Tanz der Moleküle von Lotos ================================================================================ Kapitel 8: ----------- Kapitel 8 Hannes Lächeln war wie ausgelöscht, als Kurts Name gefallen war. Er wollte sich wieder schlafend stellen, als der junge Mann den Raum betrat, um nicht mit ihm reden zu müssen. Kurt hatte jedoch schon bemerkt, dass er nicht mehr schlief. Er kam zu ihm und fragte, ob er noch Kopfschmerzen habe. “Nein. Im Moment nicht.”, sagte er und wandte sein Gesicht der Wand zu, damit keiner der beiden seinen Ärger sah. Er wollte ihn nicht zeigen wegen Rike. Sie hatte nichts damit zu tun, dass Kurt gestern einfach einen Schritt zu weit gegangen war und er ihm das noch immer nachtrug. Wie er schon befürchtet hatte, ließ Kurt sich allerdings nicht auf diese Art von Konfliktvermeidung ein. Er wollte es ausdiskutieren - vor Rike. “Du nimmst mir den Anruf bei Rike immer noch krumm, oder?”, fragte er nach. Hanne drehte sich wieder auf den Rücken, setzte sich auf und schlug die Bettdecke zur Seite. Dann wandte er sich Rike zu. “Bleibst du kurz hier? Ich möchte gerne mit ihm alleine reden.” Rike war verdutzt, nickte jedoch dann. Hanne packte Kurts Unterarm und ging mit ihm zielstrebig zur Zimmertür. Rike sah ihnen nur hinterher. Sie wunderte sich, was auf einmal mit Hanne los war. Sie kannte ihn gar nicht so bestimmt. Außerdem schien er Mühe zu haben, nicht einfach zu schreien. War es etwa das, was Kurt vorhin auf dem Flur mit „nicht gut auf mich zu sprechen sein“ gemeint hatte? ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Draußen ging Hanne entschlossen den Flur entlang bis er Kurt in eine Nische zog. Dort standen Grünpflanzen und auch einige Stühle. “Also, was ist?”, wollte Hanne nun wissen und ließ auch endlich Kurts Unterarm los. “Hier sind wir ungestört, also raus damit.” Kurt lachte auf. “Du klingst ja gerade so, als hätte ich ein Schwerverbrechen dir gegenüber begangen. Ich könnte dich sehr gut dasselbe fragen: Was ist dein Problem? Ist es nur, weil ich Rike gesagt hab, dass du im Krankenhaus liegst? Was ist dabei? Ich hab dir lange Erklärungen erspart und jetzt hast du sogar noch die Möglichkeit, mit ihr zu reden. Ich kann euch sehr gerne allein lassen. Du musst nur etwas sagen, Hanne.” “Tu nicht immer so, als wärst du im Recht. Du kapierst es einfach nicht, ja? Du hast ihr weh getan. Und vor allem hast du dich absolut nicht in meine Angelegenheiten einzumischen!” Johannes hatte mittlerweile die Grenze einer normalen Lautstärke überschritten. Jetzt packte Kurt ihn an den Schultern, versuchte aber weiterhin ruhig mit ihm zu reden. “Ich denke, dass du mich nicht ganz verstanden hast. Es musste sein. Oder hättest du Lust gehabt, Rike deine Abwesenheit zu erklären? Hättest du gewollt, dass sie es von jemand anderem erfährt? Und dass ich ihr weh getan habe, ist auch ein dummer Vorwurf von dir. Ich kann nichts dafür, dass sie eben so reagiert hat.” “Du hättest es dir denken können!”, erwiderte Hanne. Er war mittlerweile so wütend, dass er wieder in sein unreifes zickiges Verhalten verfiel. “Tatsächlich? Wessen Freundin oder Was-auch-immer ist sie denn? Ich wollte es dir eigentlich nicht ins Gesicht sagen, aber es muss wohl sein: bei euch hapert es ganz einfach an der Kommunikation. Du machst den Mund nicht auf und sie… sie scheint eher auf dein Signal zu warten. Und jetzt, wo sie hier ist, lässt du an mir deine