsucht nach Akzeptanz. Doch als junge, heranwachsende Frau wusste ich um die Bedeutung von Wertschätzung und Liebe. Und ich hatte mich in dem Moment geliebt gefühlt – geborgen und sicher. Ich bin als Mensch – als Frau – wahrgenommen worden, und nicht als das kaltblütige Monster, das all die Leute in mir sehen. Doch am Ende zerplatzte all dies wie eine Seifenblase im Wind, und zurück blieb nur die kalte Wahrheit, die mir hart und unnachgiebig ins Gesicht schlug. Der letzte Rest an Hoffnung, der in meinem Herzen verblieben war, zerfiel zu Staub. Niemals kann es ein glückliches Ende geben – für niemanden! Denn Liebe, Freundschaft, Treue und Barmherzigkeit sind nur in Büchern - in fabelhaften Geschichten und abenteuerlichen Erzählungen - stark und unbezwingbar. In der wirklichen Welt jedoch sind es ganz andere Werte, die Türe und Tore öffnen.

„Hast du das gehört?“

Völlig in meinen dunklen Erinnerungen gefangen, dringen plötzlich unverständliche Worte an mein Ohr, die trotz allem ausreichen, um die Aufmerksamkeit meiner Instinkte zu wecken. Es ist, als würde ich aus einem tiefen Schlaf erwachen, als mein Bewusstsein versucht sich wieder auf die Wirklichkeit zu konzentrieren. Doch es fällt mir unendlich schwer die Erinnerungen abzuschütteln. Sie sind in meinem Kopf so präsent, als wären seitdem nur wenige Minuten vergangen und nicht bereits schon Jahre. Und dennoch drängt mich eine innere Stimme dazu mich meinem Begleiter zuzuwenden, der ganz offensichtlich nur wenige Schritte hinter mir stehen geblieben ist.

Allmählich klärt sich mein Bewusstsein und die Benommenheit fällt langsam von mir ab, so dass ich sofort erkenne, dass irgendetwas die Aufmerksamkeit des Schwertkämpfers geweckt hat. Sein Blick wirkt nach innen gerichtet, ohne dabei einen bestimmten Punkt anzuvisieren, während er sich langsam um die eigene Achse dreht. Kein Muskel rührt sich dabei in seinem Gesicht. Dennoch scheint uns keine Gefahr zu drohen, da seine gesamte Schulter- und Rückenmuskulatur viel zu entspannt ist. Dennoch lasse ich meine Augen ohne Eile über das dichte Geflecht über uns wandern, während meine rechte Hand langsam den Schaft Kurói Barás umfasst. Und dann höre ich es - ein leises Glucksen, das im Zirpen der Zikaden und dem Vogelgesang völlig unterzugehen scheint.

„Es scheint aus dieser Richtung zu kommen.“

Seine Worte sind noch nicht ganz verklungen, als der Schwertkämpfer auch schon entschlossenen Schrittes den schmalen Wildpfad verlässt. Rücksichtslos und unbeirrt bahnt er sich einen Weg durch das dichte Unterholz, begleitet vom Rascheln der Blätter und dem Knacken von Zweigen. Ich dagegen verharre weiterhin an Ort und Stelle, während ich ihm einfach nur still und ruhig hinterher blicke, dessen hochgewachsene Statur recht schnell von den dunklen Schatten des Waldes verschluckt wird. Resigniert schüttle ich ganz unwesentlich den Kopf über soviel Unvorsichtigkeit, derweil mir erneut vor Augen geführt wird, welch großen Fehler ich begangen habe. Niemals hätte ich es zulassen dürfen, dass er mich begleitet. Er ist ein Hindernis - ein Störenfried in meinen Plänen. Verstohlenheit ist das Schlüsselwort, wenn ich an die benötigten Informationen kommen will - und kein Elefant im Porzellanladen.

„Du solltest langsam wirklich wieder zu Verstand kommen“, murmle ich leise vor mich hin. Doch anstatt meine Worte in die Tat umzusetzen und auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen des Dschungels zu verschwinden, folgen meine Füße den Schuhabdrücken, die der Schwertkämpfer im weichen Erdboden hinterlassen hat. Nicht die einzige verräterische Spur. Niedergetrampeltes Gras und abgerissene Blätter bedecken stellenweise den Untergrund, während meine Schultern an abgeknickten Zweigen entlangstreifen. Man muss kein passionierter Jäger sein, um uns verfolgen zu können, geht es mir dabei durch den Sinn. Und wie bereits unzählige Male zuvor, seit die Strohhutbande angefangen hat sich einen Namen auf der Grandline zu machen, frage ich mich wieder einmal, was ihr Geheimnis ist. Wie haben sie es bloß nur so weit schaffen können? Sie sind impulsiv, naiv, gutgläubig und unwissend - Eigenschaften, die auf der Grandline normalerweise den Tod bedeuten. Und dennoch scheint es, als gäbe es nichts auf der Welt, dass diese Bande aufhalten kann. Obwohl ...

