Zum Inhalt der Seite

Die Legende von Shikon No Yosei

Das Schicksal einer Elementarmagierin
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Herzlich willkommen bei Shikos erstem Abenteuer in ihrer Heimat Cantha! Erlebt wie aus einem kleinen Mädchen eine große Heldin wird!

Diese Geschichte basiert auf dem Online-Rollenspiel Guild Wars – Factions, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Aber es ist keine gewöhnliche Geschichte – es ist eine Legende. Genauer gesagt, der Beginn einer Legende … Der Legende von Shikon No Yosei, der Fee der vier Elemente!
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Schön, dass ihr reinschaut! Dieser Teil der Story dreht sich alles um Ohtah und seine Vergangenheit, BEVOR er Shiko begegnet ist. Das heißt der Anfang spielt zeitlich vor »Der Beginn einer Legende« bis er dann in dessen Handlung übergeht.

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars – Factions; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Kaineng wird seit Jahren von zwei brutalen Straßengilden tyrannisiert – denn die Jadebruderschaft und die Am Fah liefern sich einen erbitterten Krieg. Obwohl sie zwischenzeitlich gemeinsam gegen die kaiserlichen Wachen kämpfen und den illegalen Handel antreiben, versucht jede Seite auf seine Weise die Oberhand zu gewinnen, um irgendwann sogar den Kaiser selbst stürzen zu können und die Herrschaft über Cantha an sich zu reißen.
So sind die Machenschaften der Am Fah wesentlich gefährlicher, als jene der Jadebruderschaft. So suchen sie auf den Straßen stetig neue Mitglieder und schrecken auch vor der größten Grausamkeit nicht zurück.
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und da sind wir auch schon bei Buch 2! Der nächste Teil der GW-Storyline. Bitte wundert euch nicht, in meiner Version laufen die Aktivitäten des Weißen Mantels zu der Zeit, als Shiko gegen Shiro Tagachi kämpft - das heißt, sie stößt erst später dazu, als es im eigentlichen Spiel so ist.

Diese Geschichte basiert auf dem Online-Rollenspiel Guild Wars – Prophecies, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Mehr als ein Jahr ist seit der Rettung Cantha´s durch Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo vergangen. Die beiden Helden – wie sie von den Canthanern gerne genannt wurden – leben seitdem gemeinsam auf Shing Jea. Ihr Leben besteht großteils daraus gegen die Befallenen auf der Insel zu kämpfen und ihre Liebe zueinander zu genießen. Doch das verhältnismäßig friedliche Leben wird schon sehr bald ein jähes Ende finden … denn nach dem harten und auch lehrreichen Kampf gegen Shiro Tagachi wird die Legende von Shikon No Yosei endlich weitererzählt!
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wie versprochen kommt hier die Story von Seiketsu! Wer sich gefragt hat, was die junge Mönchin in Tyria erlebt, erhält hier die Antwort!

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars – Prophecies; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Seiketsu No Akari war von Meister Togo unter allen jungen Absolventen Cantha´s ausgesucht worden für ein Stipendium bei den Deldrimor in den Südlichen Zittergipfeln, im Bereich Geschichte Tyria´s – denn die Zwerge gelten als Hüter uralten Wissens.
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Unverhofft kommt oft! Darum kommt hier eine kleine Bonusstory, die zwischen Prophecies und Nightfall spielt - klein, aber fein. Viel Spaß!

Fünf Monate sind seit Shikon No Yosei´s und Ohtah Ryutaiyo´s ruhmreicher Rückkehr aus Tyria vergangen. Gemeinsam haben sie den Kampf gegen die Befallenen aufgenommen, um das Kaiserreich Cantha endgültig von der Pest zu befreien. Doch die schöne Elementarmagierin muss erneut auf schmerzlichste Weise lernen, dass manche Kämpfe Opfer fordern, die vielleicht zu groß sind … Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Geschafft! Wir sind bei der Handlung von Nightfall! Diesmal ist der Gegner kein geringerer als ein abtrünniger Gott ...

Diese Geschichte basiert auf der Handlung von Guild Wars – Nightfall; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde.
Über ein Jahr liegt seit der Rettung Tyrias durch die drei Auserwählten der Flammensucher-Prophezeiung Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari zurück.
Den beiden Helden von Cantha und Tyria war es indessen mit Hilfe ihrer canthanischen Verbündeten, bestehend aus der kaiserlichen Armee, den Kurzick und den Luxon, endlich gelungen das südliche Kaiserreich vollständig von der widerwärtigen Pest zu befreien.
Allerdings ahnte bislang niemand, dass schon bald der Vorbote eines neuen Sturms an der Künste des Landes vor Anker gehen würde ... und dass dieser Sturm für eine Veränderung der gesamten Welt verantwortlich sein würde, sollte Shikon No Yosei im dritten Teil ihrer Legende erfahren!
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Damit sind wir beim letzten Teil von GW1 angelangt! Willkommen in der Welt von Eye of the North:

Diese Geschichte basiert auf dem Online-Rollenspiel Guild Wars – Eye of the North, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo, die Helden von Cantha, Tyria und Elona, die durch ihren Sieg über den dunklen Gott zu lebenden Legenden geworden waren, sind nach Cantha zurückgekehrt. Bevor sie die Heimreise auf die Insel Shing Jea antreten können, gilt es zunächst allerdings erst einmal Kaiser Kisu ausführlich von den Ereignissen in Elona zu berichten. Sie erzählen ihm von dem Orden der Sonnenspeere, ihrem Aufenthalt in Kourna, ihrem Bündnis mit den Fürsten Vaabi´s, dem Weg durch das Ödland. Als sie von ihren Erlebnissen im Reich der Qual, dem Kampf gegen Abaddon und von Kormir´s neuer Aufgabe als Göttin der Wahrheit berichten, wird Shikon No Yosei zunehmend ruhiger und Ohtah Ryutaiyo übernimmt das Wort.
Dabei ahnen sie nicht einmal, dass der schlimmste Kampf ihnen erst noch bevorsteht …
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Diese Story war absolut nicht geplant - aber wie das so ist: Natur kann sehr inspirierend sein und deshalb kommt hier ein Interlude zum Wintertag!

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars – Factions; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Seit jeher gibt es in der Welt der Magie Regeln und Gesetze. Wer sie bricht, wird bestraft … egal, um wen es sich dabei handelt. Diese Erfahrung muss auch Shikon No Yosei machen, als sie die Essenz aus der Energie des gefallenen Gottes Abaddon´s benutzt, um ihre eigene Kraft ins Unermessliche zu steigern – damit betäubt sie ihre Verbindung zur Energie der vier Elemente …
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und da haben wir wieder ein kleines Interlude-Kapitel! Zu Ehren meines Lieblingsevents in GW - dem Drachenfest!

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars – Factions; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Es ist Sommer in Cantha. Auf Shing Jea werden die letzten Vorbereitungen für das spektakulärste Ereignis des Jahres getroffen – das Drachenfest. Und die drei lebenden Legenden sind mittendrin!
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Das erste Buch aus der Legende von Shikon No Yosei, das nicht nach GW-Vorbild handelt! By the way - es wäre sinnvoll »Das Schicksal eines Assassinen« gelesen zu haben.

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars – Factions; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Durch die Versiegelung von Shiro Tagachi war Cantha gerettet worden! Durch die Reinigung des Untoten Lichs war Tyria gerettet worden! Durch den Sieg über Abaddon war Elona gerettet! Durch die Vernichtung des Großen Zerstörers war die gesamte Welt gerettet worden! Und all diese ruhmreichen Heldentaten gingen auf das Konto der drei lebenden Legenden Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari, die in ihre Heimat zurückgekehrt waren, um ihrer Pflicht als Verteidiger von Cantha gerecht zu werden.
Während Shikon No Yosei, die oberste Beschützerin für die allgemeine Sicherheit verantwortlich ist, kümmert sich Seiketsu No Akari um die Überwachung der Ausbildung und Verteilung der canthanischen Heiler. Ohtah Ryutaiyo dagegen erhält als Schattendiener von Kaiser Kisu geheime Aufträge, welche häufig viel Zeit in Anspruch nehmen und seine Beziehung mit Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo zum Bröckeln bringt …
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier wieder ein kleines Interlude, das als eine der letzten Storys der Legende von Shikon No Yosei entstanden ist, aber schon ewig von mir gewünscht war - es fehlte nur immer die zündende Idee. Zum Glück kam die durch den letzten Teil des Epos!

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars – Factions; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Wenige Wochen sind seit der Geburt von Yoso No Koshi und Ryukii No Mai vergangen. Doch die Zwillinge werden nicht der einzige Familienzuwachs und Veränderung bleiben …
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
>>Das Ende der Legenden?« ist nicht nicht das Ende der Legenden ... denn hier kommt »Die Zukunft der Legenden«!

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars – Factions; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Fünfzehn Jahre sind seit der Geburt von Yoso No Koshi und Ryukii No Mai vergangen. Die Legende von Shikon No Yosei hat sich über die ganze Welt verbreitet, selbst in den entlegensten Winkeln erzählt man sich ihre Geschichten …
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und dieses neue Kapitel wird auch tatsächlich sofort aufgeschlagen - Willkommen zu einem neuen Abenteuer mit den »Kindern der Legenden«!

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars – Factions; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
In den fast vier Jahren, die seid ihrer Ernennung zu Verteidigern vergangen sind, haben Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo die Bewohner von Cantha und Shing Jea vorbildhaft beschützt. Doch außer dem zweiten Tengu-Krieg an der Seite ihrer Eltern gab es bislang auch keine größere Herausforderung, bei dir sie sich hätten beweisen müssen …
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Unglaublich, aber war: die letzte Story über meinen letzten GW1-Chara!

Diese Geschichte basiert auf dem Online-Rollenspiel Guild Wars – Factions sowie – Eye of the North, die von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Traditionen sind wichtig … Allerdings ändern sich die Zeiten. Was sagt es über einen aus, ob man als Mann oder Frau geboren wurde? Seit jeher saßen die männlichen Erben auf dem Drachenthron von Cantha … Doch dem fünfundvierzigsten Kaiser wird eine Tochter geboren – Amaterasu Aiko.
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Als mir die Idee für dieses Interlude kam, musste ich weinen ...

