Jahrtausendhexer von Listener (Krieg um das Eroberte Meer) ================================================================================ Kapitel 2: Kriegsgründe ----------------------- Es gelang Ain lange nicht, in die Gärten zurückzukehren. Die Weiße gaben sich alle Mühe, ihn ohne Unterlass zu beschäftigen. Wie so oft verlor er jedes Zeitgefühl. In seinem künstlich beleuchteten Lebensraum gab es weder Tag noch Nacht. Nachdem er einen Funken der Hoffnung gesehen hatte, fiel ihm sein Alltag umso schwerer. Er verlor häufig den Fokus, die Weißen bestraften ihn dafür. Ain erduldete ihre Launen. Viel schlimmer für ihn war, dass sogar Mentis die Geduld mit ihm zu verlieren schien. Schließlich wusste er nicht mehr, ob er aufgeben oder kämpfen sollte. Mentis seufzte ungehalten und massierte mit einer Hand seine Schläfen. Ain zuckte zusammen, während er sich auf seiner Pritsche zurücklehnte und darauf wartete, dass er einschlief. „Das wird so nichts“, beschwerte sich sein sonst so ruhiger Freund resigniert. Er kniete sich über Ain und nahm dessen Hände in die seinen, ohne dass die Weißen es bemerkten. Sein Blick war ernst und entschlossen. „Was auch immer du fühlst, lass es dir möglichst nicht anmerken.“ Ain konnte seine Augen kaum offen halten. Er blinzelte müde und nickte unmerklich. Mentis beugte sich zu ihm herab und legte seine kalte, geisterhafte Stirn auf Ains. Er sah ihm direkt in die Augen. Irgendetwas geschah. Wäre Ain noch dazu in der Lage gewesen, hätte er vermutlich trotz seines Versprechens vor Schreck aufgeschrien. Mentis eiskalte Seele drang in ihn ein. Es war das unangenehmste Gefühl, das er sich vorstellen konnte. Und er konnte sich sehr viel vorstellen. Die Weißen bemerkten es nicht und Ains Körper schlief endlich ein. „Wach auf“, hörte er Mentis' leise Stimme. Er spürte unangenehm kalten Stein unter sich. Es war dunkel. Ain erhob sich zögerlich. Das waren nicht die Gärten, zu denen Mentis sie hatte führen wollen. „Was ist das für ein Ort?“, fragte er verunsichert. Seine Stimme hallte unheimlich durch den gewaltigen Saal, in dem sie sich befanden. Das aufwändige Deckengewölbe war fast so hoch wie jenes der großen Übungshalle der Forschungsstation und von etlichen monumentalen Säulen gestützt. Säulen, Decke und Boden, alles war schwarz. Die Schwärze selbst schien zu glimmen. Die Atmosphäre der gesamten Halle war bedrückend. Ain hatte das Gefühl, es müsste etwas furchtbares passieren, wenn er zu laut sprach. Mentis nahm ihn bei der Hand wie ein kleines Kind. „Komm mit“, sagte er nur und lief zielstrebig zwischen den Säulen hindurch. Ain fühlte sich verloren und noch kleiner als unter den Blicken der Weißen. Doch sein Freund schien genau zu wissen, was er tat. Er musste sie absichtlich hier her gelenkt haben. In der Ferne des scheinbar endlosen Raumes konnte Ain auf einmal einen bläulichen Schimmer ausmachen. Das musste ihr Ziel sein. Mentis Griff wurde fester. Sein Freund führte sie nicht direkt zu dem blauen Licht, sondern so, dass Ain dessen Ursache erst erkennen konnte, als sie direkt davor standen. „Und das“, zischte sein Freund, „ist der wahre Grund, warum tausende von Menschen sterben müssen. Sieh genau hin, Ain.