Jahrtausendhexer von Listener (Krieg um das Eroberte Meer) ================================================================================ Kapitel 3: Unerwarteter Beistand -------------------------------- Luka betrachtete die frische Schürfwunde unter seinem nun blau umrandeten Auge kritisch aus allen Winkeln. Eigentlich war es mehr lila. Er seufzte. „Fängt ja gut an“, murmelte er. Die Wachen dieser Gemäuer hatten eindeutig zu viel Langeweile, wenn sie ihren Frust an ihm ausließen. Zu Beginn hatten sie einen Bogen um ihn gemacht, doch mittlerweile hatten sie Freude daran entdeckt, ihn in ihre Mitte zu nehmen und so lange zu drangsalieren, bis sie sich besser in ihrem eintönigen Alltag fühlten. Luka sah sich selber als sehr umgänglichen und besonnenen Menschen, doch sein Ärger staute sich unaufhörlich an, ohne, dass er ihn ablassen konnte. Am besten war es immer, wortlos und ergiebig zu lächeln und sie machen zu lassen. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Warum nur war er den Worten von Ain Pantokratos verfallen? Es hieß immer, der Jahrtausendhexer sei das mächtigste Wesen auf der ganzen Welt. Luka hatte lange gebraucht, um zu realisieren, wer der schmächtige, blasse Junge war, dem er vor über zwei Wochen in den königlichen Gärten seiner Majestät König Rowenos' II. begegnet war. Ain entsprach beim besten Willen nicht seinen Vorstellungen eines Jahrtausendhexers. Er sah vielmehr aus, als würde jeder etwas heftigere Lufthauch ihn umwehen und als würde er zerbrechen, wenn man ihm nur die Hand reichte. Luka erinnerte sich noch gut an das Gefühl von Ains knochigen Schultern. Der Junge hatte so fehl am Platz gewirkt, dass seine Unbeholfenheit sich fast auf den sonst so munteren Luka übertragen hatte. Und dann hatte Ain ihm mit so großer Zuversicht und Autorität eine Welt versprochen, in der er leben konnte, ohne sich verstellen zu müssen. Luka hatte es ihm sofort geglaubt. Er wusste nicht, woher sein plötzliches Vertrauen zu dem jungen Hexer gekommen war. Doch sein Bauchgefühl hatte sich von Anfang an dafür entschieden, dass es den unbeholfenen Ain mochte. Luka wusste, wie andere Menschen Ain sahen, er hörte sie reden. Bisher hatte er ihren Meinungen und Geschichten nie viel Aufmerksamkeit geschenkt, der Jahrtausendhexer hatte nichts mit ihm zu tun gehabt, war kaum mehr als ein Volksmärchen, an das Luka nicht glaubte. Er wusste immer noch nicht, ob er Ain eine solche Kraft zumutete. Prüfend betrachtete er einen seiner sehnigen, gut trainierten Arme. Er war sich sicher, dass selbst er den jungen Hexer mit einem einzigen Schlag außer Gefecht setzen konnte. Und er konnte es an Kraft bei Weitem nicht mit einem Soldaten aufnehmen, der jahrelang professionell trainiert und konditioniert worden war. Und seines eigenen Willens beraubt. Im Gegensatz zu den verblendeten Jupranern merkte er, wie blind die Soldaten den Idealen ihres Königs folgten. Die Schatten des Krieges erreichte die Idylle des Bergpalastes kaum. Der hier hausende und verweilende Adel schwelgte in Luxus und Sorglosigkeit. Luka korrigierte sich in Gedanken. Die hohen Männer und Frauen waren nicht sorglos, sie waren desinteressiert und ihr begrenzter Fokus verließ die Mauern des Palastes nur selten. Etwa, wenn die in kleinen Bergdörfern ansässigen Bauern ihre Tribute nicht rechtzeitig zollten. Auch Luka kümmerte sich wenig um die Außenwelt. Doch er hätte nie gedacht, dass ihm ein Geheimnis wie die Anwesenheit des Jahrtausendhexers entgehen konnte. Es gab einige Bereiche des Palastes, die er nur selten betrat. Dort labte sich die hohe Gesellschaft an ihrem Reichtum und dort wollte man ihn nicht sehen. Jetzt hatte er eine Woche, um herauszufinden, wo Ain Pantokratos festgehalten wurde. Bisher hatte Luka immer angenommen, es gäbe nur Elementarmagier und Heiler und diese Kräfte müsste ein Jahrtausendhexer in sich vereinen. Ain war mit einer Magie ganz anderer Natur zu ihm gekommen. Er musste seine Sicht auf die Welt eindeutig überarbeiten. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte Luka sein Herz aufgeregt schlagen. Vorfreudig. Was hätte er nur gemacht, wenn er Ain nicht getroffen hätte? Er war nicht der Typ, der sich Zeit seines Lebens unterwarf. Als Nomade liebte er die Freiheit. Fast hätte er das vergessen und weiter unterwürfig gelächelt. Er würde Ain finden. Er würde alles herausfinden, was sie zu wissen brauchten. Prüfend stach er mit der Fingerspitze auf den Schorf, nur, um sich im gleichen Moment mit Tränen in den Augen innerlich als Idioten zu beschimpfen. Natürlich tat es weh. Luka sprang entschlossen auf. Es war an der Zeit, dass er seine Nachforschungen begann. Der Tag war vorbei, die Bewohner des Palastes kamen zur Ruhe. Die Nacht war sein Element. Seine blassschwarze Hautfarbe verband sich perfekt mit den Schatten. Die Anderen, wie die Hüter der Nacht alle anderen Menschen unter dem Firmament nannten, hatten seinem Volk daher den Namen „Schattenvolk“ gegeben. Die Älteren reagierten abweisend auf den fremden Namen, doch warum, hatten sie Luka nie erklärt. Er hatte das Mannesalter damals noch nicht erreicht gehabt. Statt dessen hatten sie ihn für ihre Freiheit eingetauscht und ein Leben in den wahren Schatten der Isolation und des Vergessens gewonnen. Er war in Gefangenschaft zum Mann geworden und niemand hatte mit ihm gefeiert. Ohne ein Geräusch schlich Luka durch die dunklen Gänge des Palastes. Er war froh, dass nur wenige magische Lichter brannten. Wenn die Magier ihre Energie darauf verwendeten, einen Jahrtausendhexer festzuhalten, hatten andere magische Elemente scheinbar kaum Kraft. Langsam verstand Luka, warum er sich immer über die geringe Benutzung von Magie im Palast gewundert hatte. Wahrscheinlich funktionierte es nicht. Als er Schritte hörte, verschwand er geschmeidig in einer dunklen Wandnische. Flüsternde Stimmen kamen näher. Luka schätzte auf eine Gruppe von vier oder fünf Personen. „... auch noch nicht gesehen“, hörte er die erste Stimme. „Wer hätte gedacht, dass er überhaupt zu Gefühlen fähig ist.“ Die zweite Stimme klang abfällig. „Das stimmt nicht“, mischte eine sanfte Frauenstimme mit. „Als er klein war, hat er viel geweint. Das hat einfach irgendwann aufgehört.“ „Stimmt, du bist schon lange hier, Kaila.“ Die Frau hielt an und die anderen mit ihr. Die Gruppe stand fast direkt vor Luka. Er drückte sich tiefer in die Schatten. „Manchmal frage ich mich, ob es richtig ist, was wir machen“, flüsterte die Frau namens Kaila. Eine neue, kalte Stimme fuhr ihr über den Mund. „So etwas solltest du besser nicht sagen. Du weißt, was mit dir geschieht, wenn solche Worte an die falschen Ohren gelangen.“ Luka glaubte, im schwachen Licht des nächstgelegenen, schwach leuchtenden Magiekristalls die rötlichen Haare des Mannes ausmachen zu können. „Ich weiß, Ferres“, räumte Kaila ein. „Ich werde mich vorsehen.“ Der fünfte Mann meldete sich zu Wort. Seine Stimme war schwer und er sprach langsam und akzentuiert. Trotzdem fand Luka, dass er jung klang. Sie alle schienen nicht sehr alt zu sein. Vielleicht dreißig. „Ich hätte nie gedacht, dass wir wirklich so viel Kraft aufwenden müssten, um ihn ruhig zu stellen. Die Magie schoss völlig unkontrolliert aus ihm heraus.