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars – Factions; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Viele, viele Jahre sind ins Land gezogen, seit Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari die Verteidiger von Cantha waren … Inzwischen haben auch Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo das Amt weitergeben. Und aus ihren Eltern sind die drei weisen Ältesten von Shing Jea geworden.
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Mein bestes und gleichzeitig längstes Werk aus dem Epos von Shikon No Yosei! Die Handlung und die Rahmengeschichte beruhen teilweise auf Guild Wars 2, doch im Gegensatz zu den Erzählungen über Guild Wars Factions, Prophecies, Nightfall und Eye of the North habe ich hier meine ganz eigene Version der Geschehnisse niedergeschrieben.

Diese Geschichte basiert auf dem Online-Rollenspiel Guild Wars 2, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
So sind über zweihundert Jahre seit dem glorreichen Triumph der lebenden Legenden Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari über den Großen Zerstörer vergangen …
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es hat wirklich, wirklich ewig gedauerte diese Story zu schreiben und fragt mich nicht, warum. Irgendwie hin ich im ersten Absatz, obwohl der Ablauf bereits feststand ... Jedenfalls als dann endlich der Knoten geplatzt war, hab ich den Rest einfach runtergeschrieben.

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars 2; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Nicht einmal ein Wesen, welches zwischen dem Diesseits und dem Jenseits wandelt, wird ewig leben können … Alles hat einen Anfang und ein Ende – ebenso wie einen Preis.
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Erinnert ihr euch noch an einen bestimmten Chara aus »Das Schicksal einer Mönchin« und »Verantwortungen für Seiketsu«?

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars – Factions; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Das Geschick der Götter ist merkwürdig … Manch einen scheinen sie im Stich zu lassen, anderen schenken sie ihre besondere Gunst. Was ist Schicksal, was ist Zufall? Wie viel können die Schöpfer Tyria´s in der Zukunft erahnen?
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars 2; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Seit Primordus und seine Kinder, die Zerstörer die Tiefen von Tyria kontrollieren, müssen die einst lichtscheuen Asura über Tage leben – in friedlicher Nachbarschaft mit den Sylvari haben sie sich eine neue Heimat geschaffen.
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Kommen wir zu einem weiteren Neben-Chara aus "Die Rückkehr der Legenden" - Ric Bärenklaue!

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars 2; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Die Geister der Wildnis ... die Große Bärin, der Wolf, der Rabe und die Schneeleopardin wachen über die Norn. Doch selbst sie konnten nichts gegen den gefürchteten Jormag und seine Eisbrut unternehmen. Das Volk schreit gerade zu nach einem rettenden Helden ...
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Diesmal gibt es eine sehr traurige Geschichte, die mit »Das Schicksal eines Norn« in Verbindung steht.

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars 2; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Wie wäre es wohl, wenn das einzige Verbrechen, das man in seinem ganzen Leben begangen hat, daraus bestünde, geboren worden zu sein? Und dabei werden wir nicht einmal gefragt, ob wir auf die Welt kommen wollen ...
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Diesmal wenden wir uns der Vorgeschichte von Gwen Grimmpfote zu!

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars 2; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Seit die Menschen auf Erden wandeln führen sie Krieg gegen die Charr ... Doch die wahre Tragödie spielte sich in Ascalon ab – zuerst verwandelte das Große Feuer das wunderschöne Königreich in Asche, dann verflucht das Feindfeuer die letzten Überlebenden.
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ull gehört zu meinen absoluten Lieblingen und ich glaube, sie und Trahearne liegen sogar auf dem 2. Platz meiner beliebtesten Pairings!

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars 2; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Jedem Sylvari schenkt der Traum ein eigenes Schicksal ... zusammen mit den Erinnerungen und Erfahrungen ihres ganzen Volkes. Doch um sich der Wylden Jagd zu stellen, bedarf es mehr, als nur Wissen.
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Neue Klasse, neue Story - und damit ein weiterer meiner Charas, der das Glück der Liebe kennenlernt ...

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars 2; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
In Tyria macht sich die Herrschaft der Alt-Drachen breit. Es gibt kein Volk, welches nicht unter ihnen zu leiden – so mussten die Asura ihre unterirdische Heimat verlassen und leben in ständiger Bedrohung durch die Zerstörer, die Drachenverderbnis von Primordus … Doch auch in den kleinsten Wesen brennt die Flamme des Widerstandes!
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Habt ihr euch jemals gefragt, was aus Shikos Blutlinie wurde? Und dem silbernen Herzanhänger, der stets von der Mutter an die Tochter/Schwiegertochter weitergegeben wurde? Tja, hier ist die Antwort!

Diese Geschichte spielt in der Welt von Guild Wars – Factions und Guild Wars 2; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Die Alt-Drachen herrschen über den Kontinent Tyria, selbst in Elona und Cantha ist ihre Macht spürbar … Doch die Zeit der Legenden wird wiederkehren!
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Willkommen zu ihrem ersten, neuen Leben nach Guild Wars!

Diese Geschichte beinhaltet Spuren aus Guild Wars 1+2; einem Online-Rollenspiel, das von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari, die drei einstigen Legenden Tyria´s, müssen dem ewigen Zyklus folgen und werden somit stetig in allen möglichen Welten und Dimensionen wiedergeboren. Immer in der Gewissheit sich eines Tages neu kennenzulernen … Und die erste Wiedergeburt führt sie direkt ins moderne Japan, als ganz normale Menschen.
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Diese Geschichte basiert auf dem RPG „Wenn dein Herz plötzlich menschlich wird ...“, welches von Ami Diana Saphira Mercury teilweise mit einem ihr bekannten Autoren geschrieben wurde.
Vor Jahrhunderten wandelten die Elben auf dieser Erde und lebten friedlich mit den Menschen zusammen. Doch irgendwann entbrannte ein Streit zwischen den beiden Völkern – die Elben flohen in die vergesse Welt Avalon. Seit diesem Tag warten sie auf die Chance zurückzukehren ...
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ja, manchmal passiert es auch, dass ein Autor sich vorstellt, wie sich seine Charas in einer nicht von ihm erschaffenen Welt verhalten würden ...

Diese Geschichte spielt in der Welt der House of Night-Reihe von P.C. und Kristin Cast. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Mehr als ein Jahrhundert ist ins Land gezogen, seit unter der Führung von Königin Sgiach auf der Isle of Skype ein House of Night eröffnet wurde. Nun soll dieser Ort der Macht das Zuhause einer ganz besonderen Jungvampyrin werden ...
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Die Inspiration für diese FF war das Game "Harry Potter: Hogwarts Mystery" von Jam City - aber wie üblich, habe ich es nach meinen eigenen Vorstellungen geschrieben.

Diese Geschichte spielt in der Welt der Harry Potter-Reihe von J. R. Rowling sowie Harry Potter: Hogwarts Mystery; einem Online-Rollenspiel, das von Jam City entwickelt wurde. Zudem ist die Handlung teilweise der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Geheimnisse … mächtig und gefährlich zugleich. Um ihnen auf den Grund zu gehen, bedarf es Neugier, Mut und ein Ziel. All dies trägt Nadeshiko Yosogawa bereits in sich – für sie ist Hogwarts mehr als nur eine Schule.[/]
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Eine kleine Nachtrage-Erzählung zu "Die Legende der Verwunschenen Verliese":

Diese Geschichte spielt in der Welt der Harry Potter-Reihe von J. R. Rowling sowie Harry Potter: Hogwarts Mystery; einem Online-Rollenspiel, das von Jam City entwickelt wurde. Zudem ist die Handlung teilweise der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Wenn der Kampf gewonnen und das Ziel erreicht ist, bleibt immer noch der Weg in die Zukunft …
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wenn man eine Serie suchtet, liegt eine FF nicht allzu fern ...

Diese Geschichte spielt in der Welt der Mortal Instruments- beziehungsweise Shadowhunters-Reihe von Cassandra Claire. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
»Wahre Liebe kann nicht sterben« – doch wie sieht die Situation aus, wenn einer der beiden Liebenden sterblich ist … und der andere unsterblich? Beziehungen zwischen verschiedenen Völkern und unterschiedlichen Rassen sind seit jeher kompliziert, anstrengend. Doch wäre es nicht das erste Mal, dass Shiko Yosogawa und Ohtah Shadowdragon eine Lösung für ein unmögliches Problem finden …
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Diese Geschichte bezieht sich auf ArenaNet´s Guild Wars 1 und 2. Die Handlung ist jedoch der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Leben, Tod, Wiedergeburt – dieser Ablauf war für Shiko, Ohtah, Seiketsu und Klerus nichts ungewöhnliches. Mehrfach hatten ihre Seele in den Nebeln bereits auf ihr nächstes Abenteuer gewartet … mit dem festen Versprechen der tyrianischen Götter, sich jedes Mal wieder neu zu begegnen. Aber nicht einmal Götter sind allmächtig …
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Was ist die Inspiration dieser Fanfiction? Meine Schwärmerei für Johann Anderson, als ich mal wieder Yu-Gi-Oh! GX geschaut habe sowie meine eigene Situation, was Deck und Karten betrifft - Shiko´s Problem ist sozusagen mein eigenes.

Diese Geschichte spielt in der Welt der Serien Yu-Gi-Oh! von Kazuki Takahashi – und dessen Kartenspiel – beziehungsweise Yu-Gi-Oh! GX von Hatsuki Tsuji sowie Yu-Gi-Oh! 5D´s von Katsumi Ono und Yu-Gi-Oh! Zexal von Satoshi Kuwahara. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Was macht die Beziehung zwischen Duellanten und ihrem Deck aus? Was kann ein Duell alles enthüllen? Auf der Duellakademie aufgenommen zu werden, ist eine große Ehre – aber manchmal kann es auch eine Bürde sein.
Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
https://www.youtube.com/watch?v=VQqIIUf3jQc

Diese Geschichte bezieht sich in der Handlung auf den Inhalt des Liedes »Sternblumennacht« von Cuirina. Die Ausformulierung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Vom Schicksal füreinander bestimmt, doch durch die Zeit getrennt – wie lässt sich ein solches Problem lösen?
Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Buch 01: Der Beginn einer Legende

Die Verteidigerin von Shing Jea

Wir befinden uns auf dem Kontinent Cantha, dem legendären Kaiserreich im Süden dieser Welt … bestehend aus vier unabhängigen Zonen – Kaineng, Hauptstadt Cantha´s und Regierungsposten des Kaisers Kisu; dem Echowald, Heimat der Kurzick und Herrschaftsgebiet des Grafen zu Heltzer; dem Jademeer, Revier der Luxon und Sitz der Ältesten Rhea; Shing Jea, Insel des Friedens und Verantwortungsbereich von Meister Togo. Und genau auf dieser Insel beginnt diese Legende, die in die Geschichte eingehen wird ... Ein Heldenepos, der sich über Kontinente hinwegsetzt und niemals wirklich ein Ende findet!