“ Sein Gesicht war vor Wut und Schmerz verzerrt, seine Hand zitterte heftig. Jahrelang hatte sein Freund sich zurückgehalten und gewartet und kein Wort gesagt. Ain verstand nun, warum er letztlich doch die Geduld verloren hatte. Er wollte nicht glauben was er sah. Seine Brust zog sich zusammen und er glaubte, sich vor blankem Entsetzen übergeben zu müssen. Vor ihnen befand sich ein Mann. Der noch verhältnismäßig junge Mann schien in einem Glasbehälter zu schweben, doch tatsächlich wurde er von hunderten Schläuchen gehalten, die seinen Körper förmlich zu durchbohren schienen. Sein Brustkorb bewegte sich langsam auf und ab, er wurde künstlich beatmet. Getragen von einer seltsamen bläulichen Flüssigkeit umspielten seine langen, dunklen Haare seinen ausgemergelten Körper sanft. Ain konnte die Magie fast körperlich spüren, die den Behälter und seinen Insassen umgab. „Sieh genauer hin“, drängte Mentis. Wie auf seinen Befehl trug die blaue Flüssigkeit die Haare des Mannes so zurück, dass Ain sein Gesicht sehen konnte. Seine Beine gaben nach und er übergab sich. Der Mann in dem Tank war Mentis. Sein Freund blickte regungslos auf ihn hinab und wartete, dass er sich beruhigte, dann half er Ain auf. „Warum?“, brachte Ain mit zitternder Stimme hervor. Mentis stützte ihn sanft. „Warum ist mein Körper hier, oder warum habe ich einen Krieg ausgelöst?“, fragte Mentis leise. Aller Ärger war seiner Stimme gewichen. „Weil ich wie du bin, Ain.“ „Du bist...“ „Ein Jahrtausendhexer“, bestätigte Mentis. Ain konnte seine Gedanken und Gefühle nicht ordnen. Sein Herz zog sich zusammen. Er fasste sich unbewusst an die Brust, als würde das den Schmerz lindern. „Und nicht nur das“, fuhr Mentis fort. „Ich stamme der königlichen Familie von T'Len ab. Der derzeitige König ist mein Bruder.“ Er wandte seinen Blick nicht mehr von der Gestalt in dem Behältnis ab, die er einmal gewesen war. „In T'Len haben sie keine Versuche mit mir gemacht. Sie haben mich nie als willenloses Werkzeug misshandelt. Ich hatte eine Familie, Freunde. Eine Geliebte. Ich war ein Gesandter seiner Majestät.“ Er verstummte. Bitterkeit kehrte in seine Stimme zurück, als er fortfuhr. „Ich habe viele Länder gesehen. Man ist mir stets mit Respekt und Freundlichkeit begegnet. In Jupran war es zu Beginn nicht anders. Unter König Zhilos war ich ein gern gesehener Gast. Doch als sich nach dessen Tod der Sohn seines Bruders unrechtmäßig erhob und die Verbündeten Juprans Bedenken äußerten, änderte sich das. Rowenos II. giert nach Macht. Er ist wahnsinnig. Am Anfang gelang es ihm, sein wahres Ich zurückzuhalten. Er zeigte sich unterwürfig den Staaten des Eroberten Meeres gegenüber, doch sein Blick auf mich hatte sich verändert. Ich war der derzeit einzige lebende Jahrtausendhexer. Rowenos schmiedete Pläne, wie er mich für sich gewinnen konnte. Er bot mir Geld, Ruhm und Ehre für meine Dienste. Ich war entrüstet ob seiner Angebote und beriet mich mit meinem Bruder. Er stockte meinen Geleitschutz auf und sandte mich mit seinen königlichen Worten zurück nach Jupran. Wie ich ihn kenne, bereut er diese Entscheidung heute noch.“ Mentis konnte seinen Blick endlich von seinem Körper lösen. Er wirkte noch geisterhafter im blauen Schein der unheimlichen Flüssigkeit. „Dort habe ich dich zum ersten Mal gesehen. Du warst noch klein, konntest kaum laufen. Zu diesem Zeitpunkt wussten sie noch nicht, was du bist. Aber ich habe es sofort gespürt.“ „Ich habe es nicht gemerkt“, flüsterte Ain beschämt. Er selber hatte sich immer allein gefühlt, doch wie einsam musste Mentis all die Jahre gewesen sein. „Du konntest es nicht“, entgegnete Mentis nur. „In meinem derzeitigen Zustand habe ich kaum Magie. Alles, was mir bleibt, gelingt mir nur durch dich.“ „Durch mich?“ „Deine Magie ist gewaltig“, erklärte Mentis. „Du weißt es nur noch nicht.