Tanz der Moleküle von Lotos ================================================================================ Kapitel 18: ------------ Kapitel 18 Zwei Tage. Zwei Tage hatte er jetzt nichts von Rike gehört. Er hatte doch allen Mut zusammengenommen und sich den Mund am Anrufbeantworter fusselig geredet, hatte den ersten Schritt gewagt. Vielleicht hatte sie die Nachricht noch gar nicht bemerkt? Oder hatte sie sie am Ende bewusst ungehört gelöscht? Die Unsicherheit war unangenehmer als die Angst davor, verletzt zu werden. Erst nach Einbruch der Dämmerung machte sich Hanne auf den Weg zu Rike. Er wollte endgültig wissen, was mit ihr los war, was sie von ihm dachte. Entschlossen drückte er auf den Klingelknopf. Schon nach kurzer Zeit kam die junge Frau zur Tür. Sie trug eine Pyjamahose und ein T-Shirt, unter dem sich ihre Brüste wunderhübsch abzeichneten. An den Füßen war sie nackt. Als sie ihn sah, entgleisten ihre Gesichtszüge vollkommen. Sie wollte die Türe wieder zuschlagen, doch er steckte schnell seinen Fuß dazwischen. “Moment bitte.”, sagte er leise. Sein Hals war ganz rau und tat beim Sprechen weh. Die Halsschmerzen hatten sich weiterhin verschlimmert. Er hatte kaum noch eine Stimme. “Hau ab! Lass mich in Frieden!”, warf sie ihm an den Kopf. “Ich bedeute dir doch eh nichts!” Sie drückte noch fester gegen die Tür und Hanne musste den Spalt etwas weiter aufdrücken, damit sein Fuß nicht zerquetscht wurde. “Bitte, lass mich erklären. Du bedeutest mir wirklich sehr viel. Ich liebe dich doch.”, sagte er wieder und versuchte weiter, gegen das Krächzen anzukämpfen. Er hustete. “Lügner!” “Bitte glaub mir, Rike. Ich lüge nicht.”, beteuerte er verzweifelt. “Oh doch, das tust du. Du merkst es nicht mal mehr, wie? Kurt vertraust du ja wohl wesentlich mehr als mir!” “Nein. Wie kommst du denn darauf?” “Du weißt doch nicht mehr, was du redest! Auf den Anrufbeantworter hast du mir das gesprochen, du Mistkerl!” “Das hat doch nichts mit Vertrauen zu tun. Es tut mir unheimlich weh, wenn ich sehe, wie du dir selber das Leben schwer machst. Ich möchte nicht, dass du leidest, Rike. Kurt verkraftet das alles besser. Ihm kann ich solche Dinge deswegen eher sagen. Ich möchte dich nicht belast…” Seine Stimme versagte endgültig. Er keuchte, weil ihm durch den langen Redeschwall der gesamte Rachen weh tat. Auch die Stimmbänder schmerzten so, als wollte sie ihm jemand herausreißen. Hanne bemerkte gar nicht, dass Rike die Türe weiter geöffnet hatte. “Komm mal eben rein, Hanne. Mir ist scheußlich kalt.” Sie packte seine kalte Hand und zog ihn mit sich ins Innere des Hauses. Kurz darauf fand er sich in Rikes Wohnung wieder. Noch immer zitterte er von der Kälte draußen. Rike selbst war verschwunden. Sie machte wahrscheinlich Tee, zumindest hatte sie davon gesprochen. Hanne wickelte sich noch etwas fester in die Decke, die ihn eigentlich wärmen sollte. Er fühlte sich einfach schrecklich und wollte nur noch heulen, sich irgendwo verkriechen. Die junge Frau kehrte zurück und gab ihm eine dunkelrote große Tasse. Der Geruch verriet ihm, dass es Kräutertee war. Er nahm vorsichtig einen Schluck der heißen Flüssigkeit und verbrühte sich die Zunge. Seinem Hals jedoch tat die Hitze gut. Vorsichtig räusperte er sich und trank noch etwas mehr Tee. Er spürte, dass Rike ihn beobachtete. Nun hob auch Johannes den Blick und lächelte sein Gegenüber vorsichtig an. Er war sich nicht einmal sicher, ob dies in dieser Situation überhaupt angebracht war. “Na ja, ich bin auf jeden Fall hier, weil ich mich entschuldigen wollte. Im Grunde genommen hat es wirklich nichts mit Vertrauen zu tun, wenn ich dir sage, dass ich mich nicht gut fühle oder ich krank bin. Ich vertraue dir wirklich, Rike. Ansonsten hätte ich