„Dachte schon, du wärst abgehauen“, reißt mich die leise murmelnde Stimme des Schwertkämpfers aus meinen Gedanken. Die letzten ineinander verwobenen Zweige beiseite schiebend, verlasse ich das dichte Geflecht der Flora. Die gigantischen Bäume stehen hier deutlich weiter auseinander und säumen einen schmalen Bachlauf, dessen Ränder von tiefgrünem Gras bewachsen sind. Über dem kristallklaren Wasser tummeln sich an vereinzelten Stellen ganze Schwärme von Mücken, deren Summen sich zu einem einzigen tiefen vibrierenden Ton vereint. Und sogar eine Libelle, die so lang wie mein Arm ist, schwirrt darüber hinweg.

Aus den Augenwinkeln betrachte ich den Schwertkämpfer, der am Rande des Baches kniet, während ich langsam näher trete. Mit gewölbten Händen schöpft er etwas Wasser und spritzt es sich ins Gesicht - und dann noch einmal und noch einmal und noch einmal, bis sich der Dreck vergangener Tage gelöst hat. Schließlich schöpft er noch ein letztes Mal Wasser, das er sich aber anders als zuvor über sein gesenktes Haupt schüttet, um dann anschließend mit beiden Händen durchs kurze Haar zu fahren. Mein Blick wird dabei auf das verblichene Hemd gelenkt, das seine besten Tage wohl schon lange hinter sich hat. Bei jeder Bewegung des Schwertkämpfers spannt sich der grob gewebte Stoff so eng um den Bizeps und um die Schultern, dass ich mich schon frage, wann das dünne Leinen nachgibt und reißt.

Aus welcher Mottenkiste sie die wohl herausgekramt haben?

Ich spüre eine leise Wut in mir grummeln, denn ich kenne den Zweck dieser Kleidung. Sie soll die Haut nicht vor der hiesigen Flora und Fauna schützen - nein! Diese Kleidung, die an einen billigen Pyjama erinnern lässt, wird normalerweise ausschließlich von Sklaven getragen. Sie werden all ihrer Habseligkeiten beraubt, damit sie sich nicht daran erinnern können, wer sie mal waren - ein Mensch mit Familie und Gefühlen -, und werden in diese Kleider gesteckt, in denen sie sich kaum von den anderen unterscheiden können. Sie haben keine Identität - nicht mehr. Sie sind nur irgendwelche Schatten ohne Namen.

„Wir sollten Euch neue Kleidung besorgen“, höre ich mich unvermittelt sagen. Und noch im selben Moment schüttle ich innerlich den Kopf über mich selbst, während der Schwertkämpfer sich langsam zu mir umdreht. Seine linke Augenbraue ist fragend hochgezogen und in seinem Blick steht dieselbe Überraschung geschrieben, wie ich mich gerade fühle. Doch schneller als ein Eisvogel mit seinen Flügeln schlagen kann, verschwindet der Ausdruck aus seinem Auge. Stattdessen verschränkt er seine Arme vor der Brust und blickt mich herausfordernd an.

„Jetzt auf einmal heißt es WIR?“

Ich könnte mir vorstellen, dass so manch anderer an meiner Stelle nun beschämt zu Boden blicken würde. Doch seine Worte entlocken mir nur ein leises Lächeln, denn ich weiß, dass sie nicht so gemeint sind, wie sie geklungen haben. Er ist genauso wenig begeistert über unsere unfreiwillige Zusammenarbeit wie ich.

„Ich bin immer noch hier, oder nicht?“

„Warum eigentlich?“

Diese Frage habe ich befürchtet, noch bevor ich meine Worte ausgesprochen hatte. Doch nach wie vor wehre ich mich mit Händen und Füßen dagegen, den Ursprung meines konfusen Verhaltens auf den Grund zu gehen. Denn ganz tief im Inneren spüre ich, dass die Antwort darauf mehr heraufbeschwören würde als nur Erkenntnisse.

„Ihr wollt Eure Schwerter zurück, und ich erhoffe mir Informationen über unseren Gastgeber finden zu können“, antworte ich schließlich, während ich meinen Rucksack von der Schulter gleiten lasse, um die Feldflasche daraus hervorzuholen. Denn trotz aller Irritationen, denen ich ausgesetzt bin, entgeht mir nicht die Möglichkeit unseren Wasservorrat wieder auffüllen zu können, der nur noch aus ein, zwei Schlucken besteht.