“ Ain schwieg bedrückt. Er war froh, dass er Mentis wenigstens eine Kleinigkeit geben konnte, doch was sollte er mit einer so großen Kraft? Doch Mentis' Geschichte war noch nicht zu Ende. „Aber ich habe mich verraten“, fuhr Mentis fort. „Irgendetwas hat mich verraten und sie haben dich gefunden, deiner Familie entrissen und in die Hände der Forscher gegeben. Ich konnte kaum wortlos zusehen und äußerte meine Meinung Rowenos gegenüber. Er lachte nur. Er bräuchte mich nicht mehr, sagte er, er hätte jetzt seinen eigenen Hexer. Ich konnte mich nicht zurückhalten. Ich wollte den Fall dem Großen Rat vorlegen. In seinem Wahnsinn fasste Rowenos meine Worte als Drohung und Angriff auf seine Person auf. Er überfiel mich mit einhundert Magiern, töteten mein Geleit und legte mich in Ketten. Hier unten habe ich drei Jahre meines Lebens verbracht.“ Sein Blick schweifte durch die unheimliche Schwärze der riesigen Säulenhalle. „Fünfzehn, wenn man bedenkt, dass mein Körper noch immer hier ist.“ Ain schluckte. „Wie konntest du... entkommen?“ Die Wahl seiner Worte schmerzte ihn, doch er wusste nicht, wie er sich besser ausdrücken konnte. Mentis ignorierte ihn. Er sah die Vergangenheit, nicht die Gegenwart. „Drei Jahre lang versuchte mein Bruder, mich frei zu gewinnen, während Rowenos' Männer mit mir taten, was ihnen gefiel. Teils um mich zu erforschen, teils aus purer Boshaftigkeit. Die Propaganda Rowenos' entsprach natürlich nicht der Wahrheit. Ich hätte versucht, den neuen Jahrtausendhexer zu töten, hieß es. T'Len verlange Krieg. Mein Bruder glaubte mich in einfacher Geiselhaft. Er konnte mich nicht befreien. Rowenos inszenierte meine angebliche Flucht. Noch in T'Len soll ich umgekommen sein, ermordet von einer Gruppe radikaler Aufständischer, die den Berichten Juprans Glauben schenkten und in ihrem eigenen Land einen Kriegstreiber sahen. Für sie war ich das Sinnbild von Hass und Gewalt. Die Leiche des Mannes, der an meiner Statt sterben musste, war nicht mehr zu identifizieren. Rowenos konnte seine Schuld an meinem vermeintlichen Tod von sich weisen und stattdessen eine Friedfertigkeit anprangern, die er nie besessen hatte. In den Augen der Öffentlichkeit hatte er dem Drängen T'Lens und des Großen Rates nachgegeben und große Milde bewiesen. Erst vor einiger Zeit begannen Gerüchte zu kursieren, die der Wahrheit nahe kamen. Inzwischen warst du zu einem jungen Mann herangewachsen. Rowenos hatte nichts mehr zu fürchten. Ich, als einzige ernstzunehmende Gefahr für dich, war bereits ausgeschaltet. Er ließ dem Volksmund freien Lauf und schließlich konnte bewiesen werden, dass mein Tod von Jupran inszeniert worden war. Der Große Rat traf zusammen. Noch bevor die Länder des Eroberten Meeres Jupran den Krieg erklären konnten, fielen Rowenos' Truppen in Grependia und Veldosh ein.“ „Und der Krieg begann“, beendete Ain Mentis' Erzählung. Er konnte kaum glauben, was er hörte. Doch er wusste, dass sein Freund keinen Grund hatte zu lügen. Der Beweis befand sich direkt vor seinen Augen. Mentis nickte grimmig. „Jahre zuvor war es mir gelungen, meine Seele von meinem Körper zu lösen und dich zu finden. „Zum Glück wusste ich damals noch nicht, was mit meinem Körper geschehen würde.“ Ein Gedanke schoss Ain durch den Kopf. „Kannst du dir deinen Körper nicht jetzt zurückholen?“ Mentis schüttelte den Kopf. „Wir sind nicht wirklich hier, Ain.“ „Aber... warum bist du zu mir gekommen? Und warum bist du geblieben“, fragte Ain voller Zweifel. Seine Augen waren feucht. Mentis' Geschichte hatte ihn mitgenommen. Er fühlte sich hilfloser denn je. Und nun stand Mentis vor seinem eigenen Körper und konnte nichts tun, als das zu betrachten, was die Jupranischen Forscher ihm gelassen hatten. „Was kann ich denn ausrichten? Du kennst mich. Ich bin nicht wie du, ich habe niemals gekämpft. Ich bin... ein Feigling.“ Mentis beugte sich zu ihm herunter. Er war hoch gewachsen und gut einen Kopf größer als Ain. Er sah ihm eindringlich in die Augen. „Glaube das niemals. Du hattest von Anfang an keine Wahl. Du kennst nur dieses Leben und ich würde es niemandem wünschen. Du hattest nie die Möglichkeit, Mut zu beweisen. Nein, ich bin froh, dass du es nicht getan hast. Diese hirnlosen Forscher hätten dich völlig zerstört.