“ „Wir können davon ausgehen, dass hier demnächst neue Gesichter auftauchen“, stimmte die erste Stimme zu. „Wir alleine können seine Kraft nicht mehr lange unterdrücken. Es ist fast unheimlich, mit welcher Geschwindigkeit er lernt. Und ich bin mir nicht einmal sicher, dass das alles unser Verdienst ist.“ Luka bemerkte, dass die vier Männer und die Frau weiße Kittel trugen. „Wir werden das ganze Schloss mit unserer Magie versiegeln müssen“, stimmte auch der zweite Sprecher zu. Er kratzte sich am Kopf. „So ein elender Aufwand.“ „Vor allem, wenn wir den Jungen auf dem Schlachtfeld verlieren sollten. Wir können dort schlecht mit über fünfzig Magiern Wache stehen. Wir wären viel zu anfällig.“ „Ja“, bestätigte die Frau. „Aber noch mehr Magier könnten wir kaum senden. Uns gibt es nicht wie Sand am Meer.“ Fast hätte Luka verzweifelt gelacht. Vielleicht sollte er seine Überzeugung zurücknehmen und sich Ain nicht anschließen. Wie zum Henker sollte er über fünfzig Hexer umgehen, deren Talente er nicht kannte? Er verstand, dass zumindest ein Großteil von Ains Bewachern Magier waren. Unter der absurd hohen Zahl wollte er sich erst gar nichts vorstellen. Schon ein einziger Magier war für einen nicht-magischen Menschen eine fast unüberwindliche Hürde. Luka traute sich maximal zwei zu und das auch nur, wenn die Überraschung auf seiner Seite war. „Weiter“, befahl der rothaarige Magier. Er schien einen höheren Rang innezuhaben, als die anderen vier. „Wir müssen unseren Rundgang beenden, die anderen Verlassen sich auf uns. Konzentriert euch.“ Er ging weiter und die anderen folgten ihm. Ihre Schritte verhallten, als sie abbogen. Luka glitt aus den Schatten und sah ihnen nach. Es war unmöglich. Er grinste schief und raufte sich mit einem Arm in die Hüfte gestützt die Haare. „So ein Blödsinn“, stellte er leise fest. Auf federleichten Sohlen folgte er den Magiern lautlos und mit großem Abstand. Besser, er war zu vorsichtig, als dass es ihm im Nachhinein leid tat. „Was machst du hier, Schatten?“, zischte eine Stimme an seinem Ohr. Lukas Herz setzte aus, vor es wieder zu schlagen begann. Er riss den Kopf herum, bereit, so schnell zu rennen, wie ihn seine Beine trugen. Nicht, dass es ihm etwas nützen würde, wenn er bereits erkannt worden war. Direkt neben ihm stand ein Mann. Luka konnte ihn nicht erkennen, da er sein Gesicht mit einem Tuch verhüllte. Der Mann tat einen schnellen Schritt auf ihn zu und presste Luka an die Wand ohne, dass dieser eine Chance gehabt hätte, sich zu wehren. „Warum verfolgst du die Magier?“, fragte der Verhüllte scharf aber leise. „Ich...“ Luka wusste nicht, was er sagen sollte. Oder konnte. Nichts würde seine Lage verbessern. „Versuch erst gar nicht, wegzulaufen“, ordnete der Fremde ihn an und lockerte seinen Griff. Er packte Lukas Arm und bog ihn schmerzhaft nach oben. Luka wandte sich, doch er konnte sich nicht mehr frei bewegen. „Sehr schön“, lobte der Mann, als ob Luka eine Wahl gehabt hätte. „Und jetzt kommst du mit.“ Er drückte Lukas Arm nur leicht nach oben, doch Luka hätte am liebsten aufgeschrien. Was auch immer der Mann tat, es funktionierte hervorragend. Seine Gedanken überschlugen sich, doch er fand keine nützliche Idee, wie er sich losreißen konnte. Die leichteste Bewegung, die nicht im Einklang mit dem Willen des verhüllten Mannes war, trieb ihm die Tränen in die Augen. Er resignierte. Für den Anfang. Früher oder später würde der Mann ihn loslassen müssen. Luka schnaubte. Dieses Abenteuer hatte ja formidabel begonnen. Ain würde sein Versprechen besser wahr machen, wenn sie es über die Mauern des Palastes schafften. Der Verhüllte führte