Tanz der Moleküle von Lotos ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Kapitel 1 Johannes saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf seinem Krankenbett. Er sah zur gegenüberliegen­den Wand, die - anders als er es von Krankenhäusern gewohnt war - cremefarben war. Es fiel einem nicht sofort auf, sondern erst, wenn man die Wand eine Weile angestarrt hatte. Nun wandte Hanne endgültig den Blick von der Wand ab und sah stattdessen an sich selbst herunter. Er trug keinen Pyjama mehr sondern Jeans und einen warmen Pulli. Er sollte heute das Krankenhaus verlassen nachdem er hier eine Woche lang das Bett gehütet hatte. Vorsichtig richtete er sich auf und zog seine Knie ein Stückchen weiter zum Körper hin. Einmal mehr fiel ihm auf, dass er in den letzten Monaten stark abgenommen hatte. Besonders seine Hände waren ohne jede Substanz und bestanden nur noch aus Haut und Knochen. Ein bisschen angewidert betrachtete er seinen linken Handrücken, in den die Schwester vergangene Woche eine Kanüle gelegt hatte. Sie hatte einige Male daneben gestochen und so hatte es einen Bluterguss gegeben, der sich nun langsam von blau-violett zu dunkelrot verfärbte. Nächste Woche würde man ihn wahrscheinlich schon nicht mehr sehen. Ihn widerte schon jetzt der Gedanke an, mit dem Bluterguss arbeiten zu gehen, weil ihm die Leute unweigerlich auf die Hände sahen und die Frage, was passiert sei, ebenfalls fallen würde. Er würde sich immer wieder um eine Antwort herumdrücken, weil er seine Krankenhausaufenthalte nicht jedem unter die Nase reiben wollte. Hanne spann seine Gedanken nicht weiter, sondern hob noch einmal seine linke Hand an um auf die Armbanduhr zu sehen. Sie zeigte bereits fünf Minuten vor neun an. Es war Zeit zu Dr. Müllers Sprechzimmer zu gehen. Erst vor zwei Tagen hatte Hanne erfahren, dass er entlassen werden würde. Er hatte sich unheimlich gefreut. Vorsichtig klopfte Hanne an die hellgraue Tür des Zimmers. Nachdem er eine Antwort erhalten hatte, trat er ein. Der junge Arzt mit den hellblonden schütteren Haaren kam schon auf ihn zu und reichte ihm die Hand. “Guten Morgen!”, begrüßte er ihn freundlich. “Guten Morgen!”, sagte auch Hanne und erwiderte den festen Händedruck. “Sie freuen sich sicherlich über die Entlassung. Dann möchte ich Sie auch gar nicht länger aufhalten. Wir müssen nur noch die Kanüle entfernen. Geben Sie mir dann mal eben Ihre Hand?” Hanne lächelte. “Natürlich freue ich mich.” Er zog seinen Ärmel nach hinten und sah dabei zu, wie der Arzt zunächst die Mullbinde löste und anschließend die Pflaster, die die Kanüle am herausrutschen hinderten. Schließlich zog der Arzt behutsam die Nadel heraus. “So. Jetzt ist es schon vorbei.”, meinte der Arzt und tupfte vorsichtig die Einstichstelle ab und wickelte eine Binde um die Hand. “Haben Sie im Moment noch irgendwelche Fragen?” “Na ja, ich hatte in letzter Zeit wieder größere Probleme mit meiner Appetitlosigkeit. Auch das Mittel, das Sie mir vor ein paar Monaten verschrieben haben, bringt nicht wirklich etwas. Es kann einfach nicht sein, dass ich immer mehr abnehme.” “Ja, das ist wirklich ein Problem. Ich könnte Ihnen auch einen homöopathischen Appetitanreger aufschreiben, wenn Sie mit dem bisherigen Mittel nicht zurechtkommen. Wäre das in Ordnung?”, bot der Arzt an. “Ja, sehr gerne.” Hanne lächelte. Die offene Art seines Gegenübers war ihm sympathisch. Es war anders als bei dem älteren Arzt von dem er sich zunächst hatte behandeln lassen. Er war schließlich seit seinem fünften Lebensjahr mit dem HI-Virus infiziert und brauchte somit eine ärztliche Betreuung. Die