Im Jahr 1072 nach dem Mouvelianischer Kalender, der in ganz Tyria galt – zweihundert Jahre nachdem der Jadewind das Gesicht von Cantha neu gestaltet hatte – war die schöne Elementarmagierin Shikon No Yosei gerade fünfzehn Jahre alt geworden. Es war jedoch nicht nur ihr Äußeres, das faszinierte – unterstrichen von ihren klaren Augen, die einer durch und durch reinen Seele gehörten –, sondern vielmehr das große Potenzial an magischer Energie, welches in ihr schlummerte …

Ihre Ausbildung bei Großmeister Vhang war seit wenigen Wochen beendet – Ausbilder Ng hatte ihr die Befähigung sogar mit Auszeichnung überreicht –, da suchte der Leiter des Klosters Shikon No Yosei und ihre Familie im nahegelegenen Dorf Tsumei auf. Die junge Shing Jea lebte dort zusammen mit ihrer Tante Adeptin Bishu und deren Tochter Seiketsu No Akari. Die beiden Mädchen waren stärker miteinander verbunden, als es nur durch bloße Blutsverwandtschaft möglich gewesen wäre – sie waren ein Teil voneinander. Über ihren Vater wusste sie nichts und ihre Mutter, Bishu´s Schwester war bei Shikon No Yosei´s Geburt verstorben.

Der Besuch wunderte Shikon No Yosei und Seiketsu No Akari schon sehr – es war bislang nur äußerst selten vorgekommen, dass der Ritualist einen ehemaligen Schüler nach dessen Abschluss aufsuchte, auch wenn er stets freundlich zu ihnen gewesen war.

Doch wie immer kam Meister Togo nach einer kurzen Begrüßung gleich zur Sache: „In Tyria … besonders bei uns auf Cantha sind Ereignisse im Gange, die speziellen … Einsatz erfordern. Ich komme mit einem Angebot … nein, eher einer Bitte zu jeder von euch. Seiketsu No Akari, man hat mir berichtet, du hegst ein außergewöhnliches Interesse an der Geschichte unserer Welt. Ist das korrekt?“

Die Mönchin schluckte angesichts seines ernsten Tonfalls, bevor sie antwortete: „So … so ist es, Meister. Ich will versuchen aus den Ereignissen der Vergangenheit zu lernen … und wissen, wie sich Tyria entwickelt hat. Damit ich anderen nicht nur mit meinen heilenden Fähigkeiten helfen kann.“

„Du besitzt wirklich ein gütiges Herz …“, meinte der ältere Mann mit einem sanften Lächeln, „Alle fünf Jahre wird von jedem Kontinent ein Absolvent beliebiger Klasse ausgewählt, dem die Ehre eines Stipendiums für ein Studium bei den Deldrimor-Zwergen in den Südlichen Zittergipfeln zuteil wird. Ich habe dich dafür vorgeschlagen – es steht dir natürlich vollkommen frei, ob du dies annimmst oder ablehnst.“

Wenn ihr jemand gesagt hätte, Meister Togo wolle sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen, hätte sich Seiketsu No Akari alle möglichen Gründe ausgemalt – nur nicht diesen. Ein unbeschreibliches Gefühl von Glück und Stolz flutete durch ihren Körper. Aber anstatt etwas zu erwidern, suchte sie den Blick von Shikon No Yosei.

„Egal, wo du bist oder was du tust … ich bin bei dir und du bist bei mir, Sei. Wir werden nie wirklich voneinander getrennt sein.“, sagte diese aufmunternd, denn sie hatte die Gedanken ihrer Cousine sofort erraten, „Auf ewig miteinander verbunden …“

Den Tränen nahe fiel sie ihr um den Hals und bestätigte: „Ich vermisse dich jetzt schon, Schwesterchen! Wer passt denn auf dich auf, wenn ich weg bin? Sei vorsichtig und schreib´ mir!“

„So oft ich kann, versprochen … Gib´ dein Bestes, ja? Mach´ mir bloß keine Schande!“, scherzte die Elementarmagierin nicht weniger melancholisch.

Meister Togo schwieg derweil. Er konnte verstehen, wie schmerzhaft es war von einem wichtigen Familienmitglied getrennt zu sein – er hatte selbst einen Halbbruder in Kaineng, den er kaum zu Gesicht bekam –, darum wartete er geduldig, bis sich Shikon No Yosei von Seiketsu No Akari gelöst und ihm erneut ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatte.

„Nun zu dir – keiner meiner Schüler hat mich in den letzten Jahren so sehr beeindruckt wie du … Die Magie der vier Elemente ist ungewöhnlich stark in dir, Shikon No Yosei. Ich möchte dich daher noch zusätzlich zur >Verteidigerin von Shing Jea< ausbilden! Willst du dich dieser Herausforderung stellen?“, bot er ihr mit stolzer Stimme an.

In Shikon No Yosei´s Kopf ratterte es. Sie benötigte einige Momente, um zu begreifen, was Meister Togo plante – er wollte aus ihr so etwas wie eine Heldin machen; jemand, der für die Sicherheit der Insel verantwortlich war und sich um die Probleme der Bürger kümmerte! Vor ihren Augen erschien ein Bild von ihr, wie sie gegen Monster kämpfte und kleinen Kindern in Not half. War dies nicht genau das, was sie sich gewünscht hatte? Für Shing Jea zu kämpfen, vielleicht als Wächterin oder Adeptin … Nun stand ihr eine zusätzliche Unterweisung bei dem weltweit anerkannten und verehrten Ritualisten Meister Togo in Aussicht! Wie konnte sie da zögern? Es ging ihr nicht darum gefeiert oder berühmt zu werden – solange sie denken konnte, wollte sie immer nur ihre Heimat beschützen, diesen friedlichen Ort bewahren.

„Folge deinem Traum und finde deinen eigenen Weg, Shiko!“, flüsterte Seiketsu No Akari ihr so zu, dass nur sie es hören konnte, „Und wenn ich mein Studium absolviert habe, kann ich dir sicher helfen. Bis dahin musst du auf mich warten …“

Die Braunhaarige fand stets die richtigen Worte, um sie aufzubauen und so antwortete Shikon No Yosei: „Danke für das Vertrauen, das Ihr in mich setzt, Meister Togo. Ich werde Euch sicher nicht enttäuschen!“

„Du bist wirklich genau wie deine Mutter …“, murmelte er tonlos und befand sich nicht länger im Dorf Tsumei, sondern fünfzehn Jahre zuvor im Nahpuiviertel.
 

Es war ein warmer Aprilmorgen. Die immerwährenden Sterne über dem Nahpuiviertel funkelten traulich. Sie erwarteten die Geburt eines kleinen Kindes – Adeptin Kai lag in den Wehen, ihr Geliebter hielt ihr angespannt die Hand.

„Unsere Stunden sind gezählt …“, presste sie zwischen den Zähnen hervor, „Selbst wenn sie nicht diejenige ist, von der Meister Suun´s Legende handelt. Wir werden uns nicht mehr sehen können … Ich schaffe es nicht. Aber Bishu … Bishu wird dir helfen. Das heißt, Seiketsu bekommt eine kleine Schwester … wie schön.“

Er küsste sie zärtlich auf die Wange und erwiderte: „Was redest du denn da? Es wird alles gut werden, ganz bestimmt!“

„Ich liebe dich dafür, dass du das sagst … Verzeih´ mir, Togo. Ich will dich … euch nicht verlassen, aber ich …“, gab sie schwach zurück, der Rest des Satzes ging in einem lauten Schrei unter.

Die Finger seiner freien Hand streichelten über ihr Haar, während er wiederholte: „Es wird alles gut – ich verspreche es dir! Mach´ dir keine Sorgen … Ich werde sie vor dem Ministerium verstecken, sie werden unsere Tochter nicht bekommen! Meister Suun wird uns nicht verraten. Also bitte … bitte, halte durch! Ich liebe dich, Kai …“

Die Schmerzen in ihrem Unterleib glitten in harten Wellen über sie hinweg. Kalter Schweiß lief ihr über den ganzen Körper und das Blut hatte bereits sämtliche Laken durchtränkt. Dann endlich schallte das erlösende Geschrei eines neugeborenen Mädchens durch das Haus. Mit glasigen Augen betrachtete Kai ihre wunderschöne Tochter. Der Anblick des kleinen Wesens versetzte ihrem Herzen einen Stich, als Togo sie ihr in den Arm legte.

„Shiko … Shikon No Yosei …“, flüsterte Kai glücklich und nahm ihre Halskette ab, „Dies wird mein einziges Geschenk an dich sein … Es soll dich beschützen. Bitte, sprich´ noch einmal … die Worte …“

Togo, der ihr nicht mal diesen Wunsch abschlagen konnte, rezitierte: „»Ein Mädchen … geboren aus der Liebe zweier Adepten, dem Himmel geschworen. Eine Legende … gesprochen vom Orakel und den Nebeln. Ein Schrecken geboren aus der Vergangenheit, Tod den Menschen des falschen Glaubens, sodass in Qual versinkt die Welt und Feuer allem ein Ende bereitet. Ein Mädchen … geprüft durch unzählige Kämpfe, mit Verbündeten gestärkt. Eine Legende … erfüllt im Angesicht der Zukunft.« Ich frage mich, ob … ob es außer Shiko und Seiketsu noch ein Mädchen gibt, auf die diese Beschreibung passt?“

Seine Geliebte antwortete ihm nicht. Ihre Augenlider schlossen sich langsam und ein letzter, ruhiger Atemzug entwich ihren Lippen. Die kleine Shikon No Yosei begann zu weinen – sie war alles, was noch von Kai in dieser Welt blieb … Der Ritualist drückte seine Tochter an sich, während auch seine Tränen sich nicht mehr zurückhalten ließen. Schon jetzt ahnte er, dass weder Seiketsu No Akari noch sonst irgendjemand mit Suun´s Legende gemeint war; irgendetwas sagte ihm deutlich, dass sie war – Shikon No Yosei.
 