dir zum Beispiel nie erzählt, dass ich HIV-infiziert bin. Davon, dass ich mal mit Lukas oder allgemein mit einem Mann geschlafen hab, wüsstest du sonst auch nichts. Wenn ich dir etwas verschweige, dann… ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, verstehst du? Was ich am allerwenigsten möchte, ist eben, dass ich dir wehtue.” Rike ließ sich nichts von ihren Gedanken anmerken. “Und was ist mit Kurt?” Er seufzte. “Weißt du, ich hab keine Ahnung, wie ich dir das jetzt erklären soll. Kurt und ich… du musst wissen, wir haben ein besonderes Verhältnis zueinander, eine enge Freundschaft. Er versteht mich einfach, hält auch mal ein Stimmungstief mit mir aus. Ihm kann ich sagen, was ich will, er ist schlichtweg immer für mich da. Gleichzeitig ist er auch immer total ehrlich zu mir. Er rückt mir den Kopf gerade, wenn ich anfange zu spinnen. Ihm hab ich es letztendlich auch zu verdanken, dass ich mit dir zusammen sein kann. Ich hätte mich viele Dinge nicht getraut, wenn er nicht mit mir darüber geredet hätte.” Rike nickte betrübt. Ihre Wut war wie weggeblasen. “Genau das ist es, was ich nicht so recht aushalte. Kurt und du, ihr habt so viel gemeinsam erlebt. Er ist wesentlich mehr für dich, als ich es je sein werde. Ich wäre auch gerne in jeder Situation für dich da, glaub mir.” Hanne musste lächeln. “Natürlich möchtest du das. Aber so harmonisch läuft das zwischen uns nicht ab, weißt du? Wir streiten uns auch sehr oft, werfen uns alles mögliche an die Köpfe. Wir nehmen es einander auch kaum übel. Er ist fast wie ein Bruder für mich. Er gibt mir manchmal Dinge, die mir niemand anderes geben kann. Du hast daher schon vollkommen Recht, wenn du sagst, wir seien unheimlich viel füreinander. Aber vor allem deine eigene Rolle für mich darfst du nicht unterschätzen. Du hast schon unheimlich viel von Kurts Platz in meinem Leben eingenommen. Ich liebe dich sehr, Rike.” Fast schon unbewusst verhakte er seine Finger in ihre und blickte ihr in die Augen. Rikes Augen glänzten feucht. “Ich liebe dich auch, Johannes.” Sie wandte den Blick ebenfalls nicht ab, obwohl sie es der Tränen wegen gerne getan hätte. Nach einiger Zeit des Schweigens verabschiedete sich Hanne. Er wollte nach Hause. Obwohl ihm Rike wieder das Übernachten angeboten hatte, hatte er abgelehnt. Er konnte es einfach nicht, weil er sonst sowieso nur die ganze Zeit über ihren Busen im Kopf gehabt hätte und es ihm irgendwie falsch erschien ausgerechnet jetzt an Sex zu denken. Außerdem wollte er sie auf keinen Fall mit seiner Erkältung anstecken. Er war überglücklich und erleichtert, als er vors Haus trat. Rike dagegen war alles andere als erleichtert. Natürlich war auch sie froh, dass der Streit jetzt aufgeklärt war. Die Schwangerschaft jedoch hatte sie wieder nicht zur Sprache bringen können. Mittlerweile musste sie sich sogar eingestehen, dass sie Angst davor hatte, es Hanne überhaupt zu sagen. Sie fürchtete einfach, dass er ausrasten könnte, sie anbrüllen würde. Mittlerweile kam ihr die Diskussion um Vertrauen, die sie eben noch geführt hatten, total lächerlich und von ihrer Seite her verlogen vor. Sie war es doch im Grunde genommen selbst, die kein Vertrauen zu ihm hatte und sich darum herum drückte, ihm von dem Baby in ihrem Bauch zu erzählen. Obwohl sie ihm so gerne anvertrauen würde, dass sie schwanger war, brachte sie kein Wort über die Lippen. Die Angst vor dem Verletztwerden oder gar einer Trennung saß tief. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Auch Kurt und Lukas hatten das neue Jahr zusammen begrüßt. Sie waren allerdings innerhalb der Wohnsiedlung geblieben, waren nur bis zu den Treppen gegangen, die in Richtung der Innenstadt hinabführten. Die Nacht war so wunderbar klar gewesen, dass sie auch von dort genügend von den Feuerwerkskörpern mitbekommen hatten, die im näheren Umfeld gezündet worden waren. Kurt hatte im Gegensatz zu Lukas Johannes vermisst. Er hätte sehr gerne mit ihm zusammen auf den Jahreswechsel gewartet. Trotz aller Differenzen der letzten Wochen hing er noch immer sehr an ihm, wollte noch immer am Leben des anderen teilhaben und ihn bei seiner Beziehung zu Rike unterstützen. So paradox es auch klingen mochte - er wünschte Hanne wirklich, dass er mit Rike glücklich werden würde. Lukas dagegen war genervt gewesen und fast wäre der gesamte Abend geplatzt. Genauso wie eben Heiligabend auch schon. Schließlich hatte Kurt nachgegeben und sie hatten zusammen mit einem anderen Paar gefeiert, das sich denselben Platz ausgesucht hatte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Hannes Halsschmerzen wollten sich einfach nicht bessern. Langsam aber sicher bekam er wirklich Angst. Auch nach dem Besuch bei Rike hatte er noch immer unveränderte Probleme mit dem Sprechen. Das Schlucken tat ihm ebenfalls furchtbar weh. Es erleichterte ihn allerdings, dass sein Fieber inzwischen abgeklungen war. Obwohl er jetzt erst einmal frei haben würde, konnte sein Zustand nicht so bleiben. Es war undenkbar für ihn, dass sich sein Hals auf die Dauer so dick und unangenehm anfühlte. Dr. Müller hatte, wie sich herausstellte, ebenfalls Urlaub. Auf der Sprachbox des Telefons war allerdings eine andere Rufnummer genannt, die Hanne mitschrieb. Anschließend rief er dort an, nannte seine Probleme unter Schmerzen und Krächzen und ließ sich einen Termin geben, der allerdings ziemlich gequetscht war. Das Wartezimmer war nämlich zum Überquellen voll, als Hanne dann schließlich ankam. Alte Menschen und Kinder, Leute seines Alters und Babys - alles war vertreten. Ihm wurde ganz schlecht dabei. Er ließ sich auf einen freien Platz fallen und wartete, bis sein Name genannt wurde. Es verging eine gute halbe Stunde, bis sich der Raum ein wenig gelichtet hatte. Letztendlich wurde er selbst eine Stunde nach der vereinbarten Zeit aufgerufen. Völlig schlapp rappelte er sich auf und ließ sich von der Sprechstundenhilfe zum Untersuchungszimmer begleiten. Die Ärztin, die ihn dort erwartete, war das krasse Gegenteil von Dr. Müller. Sie war aufgekratzt und vor allem wirkte sie total unfreundlich. Noch einmal zählte er seine Probleme auf und sie nickte die ganze Zeit. Hörte sie ihm überhaupt richtig zu? Danach forderte sie ihn auf, den Mund zu öffnen und steckte ihm den Spatel so weit in den Rachen, dass er Würgen musste. Sie bestand sogar darauf, einen Abstrich aus der Mundhöhle zu nehmen. Zum Schluss tastete sie noch seinen Hals von außen ab. Nach insgesamt fünf Minuten ließ sie Hanne gehen. Seine Mandeln waren geschwollen, entzündet und begannen bereits zu eitern. Er hatte ein Rezept mit sehr starkem Antibiotikum erhalten, dazu noch andere Medikamente gegen die Schmerzen und die Erkältung an sich. Seit der Untersuchung tat ihm der Hals noch mehr weh. Diese Frau war wirklich brutal gewesen, hatte ihm Mandeln und Lymphknoten richtiggehend zusammengequetscht. Dabei sollte sie doch wissen, dass eine Schwellung ohnehin schon schmerzhaft genug war. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er sich in der Apotheke beeilen musste, wenn er seinen Bus noch erreichen wollte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Auf dem Nachhauseweg stieß Hanne auf seine Schwester. Sie wartete ebenfalls an der Bushaltestelle und fiel ihm beinahe um den Hals vor Freude. “Na das passt ja wunderbar. Ich wollte gerade zu dir, Hanne. Weißt du, mir ist eben was ganz tolles passiert.”, plapperte sie fröhlich drauflos. Sie strahlte übers ganze Gesicht. “Hey, was hast du denn? Bist du krank, Hanne?”, fragte sie, als er nichts erwiderte. „Ich war beim Arzt.