Die Legende von Shikon No Yosei von Ami_Mercury (Das Schicksal einer Elementarmagierin) ================================================================================ Kapitel 2: Erzählung 01: Das Schicksal eines Assassinen ------------------------------------------------------- Segen oder Fluch Kaiser Kisu unterstanden drei Männer, die loyaler nicht hätten sein können. Ihnen oblagen verschiedene Zuständigkeiten und jeder seiner Wünsche war ihnen buchstäblich Befehl. Als Stimme des Kaisers sorgte Koe dafür, dass die Worte Kisu´s ins Volk getragen wurden. Te, die Hand des Kaisers, erledigte Aufgaben, welche der Herrscher nicht selbst ausführen konnte. Die Klinge des Kaisers zu sein bedeutete, sich jedem Feind Cantha´s entgegenzustellen und Ken hätte sein Leben gegeben, um die Bürger des Kaiserreiches zu beschützen. Darum nahm er jeden Einsatz ernst, so harmlos er zu Beginn auch scheinen mochte oder es aus Sicht anderer nur um ein paar Bauern ging. Besonders seit die Aktivitäten der Am Fah und der Jadebruderschaft gestiegen waren, gab es immer mehr zu tun. Ken setzte mehr Wachen für Patrouillen ein und ordnete häufigere Kontrollen der gefährlichen Bezirke an. An den meisten Tagen führte er sie persönlich an. Wie heute zum Beispiel. „Hauptmann, es sieht alles ruhig aus.“, meinte einer der Wächter. Ken nickte und entgegnete: „Und das ist genau der Grund, warum wir noch wachsamer sein sollten. Es ist zu ruhig … Vergesst nicht, diese Verbrecher lauern in den Schatten. Ihr dürft euch nie zu sicher sein, sonst überfallen und töten sie euch in wenigen Sekunden!“ Sein Untergebener salutierte ergeben. Niemand wagte es der Klinge des Kaisers offen zu widersprechen, auch wenn ein Großteil der Wachen diese Aufträge für Verschwendung hielten. Nur wenige Augenblicke später hallten grässliche Schreie durch die Straßen Kaineng´s. Ken und seine Männer rannten, so schnell sie konnten mit gezückten Waffen zum Ort des Geschehens. Eine Gruppe Assassinen aus der Gilde der Am Fah hatte eine Handvoll canthanischer Bauern umzingelt – kein unbekanntes Bild in dieser Zeit; sie nutzten die Armut der Menschen aus, um sie als neue Mitglieder zu werben. „Ihr bekommt uns nicht!“, rief ein junges Mädchen, das ihr Haar in zwei, kurzen Zöpfen trug. Ihre Reaktion überraschte Ken. Normalerweise verhielten sich die Bauern still und waren viel zu besorgt um ihr Leben, als dass sie die Am Fah herausgefordert hätten. Doch ließ ihn das nicht in seinem Handeln zögern. Er eröffnete den Angriff und seine Männer schlossen zu ihm auf. Nur ein Assassine konnte ihnen entkommen. „Geht es Euch gut?“, fragte er das Mädchen, welches sich zur Wehr gesetzt hatte. Sie lächelte und antwortete: „Dank Eurem schnellen Eingreifen. Ihr habt unser Leben gerettet.“ „Ich glaube, diese Mistkerle hätten sich ganz schön anstrengen müssen, um gegen Euch zu bestehen.“, erklärte Ken anerkennend, „Darf ich Euch nach Eurem Namen fragen?“ Die schöne Canthanerin verbeugte sich leicht, während sie erwiderte: „Man nennt mich Chuntao … Wer Ihr seid,weiß ich natürlich. Es ist mir eine Ehre, die Klinge des Kaisers kennenlernen, die stets sogar für die ärmsten Bewohner dieses Landes kämpft. Ihr seid so etwas, wie ein Volksheld bei uns.“ „Seid versichert, dass dies nicht meine Absicht ist … Es geht mir lediglich darum, den Menschen Cantha´s ein möglichst sicheres Leben zu bieten.“, widersprach Ken ihr, wobei er sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen konnte. Von diesem Tage an suchte Ken, wann immer es ihm möglich war, Chuntao´s Gegenwart auf. Er wusste, ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Kaisers durfte er sicher keiner Frau nähern. Doch zum ersten Mal in seinem Leben war ihm etwas wichtiger, als seine Loyalität gegenüber Kisu – er hatte sich verliebt. Es war Nacht. Weit nach Mitternacht. Die Straßen von Kaineng lagen im Dunkeln. Kaum ein Geräusch war zu vernehmen, außer den hastigen Schritten einer jungen Frau, die durch die Stadt schlich. Sie kannte die Gefahr, welcher sie sich aussetzte, doch noch gab es kein Anzeichen der Am Fah oder der Jadebruderschaft. In einem Bauernviertel machte Chuntao Halt. Sie drückte das weiße Bündel näher an ihre Brust. Dann legte sie es auf die Türschwelle eines der kleinen Häuser. Sie wusste nicht, welche Familie dort lebte, aber sie hoffte nur das Beste für ihn. „Verzeih´ deiner Mutter bitte. Ich liebe dich, mein Sohn … Trotzdem muss ich dich verstecken. Niemand darf erfahren, wessen Kind du in Wirklichkeit bist. Nicht einmal dein Vater … Es würde ihn nur in Schwierigkeiten bringen. Und dich erst recht. Hier bist du hoffentlich in Sicherheit!“, flüsterte sie dem Säugling zu und küsste ihn auf die Stirn, „Leb´ wohl … Ohtah.