Luka durch lange, dunkle Gänge in Bereiche des Gemäuers, die Luka zu Tage noch nie betreten hatte. Je weiter sie gingen, um so besser schienen die magischen Lichter zu funktionieren. Wenn sie sich ihnen näherten, flimmerten sie und gingen aus. Luka wusste nicht, warum. Er bemerkte, dass die Flure nicht nur heller, sondern auch prunkvoller wurden. Über den wertvollen Marmorboden führte jetzt mittig ein vermutlich dunkelblauer Teppich. Die Abstände zwischen den inzwischen zweiflügeligen Türen wurden größer. An den Wänden hingen Bilder zwischen penibel gestutzten Blumenbouquets auf schlichten, brusthohen Marmorsäulen. Die Decke war von goldenem Stuck überzogen. Hier befanden sich die Wohnbereiche des dekadenten Adels. Lukas Verzweiflung wuchs, seine Resignation wurde endgültig. Wie sollte er sich vor den hohen Männern und Damen rechtfertigen? Sein Entführer hielt vor einer großen, dunklen Türe am Ende des Flures. Er klopfte fast unhörbar leise, wartete einen Moment und trat ein. Er stieß Luka so heftig in den Raum, dass er stolperte und sich nur ungelenk fing. Sein Arm fiel schmerzlich herab, ohne, dass er ihn hätte daran hindern können. Doch sein wacher Blick erfasste sofort den gesamten Raum. Luka musste einsehen, dass er vom Regen in die Traufe geraten war. Der Verhüllte positionierte sich mit verschränkten Armen vor der Tür und auch die gut zehn weiteren Personen, die sich im Dunkeln des kaum erleuchteten Raumes aufhielten, wirkten angespannt. „Was soll das?“, fragte ein Mann. „Warum bringst du den Schatten hierher?“ Luka senkte den Kopf. Er brauchte eine Idee. Schnell. Ein Kleid raschelte und eine sehr junge Frau trat ins Licht. Fast noch ein Mädchen. Ihr volles, langes Haar wippte verspielt über ihren Schultern und ihren Rücken hinab. Luka erkannte sie. Sie war eine entfernte, aber am Hof gerne gesehene Verwandte seiner Majestät. Ihre Familie besaß Ländereien in allen Teilen Juprans und besetzte derzeit den Bergpalast, um tagein und tagaus im ruhigen Hinterland ungestört feiern zu können. Unter allen Anwesenden im Palast hatten die Eltern von Lady Ayslinn derzeit den höchsten Rang. Das machte sie mitunter zu der schlechtesten Partie für Luka und Ain. Doch was machten die vielen Menschen in ihren Gemächern? Lady Ayslinn nahm ihn bei der Hand und führte zu einem kleinen Tisch, an dem Platz für zwei Leute war. Sie bedeutete ihm freundlich lächelnd, sich niederzusetzen. Luka musterte sie misstrauisch. Was wollte sie? Ihm blieb nichts anderes übrig und er ließ sich nieder. Die junge Frau bedeutete dem verhüllten Mann, näher zu kommen. Sofort nahm einer der anderen Anwesenden dessen Platz an der Türe ein. Alle Blicke ruhten auf Luka. Er sagte nichts. Der Verhüllte verbeugte sich vor Lady Ayslinn und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Er hatte kein Wort gesagt, seitdem sie den Raum betreten hatten. Sie wandte sich wieder Luka zu und beendete das angespannte Schweigen. „Warum bist du den Magiern gefolgt, Luka Dragh'ny?“, fragte sie freundlich. Lukas Misstrauen nahm zu. Außer Ain hatte ihn in diesen Mauern noch nie jemand bei seinem Namen genannt. Hier hatte er viele Namen, am häufigsten nannten sie ihn einfach Schatten. Diese Frau wollte ihn für sich gewinnen, indem sie seine Identität scheinbar anerkannte. Er musste vorsichtig sein. „Das waren Magier?“, fragte er daher so ahnungslos wie möglich. Der Verhüllte stellte sich bedrohlich hinter ihn. Noch hielt er seine Arme verschränkt, doch Luka spürte, dass er zu neuer Gewalt bereit war. „Luka“, tadelte Lady Ayslinn und schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht wie die anderen. Ich weiß, dass du nicht dumm bist.