“, antwortete er nun leise und zeigte seiner Schwester die winzige Tüte aus der Apotheke, in der seine Medikamente lagen. Sie verstand sofort. Seine Halsschmerzen hatten sich also verschlimmert. Immerhin versuchte er nicht mehr, seinen Dickkopf durchzusetzen und ohne Medikamente oder einen Arzt auszukommen. „Ach je, Hanne. Das tut mir jetzt aber Leid mit deinem Hals. Bist du fiebrig?“, meinte sie und fasste an seine Stirn, die sich allerdings normal anfühlte. Sie hatte tatsächlich Mitleid mit ihrem Bruder. „Dann hast du sicherlich gerade keinen Nerv für mich.“ „Ist schon in Ordnung.“, antwortete er. „Du kannst gerne mitkommen. Und so schlecht fühle ich mich gar nicht.“ In der Wohnung begann Hanne sofort damit, sich und seiner Schwester Tee zu kochen. Er füllte den Wasserkocher bis zur Maximalmarke und hängte drei Beutel Kamillentee in seine Warmhaltekanne. Dann kam er mit zwei noch leeren Tassen zu seiner Schwester zurück. “Jetzt erzähl mal.”, forderte er sie kaum hörbar auf. “Du Armer. Hörst dich aber wirklich schrecklich an. Hast du die Medikamente schon genommen?” Er lächelte leicht, weil es ihn freute, dass sie sich solche Gedanken um ihn machte. „Das muss ich noch machen. Ich bin gleich wieder da.“ Dann ging er noch mal kurz weg, um den Tee aufzugießen. Während des Wartens rührte er den Penizillin-Saft an und nahm die erste Dosis. Wie erwartet schmeckte das Zeug scheußlich und er wollte es nur zu gerne wieder ausspucken. Die Lutschtabletten für seinen Hals brach er ebenfalls sofort an, da er bereits alle Tabletten aus dem Röhrchen verbraucht hatte. Das Schmerzmittel legte er in den Schrank zu den anderen Pillen. Es waren dieselben Tabletten, wie sie ihm Dr. Müller auch schon mehrmals verordnet hatte, wenn er Kopfschmerzen gehabt hatte. Dann nahm er die Teebeutel aus der Kanne, verschloss sie und kehrte zu seiner Schwester zurück. “Was wolltest du mir eigentlich erzählen?”, fragte er jetzt wieder während er seiner Schwester und sich selbst Tee eingoss. “Ich hab mich wieder verliebt, Hanne.”, verkündete sie verträumt. “Er ist so wundervoll.” Interessiert blickte er sie an. “Wie das?”, hinterfragte er. “Wir studieren das gleiche, weißt du? Und er ist auch noch ganz neu in der Stadt. Vorher ist er mir gar nicht aufgefallen, aber jetzt heute Vormittag.” “Momentan sind doch gar keine Vorlesungen, oder?”, warf er ein. “Och Hanne!”, spielte sie die Enttäuschte, “Jetzt sei doch nicht so einfallslos! Wir haben uns in der Innenstadt getroffen und uns richtig nett unterhalten. Ich glaub, ihm sind meine Haare ins Auge gestochen.“ Sie kicherte leise und fügte schließlich hinzu: „Er heißt übrigens Patrick.” Hanne nickte und lächelte. “Beschreibst du ihn mal?” “Also er ist ein bisschen größer als du, hat blonde Haare und grüne Augen. Richtig hübsch. Und schlank ist er auch, aber nicht so krachdürr wie du.” “Mein Äußeres brauchst du mir nicht auch noch extra unter die Nase reiben, Sandra. Na ja, dieser Patrick muss ja schon perfekt sein.”, meinte er sarkastisch. Es ärgerte ihn, wenn er sich anhören musste, wie mager er war. Außerdem kannte er die Höhenflüge seiner Schwester schon und war daher ziemlich skeptisch ihnen gegenüber. Nach wenigen Tagen verpufften sie oft schon wieder ins Nichts und der zuvor so “tolle” Typ interessierte sie nicht mehr. “Meine Güte! Immer musst du mir alles mies machen. Kannst du dich denn gar nicht für mich freuen? Oder bist du immer so miesepetrig?” Er musste sich ein lautes Auflachen verkneifen, da es zum einen seine Schwester noch mehr verärgert hätte und er es sich zum anderen bei seinen Halsschmerzen noch nicht zutraute. Er hielt sich ebenfalls mit Kommentaren