Die Legende von Shikon No Yosei von Ami_Mercury (Das Schicksal einer Elementarmagierin) ================================================================================ Kapitel 12: Zwischenspiel 05: Verantwortungen für Seiketsu ---------------------------------------------------------- Von verstrichenen und genutzten Chancen Seiketsu No Akari betrat den Linnok-Hof. Jamei hatte sie zu sich gerufen. Für gewöhnlich gingen sich die beiden Mönchinnen eigentlich eher aus dem Weg – es herrschte allgemein ein schwieriges Verhältnis zwischen Verteidigern und Leitung des Klosters. Darum fragte sich Seiketsu No Akari natürlich, was Jamei wohl ausgerechnet jetzt von ihr wollte. Jamei stand vor dem gigantischen Tempelwächter, der die beiden wichtigsten spirituellen Orte Cantha´s symbolisch miteinander verband, und begrüßte sie: „Seid gegrüßt … Seiketsu.“ „Meisterin Jamei.“, erwiderte Seiketsu No Akari mit einem höflichen Nicken, „Was kann ich für Euch tun?“ Sie drehte sich zu ihr um, während sie antwortete: „Es geht nicht darum, was Ihr tun sollt … sondern um etwas, das ich tun muss … schon längst hätte tun müssen. Wie Ihr wisst, bin ich zum Tod von Meister Togo seine Assistentin gewesen … darum lag es nahe, dass ich seine Nachfolge antrat. Niemand hat sich darüber gewundert … nicht einmal Shikon No Yosei. Aber ich bin nicht diejenige, die er sich auf diesem Posten vorgestellt hat … Nein, es war sein Wunsch, dass Ihr, Seiketsu No Akari, sein Amt fortführt.“ „A-Aber … ich bin doch Verteidigerin!“, widersprach Seiketsu No Akari und schüttelte ungläubig den Kopf, „Endlich kann ich mit Shiko und Ohtah zusammen für unsere Heimat kämpfen! Ich bin so lange fort gewesen … Entschuldigt, Meisterin Jamei, darüber muss ich erst einmal nachdenken.“ Sie wandte sich um zum Gehen, doch Jamei hielt sie auf: „Nehmt Euch die Zeit, die Ihr braucht … Solltet Ihr irgendwann soweit sein, werde ich widerspruchslos zurücktreten.“ Tränen stiegen in Seiketsu No Akari´s Augen auf und sie rannte davon, aus dem Kloster hinaus ins Sunqua-Tal. Dort blieb sie atemlos gegen die Außenwand gelehnt stehen. Was sollte sie bloß denken? Natürlich fühlte sie sich geehrt, dass Meister Togo ihr diese große Verantwortung hatte übertragen wollen … auf der anderen Seite war sie nach Tyria gegangen, um mit Shikon No Yosei für Cantha kämpfen zu können. Sie wollte nicht, dass die Verteidiger auseinanderbrachen – so wie damals fast der Fall gewesen wäre, bevor Ohtah Ryutaiyo die Elementarmagierin um ihre Hand gebeten hatte. Die Mönchin sank auf die Wiese. Verzweiflung und Erschöpfung beherrschten ihre Gedanken. Shikon No Yosei würde sie sicher ermutigen das Amt zu übernehmen … Aber Seiketsu No Akari wusste einfach nicht, ob sie das überhaupt wollte – sie gehörte doch an die Seite der anderen beiden lebenden Legenden! So in ihren Gedanken versunken bemerkte sie nicht, wie sich ihr ein Fremder näherte. Ein Tyrianer mit kurzem blonden Haar und stahlblauen Augen, der auf der Suche nach ihr gewesen war. „Als ich das letzte Mal so gedankenverloren war, wurde ich entführt und habe ein von dir angeführtes Rettungskommando in eine ziemliche gefährliche Lage gebracht.“, sprach der Mönch Seiketsu No Akari an, deren Kopf sofort hochfuhr. Ihre Augen weiteten sich, ihr Mund wurde trocken, sodass sie Mühe hatten seinen Namen auszusprechen: „Klerus …“ „Hallo, Seiketsu. Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, nicht wahr?“, erwiderte er und stellte sich ihr genau gegenüber, „König Jalis und du … ihr seid einfach so verschwunden, während Jabari und ich auf einem Auftrag waren. Wir haben nie wieder etwas von euch gehört … nur diese vage Nachricht und die verlassene Feste Donnerkopf. Später verbreitete sich in Tyria die Kunde, die Deldrimor seien in den Tiefen verschwunden. Ich … ich dachte so lange, du seist tot.“ Seiketsu No Akari schluckte schwer. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Nach dem Kampf gegen den Großen Zerstörer und seine Kinder war sie froh gewesen, wieder mit Shikon No Yosei vereint zu sein und in ihre Heimat zurückkehren zu können, dass sie Klerus und Jabari, die König Jalis nicht begleitet hatten, vollkommen vergessen hatte. Und mit der Zeit hatte sie es schändlicherweise immer mehr verdrängt … Klerus, der ihre Gefühlsregung genau beobachtet hatte, fuhr indessen fort: „Bis ich vor ein paar Wochen auf einer großen Versammlung jemandem begegnet bin, der mir von drei lebenden Legenden erzählte … Helden von Cantha, die unglaubliches vollbracht hätten. Eine wunderschöne Elementarmagierin, ein überaus geschickte Assassine und … eine begabte Mönchin, die einst in Tyria studiert hatte. Ich dachte, ich träume, als Bruder Mhenlo mir deinen Namen nannte.“ „Und dann bist du extra hierher gekommen?“, flüsterte sie ungläubig. Ein freudloses Lachen verließ seine Kehle und er meinte: „Du verstehst mich wirklich nicht, Seiketsu. Ich musste es selbst … mit eigenen Augen sehen, dass es dir gut geht. Ich konnte es einfach nicht glauben. Nach all den Jahren …“ Die Braunhaarige musste den Blick abwenden, sie konnte ihm nicht länger in die Augen sehen – während sie ihn restlos aus ihren Gedanken verbannt hatte, hatte er sich Sorgen um sie gemacht und getrauert. Seiketsu No Akari war aufgesprungen, bevor sie überhaupt wusste, was sie tun wollte. Sie gab einfach dem Impuls nach und rannte davon. Alles in ihr zog sich vor Schmerz zusammen, als Klerus ihr nachrief. Nein, nein, nein, sie durfte ihn nicht an sich heranlassen! Nicht noch mehr Entscheidungen, die sie treffen sollte, ohne es zu wollen. Sie war glücklich gewesen – als Verteidigerin von Cantha, ohne Leitung des Klosters und ohne Wiedersehen mit Klerus … zumindest bislang. Shikon No Yosei hielt Seiketsu No Akari ganz fest. Sie war ins Dorf Tsumei gestürmt und hatte sich ihrer Seelen-Schwester in die Arme geworfen. Der Grund für ihre Tränen kannte die Elementarmagierin allerdings noch nicht. Sie war noch nicht in der Lage gewesen es ihr zu erzählen. „So habe ich dich noch nie gesehen …“, meinte Shikon No Yosei leise, „Was ist denn nur passiert?“ Die Mönchin richtete sich halb auf, wischte sich über das Gesicht und antwortete schniefend: „Zu viel … Ach, Shiko, erst hat mir Jamei die Leitung des Klosters angeboten und dann-“ „Moment! Jamei hat – was bitte?“, unterbrach die Rothaarige sie, wobei ihr der Mund regelrecht offenstand. Seiketsu No Akari holte noch einmal tief Luft, bevor sie ihr alles über Meister Togos Wunsch erzählte. Anschließend berichtete sie ihr von der bewegenden Begegnung mit Klerus. „Klerus?“, wiederholte die Elementarmagierin und verstand endlich, „Du hast ihn damals abgewiesen, weil du zurück nach Shing Jea wolltest. Obwohl du mehr für ihn übrig hattest, als du dir eingestehen wolltest … Und, was hast du jetzt vor?“ Sie antwortete nicht. Wenn sie es nur wüsste … Die Ausgangssituation hatte sich schließlich nicht geändert – Shing Jea war das Wichtigste in ihrem Leben und sie konnte ihn doch nicht bitten hierzubleiben ohne Garantie, dass ihre Gefühle für ihn ausreichten … Die nächsten zwei Tage verbrachte Seiketsu No Akari hinter verschlossener Tür in ihrem gemeinsamen Haus. Um nicht völlig wahnsinnig zu werden, kümmerte sie sich um Yoso No Koshi und Ryukii No Mai, während Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo einen Auftrag auf der Panjiang-Halbinsel erledigten. Ein seliges Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie den Zwillingen beim Schlafen zusah. Seit ihrer Geburt war das Dorf so voller Leben. Kinder waren einfach wundervoll! Und Kinder brauchten eine Zukunft … Sie wusste nur zu gut, wie viele Waisen das Kloster von Shing Jea beherbergte. Es war mehr als nur ein Ausbildungsort – es war vielmehr eine Zuflucht. Eine Zuflucht, über die jemand die Verantwortung übernehmen musste! „Verantwortung …“, murmelte Seiketsu No Akari vor sich hin, „Ich darf vor der Verantwortung nicht immer wieder davonlaufen. Ich sollte mich ihr stellen … Ich muss es. Für Meister Togo´s Vertrauen. Für ihre Heimat Shing Jea. Und für all jene, denen das Kloster eine Hoffnung war!