„Für uns beide wäre es also nur zweckdienlicher zusammenzuarbeiten als gegeneinander.“

„Du brauchst mich als Kanonenfutter.“

Ich habe mich bereits am Rande des Baches niederkniet und die Feldflasche ins kühle Nass getaucht. Doch bei seinen Worten blicke ich auf. Seine Stimme klang weder vorwurfsvoll noch enttäuscht. Und auch sein grimmiges Gesicht ist ausdruckslos wie bei einem Pokerspieler, so dass ich nicht erkennen kann, was in seinem Inneren wirklich vor sich geht. So vergehen einige Minuten, in denen wir uns schweigend mustern, und ich mich frage, was er eigentlich von mir erwartet. Schließlich wende ich mich wortlos von ihm ab und fülle die Flasche bis zum Rand mit frischem Wasser auf, bevor ich sie mit langsamen Bewegungen verschließe und wieder in den Rucksack verstaue.

„Ich gab Euch die Möglichkeit, Euch bis zur Küste durchzuschlagen“, entgegne ich mit fester Stimme, während ich mich wieder auf die Beine erhebe und den Rucksack schultere. „Ihr habt abgelehnt.“

Völlig unerwartet zeichnet sich ein belustigtes Lächeln auf seinem Gesicht ab, bevor er sich langsam in Bewegung setzt und dem Bachlauf folgend an mir vorbeigeht.

„Und wie soll ich kämpfen ohne Schwert?“, ruft er mir über die Schulter hinweg zu.

„Herr Schwertkämpfer“, halte ich ihn auf. „Wir müssen in die andere Richtung gehen.“

Das amüsierte Lächeln ist aus seinem Gesicht verschwunden, als er mit schnellen Schritten wieder an mir vorbeiläuft. Stattdessen haben seine Wangen einen tiefroten Schimmer angenommen, und konsequent vermeidet er jeden Blickkontakt mit mir. Währenddessen versuche ich krampfhaft einen ernsten Gesichtsausdruck beizubehalten und beiße mir auf die Unterlippe, um das leise Lachen, das meine Kehle hinaufsteigt, zu unterdrücken. Nie hätte ich mir eine Situation ausmalen können, in der dieser mürrische und grimmige Krieger vor Scham am liebsten in Boden versinken würde.

Irgendwie ... süß, denke ich mir im Stillen, während ich den Schwertkämpfer mit ausgreifenden Schritten schnell einhole. Aus dem Augenwinkel wirft er mir einen bitterbösen Blick zu, da immer noch ein breites Lächeln auf meinen Lippen liegt, das ich vergeblich zu unterdrücken versuche.

„Lach ruhig weiter“, grummelt er mir leise zu, woraufhin mein Lächeln sich zu einem breiten Grinsen verzieht, das ich schnell hinter meiner Hand verstecke. Meine plötzliche Erheiterung kann ich mir selber nicht erklären. Und ihn scheint diese Regung ebenfalls zu irritieren, da er mich immer wieder mit sonderbaren Blicken kurz mustert.

„Wenn ich der Meinung wäre, dass Ihr wehrlos wäret“, beginne ich mit schwankender Stimme zu sagen, da mir immer noch ein Lachen im Halse steckt, „hätte ich Euch bereits auf der Lichtung stehen gelassen. Ich weiß, dass Ihr auch ohne Waffe kämpfen könnt.“

„Das klingt, als wüsstest du eine ganze Menge über mich“, antwortet er mir mit leiser Neugier in der Stimme.

„Ich weiß, dass Ihr im East Blue aufgewachsen seid - im Dorf Shimotsuki“, rufe ich die Informationen ab, die ich angesammelt hatte, als ich noch in der Baroque Firma tätig war. „Und ich weiß, Ihr wart im dortigen Dojo auch Schüler. Allerdings nicht ganz freiwillig, wenn ich mich richtig erinnere. Ihr habt einen Kampf verloren, an dem eine Bedingung geknüpft war - Schüler des Dojos zu werden.“

Sofort halte ich in meinen Ausführungen inne, als ich bemerke, wie sich die Kinnpartie des Schwertkämpfers verhärtet und ein eisiger Blick mich aus seinem tiefgrünen Auge trifft. Obwohl seine Vergangenheit wohl kaum ein Geheimnis ist, da sich sein Werdegang mühelos zurückverfolgen lässt, scheine ich allem Anschein nach einen wunden Punkt bei ihm getroffen zu haben. Und ich frage mich, was wohl der Auslöser dafür ist. Verletzter Stolz, weil er ebenjenes Mädchen, gegen das er den besagten Kampf verloren hatte, nie hat besiegen können? Oder ist es gar schmerzliche Trauer über den viel zu frühen Tod dieses jungen Mädchens? Ist dieser Schwertkämpfer überhaupt zu tiefer gehenden Gefühlen fähig? Kann er wirklich so was wie Liebe empfinden?

