Berliner Nächte von Jeschi ================================================================================ Prolog: Das Verlies ------------------- Wütend knalle ich die Türe hinter mir zu. Draußen im Flur kann ich hören, wie Sascha noch irgendetwas murmelt, ehe er in seinem Zimmer verschwindet und seine Türe dabei deutlich leiser schließt. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es ihn gar nicht zu interessieren scheint, ob ich nun auf ihn sauer bin oder nicht. Es scheint ihn auch nicht zu stören, dass ich damit gedroht habe auszuziehen, wenn er sein Verhalten nicht ändert. Vielleicht würde es ihn sogar freuen, wenn ich endlich gehen würde, weil er dann so viel Chaos verbreiten könnte, wie nur möglich. Mürrisch lasse ich mich auf mein Bett fallen und blicke an die Decke, an welcher der Putz schon zu bröckeln beginnt. Wirklich heimisch fühle ich mich in diesem engen dunklen Raum wirklich nicht. Es gibt nicht mal genug Platz für einen Kleiderschrank, weshalb ich meine Klamotten nun schon seit einem Jahr in mehreren Kartons stapeln muss, die unordentlich an der Wand stehen. Zwischen Schreibtisch und Bett ist ein Abstand von genau drei Zentimetern – ich habe nachgemessen – sodass ich mir schon mehrmals nachts den Kopf am Schreibtisch gestoßen habe, wenn ich mich auf die Seite drehen wollte. Und das Fenster ist ein kleines, schmales Loch kurz unter der Decke, welches gerade so viel Licht durchlässt, dass man weiß, ob es Tag oder Nach ist. Als ich damals kurz vor Semesterbeginn dringend eine Wohnung gesucht habe, kam mir dieses Kellerverlies gerade recht und der Platz wurde von mir als ausreichend eingestuft. Zudem machte Sascha einen recht netten Eindruck und ich dachte mir, dass es sicher eine coole Zeit werden würde, die ich hier mit ihm in der WG verbringen würde. Leider habe ich schon ein paar Tage nach Einzug festgestellt, dass mein winziges Zimmer einfach viel zu klein für all mein Zeug ist – und so viel Zeuge habe ich gar nicht mit nach Berlin genommen – und dass Sascha nicht gerade das ist, was man einen guten Mitbewohner nennen würde. Am Abend vor meinem ersten Tag an der Universität bin ich Recht früh ins Bett gegangen, konnte aber die halbe Nacht nicht schlafen, weil Sascha eine Tussi flachgelegt hat, die so laut geschrieen hat, dass man sicher am Nordpol noch hören konnte, was hier passierte. Des Weiteren ist er ein ziemlich unordentlicher Kerl, der sich nie um den Abwasch kümmert und nie das Bad putzt. Als ich mir die Wohnung angeschaut habe, war hier alles sauber gewesen, aber ich habe bald merken müssen, dass er wohl extra für die Wohnungsbesichtung geputzt und seitdem wohl nie wieder einen Putzlappen in der Hand gehabt hatte. Egal wie oft ich ihm schon gesagt habe, dass ich nicht sein Haussklave bin, der ihm alles hinter her räumt und ständig sauber macht, hat sich an seinem Verhalten nicht wirklich etwas geändert. Er ist tagsüber an der Uni jobbt danach und geht fast jeden Abend feiern. Das einzige, was ihn interessiert, ist Mädchen flachzulegen und sich die Gehirnzellen weg zu saufen. Obwohl ich sicher auch kein Engel bin und auch ab und an mal Party mache, habe ich dennoch nicht vor, in einer versifften Bude irgendwelche Tussis zu knallen. Fast täglich streiten wir mittlerweile darüber, dass er doch auch mal sein Geschirr aufspülen könnte und ich keine Lust habe, immer irgendwelche halb verschimmelten Pizzareste in den Müll zu werfen, die tagelang auf einem Teller vor sich hin vegetiert haben. Auch was das Bad anbelangt, finden wir fast immer einen anderen Streitpunkt. Wenn er sich rasiert, spült er zum Beispiel nie seine Stoppeln im Waschbecken runter. Wenn er