“ Chuntao warf ihm einen letzten, traurigen Blick zu, bevor sie um die nächste Ecke verschwand. Nur wenige Augenblicke später war ihr schmerzerfüllter Schrei zu hören, gefolgt von einem höhnischen Lachen zweier Männer, die sich aus dem Schatten lösten. Einer von ihnen hielt den blutbeschmierten Dolch in Händen und fragte: „Was meinst du? Sollen wir ihm Gnade gewähren … und ihn zu seiner Mutter in die Nebel schicken?“ „Nein.“, widersprach der andere, während er das Kind abschätzend musterte, „Wir nehmen ihn mit in unsere geliebte Gilde … Irgendwann wird er selbst entscheiden, ob dieses Geschenk ein Segen oder ein Fluch ist. Und sein Name … Wie hat ihn dieses Weib gleich noch genannt? >Ohtah< … Ja, Ohtah Ryutaiyo.“ Sein Kumpane blieb misstrauisch: „Aber unser Anführer? Glaubst du er ist damit einverstanden?“ „Ich nehme ihn in meine Obhut und trage die Verantwortung für ihn. Solange er es noch nicht selbst kann …“, entschied er und hob das Päckchen aus Leinentüchern beinahe zärtlich vom Boden auf. In den folgenden sechs Jahren schloss Ohtah Ryutaiyo seine Grundausbildung bei den besten Lehrmeistern der Am Fah ab. Sein Adoptivvater Rien überwachte seinen Unterricht akribisch – besonders seit er zum Anführer der Gilde aufgestiegen war, denn in ihm war der Plan gekeimt aus dem Jungen eine Art Geheimwaffe zu machen, welche den Krieg mit der Jadebruderschaft ein für alle Mal beenden und ihnen die Macht über Cantha sichern sollte. Für Ohtah Ryutaiyo stand erst einmal die Entscheidung an, welchen Weg er beschreiten wollte. Die Wahl seiner Klasse bestimmte sein weiteres Leben. Er stand vor Rien, der im übrigen ein Mönch war, und hielt den Blick ehrfürchtig gesenkt. Er hatte bereits sehr früh gelernt, dass es ihm besser erging, wenn er sich unterwürfig zeigte, als wenn er frech den Anweisungen seines Mentors trotzte. „Ohtah … mein Sohn. Heute ist der Tag der Entscheidung gekommen. Es wird sich zeigen, ob du den Am Fah den nötigen Wert bringst, den man sich von dir erhofft. Darum möchte ich nun hören, wie du dich entschieden hast … Willst du in die Gilde aufgenommen und als offizielles Mitglied betrachtet werden?“, fragte ihn sein Mentor betont. Ohtah Ryutaiyo hob den Blick und antwortete mit einer Entschlossenheit, die weit jenseits seines Alters lag: „Ja, Vater! Ich will der Gilde mein Leben widmen.“ „Deine Antwort macht mich stolz! Welche Waffe und welchen Weg hast du für dich gewählt?“, fuhr sein Mentor fort. Er zog seine beiden Dolche aus dem Gürtel und erwiderte: „Meine Dolche sind meine besten Freunden geworden; sie haben mich noch nie im Stich gelassen und ich möchte ihnen auch in Zukunft mein Vertrauen schenken … Darum habe ich den Weg des Assassinen für mich gewählt.“ Sein Mentor verbeugte sich knapp vor ihm und sagte: „Dann stell´ dich jetzt zum Kampf … Und natürlich wirst du gegen eines unserer Mitglieder kämpfen. Gehst du siegreich aus diesem Zusammentreffen hervor, bist du ein Am Fah. Solltest du allerdings verlieren – und somit Schande über dich bringen – wirst du noch im selben Augenblick durch die Waffen deines Gegners den Tod finden. Hast du das verstanden?“ „Jawohl!“, rief Ohtah Ryutaiyo und packte seine Dolche fester. Keine Sekunde später erschien sein Gegner via Schattenschritt. Der junge Am Fah war tief beeindruckt – diese Kunst gehörte zu den Hauptgründen, warum er sich für den Weg als Assassine entschieden hatte. Währenddessen bezog sein Gegenüber Stellung, doch Ohtah Ryutaiyo führte den ersten Angriff. Mit einem lauten Klirren trafen sich die vier Klingen. Sie wirbelten auseinander, taxierten sich und stürmten erneut aufeinander zu. Wieder und wieder verhakten sich die Dolche ineinander; obwohl beide ihr Bestes gaben, schaffte es keiner die Oberhand zu erlangen. Als der andere sich nach einem weiteren Schlag zurückzog, nutzte Ohtah Ryutaiyo die Gelegenheit, um zu seinem Adoptivvater zu sehen. Er hatte ihn aufgenommen, sich um ihn gekümmert, ihm ein Zuhause gegeben. Und nun erwartete er von ihm, dass er sich als würdig erwies. „Ich darf nicht verlieren!“, presste Ohtah Ryutaiyo zwischen den Zähnen hervor und spannte seine Muskeln an. Flüchtige Schatten umgaben ihn. Schneller als für das menschliche Auge sichtbar, bewegte er sich auf seinen Gegner zu, führte einen Leithandangriff aus und schlug ihm anschließend mit einem gezielten Rückhandschlag die Dolche aus den Fingern. Zum Schluss rammte Ohtah Ryutaiyo dem feindlichen Assassinen noch den Dolchknauf in de Magengegend, sodass dieser bewusstlos zusammenklappte. „Ich habe gewonnen.“, stellte er zufrieden fest. Endlich hatte er den ersten Schritt geschafft – er war kein Kind mehr. Ab sofort gehörte er den Am Fah an und schon bald würde seine Ausbildung zum Assassinen beginnen. Dann könnte er wirklich nützlich für die Gilde sein und Rien stolz machen. Seinem Mentor dagegen blieb die Luft im Hals stecken. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass Ohtah Ryutaiyo seinen Gegner so schnell besiegen würde … immerhin hatte ihm ein in Ungnade gefallener, aber voll ausgebildeter Meuchelmörder gegenüber gestanden. Er wusste, sein Schützling verfügte über großes Potenzial, doch sein Talent musste noch mehr gefördert werden. Es reichte nicht ihn einfach nur auszubilden – seinem Sohn fehlte die »moralische« Überzeugung der Gilde. Jeder andere hätte einen tödlichen Schlag nachgesetzt, Ohtah Ryutaiyo dagegen hatte nicht einmal darüber nachgedacht, ihn zu töten. Dann lächelte der Anführer der Am Fah. Es war noch genügend Zeit – mit Ohtah Ryutaiyo hatten sie die perfekte Waffe entdeckt. Ein Junge, der sich vollkommen nach ihren Vorstellungen formen ließ. Seit seiner Geburt war er darauf vorbereitet worden, zu ihnen zu gehören. Jetzt musste seine Grausamkeit geweckt werden. Am besten indem er sie selbst zu spüren bekam. Schluss mit dieser verdammten Ehrlichkeit! Ohtah Ryutaiyo´s Ausbildung zum Assassinen der Am Fah näherte sich seinem Höhepunkt entgegen. In den vergangen vier Jahren hatten ihm seine verschiedenen Ausbilder keine Gnade gewährt – Rien hatte natürlich dafür gesorgt, dass er nur von den Besten der Gilde lernte. Sie trieben ihn zu immer größeren Leistungen an und bestrafen ihn beim kleinsten Fehltritt äußert hart – ebenfalls auf Befehl des Anführers. Während dieser Zeit veränderte sich Ohtah Ryutaiyo´s Gefühlswelt. Sein Herz verfiel nach und nach der Finsternis … sie schlich sich in seine Gedanken – genauso wie sein Adoptivvater es seit jenem Tag geplant hatte. Schon bald würde aus seinem Sohn die Waffe werden, die er sich wünschte. An Disziplin und Willen fehlte es ihm dafür nicht; Ohtah Ryutaiyo begann noch vor Sonnenaufgang mit seinem Training. Gegen Mittag an diesem Tag wurde er von seinen Lehrmeistern gerufen. „Ohtah, mein Sohn, seit gut zehn Jahren lebst du hier im Versteck der Am Fah. Doch du bist immer noch kein vollwertiges Mitglied unserer geliebten Gilde … dies soll sich nun ändern. Du musst deine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Heute Nacht. Ich erwarte, dass du ihn zu meiner vollsten Zufriedenheit ausführen wirst. Hast du mich verstanden, Ohtah?“, erklärte sein Mentor. Ohtah Ryutaiyo nickte ergeben und erwiderte: „Jawohl, Meister!“ Der geschickte Assassine schlich durch die Straßen Kaineng´s. Er verließ sich vollends auf sein Gespür, um sein Ziel zu erreichen. Plötzlich stand er vor einem großen, luxuriösen Anwesen – das Haus der vier Minister des Himmelsministeriums. Leise begab er sich auf dessen Rückseite. Dort kletterte er die Fassade hinauf und suchte nach dem Feuerminister. Das letzte Zimmer, im obersten Stockwerk gehörte ihm. Ohtah Ryutaiyo zog seinen Dolch und stieß ihn zwischen das Fenster und die Wand. Dann bewegte er den Dolch auf und nieder. Mit einem Mal sprang es geräuschlos auf, sodass er unerkannt hineingleiten konnte und bewegte sich wie ein lebendiger Schatten auf den Feuerminister zu. Es war einfach nicht zu leugnen, trotz seiner Jugend und Unerfahrenheit war Ohtah Ryutaiyo bereits jetzt ein ausgezeichneter Assassine. Die Jahre bei den Am Fah hatten sich gelohnt. Bisher hatte er allerdings seine Gegner nur außer Gefecht gesetzt. Heute Nacht sollte sich das ändern. Sein Auftrag bestand darin den Feuerminister zu töten … Warum sollte er ihn auch am Leben lassen? Er besaß Macht. Macht, die Kaineng´s Bewohnern helfen könnte. Doch die Stadt verkam immer mehr. Es musste etwas unternommen werden! Und seine Gilde wollte sich einzige für Cantha einsetzen, den Bewohnern ein besseres Leben ermöglichen. Der Minister hatte es nicht anders verdient! Ein kleiner Stoß mitten in sein Herz bedeutete für Ohtah Ryutaiyo zu einem vollwertigen Mitglied der Am Fah zu werden und wer weiß, vielleicht würde das neue Mitglied des Ministeriums seine Macht besser einsetzten. Ohtah Ryutaiyo´s Dolch blitzte im Licht des Mondes auf, als er ihn ohne Laut niederfahren ließ; damit war sein Auftrag ausgeführt. Ohtah Ryutaiyo kehrte ins Versteck zurück. Sein Mentor erwartete ihn im großen Saal; zu beiden Seiten des Weges waren Am Fah aufgestellt. Er fühlte sich sofort an eine Ehrengarde erinnert und lächelte. Sie alle würden Zeuge seiner Aufnahme in die Gilde der Am Fah werden. „Ich verlange einen Bericht von dir, Ohtah.“, sagte Rien angespannt. Er legte den blutverschmierten Dolch vor seinen Adoptivvater auf den Boden und antwortete: „Vor Euch liegt der Dolch, mit dem ich den Feuerministers in die Nebel geschickt habe. An ihm klebt sein Herzblut, Meister.“ „Ich bin sehr stolz auf dich, mein Sohn. Komm´ zu mir …“, erwiderte der Anführer der Am Fah und schloss ihn in die Arme, „Ich wusste von Anfang an, dass du geschickt bist, aber du hast meine kühnsten Vorstellungen noch übertroffen … Ein solches Talent, wie jenes, welches du besitzt, kann ein Segen und ein Fluch sein. Du hast dir unser Vertrauen verdient. Ich ernenne dich hiermit zu einem vollwertigen Mitglied der Am Fah Gilde! Erhebe dich … Ohtah Ryutaiyo!“ Das Gesicht seines Mentors strahlte vor Glück. Ohtah Ryutaiyo erwiderte seinen Blick. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er für seinen Mentor viel mehr empfand, als er bisher gedacht hatte. Für ihn war er nicht nur sein Mentor, sondern wirklich sein Vater. Ohtah Ryutaiyo war glücklich. Sein Leben als Am Fah gab ihm einen Sinn. Auch wenn er in der Gilde so etwas wie einen Sonderstatus einnahm, hatte er hier zum ersten Mal das Gefühl von Familie. Er, der beste Assassine unter ihnen, war der einzige, der sich sein Quartier selbst hatte wählen dürfen. Es lag abseits und viel höher als die anderen Zimmer der großteils unterirdischen Gildenhalle – darum besaß nur dieser Raum ein kleines Fenster. Normalerweise mieden die Am Fah Helligkeit so gut es ging und hielten sich im Verborgenen, doch in Ohtah Ryutaiyo liebte die Sehnsucht nach dem Licht … Er kannte die Sonnenbahn, das Wechseln des Mondes und den unzähligen Sternen gab er eigene Namen. Vielleicht lag diese Verbundenheit ja an seinem Namen – auf jeden Fall war er kein gewöhnlicher Am Fah. Auch sein Adoptivvater hatte das erkannt: „Mein Sohn … dir steht eine große Zukunft in unsrer Gilde bevor. Du darfst nie vergessen, du bist ein wirklich außergewöhnlicher Junge!“ Ja, anders als die anderen Mitglieder hatte er die Gilde nicht aufgesucht, sondern war bereits sein ganzes Leben hier. Kein Wunder, dass er also anders war. Doch heute stand ihm wie jedem anderen Am Fah auch eine Aufgabe im Namen der Gilde bevor. Ohtah Ryutaiyo sollte ein potenzielles Mitglied prüfen … So wie er einst gegen einen von ihnen hatte kämpfen müssen. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Wäre der Junge würdig, so würde er ihn verschonen. Ansonsten hatte der Bewerber Pech und musste mit seinem Leben dafür bezahlen. Wer auch immer das Innere ihrer Gildenhalle gesehen hatte, blieb entweder oder verließ sie als Leiche. Die Sonnenstrahlen streiften seine Haut. Ein warmes Prickeln durchlief ihn. Es war soweit … Ohtah Ryutaiyo blieb mit den Schatten verschmolzen. Niemand wusste, wo er sich befand. Nicht einmal sein Mentor konnte ihn ausfindig machen. Und doch zweifelte dieser keine Sekunde lang, dass sein Schützling sich im Saal befand. Das Tor öffnete sich langsam, ein junger Mann trat zügig ein. Unwillkürlich fragte sich Ohtah Ryutaiyo, welche Gründe ihn dazu bewogen hatten der Gilde beitreten zu wollen. Sicher erlebte er dieselbe Nervosität, wie er selbst vor einigen Jahren. „Welche Waffe und welchen Weg hast du für dich gewählt?“, erklang die Stimme des Anführens, welcher am anderen Ende auf seinem gewohnten Platz zwischen den Lehrmeistern saß. Der Fremde legte einen Pfeil an die Sehne seines Bogens und antwortete: „Meine Pfeile haben bisher immer ihr Ziel getroffen. So werde auch ich mein Ziel erreichen und als Waldläufer den Am Fah alle Ehre bereiten.“ Mut hatte er, das musste Ohtah Ryutaiyo freilich zugeben und musterte ihn genauer. Äußerlich schien er auf den ersten Blick ganz ruhig. Nicht einmal seine Hand, mit der er die Sehne hielt, zitterte. Aber da war etwas in seiner Haltung, die Unsicherheit ausdrückte. Natürlich, er wusste nicht, welche Art von »Eignungstest« ihn erwartete. „Ich möchte dir deinen Gegner vorstellen … Er ist ein personifizierter Schatten und unserer bester Assassine. Deine Aufgabe ist es ihm im Kampf auf Leben und Tod gegenüberzutreten.“, erklärte Rien und klopfte ungeduldig auf die Stuhllehne, „Ohtah … wir warten.“ Sofort löste Ohtah Ryutaiyo die Schattenverschmelzung und zeigte sich. Sein Adoptivvater schielte aus den Augenwinkeln für den Bruchteil einer Sekunde zu ihm herüber – er hatte ihn sofort wahrgenommen. Anders der junge Waldläufer. Jetzt zeigte sich deutlich Überraschung auf seinem Gesicht. Mit einem Kampf schien er gerechnet zu haben, denn er hatte den Pfeil nicht von der Sehne gelöst, aber sicher nicht mit einem so ausgezeichneten Gildenmitglied, das er nicht einmal sah – Anfängerfehler. Unwürdig. Also ließ sich der Assassine von seiner erhöhten Position fallen, nur um leichtfüßig inmitten des Saals aufzukommen. Sofort richtete sich die Pfeilspitze auf seine Kehle. Er lächelte. Zu langsam; der Schuss verfehlte ihn. Er hätte ihn vielleicht getroffen, wenn er ihn abgeschossen hätte, als Ohtah Ryutaiyo noch in der Luft gewesen war. Es bedurfte nicht einmal eines Schattenschrittes – Ohtah Ryutaiyo hatte seinen Dolch geworfen, noch bevor sein Gegenüber nach dem nächsten Pfeil gegriffen hatte. Leblos fiel sein Körper zu Boden. Angewidert zog er seine Waffe aus dessen Rumpf. Solche Schwächlinge hatten in der Gilde nichts verloren … Ohne von Rien entlassen zu werden, verließ Ohtah Ryutaiyo den Saal und ging in sein Zimmer. Die heutige Begegnung hatte ihn auf eine Idee gebracht. In den folgenden Tagen bekam niemand Ohtah Ryutaiyo zu Gesicht. Die meiste Zeit verbrachte er im unbenutzten Trainingsraum. Ohtah Ryutaiyo öffnete den Lederbeutel, den er an der Hüfte trug, und holte