Selbstverachtung aus, anstatt dich mit ihr zu beschäftigen. Ich glaub, ich gehe wieder. Dir ist doch sowieso nicht zu helfen.” Damit drehte sich Kurt um und verschwand tatsächlich. Er ging langsam, um Hanne die Chance zu geben ihm zu folgen. Tatsächlich ging dieser nach wenigen Sekunden neben ihm, drehte dann jedoch in sein Zimmer ab. Scheinbar hatte er kapiert, was Kurt meinte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Rike fuhr herum als die Tür wieder geöffnet wurde. Sie hatte am Fenster gestanden und auf den Hinterhof der Klinik hinab gesehen. Hanne war hereingekommen und setzte sich nun auf sein Bett. Er rückte so weit nach hinten, dass er mit dem Rücken an der Wand lehnte. Erschöpft schloss er die Augen, öffnete sie jedoch nach einigen Atemzügen wieder. “Alles okay, Johannes?”, wollte Rike vorsichtig wissen. “Ja.” Er lächelte. “Ich möchte noch mal kurz mit dir reden. Setz dich doch zu mir.” Sie tat es, zog jedoch die Schuhe vorher aus. Sie rückte ebenso weit nach hinten wie Hanne es getan hatte. Ein bisschen zögerlich wandte sie ihm ihr Gesicht zu, sodass es nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt war. “Ich hab mich heute irrsinnig gefreut, dass du hergekommen bist. Es ist schön, dass du dich so schnell beruhigt hast und dass du dich so um mich kümmerst.” Jetzt strich er über die weiße Bettdecke. “Was ich dir sagen wollte, ist, dass…” Hanne drückte sich eine Hand gegen die Stirn. Er schien fieberhaft nach Worten zu suchen. “Mist. Jetzt weiß ich nicht mehr, wie ich mich ausdrücken wollte.” Rike lächelte. “Du musst mir gar nichts sagen. Auch Kurt gegenüber brauchst du nichts mehr zu erklären. Gestern war ich absolut überfordert. Jetzt, wo Kurt mit mir gesprochen hat und ich eine Nacht darüber geschlafen habe, ist mir klar geworden, dass die Krankheit eben da ist. Du kommst ja schon immer damit zurecht. Das ist absolut kein Problem. Du musst dich nicht verantworten. Ich bin Kurt sogar dankbar für seinen Anruf. Gestern hab ich mich einfach in Dinge hinein gesteigert, die gar nicht da sind. Er hat mich wachgerüttelt und vorgeschlagen, dass wir dich gemeinsam besuchen. Ich bin wirklich froh, dass ich hergekommen bin.” Jetzt schob sie Hanne näher zu sich. Vorsichtig drückte sie ihre Lippen auf seine. “Ich mag dich doch.” Hanne wäre am liebsten aufgesprungen und hätte sie weggeschickt, doch nun merkte er, dass sie das Gesagte vollkommen ernst gemeint hatte. “Ich mag dich auch.”, erwiderte er. Dann legte er sich mit einem leichten Seufzen wieder zur Seite und kugelte sich zusammen. Diesmal war es aber entspannter als sonst. Er fühlte sich gut, vielleicht auch ein bisschen geborgen und sicher. Rike rückte ein wenig zur Seite damit er mehr Platz hatte. Dann stand sie jedoch ganz auf und legte die Decke über ihn. Anschließend strich sie ihm über die Haare. “Ich gehe dann wieder, okay? Du möchtest sicher wieder schlafen. Ich komme morgen wieder vorbei.” Er nickte. Als sie sich umdrehte, fügte Hanne hinzu: “Kannst du Kurt vielleicht ausrichten, dass ich ihm sehr dankbar bin? Und kannst du ihm auch sagen, dass mir der Streit Leid tut? Ich hab wirklich Mist gebaut.” Sie bejahte, weil sie merkte, dass ihm die Entschuldigung wirklich etwas bedeutete und nicht nur eine Art Standardfloskel für ihn war. Dann verabschiedete sie sich endgültig von ihm. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Rike erblickte Kurt sofort, als sie das Gebäude verließ. Er stand mit dem Rücken zu ihr an dem Geländer, das den Vorplatz der Klinik vom Abhang in Richtung der Stadt abgrenzte. Bläuliche Rauchschwaden seiner Zigarette stiegen auf. Sie stellte sich zu ihm hin. Obwohl er sie sofort bemerkte, ignorierte er sie vollkommen. Sie bemerkte es und nahm ihm den Glimmstängel ab, drückte ihn am Geländer aus. “Was soll das?”, fuhr er sie verärgert an. “Du sollst mir zuhören. Hanne hat mich gebeten, dir etwas auszurichten. Willst du’s hören?”, erwiderte sie im selben ungehaltenen Ton wie er. Sie verabscheute es, wenn jemand rauchte. Kurt schnaubte verächtlich, nickte jedoch trotzdem. “Er wollte nur, dass ich mich in seinem Namen für den Streit bei dir entschuldige. Außerdem wollte er sich bei dir bedanken. Ich hatte übrigens das Gefühl, dass er es ziemlich ernst gemeint hat. Du solltest es dir also gut überlegen.” Ihr Gesprächspartner wurde mit einem Mal hellhörig. Er konnte sich nur mit Mühe ein weiteres unnatürliches Auflachen verkneifen. Hanne war undurchschaubar für ihn geworden. So viele extreme Stimmungswechsel und Launen hatte er bisher noch nie an den Tag gelegt. Vorher war zumindest immer ein Auslöser für seinen Sinneswandel ersichtlich gewesen, doch mittlerweile war er im ersten Moment fuchsteufelswild und konnte im nächsten Augenblick bereits mit dem nettesten Lächeln aufwarten. Es war einfach schlimm für Kurt. Er und Johannes waren trotz aller Launenhaftigkeit von Hanne in den letzten Monaten seit dem Sommer zu Freunden geworden. Kurt versuchte seine Verletztheit und seine Unsicherheit durch verbitterten Sarkasmus zu vertuschen, aber es ging nicht. Die wahren Gefühle drückten einfach immer stärker durch und ließen ihn verletzbar werden. “Okay”, sagte Kurt, der sich schon wieder im Griff hatte. “Die Entschuldigung ist angenommen.” Dann jedoch sank er ein wenig zusammen und massierte sich die Stirn. Der kalte Nachtwind zerrte an seinen langen Haaren. Immer mehr verkehrte sich die selbstsichere Maske ins Gegenteil. Hanne hatte sich unheimlich verändert, sodass er kaum mehr zu erkennen war. Was war nur geschehen? Er war nicht mehr der, den Kurt vor einem dreiviertel Jahr kennen gelernt hatte. Auch Rike war Kurts Veränderung nicht entgangen. “Ist etwas passiert, Kurt?”, fragte sie vorsichtig. “Fällt dir denn nicht auf, dass Hanne immer komplizierter wird?”, fragte er dagegen. Verdutzt sah sie zu ihm auf. Er hatte sich mittlerweile wieder zu voller Größe aufgerichtet. “Nein. Ich hab ihn so kennen gelernt, wie er ist. Gut, manchmal ist er vielleicht ein wenig launisch, aber das stört mich nicht. Andererseits muss ich aber zugeben, dass er mir da, als ihr beiden vorhin verschwunden seid, fremd vorkam.” “Genau solche winzigen Situationen meine ich.”, erwiderte er seufzend. “Als ich Hanne letztes Frühjahr kennen gelernt hab, kam er mir auch geduldig und sehr nett vor. Mit der Zeit hab ich aber recht viel vom ihm gesehen. Sämtliche Launen und Stimmungen. Todtraurig und depressiv über Angst bis hin zu überschwänglicher Freude und purem Leichtsinn. Wir haben eine sehr enge Beziehung zueinander, musst du wissen. Wir sind befreundet, aber selbst das war kompliziert. Ich glaube, Hanne ist einfach so wegen der Krankheit, die er hat. Er verschließt sich oft den Leuten gegenüber. Er vertraut kaum jemandem. Selbst mir gegenüber ist er skeptisch.” Kurt hielt inne. Was erzählte er hier eigentlich? Rike