„Woher weißt du das alles?“, reißen mich seine Worte aus meinen Gedanken raus, und ich bin dankbar dafür. Jedoch bin ich mir unschlüssig darüber, ob die folgende Unterhaltung um so vieles besser ist, als über den weichen Kern dieses Schwertkämpfers nachzudenken, da seine Stimme dunkel von unterdrücktem Zorn ist.

„Bevor die Baroque Firma an Euch herangetreten ist, haben wir Informationen über Euch eingeholt“, versuche ich ihn daher zu beschwichtigen. Gleichzeitig spanne ich unwesentlich meine Muskeln an in der Erwartung, jeden Augenblick angegriffen zu werden. Auch wenn ich glaube, den Schwertkämpfer mühelos überwältigen zu können, so ist Wut dennoch ein unsicherer Faktor. Denn Wut ist vergleichbar mit Reflexen, die nicht von Logik bestimmt werden. Aber im nächsten Moment entspanne ich mich auch schon wieder, als ich sehe, wie der Schwertkämpfer kaum merklich mit dem Kopf verstehend nickt. Und damit belasse ich es auch. Instinktiv spüre ich, dass es besser ist, ihn jetzt in Ruhe zu lassen, bis seine Wut verraucht ist.

Und so folgen wir dem Bachlauf - Seite an Seite. Doch das Schweigen zwischen uns empfinde ich nun nicht mehr als angenehm. Es hat etwas Bedrückendes an sich, so dass ich wirklich versucht bin mich für meine Worte zu entschuldigen. Aber der Schaden ist bereits angerichtet - und Worte können da nicht mehr viel ändern.

Wieder ein Fehler, geht es mir durch den Sinn. Und mit einem leisen Hauch bissigen Humors überlege ich eine Strichliste anzufertigen. Denn ein unbestimmtes Gefühl sagt mir, dass mir noch weitere Fehler unterlaufen werden.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das Kapitel ist - für meine sonstigen Verhältnisse - doch recht lang geworden, ohne dass inhaltlich groß etwas passiert, wenn man vom Ende mal absieht. Aus diesem Grunde würde es mich auch interessieren, was ihr dennoch davon haltet. War es für euch zu langatmig? Habt ihr euch beim Lesen eher gelangweilt? Scheut euch nicht mir zu antworten, egal ob eure Kritik positiv oder negativ ausfällt. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Von:  Stoechbiene
2017-01-02T05:49:31+00:00 02.01.2017 06:49
Ich suche weiter nach Krümeln und teile sie gerne mit dir. Besonders, wenn du dich mit so einem tollen Kapitel revanchierst.😊

Ich gebe zu, ich musste die ff noch einmal von Anfang lesen, da ich nicht mehr alles im Kopf hatte. Ja, ich werde auch nicht jünger, Alzheimer lässt grüßen.

Ich bin immer wieder fasziniert, wie gut du Robin's analytische Charakterseite darstellst. Ihre emotionale Seite scheint sie sogar vor sich selbst geheim zu halten oder zumindest es zu versuchen.

Was und wieso sie überhaupt etwas für Zorro übrig hat, das scheint sie ja selbst nicht so genau zu wissen. Natürlich ist es nicht leicht für jemanden wie sie Vertrauen aufzubauen, dafür hat sie schon zu viel durchmachen müssen. Aber unser mürrischer Lieblingsschwertschwinger scheint etwas in ihr zu bewegen. Nur was genau?

Aber da die Art deines Schreibstils darauf schließen lässt, dass uns noch viele spannende Kapitel erwarten werden bis wir alle Informationen erhalten haben, muss ich wohl noch etwas warten, bis die Antwort auf meine Frage kommen wird.

Aber das ist ja auch das schöne an einer guten ff. Wenn ein neues Kapitel erscheint freut man sich wie blöd, also ich zumindest 😊.

Du hast geschrieben, der Knoten sei geplatzt. Das wäre schön! Sehr schön! Denn ich muss ganz uneigennützig zugeben, ich freue mich auf mehr Lesestoff aus deiner Feder.
Aber! Lass dich nicht stressen, du sollst ja nicht den Spaß am Schreiben verlieren. Ich kann warten.