eine Handvoll kleiner Pfeile heraus. Seine Augen wanderten zu den Zielscheiben, die in unterschiedlichen Abständen aufgestellt waren. Er musste üben, wenn er sie genauso beherrschen wollte, wie seine Dolche. Nein, beherrschen allein genügte nicht … blind führen traf es eher. Er musste Perfektion erlangen, ein absolut tödlicher Schatten werden – mit hundertprozentiger Trefferquote. Der Assassine lief los. Die Bewegungen waren für das bloße Auge nicht zu sehen, als er mit der flachen Hand einen Pfeil nach dem anderen auf die Ziele warf. Ein einziger Pfeil verfehlte den schwarzen Kreis in der Mitte. Ohtah Ryutaiyo fluchte stumm. Sein Training musste noch härter und länger werden! Ohtah Ryutaiyo´s sechzehnter Namenstag war gekommen. Auf den Tag genau vor all diesen Jahren hatten die Am Fah ihn in den Straßen Kaineng´s gefunden. Und seitdem gehörte sein Herz, sein Körper, sein Leben der Gilde. Doch der heutige Tag sollte Ohtah Ryutaiyo´s Leben für immer verändern. Etwas stimmte nicht, er fühlte es. Es war ein komisches Gefühl, eine böse Vorahnung; nichts greifbares, aber etwas schwebte über ihm. Am Nachmittag wurde er schließlich – nach endloser und sinnloser Grübelei – von Rien zu sich gerufen. Dies war in den vergangenen Wochen immer seltener vorgekommen. Warum wusste der junge Assassine nicht; er konnte sich auch nicht vorstellen, seinen Adoptivvater auf irgendeine Weise erzürnt zu haben. Er kniete vor ihm nieder und konnte es nicht vermeiden, dass seine Stimme leicht zitterte: „Ihr wolltet mich sprechen, Meister …“ „Nicht verwunderlich, wenn man den heutigen Tag bedenkt.“, entgegnete der Anführer der Am Fah, „Mein Sohn, seit sechs Jahren dienst du unserer geliebten Gilde als Assassine. Du hast dir einen Namen gemacht, den sogar unsere Feinde fürchten … Jetzt ist die Zeit gekommen, dass du endlich die Position einnehmen kannst, die du verdienst.“ Verständnislos hakte Ohtah Ryutaiyo nach: „Was meint Ihr damit?“ „Ohtah Ryutaiyo … hiermit erhältst du das Kommando über die dritte Einheit. Ich befördere dich zum General!“, erklärte sein Mentor anerkennend. Nervosität durchströmte Ohtah Ryutaiyo. Zum ersten Mal betrat er das geheime Zimmer, in dem sich jede Woche die ranghöchsten Mitglieder der Am Fah versammelten, um über die Gildenaktivitäten zu beraten. Unter ihnen natürlich Rien als Anführer, die vier Lehrmeister und neun Generäle. Ohtah Ryutaiyo war der jüngste von ihnen. Sie saßen um einen niedrigen Tisch versammelt, auf dem ihre persönlichen Waffen lagen. „Willkommen, junger Freund.“, begrüßte ihn einer der Anwesenden, „Setz´ dich und leg´ deine Dolche vor dich.“ Ohtah Ryutaiyo tat wie geheißen und nahm neben seinem Adoptivvater Platz. Natürlich war es auch in dieser hohen Runde kein Geheimnis, dass Rien ihn wie seinen eigenen Sohn aufgezogen hatte. „Wir sind vollzählig.“, bemerkte dieser nun und sah sie einzeln an, „Wie letzte Woche bereits angemerkt, ist es inzwischen sicher, wer für die Vorkommnisse in Cantha verantwortlich ist – Shiro Tagachi´s Gildensymbol wurde gesichtet. Die Pest breitet sich immer weiter aus, die Bewohner Kaineng´s leben in Angst vor den Befallenen. Aber es reicht noch nicht … Wir müssen die Krankheit noch mehr vorantreiben. So sind nicht nur die kaiserlichen Wachen beschäftigt, sondern die Jadebruderschaft hat ebenfalls große Rückschläge zu verzeichnen. Leider wird dabei auch unsere Gilde nicht ohne Schaden bleiben … Bis wir eine Möglichkeit finden die Pest zu kontrollieren, müssen wir sie auf herkömmliche Weise übertragen.“ Geschockt krallte Ohtah Ryutaiyo seine Hände an den Stuhllehnen fest. Er konnte nicht glauben, was Rien soeben gesagt hatte. Dass er die Jadebruderschaft los werden wollte, verständlich – aber die Canthaner dafür in Monster zu verwandeln? Schlimmer noch, seine treu ergebenen Gildenmitglieder. Er, den er wie einen Vater liebte, plante die Eroberung des gesamten Kontinents und sein erstes Ziel war der Kaiserthron! Wie hatte der geschickte Assassine nur so blind sein können? Mit einem Mal brach seine ganze Welt in sich zusammen. Die Am Fah waren alle samt Verbrecher … die gesamte Gilde. Und er war ein Teil dieser Verbrecher-Gilde … In dieser Nacht wälzte sich Ohtah Ryutaiyo unruhig von einer Seite zur anderen, immer wieder – Alpträume plagten ihn ohne Ende. Erst stand er mit schlagendem Herzen seinem Mentor gegenüber, seine Dolche fest umklammert und wählte den Weg des Assassinen für sich. Kaum hatte er die Wort ausgesprochen, veränderte sich das Bild. Ohtah Ryutaiyo kniete nach seinem erfolgreichen Kampf gegen einen der Am Fah-Assassinen vor ihrem Anführer, der ihn in der Gilde empfing. Als nächstes schlich er durch die Nacht zum Haus der Minister und tötete einen von ihnen mit einem einzigen Stoß ins Herz. In einem stummen Schrei fuhr Ohtah Ryutaiyo in die Höhe. Das Grauen trieb ihn in den Wahnsinn; er hatte in den vergangenen so viele – höchstwahrscheinlich unschuldige – Menschen im Namen der Gilde getötet. Diese Schuld würde sein ganzes Leben lang auf seinen Schultern lasten. Egal was er auch tat, er konnte diese Taten niemals ungeschehen machen. Warum hatte er nie bemerkt, was die Am Fah wirklich im Schilde führten? All die Jahre war er ihnen treu ergeben gewesen. Sie hatte aus ihm einen grausamen Mörder gemacht … Nein, er hatte zugelassen, dass sie ihn so formten. Der erste Sonnenstrahl des neuen Tages fiel durch Ohtah Ryutaiyo´s kleines Fenster. Er wärmte ihn sofort. Das Licht vertrieb jede Finsternis … Vielleicht gab es noch eine Chance für ihn. Irgendeine Möglichkeit etwas für Cantha zu tun. Er musste fliehen, die Am Fah verlassen … noch heute! „Niemand ist geeigneter vor den Am Fah zu fliehen, als ein Am Fah …“, murmelte Ohtah Ryutaiyo leise vor sich hin. Seit fast einem Monat war Ohtah Ryutaiyo auf der Flucht vor den Am Fah. Zunächst war er ihnen eher nur knapp entkommen – beinahe jede Nacht durchstreiften die Häscher der Gilde die Stadt nach ihm. Gleichzeitig konnte er auf diese Weise genau ihre Aktivitäten verfolgen; denn was machte man auf einer langweiligen Suchmission? Man unterhielt sich über spannendere Themen – Pläne zur Machtergreifung langen ganz vorn im Trend. Darum stand d junge Assassine verborgen auf dem Dach eines Bauernhauses und beobachtete die Straße zu seinen Füßen. Bislang war nichts verdächtiges zu sehen. Er hatte sich aber ganz sicher nicht verhört … Die Am Fah erwarteten in dieser Nacht die Lieferung eines seltenen Artefaktes. Es musste einfach hier sein! Er kannte jeden Winkel von Kaineng – wenn man vom Raisu-Palast einmal absah –, und dies war der beste Ort, um die Unterstadt zu betreten … Auf einmal betrat eine gebeugte Gestalt den unübersichtlichen Platz. „Du bist pünktlich.“, stellte eine Stimme zufrieden fest. Ohtah Ryutaiyo hatte sie nicht bemerkt, nichts hatte auf ihre Anwesenheit hingedeutet. Zwei Assassinen und ein Mann, der wie ein Himmelsadept gekleidet war, lösten sich von einer Wand und traten ins Zwielicht. „Habt Ihr dabei, was ich will?“, wollte der Adept wissen. Der Bauer nickte und holte ein Gefäß unter dem Gewand hervor. „Ah, der Kelch … endlich.“, gab er genüsslich von sich, so als zergehe ihm das Wort förmlich auf der Zunge, „Ihr habt Eure Sache gut gemacht … Jetzt will ich Euch dafür belohnen. Ihr sollt der erste sein, dem seine Macht zuteil wird!“ Angst spiegelte sich plötzlich in der Stimme des Mannes wieder: „Was … was passiert danach mit mir, Bruder Tosai?“ Bruder Tosai? Ohtah Ryutaiyo verrenkte sich beinahe den Hals, um in sein Gesicht schauen zu können. Es erschien ihm zu gefährlich seine Position zu verändern; die Aktivität der Schatten könnte ihn verraten. Schließlich gelang es ihm trotzdem. Ohne seine eiserne Selbstbeherrschung hätte der junge Assassine allerdings einen Schrei ausgestoßenen. Nie würde er dieses Gesicht vergessen – dieser angebliche Adept des Himmelsministeriums war kein anderer, als sein erster Gegner, den er hatte besiegen müssen, um in die Gilde aufgenommen zu werden … Jetzt fiel es ihm wieder ein; ein paar der Am Fah hatten sich über Tosai lustig gemacht, weil er gegen ein kleines Kind verloren habe. Ohtah Ryutaiyo hatte geglaubt, er wäre daraufhin aus der Gilde ausgestoßen worden – stattdessen hatte er nun wohl eine zweite Chance bekommen. Derweil füllte Tosai ein merkwürdiges, grünes Pulver in den Kelch, von dem sofort ein stinkender Dunst aufstieg. „Wenn du zu Cantha´s Elite gehören willst, mein Freund, trink´!“, befahl der Am Fah auffordernd. Der Mann richtete sich etwas gerade auf. In seinen Augen konnte Ohtah Ryutaiyo von der Erschöpfung durch die Armut lesen. Langsam nahm er Tosai den Kelch ab und stürzte den Inhalt die Kehle hinab. Das Gefäß entglitt seinen Händen, aber natürlich war einer der Assassinen rechtzeitig zur Stelle, um es aufzufangen. Der Mann brach unterdessen zusammen und begann sich grauenhaft zu verändern. Ohtah Ryutaiyo packte eine schreckliche Vorahnung, widerstand jedoch der Versuchung, den Blick abzuwenden. Nur wenige Sekunden später hatte er Gewissheit – aus dem Canthaner war einer der gefürchteten Befallenen geworden, die seit einiger Zeit durch das Land streiften. Sofort nahm Ohtah Ryutaiyo Reißaus und tauchte erst in sicherer Entfernung wieder auf. Er wusste, dass die Am Fah geplant hatten, die Pest für ihre Zwecke zu missbrauchen … Aber das? Starben denn nicht schon genug Unschuldige? Jetzt hatten sie auch noch eine Methode gefunden die Befallenen selbst zu erschaffen … Trotz seines Verrates hatte Ohtah Ryutaiyo seine Am Fah-Tracht nicht für einen Tag abgelegt. Der Gildenumhang schützte ihn vor feindlichen Angriffen. Und nun tarnte das Gewand ihn auch noch vor seinen früheren Verbündeten. „Wer seid Ihr?“, wollte Tosai von ihm wissen, als er direkt vor den drei Am Fah erschien. Ohtah Ryutaiyo deutete eine Verbeugung an und antwortete: „Thaho. Anführer Rien schickt mich – er meinte, eine zusätzliche Eskorte wäre sicherer.