Infektion hatte damals durch eine Bluttransfusion nach einem für seine Mutter tödlichen Verkehrsunfall stattgefunden. Dr. Müller gab ihm das Rezeptformular mit der Blankounterschrift und einer Haftnotiz mit dem benötigten Präparat für die Mitarbeiterin an der Anmeldung und begleitete Hanne zur Tür. Hanne bedankte sich noch einmal für alles. Er war froh über seine Entscheidung im letzten Sommer den Arzt gewechselt zu haben. Bevor Johannes endgültig die Station verließ, machte er noch einmal Halt an der Anmeldung, um sich das Rezept ausdrucken zu lassen, das er später in der Apotheke abholen würde. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Hanne ging die Treppen hinunter zur Eingangshalle des Krankenhauses. Er sah sich um und hatte schon nach wenigen Sekunden gefunden, was er suchte. Sofort winkte er dem großen dunkelblonden Mann zu. “Kurt!”, rief er und ging auf ihn zu. Der Angesprochene drehte sich um und lächelte. “Hallo Hanne. Musstest du lange warten?” “Überhaupt nicht. Du bist genau richtig.” Hanne drückte Kurt an sich. “Schön. Ich bin unheimlich erleichtert, dass du entlassen wurdest. Wie fühlst du dich?” “Mir geht’s wieder wesentlich besser. Danke übrigens, dass du gekommen bist.” Kurt lächelte erneut. „Freut mich. Du musst dich aber wirklich nicht immer für alles bei mir bedanken.“ Dann legte er eine Hand auf Hannes Rücken und schob ihn so hinaus. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Hanne realisierte mit einem Mal, wie viel er Kurt mittlerweile zu verdanken hatte. Es war nicht nur so, dass er ihn einfach gern hatte. Kurt opferte auch Unmengen an Zeit für ihn. Zum Beispiel hatte er ihn letzte Woche fast jeden Tag im Krankenhaus besucht, ihm zugehört. Auch zu Hause hatte er immer ein offenes Ohr für seine kleinen und großen Probleme. Abgesehen davon war Kurt auch unheimlich geduldig mit ihm. Hanne wusste schon nicht mehr, wie oft er an Kurt bereits seine schlechte Laune ausgelassen hatte oder ihn zu Unrecht angeschrieen und beschuldigt hatte. Kurt hatte ihm bisher wirklich jeden Fehltritt verziehen und den Grund für die Auseinandersetzungen immer bei sich und seinem eigenen Unverständnis oder seinem tölpelhaften Verhalten gesucht. Dabei hatte Hanne meist selbst die Schuld getragen. Hanne hatte Kurt vergangenes Frühjahr kennen gelernt als er ihm die Haare geschnitten hatte. Dabei hatte Hanne erfahren, dass Kurts Mutter ihrem Sohn immer wieder Probleme machte und ihn zum Beispiel auch dazu zwang sich die Haare kurz schneiden zu lassen und ihn alles in allem wie ein Kleinkind behandelte. Jedenfalls hatten sie sich recht gut verstanden und inzwischen hatte sich ein enges Band zwischen ihnen gebildet. Das war jedoch nicht immer so gewesen. Wenn Hanne an seine ersten Wochen mit Kurt zurückdachte, war es wirklich kein einfaches Kennenlernen gewesen. Kurt hatte durch eine herumliegende Tablettenschachtel von seiner HIV-Infektion erfahren, als sie eigentlich ins Kino hatten gehen wollen. Schon zu diesem Zeitpunkt hatte Hanne auf Kurts ernstgemeinte Fragen mit Misstrauen reagiert. Hanne erinnerte sich noch gut daran, dass Kurt ihn nach seinem Zusammenbruch ins Krankenhaus begleitet hatte und ihn regelmäßig besuchen gekommen war. Am Ende hatte sich Kurt während eines heftigen Streits im Krankenhaus – Hanne hatte ihn als Heuchler beschimpft – zu der Dummheit hinreißen lassen, sich über eine Schnittwunde mit Hannes Blut in Kontakt zu bringen. Aus Angst, dass sich nun auch Kurt durch das ausgetauschte Blut mit den Viren infiziert hatte, schleppte Hanne Kurt bald darauf zu einem HIV-Test. Das negative