mit Putzen dran ist, kann man die Uhr danach stellen, dass er es eben nicht macht und man am Abend noch die Wasserspritzer, Haare und Kosmetikartikelreste vorfindet, die wir am Morgen dort hinterlassen haben. Und was die Toilette angeht, ist es besser, einfach zu schweigen… Wenn man Sascha so sieht, dann hat man nicht das Gefühl, dass er ein unordentlicher, schmuddeliger Kerl ist. Im Gegenteil, er verlässt nur total gestriegelt das Haus und sieht aus, wie ein typischer Sonnyboy, der massenhaft Mädchenherzen bricht. Leider ist das aber auch schon alles und während es ihn gar nicht stört, dass hier so ein Dreck ist, ist es mir peinlich, mal ein Mädchen mit nach Hause zu bringen oder Kumpels zu mir einzuladen. Vor zwei Tagen ist mir deshalb die Hutschnur geplatzt und ich habe ihn mächtig angeschrieen, er solle endlich einmal etwas tun, weil ich sonst ausziehen werde. Lieder hat ihn das gar nicht interessiert. Er hat nur mit den Schulter gezuckt, ein ‚Hm’ von sich gegeben und ist in seinem Zimmer verschwunden. Ein paar Minuten später war er dann schon auf den Weg zur nächsten großen Party. Seitdem ist hier drinnen echt dicke Luft und ich habe das Gefühl, er geht mir aus dem Weg, damit ich ihm ja nicht sagen kann, dass er irgendetwas tun soll. Ich komme mir langsam vor, als wäre ich seine Mutter, weil ich ihm ständig hinterher räume und ihm sage, was er zu tun hat. Und ich glaube, ich nerve ihn auch so, wie es seine Mutter diesbezüglich wohl immer getan hat. Das ich ausziehen möchte, war jedoch keine leere Drohung, auch wenn er das wohl noch nicht so ganz verstanden hat. Tatsächlich habe ich in dem Jahr, in dem ich nun schon hier wohne, recht häufig geäußert, ich würde ausziehen, wenn er sein Verhalten nicht ändert. Bisher habe ich diesen Plan jedoch aus verschiedensten Gründen immer verworfen. Ein Problem ist dabei das Geld, denn ich kann mir unmöglich eine Wohnung für mich alleine leisten. Ich brauche also wohl eher eine WG. Weil wir hier in der Nähe der Uni natürlich eine ideale Lage haben, die bei Studenten heiß begehrt ist, ist es ziemlich schwer, eine geeignete Wohnung oder WG zu finden, die dieser hier gleicht. Und dann kommt noch hinzu, dass ich immer noch zu sozial bin, um Sascha einfach im Stich zu lassen. Ich bilde mir ein, dass hier niemand mehr einziehen würde, würde ich nun gehen und dass Sascha dann die Wohnung alleine nicht halten kann. Und so genervt, wie ich momentan von ihm bin, möchte ich trotzdem nicht der Grund sein, dass er ein riesiges Problem bekommt. Als ich aber höre, wie er im nächsten Moment schon wieder die Wohnung verlässt, ohne auch nur eine der Aufgaben erledigt zu haben, die ich ihm aufgetragen habe, verbanne ich meine soziale Ader in die dunkelste Ecke meine Gehirns. Am liebsten würde ich schon wieder ausflippen und herumschreien, aber da er leider gerade gegangen ist, würde es niemand hören, weswegen ich es auch lassen kann. Deshalb stehe ich nur ebenfalls wieder auf, schnappe mir meine Jacke und meine Umhängetasche und mache mich auf den Weg zur Uni. Wenig später sitze ich mit einem dampfenden Becher Kaffee in der noch recht leeren Cafeteria und blättere in einer Zeitung, die ich auf dem Weg zur Uni am nächstbesten Kiosk gekauft habe. Obwohl es von Wohnungsanzeigen nur so wimmelt, finde ich nichts, was auch nur im Entferntesten auf meine Bedürfnisse zugeschnitten ist. „Na, suchst du schon wieder nach Wohnung,“ begrüßt mich in dem Moment Jonas und stellt seinen Kaffeebecher neben den meinen, ehe er sich auf dem Stuhl gegenüber von mir niederlässt. Wir haben uns im ersten Semester kennen gelernt und sofort gut verstanden. Wir studieren beide Mathe und dadurch, dass