“ Luka schwieg. „Es bringt uns beiden nichts, um den heißen Brei zu reden“, erklärte die junge Frau. Ihre klaren grünen Augen schienen tief in sein Innerstes zu sehen. „Was weißt du über die Magier? Kennst du das Geheimnis dieses Palastes?“ Luka zuckte zusammen. Sie hatte ihn eiskalt erwischt. Er wusste nicht, ob es ihm etwas bringen würde, zu lügen. Irgendwie hatte er das Gefühl, sie würde es wissen. Er senkte den Blick. Wie hatte es so leicht vorbei sein können. Er hatte sich so auf die Magier konzentriert, dass er den Verhüllten nicht bemerkt hatte. Sein erster Fehler würde zugleich sein letzter sein. „Ja, Hoheit“, flüsterte er. Lady Ayslinn lächelte und presste in einer glücklichen Geste ihre Handflächen aneinander. Sie hüpfte leicht in ihrem Stuhl. „Wunderbar.“ Luka sah sie verständnislos an. „Steckt die Waffen weg“, wies sie die Männer an. Luka hatte nicht gemerkt, dass die Anwesenden überhaupt welche hatten. Jetzt hörte er, wie Messer und Dolche in Scheiden und unter Stoffschichten verschwanden. Gute Güte, sollte er doch mehr Glück als Verstand haben? Lady Ayslinn strahlte und sah dabei aus wie ein kleines Mädchen, das Schabernack trieb. Der Verhüllte strahlte immer noch eine fast handfeste Bedrohung aus. „Lass es mich kurz machen. Deine nächsten Antworten entscheiden, was nun mit dir geschieht.“ Das Gesicht der jungen Frau wurde wieder ernst. „Meine erste Frage. Was fällt dir als erstes ein, wenn ich dich nach dem Krieg frage?“ „Er ist verrückt“, antwortete Luka, ohne nachzudenken. Er biss sich auf die Lippen. Nun hatte sie ihn doch eingelullt. Er hatte sich gerade offen zum Verräter bekundet. Lady Ayslinn sah ihn schweigend mit ihren klaren Augen an. „Gut, meine zweite Frage. Wie stehst du zu Ain Pantokratos, dem Jahrtausendhexer. Du weißt, dass er hier ist.“ Sie lehnte sich nach vorne, gespannt, auf seine Antwort. Der Schaden war getan. Luka grinste schief, wie er es immer tat, wenn ihm eigentlich nicht nach Lachen zumute war. „Bevor Euer gemeiner Freund mich aufgegriffen hat, war ich auf dem Weg, ihn aus seinem Gefängnis heraus in die Freiheit zu entführen. Euer Hoheit.“ Ihre wunderschönen Augen wurden groß. Ein Raunen ging durch den Raum. Der Verhüllte atmete scharf auf. „Du weißt, dass dich diese Äußerung den Kopf kosten kann?“, fragte Lady Ayslinn leise. Luka zuckte mit den Achseln. „Ich glaube, der Schaden ist getan.“ Der verhüllte Mann schlug ihn. „Das heißt, du sollst niemals so schnell aufgeben“, übersetzte Lady Ayslinn mit einem verschmitzten Lächeln. „Lass deine Feinde nie gewinnen, was auch passiert. Du musste noch viel lernen.“ Der Verhüllte verschränkte zufrieden die Arme wieder vor der Brust. Luka fragte sich ernsthaft, warum der Mann nicht sprach. Die Anspannung ließ merklich nach. Die anderen Personen traten näher. Luka erkannte zwei Wachen, einen Heiler, einige der Diener und eine Zofe. Seine Augen wurden groß. Was geschah hier? „Luka, deine Verwirrung ist dir etwas zu deutlich ins Gesicht geschrieben“, neckte Lady Ayslinn ihn. Und bestätigt fügte sie für sich selbst hinzu: „In der Tat noch viel zu lernen.“ „Hoheit... ich verstehe nicht, was hier passiert“, gab Luka zu. „Wir sind sozusagen deine Verbündeten“, lächelte Lady Ayslinn. „Wir wissen seit einiger Zeit um Ain Pantokratos. Der Krieg muss ein Ende haben, wir dürfen ihn nicht in den Händen meines Vetters lassen. Er muss in neutrales Gebiet. Auf die Inseln von Lupran etwa.“ „Hoheit“, warf eine der Wachen unfreundlich ein. „Warum vertraut ihr diesem Schatten?