Testergebnis - also die Nicht-Infektion - hatte letztendlich Hannes Vertrauen in Kurt geweckt. Mittlerweile hatte er sich sogar in Kurt verliebt. Hanne hatte zunächst ganz einfach nicht mit Kurts Wesen umgehen können, doch mittlerweile wollte er überhaupt nicht mehr auf dessen Anwesenheit verzichten. Dass Kurt seine Gefühle nicht erwiderte und es wahrscheinlich auch nie tun würde, war Johannes durchaus klar. Schließlich war Kurt mit Lukas zusammen. Auch schon vorher hatte Kurt Hanne einmal gestanden, dass er mit Lukas geschlafen habe. Mit einem Mal war Hanne klar geworden, dass die beiden nun ein Paar waren. Dennoch fühlte er sich weiterhin zu Kurt hingezogen, da dieser ihm einfach den Halt gab, den er in letzter Zeit so sehr benötigte. Mit der Zeit war Hanne immer klarer geworden, dass er vor einigen Jahren einmal mit Lukas einen One-Night-Stand gehabt hatte. Er musste auch immer mehr erkennen, was für einen Riesenfehler er damit Lukas gegenüber begangen hatte. Durch einige Gespräche mit ihm hatte Hanne Lukas gesamte Abneigung zu spüren bekommen. Erst in der letzten Zeit zeigte Lukas die Bereitschaft, überhaupt mit ihm zu sprechen und ihm zuzuhören. Kurz vor seinem jetzigen Krankenhausaufenthalt hatte Lukas ihn sogar besucht und obwohl Hanne wieder keine Gelegenheit für eine Entschuldigung finden konnte, war es doch ein angenehmes Gespräch gewesen, das ihm gezeigt hatte, wie sehr Lukas Kurt liebte. Nun wanderten Hannes Gedanken zu seiner Familie nach Hamburg oder besser gesagt zu seinem Vater und seiner Oma, die noch in Hamburg lebten, wo er aufgewachsen war. Seine jüngere Schwester Sandra lebte mittlerweile ebenfalls in Stuttgart, da sie an der Universität ein Studium begonnen hatte. Hanne genoss es sehr, dass sie regelmäßigen Kontakt zueinander hatten. Letzten Monat noch war er in Hamburg gewesen, weil er seine Großmutter noch einmal sehen wollte, da ihm so langsam die Zeit davonlief, die ihm noch blieb. Dabei war er auch seinem Vater begegnet, der nun scheinbar Interesse daran hatte, mit ihm ins Reine zu kommen. "Nein!" Hanne wollte nicht schon wieder daran denken müssen. Sein Vater hatte schließlich in den ganzen letzten einundzwanzig Jahren seit dem Unfall und dem Tod seiner Mutter kein wirkliches Interesse an ihm gehabt. Stattdessen hatten sie viel aneinander vorbei gelebt und geredet und hatten sich gegenseitig kaum wahrgenommen. Nein, es hatte kaum Konflikte zwischen ihnen gegeben – nur in Bezug auf Hannes Berufswahl waren sie aneinandergeraten, aber auch nur, weil sein Vater ihn gerne in einem sicheren Job gesehen hätte, bei dem man mehr verdiente. Auch beim Thema Sexualität waren einmal die Fetzen geflogen, als sein Vater Hanne eng umschlungen mit seinem ersten Freund auf Hannes Schlafsofa erwischt hatte und er die Szene in den völlig falschen Hals bekommen hatte, obwohl sein Vater schon zuvor oberflächlich von Hannes Homosexualität erfahren und sogar von der Beziehung zu Sven gewusst hatte. Allerdings war es bei diesem Streit immer nur um das Thema Sex im Allgemeinen gegangen und das mit der HIV-Infektion verbundenen Ansteckungsrisiko, nie hatten sie sich wegen Hannes Homosexualität gestritten. Den Besuch, den sein Vater ihm durch einen Brief vor etwa sechs oder acht Wochen angekündigt hatte, hatte er eiskalt abgesagt. Obwohl er am Telefon behauptet hatte, dass es ihm Leid tun würde, war der Satz völlig emotionslos über seine Lippen gekommen. Er hatte behauptet, er habe zu viele Termine, wenn er geschäftlich in Stuttgart zu tun hatte. Hanne war daraufhin aus der Haut gefahren, hatte ihn angeschrieen, hatte