zurück, die wohl der Wahrheit entsprachen, aber seiner Schwester nicht gefallen würden, denn leider war sie tatsächlich ein wenig sprunghaft, was ihre Partnerwahl beziehungsweise ihr Interesse an Männern anbelangte. Oder zumindest war es in seiner Erinnerung niemals anders gewesen. “Also ein Miesmacher bin ich auf keinen Fall, klar?”, widersprach er bestimmt. Durfte er denn nicht mehr realistisch denken? Nun schlug aber dennoch seine Neugierde durch und er fuhr seiner Schwester liebevoll lächelnd durchs Haar. “Ich freue mich wirklich für dich. Trefft ihr euch eigentlich irgendwann, du und Patrick? Damit du ihn besser kennen lernen kannst, meine ich.” Sie nickte begeistert und erzählte ihm, dass sie am Wochenende zusammen einen Film anschauen würden. Hanne beglückwünschte sie dazu. Er wollte wirklich, dass seine Schwester endlich einen lieben Freund fand, der sie vor allem glücklich machen konnte. Denn so weit er wusste, war sie entweder abgestellt worden oder sie hatte einfach das Interesse an ihrem Schwarm verloren bevor die Beziehung überhaupt richtig begonnen hatte. Anschließend lenkte Sandra das Gespräch auf Rike. Ihr ging noch immer nicht sein Anruf aus dem Kopf, bei dem er so verzweifelt geklungen hatte. Also erzählte Hanne von seinem Besuch bei ihr und von dem recht zufrieden stellenden Gespräch, das sie geführt hatten. Er erwähnte jedoch auch, dass er sich Rike gegenüber immer unsicherer fühlte. Was durfte oder sollte er ihr überhaupt erzählen? Wie viel von der Wahrheit über seine Gesundheit konnte sie verkraften? Die Mandelvereiterung hatte ihm einmal mehr vor Augen geführt, wie zerbrechlich seine Gesundheit doch war. Weil er wegen der Medikamente in letzter Zeit keine Beschwerden gespürt hatte, war er leichtsinnig geworden. Das rächte sich jetzt natürlich. Es war auch kaum mehr zu leugnen, dass sein Immunsystem immer schwächer wurde und der eigentliche Ausbruch der Krankheit näher rückte. Er war längst nicht mehr so gesund, wie man meinen könnte. Sein Körper verlor immer mehr seine Abwehrkräfte und gab so Viren, Bakterien und vor allem Pilzen, die sonst bei normalem Immunsystem unschädlich waren, die Möglichkeit, sich im Körper auszubreiten und für ihn teilweise tödliche und vor allen Dingen unangenehm schmerzhafte Krankheiten und Infektionen auszulösen. Schnell verbot er sich die Erinnerungen, die ihn überschwemmen wollten. Der Mann, bei dem er sich damals angesteckt hatte, kam ihm wieder in den Sinn. Er hatte offene Stellen auf der Haut gehabt, die teilweise vereitert gewesen waren. Man hatte wohl versucht, die Stellen sauber zu halten, aber es war dennoch geschehen. Er war außerdem noch wesentlich magerer gewesen als Hanne selbst im Moment, hatte eine fahle Haut gehabt. Die Todesursache hatte er nie erfahren, aber er vermutete in letzter Zeit stark, dass er schon bei seinem Besuch eine Blutvergiftung gehabt hatte, die durch eben diese entzündeten und vereiterten Hautstellen ausgelöst worden war. Sandra bemerkte, dass Hanne etwas beschäftigte, ließ ihn jedoch in Frieden. Sie konnte ihm bezüglich Rike wieder keinen Rat geben, schlug aber vor, dass er seine Freundin behutsam an das Thema heranführen sollte, sich vielleicht von seinem Arzt Tipps geben ließ, wie er am besten mit ihr umgehen sollte. Sandra ging schließlich nach dem gemeinsamen Abendessen. Sie umarmte Johannes wie sie es immer tat und wünschte ihm gute Besserung. Er lächelte und verstrubbelte ihr einmal mehr die Haare, aus denen langsam der auffällige Rotton wich. „Dann wünsche ich dir viel Spaß mit Patrick, du kleine Alarmleuchte. Vielleicht stellst du ihn mir mal vor?“ Er zwinkerte und seine Schwester lachte, stimmte ihm zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)