“ Lady Ayslinn stöhnte. „Fangen wir jetzt ernsthaft damit an, Marus? Freut euch, dass wir einen weiteren Verbündeten haben und lasst die Vorurteile stecken.“ Marus blieb stur. „Aber wir können ihm nicht vertrauen.“ Die anderen Anwesenden außer dem Verhüllten nickten zustimmend. Lady Ayslinn deutete auf Lukas Entführer. „Aber ihr vertraut ihm?“ Ein zustimmendes Murmeln machte sich breit. „Obwohl ihr sein Gesicht nicht sehen könnt?“ „Er verdeckt nur seine Narben“, erwiderte einer der Diener wenig überzeugt. Der zweite Soldat erhob das Wort. „Richtig, das ist etwas anderes. Der Verhüllte hat sich außerdem bereits bewiesen.“ Luka traute seinen Ohren kaum. Sie nannten ihn wirklich 'den Verhüllten'? „Ich kenne Ain Pantokratos“, mischte sich Luka ein. Wenn er sich beweisen musste, so wollte er das gerne tun. Lady Ayslinn schien auf seine Seite zu sein. Es alleine mit über fünfzig Magiern aufzunehmen, erschien Luka als die schlechtere Lösung, wenn die Alternative war, sich die Unterstützung der hohen Dame zu versichern. Alle Köpfe fuhren zu ihm herum. „Was hast du gesagt?“, fragte Lady Ayslinn nach. Der Verhüllte hatte einen Schritt nach vorne gemacht. Er musste darauf brennen, etwas zu sagen. Doch er tat es nicht. „Ich kenne Ain Pantokratos“, wiederholte Luka stur. „Das ist unmöglich“, wehrte der Heiler ab. „Von allen hier bin ich der Einzige, der den Jahrtausendhexer jemals zu Gesicht bekommen hat. Als Magier bin ich hier der Einzige, der Zugang zu den weißen Räumen hat.“ „Ich weiß von keinen weißen Räumen“, gestand Luka. „Aber ich habe ihn getroffen. Vor etwas mehr als einer Woche, in den Gärten. Und heute bei den Stallungen.“ „Du bist ein elender Lügner“, rief der zweite Soldat wütend. „Senke deine Stimme“, verwies Lady Ayslinn ihn ungehalten und der Mann verstummte beschämt. Sie wandte sich Luka zu. „Warum würdest du das erzählen? Luka hoffte, dass sie ihm glaubten. „Er hat mich um Hilfe gebeten. Er sah nicht gut aus.“ „Wie sah er aus?“, fragte der Heiler argwöhnisch. „Krank“, antwortete Luka. Er suchte nach Worten. „Er war nicht besonders groß und so schlank, dass ich das Gefühl hatte, er müsste zerbrechen, als ich ihn berührte. Seine langen bodenlos Schwarzen Haare waren in mehreren Schlaufen zusammengebunden und nur wenige Strähnen hingen ihm in sein bleiches Gesicht. Seine eisigen, hellen Augen waren dunkel unterlaufen vor Müdigkeit. Sein Gesicht wirkte fast weich.“ Der Heiler schwieg. „Was ist, Noll? Stimmt die Beschreibung?“ Der Heiler namens Noll nickte langsam. „Ohne Zweifel.“ Er fasste sich. „Wann genau hast du ihn getroffen?“, hakte er nach. Er schien die Antwort bereits zu kennen. „Ich weiß nicht mehr genau, wann ich ihn zum ersten Mal getroffen habe. Es war auf jeden Fall an einem Nachmittag. Das zweite Mal war heute morgen.“ „Heute morgen“, wiederholte Noll nachdenklich. „Das würde einiges erklären.“ „Was erklärt es?“, fragte Lady Ayslinn. „Was stimmt nicht mit Ain Pantokratos? Was hast du gesehen?“ „Wir haben nicht viel gesehen“, gab Noll zu. „Wir dachten, er würde schlafen, als wir auf einmal merkten, dass seine Werte leicht von der Norm abwichen. Wir sahen die Aufzeichnungen genauer an und stellten fest, dass das bereits seit einigen Stunden der Fall war. Etwas Ähnliches war vor ungefähr einer Woche bereits passiert. Wir konnten ihn kaum wecken. Als wir es versuchten, spielten die Geräte verrückt. Die Magier hatten alle Mühe, seine Kräfte unter Kontrolle zu bringen. Er hätte seine Fesseln fast gesprengt. Ich muss sagen, ich war erleichtert, dass es uns gelungen ist, ihn in Zaum zu halten. Wer weiß, was sie sonst mit ihm gemacht hätten. Wir hätten ihn fast an Rowenos verloren.