bemerkte einmal mehr, wie wenig sie von Hanne wusste. Aber das, was Kurt da beschrieben hatte, hörte sich schrecklich an. Sie konnte sich Hanne in keiner dieser Situationen vorstellen. Er war ihr immer so ruhig und ausgeglichen vorgekommen. Aber war er wirklich so? Plötzlich erschien Rike wieder die Situation im Café vor Augen, als sie ihn auf seine dünnen Arme angesprochen und gefragt hatte, ob er krank sei. Die Frage war gewiss nicht ernst gemeint gewesen. Es war wieder so eine Detailsituation, in der ihr Hanne fremd erschienen war. “Ich verstehe dich.“, meinte sie dann. „Glaubst du eigentlich, dass er wieder gesund wird?” “Ich weiß es nicht.”, gab Kurt zu. “Ich kenne mich nicht aus.” Er entzündete sich seine nächste Zigarette und nahm einen tiefen Zug. Sie nickte wieder, ignorierte den blauen Dunst, der sie einhüllte. “Meinst du, dass es ihm etwas bringt, wenn ich ihn jeden Tag besuche?” Kurt lächelte und hielt seine Zigarette so, dass der Qualm nicht zu sehr in Rikes Richtung geweht wurde. “Da bin ich mir sogar sehr sicher. Er wird sich riesig freuen. Johannes hat sogar einmal selbst gesagt, dass er nicht alleine sein mag. Du musst wissen, dass er eine Heidenangst davor hat, einfach von allen vergessen oder fallen gelassen zu werden. Vor ein paar Wochen oder Monaten hat er mal eine bestimmte Sorte Hautkrebs bei sich entdeckt, die nur bei Immunschwäche auftritt. Ich bin zufällig bei ihm vorbeigekommen und dann sind wir auch auf seine Entdeckung zu sprechen gekommen. Er war nichts weiter gewesen als ein zitterndes Nervenbündel. Und da hat er mir erzählt, dass er eben Angst vor dem Alleinsein hat. Ich hab ihm damals versprochen, dass ich ihn regelmäßig besuchen werde, wenn er krank ist. Deswegen bin ich oft hier im Krankenhaus.” “Ich werde dann auch da sein, wenn es ihm hilft.”, sagte sie entschlossen. Daraufhin herrschte Stille zwischen den beiden. Rike sah währenddessen immer wieder auf ihre Armbanduhr. “Wollen wir gemeinsam zum Bus gehen?”, fragte sie. Kurt nickte und trat seinen Zigarettenstummel aus. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Lukas wartete bereits auf ihn als er nach Hause kam. Leicht besorgt registrierte Kurt, dass Lukas’ Atem wieder nach Erbrochenem und Kamillentee roch. Er setzte schon dazu an, ihn wieder ins Bett zu schicken, doch Lukas weigerte sich. Stattdessen reichte er Kurt einen Zettel. “Das ist die Nummer von Hannes Handy. Er wollte mit dir reden.”, erklärte er. Kurt schluckte. “Danke.”, sagte er leise, konnte Lukas allerdings nicht in die Augen schauen, weil ansonsten auch noch der letzte Rest Selbstkontrolle verschwunden wäre und ihm seine Verletztheit endgültig die Tränen in die Augen getrieben hätte. “Sag mal, hast du dich wieder übergeben?”, wollte er jetzt besorgt wissen und strich über Lukas Schulter. “Du solltest dich unbedingt noch schonen. Vielleicht solltest du dich wirklich noch mal von deinem Arzt anschauen lassen. Deine Magengrippe war schon heftig.” “Heute Abend war mir wieder ein wenig übel. Ich denke, ich lege mich wieder hin. Morgen werden wir sehen, wie es ist, okay? Und jetzt rufst du Hanne an. Er klang so, als sei es sehr wichtig.” Kurt begleitete Lukas noch ins Schlafzimmer, deckte ihn fürsorglich zu und löschte das Licht. Erst dann nahm er sich das schnurlose Telefon und tippte die Nummer ein, die Lukas auf dem Zettel notiert hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)