wir uns gegenseitig gut ergänzen und uns somit Dinge gegenseitig erklären können, läuft es für uns beide bisher auch richtig gut. Darüber, dass wir wegen der Uni viel zusammen gelernt haben, haben wir uns auch angefreundet und meistens ist es Jonas, mit dem ich abends oder am Wochenende fortgehe. Er und Leon sind momentan meine einzigen richtigen Freunde in Berlin, obwohl ich eigentlich mit allen gut klar komme und mit jedem Spaß haben kann. Trotzdem sind es immer nur die Beiden, die sich mein Gejammer und meine Sorgen bezüglich Sascha anhören dürfen – und auch die einzigen, die es interessiert. Leon ist Jonas Mitbewohner und studiert im vierten Semester Germanistik. Er ist ein richtig netter Kerl, der auf dem Campus so ziemlich jeden kennt. Er stößt wenig später zu uns, als ich schon dabei bin, Jonas von dem Streit am heutigen Morgen zu erzählen. „Ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Ich würde gerne in den Semesterferien umziehen, damit ich den Stress nicht habe, wenn die Uni wieder anfängt,“ jammere ich und rühre mit einem kleinen Plastikstäbchen in meinem Kaffee herum. „Ist jetzt sicher, dass du ausziehen willst?“, erkundigt sich Leon, der von dem vorherigen Teil des Gesprächs nicht viel mitbekommen hat. Ich nicke. „Er ist heute schon wieder gegangen, ohne etwas zu machen und ich habe langsam die Schnauze voll. Es müsste schon ein Wunder geschehen, dass er heute Abend endlich mal seine alten Kaffeetassen ausgespült hat.“ „Ich kann mich ja noch mal umhören, ob ich nicht noch jemanden kenne, der einen Platz für dich frei hat,“ bietet sich Leon an und ich stimme dankbar zu. „Ist mir mittlerweile auch fast egal, wo ich unterkomme – Hauptsache, ich muss nicht mehr mit so einem Chaoten zusammen wohnen,“ murre ich und schlürfe meinen Kaffee, während ich mich in der Cafeteria umsehe, die sich nach und nach mit Studenten füllt, die vor ihrer ersten Lesung noch frühstücken wollen. „Ich muss dann los, Leute,“ verabschiedet sich Leon derweil und steht auf. Wir sehen ihm nach, als er seinen Plastikbecher in einen der Mülleimer wirft und dann Richtung seines Hörsaals verschwindet. „Wir sollten auch langsam los,“ meint Jonas und steht langsam auf, wartet, dass ich ihm folge. Am liebsten würde ich jetzt nach Hause gehen und mich in meinem Bett verkriechen. Ich habe keine Lust, mich jetzt mit mathematischen Formeln auseinander zusetzten, weil mein Kopf so voll mit Gedanken bezüglich meinem Problem mit Sascha und der Suche nach Wohnungen ist, dass ich mich eh nicht konzentrieren kann. Dennoch folge ich Jonas in Gedanken versunken zu unserer Lesung. Den Nachmittag habe ich zunächst in der Universität und danach in einem Café verbracht und so ist es nun schon dunkel, als ich mich dazu überwinden kann, in mein Verließ zurück zu kehren. Als ich die Wohnungstüre öffne, empfängt mich der altbekannte muffige Geruch, der von der Küche herrührt und den ich die meiste Zeit zu ignorieren versuche. Dieser Gestank lässt mich bereits wissen, dass auch heute wieder nichts in der Küche gemacht worden ist und als ich mir im Kühlschrank einen Jogurt hole, sehe ich mich in meiner Vermutung bestätigt. Noch immer stapeln sich schmutzige Tassen, Teller und Töpfe auf der kleinen Anrichte und gammeln vor sich hin. Weil ich keine Lust habe, ihm schon wieder hinterher zu räumen, lasse ich einfach alles so, wie er es verlassen hat und gehe mit dem Jogurt geradewegs in mein Zimmer. Doch noch bevor ich mich in den Schutz meiner kleinen Höhle zurückziehen kann, läuft mir Sascha vor die Füße. „Hey,“ begrüßt er mich ganz unbekümmert, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen. „Hm,“ brumme ich nur und versuche mich an ihm vorbei zu schieben, um in mein Zimmer zu gelangen, aber er hält mich auf. „Hör mal, du willst ja eh ausziehen, oder?