Die Pest Cantha´s

Noch war Shikon No Yosei nicht soweit sich als »Verteidigerin von Shing Jea« zu bezeichnen, doch Meister Togo war sich sicher, dass sie sich diesen Titel verdienen würde. Darum unterrichtete er sie nicht nur in der Geschichte Cantha´s, sondern brachte ihr auch etwas über die beiden anderen Kontinente und Politik bei. In diesem Zusammenhang bestand er darauf, sie seinem guten Freund und Berater Minister Cho vorzustellen, der sich um die Verwaltung Shing Jeas kümmerte. So durchquerte Shikon No Yosei in Begleitung von Meister Togo das Sunqua-Tal zu dem prächtigen Anwesen, an das eine gigantische Menagerie angeschlossen war. Dort angekommen erwartete sie allerdings ein furchtbares Szenario – hinter dem geschlossenen Tor, welches von dem Hauptmann der ministeriellen Wache beaufsichtigt wurde, kämpften die Wächter wie wild gewordene Berserker gegeneinander!

Einer von ihnen rannte auf den Hauptmann zu und schrie verzweifelt: „Das ist Wahnsinn, sage ich, Wahnsinn! Etwas Schreckliches ist mit ihnen geschehen! Ich-“

Bevor er den Satz weiterführen konnte, rammte ihm einer seiner ehemaligen Kameraden ein Schwert so kraftvoll in den Rücken, dass es vorne wieder aus seiner Brust ragte. Der grausame Abblick raubte Shikon No Yosei sichtlich den Atem. Sie war wie erstarrt. Dies war der erste Mord, den sie mitansehen musste … Es war ihr schleierhaft, wie jemand so etwas Abscheuliches tun konnte. Meister Togo, der sich durch seine jahrelange Erfahrung besser im Griff hatte, verhinderte durch seinen Angriff auf den Wächter, dass der Hauptmann sein nächstes Opfer wurde.

„Ich sorge mich um Cho … Wer weiß, wie es im Innern des Ministeriums zugeht.“, meinte der Ritualist und seine Stirn legte sich in Falten, „Alles in Ordnung, Shikon No Yosei? Hast du einen Plan, wie wir vorgehen sollen?“

Der Klang ihres Namens riss sie aus der Starre, wobei sie etwas unbeholfen erwiderte: „Wir … wir sollten uns auf dem Gelände sehr vorsichtig bewegen, da wir nicht wissen, auf wie … wie viele Gegner wir stoßen werden. Sagt, Hauptmann, gibt es irgendeine Abkürzung zum Haupthaus, in dem sich der Minister aufhält?“

„Die gibt es tatsächlich.“, erzählte er, überrascht von der jungen Elementarmagierin zu Rate gezogen zu werden, „Nehmt den Weg durch die Menagerie, so kommt ihr schneller vorwärts.“

Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen bedeutete Meister Togo seiner Schülerin vorauszugehen – diesmal würde er ihr folgen. Auch in dieser Situation dachte er an ihre Ausbildung.

Der Weg, der ihnen eigentlich eine Erleichterung sein sollte, entpuppte sich als allerdings zusätzliches Problem, denn ähnlich wie die Wächter waren auch die Tiere diesem eigenartigen Wahnsinn verfallen. So mussten sich Shikon No Yosei und Meister Togo gegen eine Vielzahl Moas, Warzenschweine, Wölfe, Pirscher, Luchse und sogar Bären aus der erlesenen Sammlung des Ministers behaupten.

Atemlos und mit deutlich spürbarer Erschöpfung erreichten sie schließlich das Haupthaus. Shikon No Yosei versuchte ihre Magie zu kanalisieren, doch der Schrecken nahm sie so stark mit, dass es ihr mit jeder Sekunde schwerer fiel, sich zu konzentrieren. Währenddessen stieß Meister Togo bereits das Eingangstor auf. Sorge durchzog sein Gesicht, als er seinem Freund gegenüber trat – seltsamerweise zeigte sich bei Minister Cho keine einzige Gefühlsregung. Sein Blick war leer und starr. Dann drang mit einem Mal ein markerschütternder Schrei aus seiner Kehle. Er presste die Hände gegen seine Schläfen und sank kraftlos in die Knie. Meister Togo wollte schon an seine Seite eilen, aber etwas hielt ihn zurück … Die Atmosphäre um sie herum hatte sich verändert – etwas Böses lag nun in der Luft.

„Shikon No Yosei …“, hauchte er so leise, dass sie Mühe hatte ihn zu verstehen, „Du hältst dich aus diesem Kampf raus. Dies ist meine … Angelegenheit.“

Die Elementarmagierin schluckte mehrmals, Angst durchzuckte sie. Der Körper des Minister war nicht länger der eines Menschen – er war grässlich entstellt, wirkte verzerrt. Pusteln, Beulen und Hautfalten spannten sich über die angewachsene Masse. Meister Togo schloss einen Wimpernschlag lang die Augen. Er verstärkte den Griff um seinen Stab und schleuderte seinem ehemaligen Freund eine Ladung konzentrierte Blitzenergie entgegen. Damit beendete der Ritualist das unwirkliche Dasein des Monsters …

Mit feuchten Augen kniete er sich neben den Leichnam und flüsterte: „Mögen die Gesandten Eure Seele in die andere Welt hinübertragen … und die Götter Euch Gnade erweisen. Wir sehen uns in den Nebeln wieder, mein alter Freund!“

„Genau das dachte ich auch!“, fuhr Shikon No Yosei ihn plötzlich an – Tränen glitzerten auf ihren Wangen, „Wenn er doch Euer Freund war … Wie … wie konntet Ihr ihn nur …“

Meister Togo richtete sich auf, sah ihr mit festem Blick in die Augen und antwortete: „Ja, er war sogar mein bester Freund … Und genau deshalb habe ich es getan! Du musst etwas Grundlegendes verstehen, Shikon No Yosei … Niemand wird wirklich freiwillig zum Monster. Niemand verliert freiwillig seine Seele. Wenn du noch bei klarem Verstand wärst, würde dasselbe mit dir passieren – was würdest du wollen? Das einzige, was wir noch für diejenigen tun können, die dieses Schicksal erleiden müssen, ist, sie von diesem grauenhaften Fluch zu befreien. Glaub´ mir, ich weiß sehr wohl, wie du dich fühlst … Kein Mensch sollte leichtfertig töten … Egal aus welchen Gründen. Aber der richtige Weg ist nun einmal nicht immer der einfachste Weg … Bedenke bitte, du wolltest für diese Insel und ihre Bewohner kämpfen … das bedeutet, dass du die Bedrohungen ausschalten musst! Es wird deine Verantwortung … als Verteidigerin von Shing Jea.“
 

In den nachfolgenden Tagen hatte Shikon No Yosei schwer mit den jüngsten Ereignissen zu kämpfen – zwar verstand sie, warum Meister Togo es getan hatte und dass sie selbst auch so handeln musste, wenn sie Shing Jea vor dieser Bedrohung bewahren wollte –, doch gleichzeitig verspürte sie eine tiefe Abscheu gegen das Töten.

„Ich will keine Mörderin sein … Ich will nicht selbst zu einem Monster werden … Aber es stimmt, was Meister Togo gesagt hat – ich habe eine Aufgabe zu erfüllen!“, sagte sie zu sich selbst, als sie wieder einmal auf den Feldern vor ihrem Dorfes saß, „Wenn ich es nicht tue, wer dann? Meister Togo hat mich gewählt! Er hat mich auserwählt, weil er glaubt, ich könne der Schwere dieser Bürde gerecht werden. >Kein Mensch sollte leichtfertig töten …< Und das werde ich auch nicht, niemals! Meine Magie ist zerstörerisch … Aber so wird sie auch Leben retten.“

Um zu verstehen, was ihre neuen Feinde waren, mussten sie erst einmal den Ursprung der sogenannten »Pest Cantha´s« finden. Zusammen mit Meister Togo machte sich die junge Elementarmagier deshalb auf den Weg in den Osten der Insel, nach Zen Daijun.

In Minister Chos Anwesen war Shikon No Yosei bereits geschockt gewesen, wie furchterregend die erkranken Geschöpfe sein konnten … aber hier wimmelte es nur so von Befallen. Es war immer wieder ein grauenhafter Anblick, wie sehr die Krankheit die Gestalt der Geschöpfe verändert, verzerrt und entstellt hatte. Sie schlug sich tapfer und kassierte dafür ein stolzes Lächeln ihres Meisters, dem ihre innerliche Überwindung sofort aufgefallen war. So stellte sich die schöne Shing Jea im Zentrum der großen Bibliothek allein einem besonders starker Befallenen. Genauso wie Meister Togo sie im Kampf gegen Minister Cho darum gebeten hatte, erwartete Shikon No Yosei diesmal seine Zurückhaltung … Sie rief die Kraft der Elemente an und ein Feuerregen ging auf die Kreatur nieder, die keine Chance hatte, zu entkommen.

Nachdem sie den Sieg errungen und die Leichen fortgeschafft hatten – Shikon No Yosei´s Feuermagie sei Dank –, sahen sich Meister und Schülerin in der Bibliothek um. Die uralte Magie, die in der Luft lag, war überdeutlich spürbar.

„Kennt Ihr diese merkwürdige Energie?“, fragte Shikon No Yosei besorgt.