“ Sie sagte ihrer Mutter Bescheid, damit sie nach den Zwillingen sah. Denn Seiketsu No Akari hatte etwas zu erledigen! Der Wind frischte auf. Das grüne Gras wiegte sich zum Rhythmus der Natur. Und mitten in dieser friedlichen Atmosphäre des Sunqua-Tals hörte Seiketsu No Akari auf ihrem Weg zum Kloster plötzlich ein Geräusch, das so gar nicht dazu passte – den Schrei eines Kleinkindes. Sofort ging sie darauf zu und entdeckte unter einem der Bäume ein weißes Bündel liegen. Die Mönchin schlug sich die Hände vor den Mund. Ein Säugling lag darin eingewickelt. Weinend und ganz allein. Sie nahm das Kind auf den Arm, schaukelte es beruhigend und sagte zu ihm: „Hab´ keine Angst … Jetzt wird alles wieder gut.“ Das Weinen des Mädchens verstummte. Sie suchte mit den Augen nach ihr und lachte. Alle Trauer, aller Hunger war vergessen. Da waren nur noch die warme Aura und das freundliche Gesicht, die sie einhüllten. In Seiketsu No Akari erwachte beim Klang dieses Lachens etwas völlig Neues … Sie liebte die Zwillinge als Kinder von Shikon No Yosei, doch zum ersten Mal konnte sie sich vorstellen, selbst ein Kind zu haben … Es war nicht nur, dass dieses Baby offenbar niemanden hatte, der sich um sie kümmern konnte. Da war noch mehr – wahre Muttergefühle beschlagnahmten Seiketsu No Akari´s Herz und sie drückte das Mädchen an ihre Brust. „Toki …“, kam es über Lippen, ohne dass sie groß darüber nachdachte, „Toki No Kibo.“ Plötzlich passte alles zusammen. Sie wollte Hoffnung und eine Zukunft schenken. Sie hatte keine Angst mehr – sie konnte sämtliche Verantwortungen schultern. Doch es gab außer der Leitung des Klosters noch eine Angelegenheit, um die sie sich kümmern musste … Und dieser jemand, der damit in Verbindung stand, trat zu genau diesem Zeitpunkt durch das Tor des Klosters und beobachtete, wie Seiketsu No Akari das Kind an sich drückte. Nun glaubte er zu begreifen, warum sie nie Kontakt nach Tyria aufgenommen hatte … Hier in Shing Jea führte sie ein glückliches Leben. Und er störte dabei nur. Doch wenigstens wollte er sich diesmal von ihr verabschieden. Seiketsu No Akari, die sein Lebenslicht näherkommen spürte, hauchte: „Klerus … ich-“ „Ich weiß.“, meinte er und hob die Hand, um sie vom Weitersprechen anzuhalten, „Du hast ein Kind … Und wirst die Leiterin des Klosters sein. Ich kann dich nicht zwingen, meine Gefühle zu erwidern, ich will es auch gar nicht, niemals, weder damals noch heute. Ich wollte dich nur wiedersehen … wissen, dass es dir gut geht. Aber … weißt du, was ich mir dennoch wünsche? Dass wir uns irgendwann wieder begegnen, in den Nebeln oder gar in einem anderen Leben … und ich dann eine echte Chance bei dir bekomme. Es tut mir leid … vergiss´ einfach, was ich gesagt habe, Seiketsu. Leb´ wohl … und pass´ auf dich … auf euch auf.“ Damit wandte Klerus sich ab und es ward das letzte Mal, dass Seiketsu No Akari ihn sah. Würde man sie später einmal fragen, warum sie ihm nicht nachgerufen hatte, sie hätte keine Antwort darauf. Ob es an Toki No Kibo lag oder an der Verantwortung für das Kloster, wusste sie nicht. Nur eines … sie wollte ihn nicht noch einmal so verletzen. Vielleicht war dies sogar der Grund, warum sie geschwiegen hatte … Doch tief in ihrem Herzen wünschte sie sich dasselbe wie Klerus. Ob in den Nebeln oder einem anderen Leben, irgendwann würden sie sich wiedersehen und dann würden sie vielleicht doch noch gemeinsam glücklich werden! Mit dieser Entschlossenheit tritt Seiketsu No Akari die Verantwortung als Leiterin des Klosters von Shing Jea an. Gleichzeitig bleibt sie ein Mitglied der Verteidiger von Cantha und der drei lebenden Legenden. Was aus ihrem Wunsch wird, den sie mit Klerus teilt und selbst vor Shikon No Yosei verborgen hält, kann nur die Zukunft zeigen … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)