“, fragt er und klingt dabei ziemlich geschäftig, so dass ich alarmiert aufblicke. Ehe ich antworten kann, spricht er schon weiter: „Ich habe einem Kumpel versprochen, er kann dein Zimmer haben. Also wäre es nett, wenn du so schnell wie möglich abhauen könntest. Er hat nämlich schon seine Wohnung gekündigt.“ Mir klappt der Mund auf und ich weiß gar nicht, was ich auf so viel Dreistigkeit noch groß antworten soll. Ehe ich mich sammeln kann, ist er auch schon zur Wohnung draußen und alles was mir bleibt, ist, ihm den Becher in meiner Hand mit einem wütenden Aufschrei nachzuwerfen. Dieser knallt gegen die Haustür, bespritzt den gesamten Flur mit Jogurt und bleibt dann auf dem Boden liegen. Ich blicke auf die Sauerei und atme schwer aus. „Scheiße.“ Wenig später knie ich vor der Türe auf dem Boden und wische meine Jogurtreste von den Fließen. Ich habe das Gefühl, noch nie einen so beschissenen Tag wie heute erlebt zu haben und bin immer noch unglaublich wütend auf Sascha. In einem Anflug von Hass habe ich vorhin sogar all seine Essensreste auf seinem Bett verteilt. Nun fühle ich mich zwar – entgegen meiner Erwartungen – nicht besser, aber immerhin hat er jetzt auch mal was von seinem Schmutz. Als ich den Lappen auswasche, schimpfe ich mich selbst einen Idioten, es nicht besser gewusst zu haben. Während ich mir Gedanken gemacht habe, ob ich ihn damit nicht in die Bredouille bringe, wenn ich jetzt einfach die Wohnung wechsle, hat er nun gar keine Skrupel, mich rauszuschmeißen, um für seinen beschissenen Kumpel Platz zu schaffen. Aber eigentlich bin ich ja auch selbst Schuld. Ich hätte nie vom Ausziehen sprechen sollen, sondern hätte ihn einfach mit den Tatsachen konfrontieren müssen, wenn ich was anderes gefunden hätte. Nun stehe ich mit einem Fuß auf der Straße und kann mich nur auf meine Kündigungsfrist berufen, wenn ich überhaupt eine habe. Denn da ich eigentlich keine Rechte genieße, weil nur Sascha den Mietvertrag für die Wohnung unterschrieben hat und ich bloß als Mitbewohner eingetragen bin, ist es fraglich, ob ich groß Ansprüche gegen ihn erheben kann. Und genauso genommen nützt mir all das eh nur wenig, wenn ich bis dahin keine Wohnung gefunden habe. Darüber hinaus, dass ich auch eigentlich keine Lust habe, ihn noch wegen der scheiß Wohnung hier zu verklagen, in der ich eh nicht länger bleiben möchte. Während ich gerade das letzte Mal gedankenversunken über den Boden wische, klingelt mein Handy und ich taste unbeholfen auf der Oberseite der Kommode neben mir herum. Als ich gerade glaube, extra aufstehen zu müssen, fühle ich das Handy doch unter meinen Finger und reiße es zu mir heran. Ich denke schon, es ist Sascha und hoffe es sogar, weil ich ihn dann noch einmal richtig anschreien könnte, aber stattdessen ist es Leon. „Ja?“, melde ich mich und er begrüßt mich mit einem fröhlichen ‚Hey’. „Was machst du gerade?“, fragt er und ich verziehe den Mund, weil ich gerade eigentlich keine Lust auf Konversation habe. Da ich aber nicht unhöflich sein möchte, antworte ich trotzdem: „Ich wische den Flur.“ „Coole Sache,“ meint er und klingt dabei auch noch so, als wäre es tatsächlich eine ‚coole Sache’. Ich sage nichts dazu und warte darauf, dass er mir den Grund für seinen Anruf erzählt. „Hör mal, ich glaube, ich habe eine Wohnung für dich gefunden. Die ganze Sache hat allerdings einen Haken.“ Ich ziehe die Brauen hoch und meine Stimmung hellt sich fast sekündlich auf. „Der Haken ist mir scheiß egal, ich nehme sie!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)