ihm gesagt, er würde ihn hassen. Darauf folgte Hannes eigener Besuch in Hamburg und das Zusammentreffen, das wieder in einem Streit geendet war. Nur zwei oder drei Wochen später war sein Vater dann unangemeldet zu Besuch zu ihm gekommen. Hanne war zunächst überrascht gewesen, ihn zu sehen, hatte sich dann doch auf das Gespräch eingelassen, das ihm einmal mehr gezeigt hatte, wie viel Interesse sein Vater plötzlich daran hatte, mit ihm ins Reine zu kommen Noch immer wurde Hanne ganz schlecht, wenn er an das Gespräch zurückdachte und so bemühte er sich, wieder auf andere Gedanken zu kommen. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ “Hanne?” Kurt riss ihn unsanft aus seinen Gedanken. “Hey! Schläfst du etwa? Wir sind da.” Kurt rüttelte an seiner Schulter. Hanne schrak auf und öffnete die Augen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sie geschlossen hatte. Es musste wohl bei den Gedanken an seinen Vater passiert sein. “Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich war nur ein wenig in Gedanken. Wir sind schon da?” Hanne hob verwundert den Kopf und sah das Mehrfamilien­haus vor sich. “Was hab ich dir eben gesagt, Hanne? Und jetzt raus hier.” Kurt lachte und klang kein< bisschen ärgerlich. “Tut mir leid.” Hanne lächelte und umarmte Kurt noch einmal. Er mochte es, wenn Kurt ihn - wie jetzt gerade - sogar noch an sich drückte. Kurt legte eine Hand auf Hannes Rücken und schob ihn so zur Tür. “Beeilen wir uns.”, meinte er. “Es ist ganz schön kalt.” Auch Hanne bemerkte jetzt die Kälte. Er wartete darauf, dass Kurt die Haustür aufgeschlossen hatte und suchte seinen eigenen Schlüsselbund. Er ging zum Treppenhaus und drehte sich auf der ersten Stufe noch einmal um. “Also, Kurt. Vielen Dank, dass du mich hergebracht hast.” Kurt winkte ab. “Das ist kein Problem. Ich mache das wirklich gerne für dich.” Hanne lächelte. Er kannte diese Worte schon von Kurt, wusste allerdings auch, dass sein Verhalten keinesfalls als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten war. Dann nahm er seine Reisetasche wieder auf und stieg die Treppen zum ersten Stock nach oben. Obwohl sie im selben Wohnblock lebten, hatten sie unterschiedliche Wohnungen. Hanne wohnte im ersten Stock. Kurt und Lukas waren zufällig im letzten Frühling in die Wohnung unterhalb von ihm gezogen. Als Hanne eben das Haus betreten hatte, hatte er bereits gesehen, dass sein Briefkasten wieder völlig überfüllt war. Er hatte die Werbeblätter heraushängen sehen. Er stellte seine Tasche in seinen Wohnungsflur und ging noch einmal hinunter, um seine Post zu holen. Tatsächlich war das meiste, was er erhalten hatte, Werbung. Die Blätter, die nicht mehr aktuell waren, warf Hanne gleich in den bereitgestellten Karton für das Altpapier. Auf diese Art hatte er nur noch einen übersichtlichen Stapel aus zwei Werbeblättern und drei anderen Briefen übrig. Er schloss den Briefkasten wieder und schlenderte nach oben. Oben in der Wohnung blätterte er schnell die beiden Werbeblätter durch und kam zum Schluss, dass er nichts davon gebrauchen konnte. Wesentlich interessierter wandte er sich den drei Briefen zu. Es waren zwei Rechnungen und ein normaler Brief, dessen Umschlag sogar von Hand beschriftet worden war. Hanne sah auf die Absenderadresse: der Brief kam wieder von seinem Vater. Hanne hatte gute Lust, den Umschlag sofort ungelesen in den Mülleimer zu werfen, entschied sich dann aber doch aus Neugierde dagegen und öffnete ihn. Er ließ sich auf die Couch sinken und holte einige alte Photos und einen Brief heraus. Seufzend faltete er das Blatt Papier auf und