“ „Das ist nicht gut“, murmelte Lady Ayslinn. Luka konnte nicht glauben, was er hörte. Damit hätte er niemals gerechnet. Er begann zu verstehen, warum Ain ihn so dringend um seine Hilfe gebeten hatte. Sie hielten ihn wie ein Tier. Nein, schlimmer als ein Tier. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er seine verloren geglaubte Wut in sich aufwallen. Er ballte die Hände zu Fäusten. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Was war heute?“, fragte er Noll hitzig. „Wie war es heute?“ Noll senkte den Kopf. „Es war viel schlimmer. Das letzte Mal hatten wir die Anomalie kaum festgestellt, als wir begannen, ihn zu wecken. Dieses Mal hatte er bereits mehrere Stunden geschlafen. Die Veränderungen waren so minimal, dass nicht einmal der Blick von über fünfzig geschulten Forschern sie rechtzeitig erkannte.“ Luka versteifte sich. „Er reagierte furchtbar auf unsere Versuche, ihn zu wecken. Seine Atmung wurde unkontrolliert, sein ganzer Körper verkrampfte sich. Seine Magie explodierte. Die Magier mussten alle Macht aufbringen, die sie darbieten konnten. Einige überanstrengten sich zu schnell und brachen fast sofort zusammen. Das machte es für uns andere nicht leichter. Dann wurde er auf einmal ruhig und wir merkten, dass unsere Bemühungen Früchte zu tragen begannen. Doch er war kaum ansprechbar, als er aufwachte.“ „Was ist passiert?“ „Er...“ Noll suchte nach Worten und fuhr sich peinlich berührt mit einer feuchten Hand über den Kopf. Seine Haare blieben wirr aufrecht stehen. Er wollte nicht sagen, was er wusste. „Er weinte.“ Der Verhüllte lehnte sich steif mit dem Rücken gegen die Wand. Sein Kopf war gesenkt, sein Körper angespannt. Seine verschränkten Arme bebten vor Wut. Würde Luka ihm nicht eine besondere Aufmerksamkeit schenken, er hätte ihn für einen teilnahmslosen Zuhörer gehalten. „Warum?“, fragte Lady Ayslinn scharf. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. „Wir wissen es nicht“, antwortete Noll kleinlaut. „Seitdem war er nicht ansprechbar. Er tut, was er soll, aber...“ „Das ist nicht gut.“ Lady Ayslinn stützte ihre Hände in die Hüften und begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. „Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir müssen ihn da raus holen.“ Am liebsten hätte Luka sofort auf dem Absatz Kehrt gemacht, hätte sich mit allen Magiern angelegt und Ain zu sich geholt. Nicht, weil der junge Hexer sein Versprechen Luka gegenüber halten sollte, sondern weil Luka ihm ernsthaft helfen wollte. Er hatte das Gefühl, dass Ain es war, der eine Welt sehen musste, die ihn akzeptierte und in der er frei leben konnte. Seine eigenen Bedürfnisse schienen auf einmal so trivial zu sein. „Ich bin mit ihm verabredet“, sagte er dumpf. „In einer Woche.“ Sieben Tage schienen auf einmal eine undenkbar lange Zeit zu sein. Lady Ayslinn hielt inne. Sie dachte nach. Dann nickte sie. „Eine Woche.“ „Aber nach dem, was ich gehört habe, weiß ich nicht, ob er kommt.“ „Nein“, beruhigte in Lady Ayslinn. „Er wird kommen. Du bist alles, was er hat.“ Luka schluckte. Gut, dass sie ihm seine große Verantwortung noch einmal verdeutlichte. „Noll, eine Woche. Schaffen wir das?“ Der Heiler nickte zögerlich. „Es sollte möglich sein. Ich werde mich von Innen um ihn kümmern, dass er bereit ist.“ Lady Ayslinn nickte grimmig. „Marus, Shiem“, wandte sie sich an die zwei Wächter. „Kriegt ihr das hin?“ „Es wird knapp, aber es sollte gelingen“, bejahte die Wache namens Shiem. Marus nickte zustimmend. „Wir werden zur rechten Zeit am rechten Ort sein.