“ Tosai´s Blick blieb misstrauisch. Ehe sich Ohtah Ryutaiyo versah, hatte er einen Dolch geworfen, der seine Maske zerteilte und ihn enthüllte. „Du!“, rief er, „Ohtah … Verräter! Wegen dir habe ich in Schande gelebt!“ Im ersten Moment überrumpelt standen die drei Assassinen wie erstarrt da. Die Am Fah verstanden nicht wirklich, was geschehen war. Ohtah Ryutaiyo konnte nicht glauben, dass sein Plan so schnell ein so großer Reinfall gewesen war. Doch er erholte sich schneller und tötete sie mit zwei seiner Giftpfeile. „Wie beim letzten Mal … nur du und ich. Vielleicht kannst du ja damit deine Ehre wiederherstellen.“, erklärte Ohtah Ryutaiyo provokant. Tosai zog seine Waffen und entgegnete: „Das wird es sicher! Denn ich werde Rien deinen Kopf überreichen! Bin gespannt, was er zum Tod seines einst so geliebten Ziehsohns sagen wird. Was glaubst du, wie er reagieren wird?“ Sein Vater … Tosai hatte seinen wunden Punkt getroffen. Er verachtete Rien für das, was er ihm vorgespielt und zu was er ihn gemacht hatte. Aber trotz allem konnte er ihn nicht hassen. Es genügte nicht, um Ohtah Ryutaiyo vergessen zu lassen, dass er ihn wie einen Sohn aufgezogen hatte. Vielleicht hatte er Ohtah Ryutaiyo sogar geliebt … auf seine Weise. Andersrum ganz sicher. Die Unaufmerksamkeit seines Gegners nutzend, griff Tosai den Assassinen an. Eine blutige Schramme leuchtete auf Ohtah Ryutaiyo´s Wange auf, die ihn endgültig wachrüttelte. Und er gab sie vollkommen dem Kampf hin. Er wirbelte umher, beschrieb blitzende Bögen und mit einem schlagkräftigen Doppelangriff, entwaffnete er Tosai schließlich. „Ich kann dich nicht am Leben lassen. Diesmal nicht …“, murmelte Ohtah Ryutaiyo und stieß zu. Nachdem Ohtah Ryutaiyo den Kelch der Verdorbenheit vernichtet hatte, wurde es um die Am Fah erst einmal sehr still – sein Vater wusste sicher, dass er es gewesen war, der Tosai aufgehalten hatte, und hielt sich deshalb vorerst zurück. Ganz anders als die Befallenen. Sie vermehrten sich auch ohne das Zutun der Gilde immer schneller. Es verging kein Tag, an dem nicht Dutzende von ihnen unter den Dolchen oder Giftpfeilen des Assassinen starben. Die restliche Zeit verbrachte er damit, Gerüchten zu lauschen. „Hast du schon gehört?“, fragte gerade einer der Bauern einen anderen, „Meister Togo soll morgen nach Kaineng kommen. In Begleitung eines jungen, hübschen Mädchens.“ Sein Bekannter antwortete: „Aber was will er denn hier? Sonst verlässt er doch nie sein Kloster.“ „Ja, etwas muss passiert sein! Vielleicht hat es mit dieser lächerlichen Behauptung zu tun … Du weißt schon, dass der Verräter Shiro Tagachi zurückkehren will.“ Ohtah Ryutaiyo hatte genug gehört. Wenn Shiro Tagachi wirklich offen in Aktion treten sollte, würde die Am Fah nichts mehr davon abhalten, ihn mit all ihren Männern zu unterstützen und jeden zu vernichten, der sich ihm in den Weg stellen würde. Trotz ihrer eigenen Ambitionen verehrte die Gilde vor allem anderen Macht … und in der gesamten Geschichte Cantha´s gab es wohl keinen anderen, der größere Macht ausgestrahlt hatte. Von dem Verrat an seinem Kaiser einmal abgesehen – welch Ironie, dass er damit wahrscheinlich ein noch größeres Vorbild für die Am Fah darstellte –, galt der Jadewind als Inbegriff von Macht! Sollte es daher tatsächlich eine Möglichkeit für ihn geben, in die Welt der Lebenden zurückzukehren, stünde dem Reich des Drachen eine weit schlimmere Bedrohung bevor, als »nur« eine aufmüpfige Straßengilde … Er musste so schnell wie möglich zum Zentrum von Kaineng. Von dort aus konnte er Meister Togo und seinen Schützling aus dem Schatten heraus folgen. Wenn es für ihn jemals eine Chance auf Wiedergutmachung geben sollte, musste er für das Wohl von Cantha eintreten … und ebenso sein Leben dafür einsetzen, wie für die Gilde, der er gedient hatte. So folgte Ohtah Ryutaiyo von Stund ihrer Ankunft an, Meister Togo´s Schülerin. Während er sich mit dem Kaiser traf, half sie den Bewohnern von Kaineng. Dies war nicht ihr erstes Zusammentreffen mit den Befallenen – aus einem Gespräch hörte er heraus, dass selbst ihre Heimat, die abgelegene Insel Shing Jea bereits von den Auswirkungen betroffen war. Als sich Shikon No Yosei auf dem Vizunahplatz wieder mit ihrem Meister traf, stieß ein weiterer Verbündeter zu ihnen – Bruder Mhenlo getroffen, ein berühmter Mönch aus Tyria. Was aufgrund des heftigen Kampfes, in den sie kurz darauf gerieten, von unglaublich gutem Timing sprach. Ohtah Ryutaiyo hatte sie bislang lediglich beobachtet und bewunderte vor allem in diesem Moment, wie tapfer sie gegen diese furchterregenden Ungeheuer kämpfte. Bis eine gewaltige Horde ihren Meister ins Visier nahm. Selbstlos stellte sie sich vor ihn. Und so traf sie der lähmende Zauber eines Gegners. Noch bevor der Assassine recht mitbekam, was