Ich wünsche dir einen guten Start ins neue Jahr. Glück, Gesundheit und Zufriedenheit.
Liebe Grüße
Heike

P.S. Leider waren wir zwischen den Feiertagen alle etwas angeschlagen, so dass ich erst gestern dein neues Kapitel lesen konnte und heute Morgen dann den Rest.
Von:  aquaregi-ya
2016-12-30T13:57:46+00:00 30.12.2016 14:57
wirklich spannender Schreibstil. Passt extrem gut zum Inhalt, schreib schnell weiter :)
Von:  fahnm
2014-03-31T20:37:55+00:00 31.03.2014 22:37
Hammer Kapi^^
Mach weiter so^^
Von:  Stoechbiene
2014-03-30T19:53:33+00:00 30.03.2014 21:53
Wow, Respekt, das Kapitel ist wirklich toll geworden. Oder um es mit den Worten eines blauhaarigen Koffeinjunkies zu formulieren: SUUUUPER!

Ich fand die seelische Selbstanalyse, wenn man das so nennen kann, ziemlich krass. Sie hat ihre Seele als verkümmert beschrieben, aber auf der anderen Seite als sehr verletzt und vorsichtig. Dass der Grund dafür in ihrer Vergangenheit zu suchen ist, ist zwar nicht überraschend, aber du hast es sehr überzeugend dargestellt; wie immer!

Leider ist mein Kommi diesmal sehr kurz ausgefallen, ich bin einfach nur noch müde und muss ins Bett. Sorry!
Von:  Stoechbiene
2014-01-11T08:07:31+00:00 11.01.2014 09:07
Vielleicht ist der Unbekannte ja eher Ruffy gewesen, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Na ja, du wirst den Sachverhalt sicher aufklären :)

Auch bin ich gespannt darauf zu erfahren, wie Robin's Reise weitergeht und wie letztlich das nächste Zusammentreffen aussehen wird. Die Strohhüte und Robin werden sich sicherlich nicht gegenseitig um den Hals fallen ;)

LG
Stoechbiene
Von:  Stoechbiene
2014-01-11T07:24:55+00:00 11.01.2014 08:24
Was zum Teufel heckst du nun schon wieder aus? Robin als mordende Einzelgängerin ist ja an sich vorstellbar, aber sie kennt Zorro? Oder handelt es sich bei besagtem er um einen ganz anderen?

Ich finde es nicht schlimm, wenn du dich mit Dialogen zurückhältst, immerhin ist weder Zorro noch Robin für übermäßigen Redefluss bekannt, ja eher das Gegenteil ist der Fall. Und du beherrschst außerdem meisterlich die Kunst Personen etwas sagen zu lassen, ohne dass dabei überhaupt ein Ton über ihre Lippen kommt.

Ic lese mal weiter
LG
Von:  ZoRobinfan
2013-09-23T20:16:56+00:00 23.09.2013 22:16
ahhhhh kapier ich nicht nein spaß beiseite ist auch nicht schlimm kann mann halt mehr in die Person hinversetzten
Von:  ZoRobinfan
2013-09-23T15:07:21+00:00 23.09.2013 17:07
gibt es auch spåter dialoge oder wird es weiterhin mehr um die Gedanken handeln
Antwort von:  xxNico_Robinxx
23.09.2013 20:41
Ich weiß, dass die Geschichte momentan noch nicht viel Spektakuläres bietet, und sich das Geschehen auch eher etwas zähflüssig hinzieht. Und zu Beginn des zweiten Kapitels wird es auch weiterhin noch der Fall sein. Aber es wird definitiv Dialoge geben, wobei ich auch weiterhin mit der Gedankenwelt der jeweiligen Figuren arbeite.
Von:  ZoRobinfan
2013-09-16T10:03:02+00:00 16.09.2013 12:03
Spielt das auch nach Enies lobby weil es stand was von mehrerren Monaten
Antwort von:  xxNico_Robinxx
16.09.2013 13:15
Die Geschichte findet zu der Zeit statt, als die Strohhüte sich auf dem Sabaody Archipel wieder zusammenfinden wollen. Das wird aber erst im 2. Kapitel (Titel Kuroí Bará) deutlich. Da sich aber Nico Robin in meiner Geschichte (noch) nicht den Strohhüten angeschlossen hat, fallen die Geschehnisse um und von Enies Lobby mehr oder weniger weg, obwohl Franky bereits ein Mitglied der Bande ist, und diese auch mit der Thousand Sunny unterwegs sind.


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