“ Sie wandte sich an die Diener. „Ihr sorgt dafür, dass keine unnützen Gerüchte die Runde machen. Haltet unsere Kommunikation offen.“ Die Männer nickten. Schließlich wurde ihr Blick weich, als sie sich dem Verhüllten zuwandte. „Bist du so weit?“, fragte sie sanft. Er nickte abgehackt, ohne sie anzusehen. Luka registrierte, dass der Blick des Mannes auf die Türe gerichtet war. Er wollte genauso überstürzt aufbrechen, wie Luka selbst. „Und du“, richtete sie das Wort an Luka, „für dich habe ich eine einzige Aufgabe.“ Luka sah sie erwartungsvoll an. Er brannte darauf, etwas zu tun. Sie deutete auf den Verhüllten. „Du wirst alles tun, was er sagt.“ „Hä?“ Luka konnte seine Überraschung nicht verbergen. „Alles“, bekräftige Lady Ayslinn. Ihre Worte waren endgültig. „Ja, Hoheit“, gab Luka schließlich nach. Der Verhüllte faszinierte ihn. Er wusste nicht, ob er ihn mochte, oder nicht, aber er war gespannt darauf, mit ihm zusammen zu arbeiten und bald sein Geheimnis zu lüften. An die vermeintlichen Narben glaubte er nicht. Außerdem würde er im Moment alles tun, was seinen Ärger beruhigte und ihn davon abhielt, einen unüberlegten Alleingang zu starten, um Ain zu befreien. „Gut, damit wäre alles geklärt. Lasst uns die Sitzung für diesen Abend beenden. Wir werden uns bald wiedersehen, meine Freunde. Leiysa.“ Lady Ayslinn gab der Zofe ein Zeichen. Während die Anwesenden einer nach dem Anderen vorsichtig, um nicht erwischt zu werden, den Raum verließen, blieb die Zofe zurück. Sie schien Lady Ayslinns engste Vertraute zu sein. Neben dem Verhüllten natürlich. Der Mann verbeugte sich ein letztes Mal vor Lady Ayslinn, nachdem die Anderen bereits gegangen waren und packte Luka an der Schulter. Ohne bösartige Griffe führte er ihn flott aus dem Raum. Luka hatte kaum Gelegenheit, Lady Ayslinn seinen Respekt zu erweisen. Seine Verbeugung wirkte ungelenk, da er sie halb nach hinten und im Gehen machten musste. Der Verhüllte führte ihn stumm durch die Gänge. „Merk dir den Weg“, sagte er nur. „Wer weiß, ob du dieses Wissen noch brauchen wirst.“ Er führte Luka bis zurück zu den Stallungen, wo Luka eine winzige Kammer sein Heim nennen durfte. Er brauchte nicht zu fragen, woher der Verhüllte den Ort seiner Behausung kannte. Luka war wie ein bunter Hund. Ohne blaues Auge allerdings etwas farbloser. Jeder kannte ihn, den verhassten Angehörigen des Schattenvolkes. Der Verhüllte blieb in der Türöffnung stehen, seine Hand fuhr zu dem gewaltigen Schal, der sein Gesicht verdeckte. Lukas Herz schlug schneller. Würde er das Geheimnis des Mannes schon jetzt lüften können? Doch dann verharrte der Verhüllte und entschied sich um. Er ließ seine Hand wieder senken. „Ich werde morgen Abend zu dir kommen.“ „Für was?“ „Wir müssen aus dir einen Kämpfer machen. Du musst in der Lage sein, dich selbst zu verteidigen.“ „Sehe ich so schwach aus?“, fragte Luka beleidigt. Er war enttäuscht, dass der Verhüllte ihm sein Gesicht nicht gezeigt hatte. Gleichzeitig freute er sich über die Herausforderung. „Gegen Magier“, entgegnete der Mann kalt. Ah, das war natürlich etwas anderes. Luka nickte. „Verhalte dich so wie immer“, riet der Verhüllte und verschwand in der Dunkelheit. „Es ist so viel passiert heute, Ain. Habe keine Angst, ich hole dich da raus“, versprach er leise. Er ließ sich auf seiner strohbedeckten Pritsche nieder und zog sich die dünne, kratzige Schafswolldecke bis über die Brust. Die Nächte wurden kälter. Luka war hellwach. Er streckte seine Hand nach oben. Im schwachen Licht des Mondes konnte er alles erkennen. Er ballte die Hand zur Faust. „Warte auf mich, Ain. Du bist nicht allein.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)