“ „Aber was kann ich machen?“ „Du hast schon so viel getan.“ Mentis' Stimme wurde weicher. „Ohne dich stünde ich heute nicht hier. Vielleicht hätte ich es nie geschafft, meinen Körper zu verlassen. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht wirklich, was ich tat. Durch dich konnte ich mir einen winzigen Bruchteil meiner Magie bewahren und bin in meinem Zustand nicht dem Wahnsinn verfallen. Aber jetzt bist du so weit. Ain, ich habe so lange gewartet. Und jetzt haben wir endlich den ersten Schritt gemacht, die Fesseln der Forscher bröckeln.“ „Aber so jemand wie ich...“ „Ain.“ Mentis unterbrach ihn. „Hörst du dich reden? Ich habe dich noch nie so häufig 'aber' sagen hören. Du hast Angst vor der Außenwelt. Nein, du fürchtest dich vor dir selbst. Aber glaube mir, es wird nichts passieren. Du bist kein schlechter Mensch. Du bist kein Monster. Und so lange ich bei dir bin, wirst du es auch nicht werden.“ Ain versuchte, sein Gefühlschaos zu ordnen. Natürlich vertraute er Mentis. Mehr als jedem anderen Menschen auf der ganzen Welt. Sein Freund hatte Recht, Juprans König war größenwahnsinnig. Es stand ihm nicht zu, die Leben so vieler Menschen zu vernichten, nur, um sein Herrschaftsgebiet zu erweitern. Für das Verbrechen, das er an Mentis und den Seinen begangen hatte, konnte Ain nicht einmal Worte finden. Wut, Trauer und Verzweiflung mischten sich in ihm. Und ein funke Hoffnung und große Entschlossenheit. Er würde Mentis mit allem vertrauen, was er ihm bieten konnte. Sein Freund hatte so viel für ihn getan, er war so lange an seiner Seite gewesen und hatte ihn unterstützt, ohne ihn zu drängen oder mit der Wahrheit zu konfrontieren. Er hatte seinen Schmerz all die Jahre für sich behalten. Mentis wartete still seine Entscheidung ab. Ain war sich sicher, dass er sie bereits kannte. „Ich habe noch so viele Fragen, auf die ich Antworten brauche“, sagte er dann mit leiser, doch entschlossener Stimme. „Aber ich werde sie später stellen, wenn wir frei sind.“ Zum ersten Mal seit Ain zurückdenken konnte, lächelte Mentis. Ganz leicht. „Wie wollen wir es anstellen? Wie entkommen wir?“ Mentis überlegte nicht lange. „Wir brauchen Hilfe von außen. Wir brauchen Luka Dragh'ny. Erinnerst du dich, wo du ihn getroffen hast?“ „Du meinst, ob ich dorthin zurückkehren kann?“ Mentis nickte bestätigend. „Ich weiß es nicht“, gab Ain zu. „Dieses Mal konnte ich nur mit deiner Hilfe entkommen. Und den Ort hast auch du ausgewählt.“ „Und auch diesmal wirst du nicht allein sein. Gib mir deine Hände und schließ die Augen. Gut. Jetzt erinnere dich einfach an den Ort. Dort werden wir weitersehen.“ Ain dachte an das satte Grün des Grases, an das Rascheln der Blätter, den Geruch der Luft und die sanfte Brise, die ihn dort umspielt hatte. Er spürte den leichten Druck von Mentis' Händen, die die seinen fest umschlossen. Und er verlor den Boden unter den Füßen. Die Welt stand Kopf und Ain fiel. Er schrie erschrocken auf, Mentis' Griff wurde fester. Dann war es vorbei. Ain stolperte und stürzte, doch das federnde Gras fing ihn auf. Er hatte es geschafft. Mentis zog ihn zurück auf die Füße. „Ich kenne diesen Ort.“ Ain zuckte zusammen, als er die Versuche der Weißen spürte, ihn zu wecken. Es war nicht genug Zeit. Auch Mentis schien das plötzliche Stechen zu spüren. „Wir dürfen keine Zeit verlieren“, mahnte sein Freund. „Aber wir dürfen auch nicht zu lange hier bleiben. Komm.