begann zu lesen: „Hallo Hanne, das sind noch ein paar alte Fotos von dir. Vielleicht möchtest du sie noch aufbewahren, ich nämlich nicht. Ich finde, dass nur das Jetzt zählt, nicht das Vergangene. Ich möchte dir damit sagen, dass mir alles leid tut, was ich vor Jahren falsch gemacht habe und ich will, dass du mir meine Fehler nicht mehr nachträgst, falls ich das überhaupt von dir verlangen darf. Ich merke immer mehr, wie sehr ich dir unseren Kontakt aufzwingen muss damit er bestehen bleibt und wie widerwillig du das alles über dich ergehen lässt. Ich mache mir wirklich Gedanken um dich, Johannes. ….“ Hanne hielt inne und ließ das Blatt Papier sinken. Leise seufzte er und legte sein Gesicht in die Hände. Sein Vater hatte also bemerkt, wie schwer ihm der Kontakt zu ihm fiel, wie viel Mühe und Überwindung es ihn kostete. Spürte er auch sein Unbehagen? Seine innere Angst vor dem Kontakt und der Gefahr, wieder enttäuscht zu werden? „Vielleicht solltest du noch einmal selbst darüber nachdenken, ob du überhaupt unseren Kontakt möchtest. Mir kommt es eher so vor, als sei dir das alles unangenehm. Vielleicht hängt es auch mit deiner Gesundheit zusammen? Auch in dem Zusammenhang würde es mich freuen, wenn wir einfach noch einmal reden könnten. Ich habe es immer sehr gerne gehabt, wenn wir telefoniert haben. Oder auch deine Besuche. Bitte denk noch einmal über diese Dinge nach. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du dich wieder meldest. Viele Grüße, Dein Vater.“ Hanne saß reglos mit dem Blatt Papier in der Hand da, dann sank er in sich zusammen. Ihm war mit einem Mal wieder schrecklich schlecht. Schon wieder fühlte er sich furchtbar unter Druck gesetzt. Jetzt lag es wohl an ihm selbst, ob er die Beziehung zu seinem Vater weiter pflegen wollte und sie somit gerettet wurde, oder ob sie vollends zerbrach. Natürlich wollte er Kontakt zu seinem Vater haben. In sei­nem jetzigen Zustand benötigte er jede greifbare Hand, an der er sich festhalten konnte. Er brauchte ganz einfach jemanden, auf den er sich stützen konnte. Kurt konnte und wollte er nicht mehr für sich beanspru­chen. Gerade durch Lukas' Besuch war Hanne klar geworden, wie sehr Lukas Kurt liebte, sodass er sich vorgenommen hatte, die beiden möglichst in Ruhe zu lassen und sein Leben wieder selbst zu regeln. Natürlich würde er nach wie vor Kurts Hilfe annehmen, allerdings würde er von sich aus nicht öfter als unbedingt notwendig auf ihn zu gehen. Hanne wollte unter allen Umständen weitere Auseinandersetzungen mit Lukas vermeiden. Ein wenig entkräftet schloss Hanne die Augen. Er saß in der Klemme, das spürt er. Aber war das wirklich so? Er sollte sich nicht selbst derartigem Stress aussetzen. Es war schwer für ihn, natürlich, aber war es nicht auch für seinen Vater eine Zerreißprobe? Bestimmt war es so. Wieso gab er jetzt nicht einfach auf, sondern bemühte sich so intensiv um ihn? Bisher hatten sie doch auch kaum Berührungspunkte gehabt und sie hatten es beide kaum vermisst. Wusste sein Vater nicht, dass es sinnlos war? Wieso ließ er die Sache nicht einfach auf sich beruhen? Wieso kümmerte sein Sohn ihn plötzlich so? Es war vergleichbar mit Kurt, der auch nie aufgab, bis Hanne ihm sagte, dass es okay sei. Lag seinem Vater etwa plötzlich etwas an ihm? Scheinbar war es jetzt wirklich an Hanne selbst, ob es je wieder eine Familie für ihn geben würde. Wieso konnte er nicht über seinen Schatten springen und sich öffnen? Gab es vielleicht noch eine andere Lösung? Er musste wieder an den Besuch seines Vaters von vor ein paar Wochen denken. Wie gut sie sich zunächst