Mit bleichem Gesicht kniete der Ritualist vor einem leuchtenden Ornament auf dem Boden und antwortete: „Ich kenne sie leider nur zu gut … Dabei hatte ich so sehr gehofft, meine Augen würden dieses Symbol nie mehr erblicken.“

„Was bedeutet es?“, hakte die schöne Shing Jea nach, „Es … macht Euch Angst, nicht wahr?“

Meister Togo richtete sich wieder auf, bevor er ernst erklärte: „Es ist ein Zeichen des Todes … ein Vorbote seiner Bosheit – das Gildensymbol von Shiro Tagachi!“

„Shi-Shiro … Tagachi? Ist … ist das Euer Ernst?“, erwiderte sie geschockt, „Der Mann, der einst das Meer in Jade und den Wald in Stein verwandelte …“

Er nickte knapp: „Das verheißt schlimme Zeiten für Cantha … Wenn sein Symbol erscheint, kann das nur eines bedeuten – Shiro ist auf dem Vormarsch! Er wird das Geisterreich verlassen und unser Land erneut ins Verderben stürzen. Er muss aufgehalten werden!“

Schweigen senkte sich über die Bibliothek. Schrecken spiegelte sich auf ihrem Gesicht. Wie alle Canthaner waren Shikon No Yosei und Seiketsu No Akari mit den Sagen aus dem Reich des Drachen aufgewachsen …

Mitfühlend suchte Meister Togo ihren Blick und sagte nach einer Weile: „Es tut mir leid, aber ich kann das nicht allein tun … Ich frage dich, Shikon No Yosei, wirst du im Kampf gegen Shiro Tagachi an meiner Seite stehen, um Cantha vor seinen finsteren Plänen zu retten?“

Die Luft blieb ihr im regelrecht im Hals stecken. Im Grunde hatte ihre fortgeschrittene Ausbildung gerade erst begonnen … und von einer Sekunde zur anderen stand Shikon No Yosei nicht mehr dem Ziel gegenüber, ihre Heimat Shing Jea von der Pest zu befreien, sondern stattdessen ganz Cantha! Sie, ein junges Mädchen, welches über kaum Kampferfahrung verfügte, sollte einen ganzen Kontinent retten?! Sie dachte an Seiketsu No Akari, ihre Tante Bishu und ihre Eltern, die sicher aus den Nebeln heraus über sie wachten … Alle Menschen und anderen Wesen wären zum Untergang verurteilt, wenn sie sich zurückzog. Cantha, wie sie es kannte, würde aufhören zu existieren. Alles würde ausgelöscht werden! Es lag allein an ihr … Doch gleichzeitig fürchtete sie sich – davor zu versagen, der Aufgabe nicht gerecht zu werden …

„>Wer kämpft, kann verlieren ... Wer aufgibt, hat schon verloren.<“, rezitierte sie eine von Meister Togo´s berühmtesten Aussagen und presste den herzförmigen Anhängen, welchen sie stets um den Hals trug, fest an ihre Brust, „Ich bin Shikon No Yosei, die Fee der vier Elemente … und Verteidigerin von Shing Jea. Ich werde kämpfen – koste es, was es wolle!“

Vielleicht war diese ihre Entscheidung ein Hinweis darauf, dass jene Prophezeiung wirklich von ihr handelte. Er hätte sie gern mehr darauf vorbereitet … hatte geglaubt, mehr Zeit zu haben. Doch das Schicksal ließ sich nicht auf sich warten – er musste seiner Tochter einfach vertrauen.

„Wir müssen zum Festland und dem Kaiser von diesen Vorgängen berichten.“, entschied Meister Togo mit fester Stimme, „Ich werde auch Nachricht an Mhenlo von Ascalon schicken, einem ehemaligen Schüler von mir – damit er dann in der Hauptstadt zu uns stößt. Wir werden jede Unterstützung gebrauchen, die wir kriegen können.“

Sie bewunderte ihn für seine Entschlossenheit und plötzlich kam ihr ein Gedanke: „Meister, bitte nennt mich an auch >Shiko< … Dieser Name gibt mir Kraft.“

Überraschung trat in seine Züge, dann ein stolzes Lächeln. Diese Kraft kam von Kai …
 

Begegnung in der Unterstadt

Kaum war das Duo in Kaineng angekommen, trennten sich Meister Togo und Shikon No Yosei vorerst – der Ritualist kümmerte sich darum seinen Halbbruder, Kaiser Kisu über die Lage in Kenntnis zu setzen; die Elementarmagierin sammelte in der Zwischenzeit weitere Informationen über Pest und Aktivitäten von Shiro Tagachi. Viele Bauern oder Händler waren bereits von Befallenen attackiert worden, dabei wäre die Bedrohung durch die Straßengilden der Jadebruderschaft und der Am Fah bereits groß genug gewesen – denn trotz den Bemühungen der kaiserlichen Wache blieben die Verstecke dieser Verbrecher unentdeckt, sodass sie die Bewohner der Hauptstadt weiterhin tyrannisieren konnten. Langsam begriff die schöne Shing Jea, dass tatsächliche das gesamte Reich des Drachens einen Verteidiger benötigte … nicht nur ihre Heimatinsel. So fern sie das überhaupt denken durfte, war diese Erkenntnis das einzig wirklich Gute an ihrem Aufbruch. Und so half Shikon No Yosei, wo sie nur konnte.

Etwa eine Woche später trafen sich Meister und Schülerin am Vizunahplatz wieder – dem früheren Wohnort der berühmten Assassine Vizu, welche maßgeblich an Shiro Tagachi´s einstigen Niederlage beteiligt gewesen war –, dort erwartete sie Bruder Mhenlo. Er war ein Mönch aus Tyria, um die zwanzig Jahre, der vor einigen Jahren schon einmal nach Cantha gereist war, um im Kloster von Shing Jea zu lernen. Doch statt großer Wiedersehensfreude gab es erst einmal einen heftigen Kampf gegen mehrere Horden unterschiedlichster Befallener zur Begrüßung zu bestreiten. Shikon No Yosei´s Inneres zog sich jedes Mal schmerzhaft zusammen, wenn einer ihrer Gegner fiel … Sie hatte die Lektion ihres Meister im Anwesen von Minister Cho nicht vergessen. Genauso wenig, wie ihre Entscheidung …

Da ließ ein erschrockener Laut sie herumwirbeln. Eine Gruppe Befallener marschierte direkt auf Meister Togo zu. Beflügelt durch die Geschwindigkeit des Windes rannte die junge Elementarmagierin über den Platz und stellte sich schützend vor ihn – dabei ignorierte sie gekonnt seine Versuche, sie zur Flucht zu überreden. Er selbst war es doch gewesen, der sie für die Aufgabe ausgesucht hatte, Shing Jea und seine Bewohner zu beschützen!

Einer der Befallenen schoss Blitze auf Shikon No Yosei ab. Doch weil sie so darauf bedacht war, ihren Meister vor Schaden zu bewahren, wurde sie ungeschützt von dem Zauber getroffen. Schmerz schoss sengend heiß durch ihren Körper und sie sank geschwächt zu Boden; Meister Togo stützte und redete auf sie ein, aber sie war unfähig zu sprechen. Am Rande ihrer Wahrnehmung flackerte plötzlich eine Aura auf, welche sie noch nie zuvor gespürt hatte. Neben ihrer Elementarmagie war dies ihr größtes Talent – noch bevor sie ins Kloster eingetreten war, hatte Shikon No Yosei bereits die Energieströme von Lebewesen wahrnehmen können und je älter sie geworden war, desto feiner prägte sich diese Fähigkeit aus; inzwischen konnte sie mühelos bekannte Auren lokalisieren und den Zustand desjenigen daran ablesen, ebenso wie Charaktereigenschaften und meist auch die Spezies. So bemerkte sie, dass es sich hierbei wohl um einen jungen Mann handeln musste … mit einer tief verwurzelten Traurigkeit und gleichzeitig großem Mut. Im nächsten Moment richtete sich ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Befallen – aber nicht weil sie erneut angriffen … stattdessen brach einer nach dem anderen zusammen und blieb bewegungslos liegen. Shikon No Yosei wusste sofort, dass sie tot waren.

„Was ist mit ihnen geschehen?“, fragte Bruder Mhenlo aufgeregt.

Während sich Meister Togo keinen Reim darauf machen konnte, fühlte Shikon No Yosei die fremde Präsenz verschwinden … Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Wer er auch sein mochte, er verstand sich darauf, seine Anwesenheit verschleiern.

Schnell sprach der Mönch ein Heilgebet über ihre Verletzungen. Dankbar stand Shikon No Yosei sichtlich gestärkt auf und die drei Gefährten kämpften sich weiter in Richtung Unterstadt vor. Von dort aus hätten sie eigentlich tiefer in die Stadt vordringen wollen … doch soweit kam es nicht – Shiro Tagachi erschien in seiner Geistergestalt und stahl ihnen die Seelen, ohne dass Meister Togo oder Bruder Mhenlo es verhindern konnten. Anschließend verschwand der Geächtete genauso schnell, wie er aufgetaucht war.

Diese Tat blieb den anderen Gesandten der Neben allerdings nicht verborgen und so begaben sie sich ebenfalls zum Ort des Geschehens, um die Seelen zurück in ihre Körper zu rufen. Anders als ihr Kollege verbargen sie sich jedoch nicht vor den ungeübten Augen der Elementarmagierin, die ehrfürchtig vor ihnen auf die Knie sank. Neben den Göttern Balthasar, Dwayna, Melandru und Lyssa verehrten besonders die Canthaner die Gesandten sowie die Geister der Nebel … Für gewöhnlich bekam kaum ein Sterblicher sie jemals zu Gesicht – es war eine besondere Auszeichnung!

Da begann Bote Vetaura zu sprechen: „Shiro darf sich nicht länger in die Angelegenheiten der Sterblichen einmischen, das werden wir nicht länger dulden!“

„Er vergisst seine Aufgaben als Gesandter …“, bemerkte Emissärin Heleyne, „Es ist unsere Pflicht, die Verstorbenen zum Tor der Nebel zu geleiten.“

Kurier Torivos pflichtete ihnen schnaubend bei: „Was er auch plant, er muss aufgehalten werden.“

„Als Gleichgestellte können wir jedoch nichts gegen ihn unternehmen.“, meldete sich Herold Demrikov zu Wort, „Anders als ihr … Wir haben eure Seelen aus den Nebeln zurückgeholt, das hat seinen Preis. Haltet Shiro Tagachi auf!“

Bote Vetaura ergriff erneut das Wort: „Doch dafür müsst ihr alle Weh no Su sein …“

„Ah, Weh no Su ... die himmlische Prüfung. Mhenlo und ich kennen sie, wir haben sie bereits vor einigen Jahren abgelegt.“, sagte Meister Togo nostalgisch, „Meine tapfere Schülerin … auf diesen Teil unserer Reise können wir dich nicht begleiten. Nur diejenigen, die noch nicht >näher an den Sternen< sind oder dem Himmelsministerium angehören, dürfen das Nahpuiviertel betreten.“

Shikon No Yosei nickte ergeben, als sie Meister Togo´s Wegbeschreibung zum sagenumwobenen Nahpuiviertel lauschte. Denn dort lebte Suun, das Orakel der Nebel …
 

Shikon No Yosei glitt an einer Wand zu Boden – vollkommen erschöpft, hoffnungslos verirrt und absolut ratlos. Schon seit Stunden wanderte sie durch die verworrenen Gänge der Unterstadt – hier war es schlimmer als in jedem Labyrinth. Immer und immer wieder war sie in eine Sackgasse gelaufen, bis sie nicht mehr sagen konnte, in welche Richtung sie hätte gehen musste und aus welcher sie gekommen war. Im Grunde hätte sie damit rechnen müssen … Wenn es eine Fähigkeit gab, über die Shikon No Yosei nicht verfügte, dann auf jeden Fall sich in unbekanntem Gelände zu orientieren – insbesondere wenn das Gebiet so verzwickt, unübersichtlich und größtenteils schlichtweg im Dunkel lag wie die Unterstadt, welche Kaineng´s Kanalisation bildete.