“ Er schritt voraus und Ain folgte ihm. Sein Blick irrte dabei suchend und staunend über die gezähmten Wunder der Natur, die König Rowenos hinter schweren Mauern vor den Augen des Volkes verborgen hielt. Breite, kiesige Alleen und schmale Pfade durchzogen die pompösen Gartenanlagen des Bergpalastes. An manchen Stellen wirkte der Park fast naturbelassen und war relativ dicht bepflanzt, doch dann stachen eindeutige Zeichen menschlichen Eingriffs hervor, ein zu perfekt angelegter Teich, schmale, filigran wirkende Brücken über die den Garten durchziehenden Kanäle, ein weißer, verzierter Pavillon, Fontänen, Bänke, Statuen, symmetrische Anordnungen von verschiedenfarbigen Blumen, Büschen und Bäumen. Für Ain, der die Außenwelt kaum kannte, war es trotz dem beherrschenden Wirken der Menschen und trotz der hohen Mauern wie ein Paradies. Obwohl er die Außenwelt vor nicht allzu langer Zeit gesehen und erlebt hatte, hatte er sie nicht genießen können. Auf Befehl der Forscher hatte er Tagelang im Sattel gesessen und kaum geschlafen, um schließlich einen Ort des Grauens zu erreichen und dort wie eine zornige Naturgewalt zu wüten. Er hatte wenig gespürt. Wenn die Weißen ihn kontrollierten, wurde sein Geist blank, seine eigenen Gedanken und Empfindungen hallten nur dumpf irgendwo tief in ihm, ohne sein Handeln oder seine Gefühle zu beeinflussen. Doch obwohl sein Körper noch immer gefangen war, fühlte er die Welt zum ersten Mal als er selbst. Mentis führte ihn zielstrebig durch die Anlage. „Merk dir, was du siehst“, ordnete er an. „Jedes Detail ist wichtig.“ Sie näherten sich den perlfarbenen Mauern des Palastes und hielten sich in den Schatten der Bäume. Hinter einigen weiter unten gelegenen Fenstern hörten sie die Geräusche emsiger Arbeit. Ain sah die ersten Wachen durch das Grün. Sie trugen ihre feinen silbernen Rüstungen nur zur Zierde. In einem bewaffneten Gefecht würden das wenige Silber und der viele edle weiße und rote Stoff ihnen wenig nützen. Auch der große, verzierte Schild, den sie aufrecht an ihrem linken Arm vor sich trugen, würde ihnen wenig helfen. Er war zu dünn und leicht gearbeitet, damit die Männer ihn eine lange Zeit vor sich führen konnten. Auf ihren weißen Speer stützten sie sich mehr, als dass sie ihn führten. Dennoch schienen Speer und Schwert zumindest ernstzunehmende Waffen zu sein. Ain hatte auf dem Schlachtfeld genug Krieger gesehen, um den Wert der Ausrüstung der Palastwächter laienhaft einschätzen zu können. Mentis' Worten folgend, versuchte er, so viele Informationen aufzunehmen, wie er konnte. Der Schmerz in seinem Kopf hämmerte mittlerweile mit ungehinderter Wucht gegen seine Stirn. Die Weißen würden es merken. Nein, sie hatten es längst bemerkt. Um so mehr mussten sie die Zeit nutzen. Mit Mentis' Hilfe würde er die geistige Flucht auch ein weiteres Mal schaffen. Unablässig suchten seine Augen nach Luka Dragh'ny. Hatte Luka begriffen, wer er war? Würde er ihm überhaupt helfen wollen? Ain konnte es sich kaum vorstellen. Doch der junge Hüter der Nacht war ihre einzige Hoffnung. „Wohin gehen wir?“, fragte Ain schließlich flüsternd. Sie hatten den Palast bestimmt bald umrundet. „Zu den Ställen“, entgegnete Mentis ebenso leise. „Selbst wenn dein Freund von den Jupranern geduldet wird, werden sie ihm nicht mehr als die niedersten Aufgaben zuteilen.“ Ain konnte es nicht verstehen. Luka hatte so lebensfroh und aufgeschlossen gewirkt, obwohl er als Außenseiter nicht gut behandelt wurde. Ain konnte sich nicht vorstellen, was den fröhlichen jungen Mann mit den ungewöhnlichen Augen dazu bringen konnte, hier zu bleiben. „Warte.“ Mentis hielt Ain zurück. Er deutete zwischen den immer weiter entfernt stehenden Büschen hindurch. „Ist er das?