verstanden hatten und was die vielen folgenden Telefonate für ein Unbehagen in ihm ausgelöst hatten. Er wehrte sich einfach mit Händen und Füßen dagegen, auf seinen Vater einzugehen und ihn an sich heranzu­lassen. War er damals nicht von Hamburg weggezogen, um gerade auch einen Abstand zu ihm zu gewinnen? Natürlich war er aus mehreren Gründen von Hamburg weggezogen. Es war nicht nur das eher unterkühlte Verhältnis zu seinem Vater gewesen, sondern auch die Meinungsverschiedenheiten wegen seiner Berufswahl und vor allem aber sein Wunsch, die Vergangenheit und den Tod seiner Mutter hinter sich zu lassen und einfach auch innerlich zur Ruhe zu kommen. Er hatte die Distanz von mehreren hundert Kilometern mit voller Absicht aufgebaut, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Wieso funktionierte jetzt plötzlich diese Strategie nicht mehr, wo sie ihm die vergangenen Jahre doch so gute Dienste geleistet hatte? ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Allmählich beruhigte sich Johannes wieder. Die Aufregung und die Mauer in seinem Kopf von eben erschienen ihm plötzlich wieder irreal. Ein wenig orientierungslos sah er sich um. Plötzlich wurde er sich bewusst, dass es im Moment einfach keinen Sinn machte, auf seinen Vater einzugehen. Zwar benötigte er den Kontakt, allerdings hatte er im Moment weder die Nerven noch die Kraft dafür. Er sollte zuerst wieder gesund werden, bevor er sich mit seinem Vater auseinandersetzte. Im Grunde genommen hatte Hanne inzwischen auch aufgehört, seinem Vater wegen seiner Kindheit Vorwürfe zu machen, da auch dieses Stochern rein gar nichts brachte außer neuen Wunden. Nur noch die kaum nachvollziehbare Angst vor dem Kontakt selbst war geblieben. Ihm fielen auch die Photos aus dem Briefumschlag wieder ein, die er ebenfalls vor sich abgelegt hatte. Die meisten zeigten ihn als Kind mit seiner Mutter. Bilder aus einer Zeit, in der alles noch okay war und die nichts und niemand mehr zurückholen konnte. Er fühlte, dass er einen Schlussstrich unter zumindest dieses Kapitel ziehen musste. Er konnte nicht ewig der Vergangenheit hinterherlaufen und sich dadurch irgendwann vollends in den Wahnsinn treiben. Hanne suchte seine Zigaretten und fischte das Feuerzeug aus der Schachtel. Er schlurfte ins Badezimmer, ließ sich auf dem Rand der Badewanne nieder und zündete eines der Bilder an. Sofort fing der Himmel über seiner Mutter Feuer und schon bald griffen die Flammen auch auf ihr Gesicht und den kleinen rothaarigen Jungen mit der Schultüte im Arm neben ihr über. Zufrieden lächelte Hanne und ließ die Fotografie in die Wanne fallen. So machte er es mit allen Bildern mit Ausnahme von jenem, das nur seine Mutter alleine zeigte. Die junge Frau saß auf einer Schaukel im Schnee und hatte einen dicken Babybauch. Wenn man nach dem Datum auf der Rückseite des Bildes – Dezember 1978 - gehen konnte, war es von kurz vor seiner Geburt. Das Kind in ihrem Bauch war also er selbst. Hanne legte das Photo behutsam zur Seite und spülte die Asche- und Papierreste der verbrannten Bilder den Abfluss hinab. Anschließend ging er zurück ins Wohnzimmer, öffnete das Fenster und zündete sich eine Zigarette an, um seinen Kopf leer zu bekommen. Das Kapitel Familie gehörte für Hanne nun wirklich der Vergangenheit an. Er hatte einen Schlussstrich gezogen. Auf seinen Vater würde er zugehen, sobald er wieder eher die Kraft dafür hatte und sich gut genug fühlte. Hanne drückte den Zigarettenstummel aus und sah auf. Draußen fiel der Schnee in dicken Flocken vom Himmel. Es war Winter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)