Sie erinnerte sich an ihre Kindheit … Bevor sie und Seiketsu No Akari ihre Ausbildung im Kloster begonnen hatten, waren die beiden Mädchen oft stundenlang – manchmal sogar mehrere Tage – über die Insel gestreift. Anfangs hatte sich Shikon No Yosei gefürchtet ihr Dorf oder das Sunqua-Tal zu verlassen, doch die Braunhaarige hatte sie stets wieder nach Hause geführt. Inzwischen kannte sie jeden Fleck von Shing Jea – hätte selbst mit verbundenen Augen den richtigen Weg gefunden und kannte alle tückischen Stellen. Nicht einmal die Räuber der Purpurschädel-Gilde schreckten sie – nicht nachdem die Cousinen das Lager vor einem Jahr im Alleingang gestürmt und damit erfolgreich ihre Zwischenprüfung bestanden hatten. Wäre Seiketsu No Akari doch auch jetzt an ihrer Seite! Die junge Mönchin würde den Weg zum Nahpuiviertel sicher finden … Zum ersten Mal, seit Shikon No Yosei eingewilligt hatte die Verteidigung von Shing Jea zu übernehmen, wurde ihr bewusst, wie abhängig sie bislang gewesen war. Allein war sie nichts wert; es waren die Menschen um sie herum, die sie zu der Person machten, die sie wirklich war …

Aus heiterem Himmel sprang die Elementarmagierin plötzlich auf die Füße. Sie hatte jene Aura wahrgenommen, die sie bereits auf dem Vizunahplatz gespürt hatte.

„Wer bist du?“, wollte Shikon No Yosei lautstark wissen und zeigte mit ausgestrecktem Finger in den undurchdringlichen Schatten.

Ein amüsiertes Lachen klang durch die Gänge. Keine Sekunde später erschien unmittelbar vor ihr ein junger Mann. Sie musterte ihn perplex. Sein braunes Haar fiel ihm in kurzen Fransen bis zu den dunklen Augen ins Gesicht. Sein Mund und seine Nase waren durch eine braune Maske verdeckt und seine restliche Kleidung, die im selben Ton gehalten war, wurde zusätzlich von einem wehenden Mantel abgerundet, auf dem ein Wappen – zwei gekreuzte Äxte – prangte.

„Ihr habt mich entdeckt, dies gelingt nicht vielen. Mein Name ist Ohtah … Ohtah Ryutaiyo.“, antwortete der Fremde schmeichlerisch, „Und sollte die Frage nicht eher lauten, was eine Schülerin des angesehenen Meister Togo allein an solch einem unangemessenen Ort verloren hat? Wir leben in sehr gefährlichen Zeiten – überall lauern die Mitglieder der Straßengilden und die Befallenen. Meint Ihr nicht auch … Shikon No Yosei?“

Ihre Augen weiteten sich erschrocken, während sie fragte: „Woher kennst du meinen Namen?“

„Ich habe Euch seit Eurer Ankunft in Kaineng beobachtet. Ihr habt sicher bemerkt, dass ich es war, der die Befallen auf dem Vizunahplatz tötete.“, erklärte Ohtah Ryutaiyo und kniete mit gesenktem Blick vor ihr nieder, „Zu meiner Schande muss ich gestehen, ich war ein Assassine der Am Fah … Glaubt mir, Ihr könntet ein perfektes Zielobjekt für sie sein – deshalb biete ich Euch meine Hilfe an.“

Hatte sie sich nicht gerade noch Unterstützung gewünscht? Aber etwas machte sie stutzig … Wie kam ein fremder (Ex-)Verbrecher auf den Gedanken, ihr beizustehen? Wusste er überhaupt, auf was er sich da einließ? Die ganze Situation war zu merkwürdig … Er war merkwürdig. Und gleichzeitig auf irgendeine Weise unglaublich faszinierend.

Obwohl sie keinerlei dunkle Absichten in seiner Aura entdecken konnte, hakte sie nach: „Warum sollte ich dir vertrauen?“

Demostativ zog er einen Dolch aus seinem Halter, hielt ihn ihr entgegen und sagte beinahe ergeben: „Weil ich Euch mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln beschützen werde, Shikon No Yosei – wenn nötig auch mit meinem Leben. Außerdem … scheint es mir so, als bräuchtet Ihr einen Führer.“

Sie wusste nicht, welche Tatsache sie mehr erschreckte – dass er sie beschützen wollte, obwohl er sie kaum kannte oder dass sie urplötzlich ein tiefes Vertrauen zu ihm spürte, obwohl sie sich nicht kannten. Und so brachte sie nicht mehr als ein stummes Nicken zustande.
 

Die Prüfung - Weh no Su

Es dämmerte bereits, als Shikon No Yosei unter der Führung von Ohtah Ryutaiyo den Zugang zum Nahpuiviertel erreichte. Der verzierte Torbogen sollte ihnen später wie ein Wendepunkt in Erinnerung bleiben …

„Danke, dass du mich begleitet hast.“, sprach Shikon No Yosei ruhig, „Nun muss ich mich den himmlischen Prüfungen stellen …“

Der ehemalige Am Fah trat in ihr Blickfeld und entgegnete: „Ich fürchte mich nicht. Ich bleibe an Eurer Seite … Mein Wort bindet mich – koste es, was es wolle! Solange ich lebe …“

„A-Aber …“, begann sie, wechselte dann aber abrupt das Thema, „Weißt du, warum ich Weh No Su werden muss?“

Ohne richtig darauf einzugehen, meinte er ernst: „Ich weiß, warum Ihr nach Kaineng gekommen seid … Ihr könnt diesen Kampf nicht allein bestreiten. Ich werde nicht zulassen, dass Shiro Tagachi in irgendeiner Weise Hand an Euch legt!“

Wieder war die schöne Elementarmagierin von seinen Worten verblüfft, errötete sogar. Gleichzeitig ließ es sich nicht leugnen – allein konnte sie wenig ausrichten. Selbst mit Bruder Mhenlo wäre es für Shikon No Yosei und Meister Togo immer noch ein schier aussichtsloses Unterfangen … jeder weitere Verbündeten würde ihre Chance verbessern. Vor allem in Anbetracht der unzähligen Befallenen, die Cantha inzwischen bevölkerten. Und wie sie gegen ihren eigentlichen Gegner bestehen sollten, war erst recht so eine Sache.

„Dein Versprechen … ich nehme es dankbar an.“, erklärte die junge Shing Jea verlegen, „Gehen wir, Ohtah!“

Er lächelte schief und sie betraten Seite an Seite das Nahpuiviertel. Zwischen einer Ansammlung von Planeten-Modellen machten die beiden Kämpfer einen kleinen Schrein aus, vor dem ein alter Mann mit langem Bart und ausladendem Hut kniete.

Als er sie bemerkte, erhob er sich und sprach Ehrfurcht erregend: „Ah … ich fragte mich schon, wann Ihr kommen würdet … Mein Name ist Suun. Ich bin das Orakel der Nebel.“

„Ich bin-“, wollte sich Shikon No Yosei vorstellen.

Jedoch unterbrach er sie schnaubend: „Ich kenne Eure Namen. Und ich weiß auch, warum Ihr hier seid … Andere haben mich schon um Hilfe ersucht, weitere werden kommen.“

„Was sollen wir-“, ergriff sie erneut das Wort, wurde allerdings abermals von ihm gehindert.

Suun beschrieb mit den Armen Kreise in der Luft, während er verheißungsvoll fortfuhr: „Die Sterne im Nachthimmel lassen mit ihrem Licht Ebenbilder ihrer selbst auf der Welt entstehen … Kaijun Don, die Kirin … die Verkörperung der Verderbtheit, vom reinen Guten zum reinen Bösen gewandelt. Kuonghsang, der Schildkrötendrache … der ewige Widerspruch, weder dies noch das. Hai Jii, der Phönix … das Pendant des ewigen Feuers, das in der Unterwelt brennt. Und schließlich, von allen am mächtigsten … Tahmu, der Drache – die ständige Mahnung an Grausamkeit, Schmerz und Leid. Ihr müsst die Avatare dieser vier Himmelskörper besiegen, wenn Ihr näher an die Sterne kommen wollt. Nur dann könnt Ihr ins Geisterreich blicken und wirklich gegen Shiro Tagachi kämpfen … Doch seid gewarnt – fallt Ihr unter den Himmlischen, so komme ich Euch nicht zu Hilfe! Und nun belästigt mich nicht mehr. Versucht Euch an den Sternen … wenn Ihr wollt, aber lasst mich jetzt in Ruhe!“

Ohne sie weiter eines Blickes zu würdigen, verließ Suun den Ort und ließ lediglich ein goldenes Portal zurück, das sie zu den Avataren führen sollte.