er da eigentlich tat, hatte er bereits seine Giftpfeile geworden und die Befallenen brachen in sich leblos zusammen. Verwirrt sah sich die Elementarmagierin um. Ihr Blick blieb genau an jener Stelle hängen, an der er sich im Schatten verborgen hielt. Sein Atem stockte. Es war das erste Mal, dass er ihr tatsächlich in die Augen sah … Augen, die ihn wie gefangen hielten … Und zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er wirkliche Angst. Doch er fürchtete nicht um sich selbst – sondern um das Leben von Shikon No Yosei. Egal, wie gut sie war oder wie viel sie noch zu lernen hatte – sie würde zur Zielscheibe werden … von weiteren Befallenen, Am Fah, Shiro Tagachi. Von diesem Moment an ging es nicht mehr darum, seine Schuld zu begleichen – er wollte sie nur noch um jeden Preis beschützen! Offenbar wollte Meister Togo seine Schülerin noch weiter auf die Probe stellen – denn er schickte sie erneut alleine los. Ohtah Ryutaiyo folgte ihr weiterhin unerkannt, er konnte nicht mehr von ihrer Seite weichen. Viele Stunden irrte sie durch die Unterstadt. Dann setzte sie sich erschöpft auf den Boden; es war nicht zu übersehen, dass sie sich verlaufen hatte. Was sollte er tun? Er konnte ihr nicht helfen, wenn er weiterhin in seinem Versteck blieb. Aber wollte er es wirklich riskieren sich zu zeigen? Noch während der Assassine über die verschiedenen Möglichkeiten nachdachte, sprang Shikon No Yosei wieder auf die Füße, zeigte direkt auf ihn und fragte: „Wer bist du?“ Ein amüsiertes Lachen entfuhr ihm, noch bevor er sich beherrschen konnte. Seit Jahren war ihm ein solcher Laut nicht mehr über die Lippen gekommen. Dieses junge Mädchen mit der Seerose im Haar war wirklich erstaunlich, das musste er ihr zugestehen. So unternahm Ohtah Ryutaiyo einen Schattenschritt und stand nunmehr direkt vor ihr. „Ihr habt mich entdeckt, dies gelingt nicht vielen. Mein Name ist Ohtah … Ohtah Ryutaiyo.“, stellte er sich vor, „Und sollte die Frage nicht eher lauten, was eine Schülerin des angesehenen Meister Togo allein an solch einem unangemessenen Ort verloren hat? Wir leben in sehr gefährlichen Zeiten – überall lauern die Mitglieder der Straßengilden und die Befallenen. Meint Ihr nicht auch … Shikon No Yosei?“ Beim Klang ihres Namens zuckte sie zusammen. Das hatte sie nicht erwartet. Was immer Meister Togo ihr auch über Kaineng erzählt hatte, sie war keinesfalls ausreichend für die Aufgabe vorbereitet. Ihre Augen waren vor Verwunderung aufgerissen, als sie wissen wollte: „Woher kennst du meinen Namen?“ „Ich habe Euch seit Eurer Ankunft in Kaineng beobachtet.“, antwortete Ohtah Ryutaiyo und kniete vor ihr nieder, „Zu meiner Schande muss ich gestehen, ich war ein Assassine der Am Fah … Glaubt mir, Ihr könntet ein perfektes Zielobjekt für sie sein – deshalb biete ich Euch meine Hilfe an.“ Shikon No Yosei schien verwirrt bezüglich seines Angebots. Allerdings war sie klug genug, um zu erkennen, dass sie momentan ziemlich in der Klemme steckte. „Warum sollte ich dir vertrauen?“, brachte sie mit Mühe heraus. Er zog einen seiner Dolche aus dem Halter an seiner Hüfte, hielt ihn ihr entgegen und erklärte: „Weil ich Euch mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln beschützen werde, Shikon No Yosei – wenn nötig auch mit meinem Leben. Außerdem … scheint es mir so, als bräuchtet Ihr einen Führer.“ Sie holte hörbar Luft. Und nach einer Weile nickte sie zustimmend. Die Sonne ging bereits unter, als Ohtah Ryutaiyo und Shikon No Yosei das Nahpuiviertel erreichten. Mit einem Mal blieb die Elementarmagierin stehen und sah ihn unvermittelt an. „Danke, dass du mich begleitet hast.“, meinte sie, „Nun muss ich mich den himmlischen Prüfungen stellen …“ Der Assassine hielt ihrem Blick stand und erwiderte entschlossen: „Ich bleibe an Eurer Seite … Mein Wort bindet mich! Solange ich lebe …“ „A-Aber …“, begann Shikon No Yosei, überlegte es sich dann jedoch anders, „Weißt du, warum ich Weh No Su werden muss?“ Er umging diese Frage und erwiderte stattdessen: „Ich weiß, warum Ihr nach Kaineng gekommen seid … Ihr könnt diesen Kampf nicht allein bestreiten. Ich werde nicht zulassen, dass Shiro Tagachi in irgendeiner Weise Hand an Euch legt!“ Sie wusste, dass er recht hatte. Es stand in ihren Augen. In diesen wunderschönen Augen ... „Dein Versprechen … ich nehme es dankbar an.“, erklärte Shikon No Yosei verlegen und riss ihn damit aus seinen Träumen, „Gehen wir, Ohtah!“ Er lächelte schief und gemeinsam betraten sie das Gelände des Nahpuiviertels. Damit endet Ohtah Ryutaiyos Schicksal als einsamer Schatten und seine Geschichte an der Seite von Shikon No Yosei beginnt ... Eine Geschichte, die die Welt verändern wird! Unzählige Kämpfe, gefährliche Schlachten, treue Verbündete und wahre Liebe erwarten den jungen Assassinen ... Doch kann er dem Fluch seiner Vergangenheit wirklich entrinnen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)