“ Und tatsächlich. Ain konnte kaum glauben, dass sie Luka gefunden hatten. Und dennoch stand er dort. Wie Mentis angenommen hatte, übernahm er die Aufgaben, die niemand haben wollte und reinigte die Pferde der Adligen, die derzeit im Bergpalast verweilten. Er schien nicht im Mindesten unglücklich über seine Arbeit, sondern pfiff leise eine fröhliche Melodie. Ab und an hob er den Kopf und sagte etwas zu den Tieren, die ihm gegenüber sehr zutraulich waren. Er tätschelte einen schwarzen Rappen im Vorbeigehen und das Pferd schnaubte. „Bleib hier“, ordnete Mentis an. Bevor Ain Zeit hatte, zu reagieren, glitt sein Freund schnellen Schrittes hinter den letzten sie verdeckenden Blättern hervor und näherte sich Luka und den Tieren. Ain hielt die Luft an. Luka war nicht allein, drei Soldaten hielten sich in Sichtweite der Ställe auf, wo sie sich an eine niedrige Mauer gelehnt lässig unterhielten. Doch sie bemerkten Mentis nicht, er blieb wie gewöhnlich vor den Augen aller verborgen. Erleichtert atmete Ain auf. Doch was plante sein Freund dann? Der Rappe scharrte unruhig mit den Hufen. Auch der Gescheckte neben ihm zeigte auf einmal Zeichen der Unruhe, während Mentis sich Luka und den Tieren näherte. Ain begann zu ahnen, was sein Freund vorhatte. Mentis löste den Strick, mit dem der Rappe locker an einem Holzpfosten festgemacht war, und berührte das Tier sanft mit seinen eiskalten Fingern. Ain hatte nicht gewusst, dass Mentis' Seele Dinge berühren konnte. Er hatte sich immer für eine Ausnahme gehalten, da er auch der Einzige war, der Mentis sehen konnte. Doch das edle Tier spürte die kalte Berührung ohne Zweifel. Der Rappe wieherte erschrocken und tänzelte unkoordiniert zurück. Mit einer schnellen, fließenden Bewegung war Luka bei ihm, um ihn zu beruhigen. Mentis verharrte abwartend. Seine Lippen bewegten sich, während er den Rappen betrachtete. Das Tier ließ sich von Luka nicht aufhalten, sondern trabte auf Ain zu. „Hey, was machst du da?!“, rief einer der Soldaten unfreundlich. Luka zeigte sich unterwürfig, lächelte entschuldigend und bedeutete den Männern ohne Worte, dass alles in Ordnung war. Der Rappe kam direkt vor Ain zum Stehen. Er senkte den Kopf zu dem jungen Hexer herab und stieß warme Luft aus seinen Nüstern aus. „Was ist los, Schwarzer?“, hörte Ain Lukas Stimme nur wenige Meter entfernt. „Hast du keine Lust mehr auf unseren Waschtag?“ Luka trat von der Seite an den Rappen heran. „Was hast du denn da?“ Er erstarrte, als er Ain sah. „Bitte, erschrecke nicht“, versuchte Ain den jungen Mann zu beruhigen. „Bitte.“ Sein Kopf drohte zu zerbersten. Luka zögerte. „Der Jahrtausendhexer“, stellte er in einem Tonfall fest, den Ain nicht einordnen konnte. Beide schwiegen. Lukas Ausdruck war distanziert. Ains Hoffnung begann zu bröckeln. Warum nur hatte er ihm gesagt, wer er war? „Was machst du hier in einem Busch kauernd?“, fragte Luka dann. „Stellst du mir nach?“ „...Was?“ „Ah, ich weiß ja, dass ich ein unvergleichliches Charisma habe“, jammerte Luka theatralisch. „Aber wenn du wenigstens eine Frau wärst. Dann würde ich mich jetzt mehr freuen.“ Ain wurde rot. Luka war gut darin, ihm die Sprache zu verschlagen. Doch ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Seine Augen begannen zu brennen, lange würde er sie nicht aufhalten können. Aus Lukas Worten konnte er keine Angst oder Abweisung vernehmen. „So“, fuhr Luka fort und beugte sich zu Ain herunter. „Jetzt im Ernst. Was machst du hier? Meine Lebensspanne hat sich um mindestens fünf Jahre verkürzt, als du das letzte Mal einfach verschwunden bist.“ Ain lächelte. „Dann hoffe ich, dass du es heute gelassener nimmst.“ „Hast du das schon wieder vor? Sah nicht gesund aus.“ „Ich habe nicht lange“, entgegnete Ain. „Frag ihn, wie er zu Jupran und Rowenos steht“, warf Mentis ein. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und er stützte sich schwer an dem Stamm einer hoch gewachsenen Buche ab. Er wahrte seine Entfernung, um den Rappen nicht wieder zu agitieren. „Was ist dort?“, fragte Luka irritiert. Ain ignorierte seine Frage. „Was hält dich hier?“, fragte er stattdessen. Ein Schatten zog über Lukas Gesicht. Seine Hand stockte, mit der er den Rappen die ganze Zeit freundschaftlich am Hals gekrault hatte. Dann lächelte er. „Mauern zum Beispiel.“ „Was hält dich hier?“, beharrte Ain. „Du bist ein seltsamer Vogel“, beklagte Luka sich. „In einem Moment wirkst du wie ein verschrecktes Kind und im nächsten so ernst, als würdest du das Schicksal der ganzen Welt schultern.“ Er überlegte einen Moment und endlich verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. „Ich wurde für den Frieden zwischen euch und meinem Volk verkauft. Davor töteten sie fast meinen gesamten Stamm.“ Er lachte, weil er nicht wusste wie er seine Bitterkeit verarbeiten sollte. „Sie haben mich unseren Verfolgern förmlich vor die Füße geworfen, um ihre eigene Haut retten zu können. Doch König Rowenos ließ mich nicht töten. Stattdessen darf ich seine feinen Schuhe lecken und allen zeigen, wie schwach mein Volk ist.“ „Was hält dich hier?“, fragte Ain ein drittes Mal. „Außer den Mauern, den Soldaten und den ganzen Menschen außerhalb dieses Käfigs, die mich aufgrund meiner Abstammung und meines Aussehens fürchten und hassen? Oder meinst du, außer der Schande, in der ich seit mehr als drei Jahren lebe, und dem Groll, den ich gegen meine eigenen Leute hege?“ Ain richtete sich auf, sodass er Luka von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen konnte. „Komm mit mir“, bot er an. Es kostete ihn große Mühe, stolz und aufrecht zu stehen. Er wusste nun, woran er war. Er wusste, dass Luka Dragh'ny genauso fühlte, wie er selbst auch. Luka blinzelte. „Mit dem Jahrtausendhexer?“ „Ich bin ein Gefangener hier wie du“, entgegnete Ain. „Was?“ „Hilf mir, zu entkommen und ich zeige dir eine Welt, in der du frei bist.“ Ain wusste nicht, woher seine Worte rührten und woher er die Zuversicht nehmen konnte, mit denen er sie sprach. Vielleicht war es seine Magie, die ihn leitete. Doch er wusste, dass sein Versprechen wahr war. Er sah ohne Zweifel direkt in Lukas wundersame Augen. Luka zögerte. Seien Gedanken mussten sich überschlagen. „Das ist wohl eine große Chance, was?“, sagte der junge Hüter der Nacht dann nachdenklich mehr zu sich selbst als zu Ain. „Aber die Sache hat einen Haken.“ Ain nickte. „Ich weiß nicht, wo sie mich festhalten und wie.“ „Hä? Aber du bist doch hier?“ „Nicht wirklich.“ „Ah, gut.“ Luka akzeptierte Ains Worte ohne weitere Fragen, auch, wenn sein Blick Bände sprach. Doch er konzentrierte sich auf das Wesentliche. „Aber das war nicht, was ich meinte.“ Ain sah ihn fragend an. Was gab es sonst? „Wir wären ein sehr auffälliges Gespann“, erklärte Luka. „Hey, Schatten, was machst du?“, brüllte eine der Wachen. „Schieb deinen Hintern zurück dahin, wo wir dich sehen können!“ Luka zuckte die Schultern. „Du siehst, was ich meine.“ „Darum kümmern wir uns, wenn wir uns wirklich gegenüber stehen“, schlug Ain vor. „Gefällt mir“, Luka grinste schief. „Du bist ein schräger Kerl, Ain Pantokratos. Ich finde heraus, was ich kann. Finde mich in einer Woche wieder.“ Er wandte sich dem Rappen zu und klopfte dem Tier ein paar Mal mit der flachen Hand auf den Hals. „Komm, mein Schwarzer. Das Schwätzchen ist vorbei. Ich hoffe, du hast dezent weggehört.“ Er entschied sich um und wandte sich noch einmal Ain zu. „Streichle seine Nüstern.“ „Was?“ Ain machte einen erschrockenen Schritt zurück. Der Rappe war riesig. „Streichle seine Nüstern“, beharrte Luka. „Zu Fuß werden wir nicht weit kommen. Und du siehst aus, als hättest du etwas zu viel Respekt vor meinem Lieblingspflegekind. Komm schon, Raslan beißt nicht.