Shikon No Yosei sah besorgt zu Ohtah Ryutaiyo: „Du lässt dich also wirklich nicht davon abbringen, mich zu begleiten?“

Er starrte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann packte er überraschenderweise ihr Handgelenk und rief entschlossen: „Lasst uns Weh No Su werden!“
 

Kaum waren sie durch das Portal getreten, wurden Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo bereits von einer Pfeilsalve der Sternenwächter begrüßt, die zur Familie der Tengu gehörten und als Leibwache der Himmlischen fungierten. Innerhalb von Sekundenbruchteilen stieß der geschickte Assassine seine Begleiterin zur Seite, sodass sie dem Angriff knapp entgehen konnte. Er selbst zog seine beiden Dolche und ging zum Gegenschlag über. Derweil konzentrierte Shikon No Yosei, die sich hinter einer Häuserwand versteckt hielt, ihre magischen Kräfte. Sie spürte die Essenz des Feuers durch ihre Adern pulsieren. Daraufhin ließ sie einen gewaltigen Feuersturm vom Himmel regnen und als die Feuerbeherrscherin schließlich wieder hervortrat, entdeckte sie auch schon den ersten Avatar – Kaijun Don. Nach und nach lockten die beiden die restlichen Sternenwächter von der himmlischen Kirin weg und Ohtah Ryutaiyo tötete sie mit präzisen Dolchstößen.

„Du beherrschst deine Dolche besser, als ich erwartet hatte.“, lobte Shikon No Yosei ihn sichtlich beeindruckt.

Verblüfft von dieser Anerkennung erwiderte er mit leichter Röte auf den Wangen: „Wie gesagt, ich hatte ausgezeichnete und sehr berüchtigte Lehrmeister. Aber … Eure Magie sollte man wohl ebenfalls nicht unterschätzen.“

Ein scheues Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor es wieder einen ernsten Ausdruck annahm … sie hatten schließlich eine Aufgabe zu erfüllen! Kaijun Don trabte langsam auf die Besucher zu. Ihr Körper bestand lediglich aus einer Ansammlung von Licht und Sternen, was unweigerlich bedeutete, ein physischer Angriff seitens Ohtah Ryutaiyo würde keine Wirkung auf sie haben – Shikon No Yosei´s Mundwinkel gingen nach oben. Er hatte recht gehabt … sie konnte Cantha nicht allein retten, das wäre pure Selbstüberschätzung gewesen und hätte wohl den Untergang des Kaiserreichs zur Folge gehabt – doch auf der anderen Seite war er in einem Kampf wie diesem genauso auf sie angewiesen. Sie brauchten einander, um Shiro Tagachi aufhalten zu können!

Während sie diesen Gedanken nachgehangen war, hatte Shikon No Yosei bereits erneut Magie gesammelt, um ihren vernichtendsten Feuerzauber auf Kaijun Don niederfahren zu lassen – den Meteorenschauer! Dies war nicht nur ihr mächtigster Zauber … er richtete sich einzig gegen das, was sie als tatsächliches Ziel gewählt hatte – eine Fähigkeit, die sie künftig noch zur Perfektion bringen würde. Daher nutzte die Rothaarige ihn auch nur, wenn sie genug Zeit hatte, um sich ausreichend konzentrieren zu können. Ohne die vollkommene Kontrolle würden die feurigen Gesteinsbrocken alles und jeden im Wirkungsbereich vernichten … So war es nur der Avatar, welcher schonungslos getroffen wurde.

Sie folgten dem Weg durch das Nahpuiviertel weiter, bis sie auf Kuonghsang trafen, der zwar überraschenderweise ziemlich schwächlichen Widerstand leistete, jedoch viel mehr Sternenwächter um sich versammelt hatte. Die Bogenschützen legten Pfeile an, spannten ihre Sehnen und zielten auf Ohtah Ryutaiyo, bereit jeden Moment zu schießen.

„Ohtah, runter!“, rief Shikon No Yosei.

Instinktiv warf er sich zu Boden und spürte die Hitze eines gewaltigen Feuerballs über sich hinwegfliegen und die Elementarmagierin zwinkerte ihm zu: „Damit sind wir quitt!“

Kurz bevor sie Kurs auf den dritten Himmlischen nahmen, blieb Shikon No Yosei plötzlich wie erstarrt stehen. Etwas machte sie stutzig – die Prüfung war bislang viel zu einfach gewesen. So langsam bezweifelte sie, dass es nur um die Avatare ging … Offenbar sollten die analytische Fähigkeiten, die benötigt wurden um eine Situation vollständig zu erfassen und einschätzen zu können, ebenfalls geprüft werden. Sie mussten weiterhin besonnen bleiben, vorschneller Übermut würde ihre Mission wahrscheinlich zum Scheitern verurteilen. Und diese Vermutung bestätigte sich wenig später, denn sie standen Tahmu gegenüber, welcher laut Suun der stärkste Gegner im Laufe dieser Prüfung sein würde.

Leise wollte Shikon No Yosei von dem Assassinen wissen: „Hast du irgendeine gute Idee?“

„Ja … und sie wird Euch nicht gefallen. Wir können es nicht gleichzeitig mit Tahmu und den Sternenwächtern aufnehmen.“, erwiderte er und zog eine Handvoll befiederter Nadeln aus einer Gürteltasche, „Es ist schwierig ... und ziemlich riskant. Ich habe genug Giftpfeile, mit denen ich die Wachen ausschalten kann, aber meine Schattenverschmelzung hält nur ein paar Sekunden … Ich weiß nicht mal, ob ich Tahmu damit täuschen kann.“

Shikon No Yosei gab einen entschlossenen Laut von sich: „Dann nutze die Zeit, die du hast … Mein Flammenschild wird Tahmu´s Angriff wahrscheinlich ebenfalls nicht allzu lange standhalten können.“

Sie ignorierte den teils erschrockenen, teils protestierenden Blick ihres Gegenübers. Stattdessen kanalisierte sie die Macht des Feuers – die Shing Jea hielt ihren linken Arm vor der Brust und murmelte Beschwörungen. Kaum hatte sie die Formel zu Ende gesprochen, pragte ein Schild aus züngelnden Flammen an ihrem Arm.

Mit einem letzten Blick auf Ohtah Ryutaiyo sagte sie lächelnd: „Ich vertraue dir …“

Das ehemalige Mitglied der Am Fah wurde augenblicklich knallrot und schüttelte abwertend den Kopf. Er durfte nicht die Nerven verlieren! Währenddessen lief Shikon No Yosei auf Tahmu zu und Ohtah Ryutaiyo begann die Sternenwächter anzulocken. Er verschmolz mit den Schatten, ließ die tödlichen Giftpfeile fliegen – soweit schien ihr Plan zu funktionieren.

Doch plötzlich hörte der Assassine einen Schmerzensschrei und wandte den Blick zu Shikon No Yosei um. Ihr Schild hatte bereits Risse, war kurz vor dem Zerbersten. Hastig beendete er seine Aufgabe und rette sie in letzter Sekunde via Schattenschritt vor Tahmu´s gewaltigem Feuerblitz. Nach einem kurzen Schockmoment entfesselte Shikon No Yosei ihre Magie in einer Feuerwalze, die ihnen letztendlich den Sieg über den Drachen brachte. Dankbar sah sie ihn an – bis ihnen bewusst wurde, dass sie immer noch in seinen Armen lag und sie sich von ihm löste.

Damit war nur noch ein Himmlischer übrig. Den Weg zu ihm verbrachten sie schweigend. Vor Hai Jii, dem Phönix, fürchtete sich Shikon No Yosei am meisten. Er war nämlich ein Mesmer … ein Meister der Illusion und Täuschung, der über die Macht verfügte die Konzentration eines anderen Zauberwebers zu stören oder im schlimmsten Fall sogar zu versiegeln. Auch Ohtah Ryutaiyo war sich der Gefahr für seine Begleiterin bewusst … Daher zog er die Aufmerksamkeit des Phönix direkt auf sich, ohne dass Hai Jii Shikon No Yosei überhaupt bemerkte und besiegelte damit sein Schicksal.

Nachdem ihre Attacke verraucht war, erschien ein neues Portal. Ohtah Ryutaiyo hielt ihr auffordernd seine Hand entgegen. Lächelnd ergriff Shikon No Yosei sie und gemeinsam schritten sie hindurch. Nun waren sie endlich näher an den Sternen und konnten mit dem Geisterreich in Verbindung treten. Doch ohne den geschickten Assassinen hätte die mutige Shing Jea die Prüfung wohl nicht bestanden …
 

Der Tempel der Helden

In einem kleinen Außenposten, genannt Senji´s Ecke trafen Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo wieder auf Meister Togo und Bruder Mhenlo, die Gerüchte über neue Aktivitäten von Shiro Tagachi aufgeschnappt hatten. Allerdings waren sie mehr als verwundert über den fremden Begleiter, den sie mitbrachte.

„Du hast es geschafft, mein Kind!“, entfuhr es Meister Togo, als er seine Schülerin erblickte, ließ seinen Blick anschließend allerdings prüfend über den maskierten Fremden wandern, „Wer ist dieser junge Mann?“

Ohtah Ryutaiyo verbeugte sich vor ihm und erklärte: „Ohtah Ryutaiyo, Meister, meines Zeichens Assassine. Es ist mir eine Ehre, Euch persönlich kennenzulernen.“

„Und warum bist du hier?“, hakte Bruder Mhenlo misstrauisch nach.

Shikon No Yosei wollte antworten, aber Ohtah Ryutaiyo war schneller: „Ich war einst ein Mitglied der Am Fah und habe nun eine Schuld gegenüber Cantha abzutragen … Darum werde ich Shikon No Yosei bei ihrem Kampf gegen Shiro Tagachi unterstützen. Mit oder ohne Eure Erlaubnis.“

Sprachlos sah sie den jungen Mann an, unfähig etwas zu erwidern. Perplex, überrascht, verwundert, verblüfft, all diese Worte reichten nicht um ihren Zustand annähernd zu beschreiben.

„Mutig gesprochen.“, erwiderte der Leiter des Klosters, „Nun denn, wie es scheint hast du Shiko´s Vertrauen ja bereits gewonnen … Und ich werde keiner ihrer Entscheidungen widersprechen.“

Die junge Elementarmagierin fiel ihrem Meister regelrecht um den Hals und sagte: „Ich danke Euch, Meister!“
 

Meister Togo führte die kleine Gruppe zum Tahnnakai-Tempel, der im Osten Kaineng´s lag und viele Geister canthanischer Helden beherbergte. Einer von ihnen war die Assassine Vizu, welche vor zweihundert Jahren gegen Shiro Tagachi gekämpft hatte. Im Tempel erwartete sie jedoch etwas, auf das sie kein Gerücht der Welt hätte vorbereiten können – Shiro war nach seinem erfolglosen Unterfangen in der Nähe des Vizunahplatzes nicht untätig geblieben. Die ehrenwerten Geister standen unter seiner Kontrolle; sie waren in Shiro´ken-Konstrukte verwandelt worden, die sie in jeden Raum des Tahnnakai-Tempels erwarteten. Shikon No Yosei fiel es äußerst schwer die Helden anzugreifen, die einst ihr Leben für Cantha gegeben hatten; sie waren damals in genau derselben Situation gewesen wie sie nun, hatten dieselben Zweifel verspürt und genauso hart gekämpft.