“ Zögernd hob Ain die Hand an die Nüstern des majestätischen Tieres. Der Rappe blies warme Luft aus. Noch vor Ain seine Hand zurückziehen konnte, drückte das Tier seine weiche Nase dagegen. Ain lächelte erfreut und Luka grinste breit. „Siehst du, war gar nicht schlimm“, neckte er und griff nach Raslans Strick. „Wir sehen uns, Jahrtausendhexer. Und ich werde dich beim Wort nehmen. Du hältst dein Versprechen besser ein.“ Mit diesen Worten führte Luka den Rappen zurück zu den anderen Pferden. Er buckelte wieder vor den Wachen, die ihm verächtliche Blicke zuwarfen. „Wir müssen zurück“, keuchte Mentis. Er war inzwischen auf die Knie herabgesunken. Der Arm, auf den er sich stützte, zitterte stark. Auch Ain konnte sich kaum auf den Beinen halten, doch ihm ging es eindeutig besser als seinem Freund. Besorgt ließ er sich an Mentis' Seite nieder. „Warum geht es dir so schlecht?“ „Ich scheine... als eine Art Dämpfer für dich zu fungieren.“ Mentis' schwache Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Seine Augen glänzten fiebrig und seine geisterhafte weiße Haut wirkte fast grau. „Wie wache ich auf?“, fragte Ain panisch. Sein Freund musste unvergleichliche Schmerzen haben, wenn er sie für Ain abfing. „Wie kehre ich zurück!?“ Mentis verlor das Bewusstsein. Alle Kraft schien seinen Körper – seine Seele! – zu verlassen und er klappte zusammen wie eine Puppe. „Nein“, Ains Stimme brach vor Verzweiflung und Entsetzen. „Mentis!“ Mit zitternden Fingern griff er nach seinem Freund. Mentis' Körper war so kalt, dass er schon fast wieder brannte. Er schrie einen atemlosen, stummen Schrei, als Mentis' Schmerzen mit einem Schlag an ihn übergingen. Er wusste nicht, wie sein Freund so lange hatte aushalten können. Ain brach fast augenblicklich zusammen. „Ain!“, rief ihn die Stimme eines Weißen. Er spürte, wie er geschüttelt wurde. Tausende von Händen schienen an ihm zu rütteln, ihn zu betasten. „Ain, hörst du ich?“ „Und es ist nicht meine Schuld“, hörte er Eleyna keifen. „Wessen denn sonst? Hör auf, es abzustreiten!“, zischte eine andere Stimme. „Wir hätten alle besser aufpassen müssen“, schnitt die tiefe Stimme des alten Weißen durch die Aufregung. „Macht ihn endlich wach und seht zu, dass das nicht noch einmal passiert.“ Ain öffnete mühsam die Augen einen Spalt breit. Das Weiß blendete ihn. Er spürte, dass er weinte. „Er ist wach!“, rief eine erleichterte Stimme. „Ain“, das besorgte Gesicht des jungen Weißen mit den rötlichen Haaren erschien in seinem Blickfeld. „Kannst du mich hören?“ Er wollte antworten, doch es gelang ihm nicht. Wo war Mentis? Der junge Weiße gab nicht auf. „Verstehst du, was ich sage?“ Ain nickte leicht. Sein Blick suchte den Raum ab. Mentis. „Sehr gut. Lass dir Zeit.“ „So ein Blödsinn. Er soll sich zusammenreißen und das Maul aufmachen“, zischte der schweinsäugige Weiße. Sein Kopf war von einem ungewöhnlichen Dunkelrot, doch um die Lippen und unter den Augen schien alles Blut aus seinen Adern gewichen zu sein. Er sah skurril aus. Mentis. „Ich verstehe es, Shiu“, würgte er hervor. Er wusste nicht, ob die Weißen es verstanden hatten. Sie waren so laut und seine Stimme war so rau und leise. Seine Tränen wollten nicht trocknen. Er konnte Mentis nirgends sehen. Er konnte ihn nicht einmal spüren. Mit einer unglaublichen Intensität spürte er plötzlich, wie viel Mentis ihm die ganzen Jahre gegeben hatte. Und jetzt war er fort. War er in seinen Körper zurückgekehrt? Der grauenvolle Gedanke überwältigte Ain. Er wusste, dass er den Weißen keine Blöße geben durfte, doch er weinte hemmungslos. Sein einziger Freund war fort. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)