Am schlimmsten war für sie allerdings die Begegnung mit der gebundenen Teinai … Denn Teinai war Zeit ihres Lebens ebenfalls eine Elementarmagierin von Shing Jea gewesen, die ihre Ausbildung im Kloster absolviert hatte. Berühmt war sie durch das Bezwingen eines monströsen Dämons mit Hilfe der vier Elemente geworden. Nach einem erfüllten Leben, welches sie einzig dem Schutze Cantha´s gewidmet hatte, war ihre Seele in den Tempel eingezogen … Shikon No Yosei erstarrte bei ihrem Anblick. Tränen liefen geräuschlos ihre Wangen hinab. Sie ertrug es nicht, dass Shiro Tagachi die mächtigste Elementarmagierin in der Geschichte Cantha´s so geschändet hatte. Den Kampf, der um sie herum tobte, nahm sie überhaupt nicht wahr. Sie war in ihren Gedanken, in diesem Anblick gefangen.

„Habt Ihr etwa vergessen, wer den Geistern das angetan hat? Denkt an Eure Aufgabe und Euer Ziel!“, drang Ohtah Ryutaiyo´s Stimme urplötzlich als einziges zu ihr durch, während er unerbittlich seine Dolche wandern ließ, „SHIKO!“

Ihre Starre löste sich. Überrascht wendete sie ihm ihren Blick zu. Zum ersten Mal hatte er sie »Shiko« genannt … Und er kämpfte. Im Gegensatz zu ihr. Sie sollte sich mutig dem Feind entgegenstellen. Dem wahren Feind – Shiro Tagachi!

So riss sich Shikon No Yosei endlich zusammen und antwortete: „Danke … Du hast Recht, Ohtah, es tut mir Leid. Ich werde Teinai befreien und Shiro aufhalten! Denn ich bin Shikon No Yosei, die Fee der vier Elemente!“

Mit diesen Worten befreite sie ihre magische Kräften aus ihren Körper und die gebundene Teinai verwandelte sich augenblicklich in den friedlichen Geist zurück. Glücksgefühle pumpten durch Shikon No Yosei, wieder hatte Ohtah Ryutaiyo ihr geholfen. Doch so gern sie sich noch mit der ehrwürdigen Elementarmagierin unterhalten hätte, die anderen Geister benötigten ihre Hilfe. Daher verbeugte sich Shikon No Yosei zum Abschied und betrat mit ihren Gefährten den nächsten Raum.

Was sie nicht mehr mitbekam, war, wie Teinai leise murmelte: „Shikon No Yosei, ich stehe tief in deiner Schuld … Du hast nicht nur mich befreit, sondern auch die anderen von Shiro kontrollierten Geister. Dafür danke ich dir von Herzen … Ich spüre eine große Kraft in dir schlummern, derer du dir noch nicht bewusst bist. Ich bin sehr gespannt, wohin Reise dich noch führen wird …“

Nachdem die Worte verklungen waren, löste sich ihr Geist auf … ohne dass jemand ahnte, was sie soeben getan hatte.

Die Gruppe arbeitete sich derweil immer weiter vor und erreichte schließlich das Zentrum, in dem sich Vizu für gewöhnlich aufhielt … Jedoch stand auch sie bereits unter Shiro´s Einfluss. Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo gingen direkt zum Angriff über, da sie den Kampf so schnell wie möglich beenden wollten. Meister Togo und Bruder Mhenlo unterstützten sie dabei. Der Assassine kämpfte mit Vizu Dolch an Dolch. Mit einer plötzlichen Drehung gelang es ihm, sie zu entwaffnen und Shikon No Yosei erlöste sie von der finsteren Umklammerung.

Es war Meister Togo, der vortrat und sie ansprach: „Verehrteste Vizu … vor zweihundert Jahren, am Tag des Jadewindes, besiegtet Ihr Shiro. Wir möchten von Euch lernen, eben dies zu tun.“

„Es ist wahr – meine Klinge war es, die das Kampfglück wendete … doch nicht ich führte den letzten Schlag.“, erklärte Vizu ruhig, „Wenn Ihr Shiro Tagachi wirklich aufhalten wollt, müsst Ihr den Kurzick-Helden Viktor und den Luxon-Champion Archimorus finden.“

Interessiert fragte Shikon No Yosei: „Wie können wir mit ihnen in Kontakt treten?“

„Die Kurzick hüten die Urne ihres Helden mit großem Eifer … Die Luxon ehren ihren Champion, indem sie den Speer mit seinem Geist zwischen den Clans weiterreichen … Sucht diese beiden Artefakte! Denn habt ihr beide ... so können die Geister darin Euch zeigen, wie Shiro zu besiegen ist.“, antwortete die Assassine mit geschlossenen Augen.

Meister Togo verbeugte sich und sagte: „Habt Dank, Vizu. Ich würde mich gerne länger mit Euch unterhalten, aber unsere Zeit drängt.“

„Keine Sorge, Togo – wir werden noch genug Zeit zum Reden haben …“, flüsterte sie geheimnisvoll, „Verlasst Euch darauf.“
 

Die Kurzick und die Luxon

Sie waren zur Feste Maatu gegangen, um dort die Nacht zu verbringen – außerdem war sie der letzte Stützpunkt, bevor sich das Pongmei-Tal in den Echowald und das Jademeer teilte. Doch nicht die ganze Gruppe fand hier Ruhe. Ohtah saß auf dem Dach ihrer Unterkunft und starrte in den Sternenhimmel, ohne die glühenden Punkte wirklich zu sehen. Seine Gedanken drehten sich um Shikon No Yosei … ihr Lächeln, ihre Stimme, ihre Augen. Jeder Moment mit ihr hatte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Als er sie auf dem Vizunahplatz zum ersten Mal erblickte, war er von ihr gefesselt gewesen … wollte sie um jeden Preis beschützen. Dieser Entschluss hatte sich in den letzten Tagen, da er im Kampf direkt an ihrer Seite stand, nur noch mehr gefestigt.

„Shiko ...“, hauchte der Assassine in die Dunkelheit und schloss träumerisch doch noch die Augen.

Was aufgrund von Meister Togo´s Erläuterung am nächsten Morgen nur gut gewesen war: „Uns läuft die Zeit davon. Bislang hatten wir Glück … aber wie lange wird das noch lange gutgehen? Nein, wir dürfen uns nicht mehr auf den Zufall verlassen – wir müssen Shiro einen erheblichen Schritt voraus sein, bevor er das nächste Mal in Aktion tritt. Darum werden wir uns trennen, um die Artefakte der Kurzick und der Luxon zu besorgen! Mhenlo, Ihr hattet früher einen sehr guten Draht zum Grafen und ich denke, er schätzt Euch noch immer. Ich selbst werde Rhea aufsuchen. Wir waren früher einmal … Freunde. Und Ohtah begleitet mich.“

Entsetzen spiegelte sich in Shikon No Yosei´s brüchiger Stimme wieder: „Das … das heißt, ich … ich soll mit Bruder Mhenlo zu den Kurzick … während Ihr die Luxon überzeugen wollt … zusammen mit Ohtah …“

Ihr Blick wanderte zu Ohtah Ryutaiyo. Zum ersten Mal seit sie sich in der Unterstadt begegnet waren, sollte sie getrennte Wege gehen. Aber nicht nur Shikon No Yosei war bei diesem Gedanken unwohl zumute – dem Assassinen ging es nicht anders. Was würde passieren, wenn er nicht bei ihr sein konnte, um sie zu beschützen? Die Angst darüber, erschauderte ihn … und sein Herz versetzte seiner Brust einen schmerzenden Stich.
 

Am Eingang des Echowaldes wurden Bruder Mhenlo und Shikon No Yosei von Graf zu Heltzer und seiner Gefolgschaft in Empfang genommen, denn der Mönch hatte einen Botenvogel mit der Nachricht über seinen baldigen Besuch vorausgeschickt.

„Es ist lange her, dass wir uns begegnet sind, Mhenlo … zu lange.“, meinte der Graf melancholisch.

Bruder Mhenlo verbeugte sich höflich und erwiderte: „In der Tat, Graf, es tut mir Leid. Aber ich bin froh, dass es Euch gut geht.“

„Ich bin ähnlich erfreut.“, stimmte Petrov zu Heltzer ihm zu, „Allerdings kenne ich Euch zu gut … dies ist kein einfacher Höflichkeitsbesuch. Also … warum seid Ihr zu mir gekommen?“

Der Mönch sah ihn ernst an und antwortete: „Wir bitten Euch um die Urne des heiligen Viktor.“

„Ihr verlangt nicht nach einer Kleinigkeit, das ist Euch sicher bewusst. Wir sprechen hier immerhin von den verbrannten Überresten unseres größten Helden, der ganz allein Shiro, den Verräter bezwang. Weshalb bittet Ihr uns darum?“, wollte der Adlige verblüfft wissen.

Shikon No Yosei, welche seine Aussage über Sankt Viktor dezent ignorierte, ergriff mit ruhiger Stimme das Wort: „Weil Shiro Tagachi zurück ist, verehrter Graf.“

Die Gesichter der Kurzick zeigten Verwunderung, Schock und Zorn, was durchaus verständlich war, wenn man bedachte, dass Shiro Tagachi die Schuld am Zustand des Echowaldes trug …

„Nun … dann war es weise von Euch zu uns zu kommen.“, entgegnete er, während er die junge Elementarmagierin musterte, „Wir möchten Euch helfen … doch ich fürchte, wir können Euch die Urne nicht einfach so geben. Die Kathedrale ist ein sehr gefährlicher Ort geworden – der magische Schutz hat versagt und widerliche Monster haben unser Heiligtum erstürmt. Dorthin zu gehen, wäre ein großes Risiko … Dennoch haben wir wohl keine andere Wahl. Meine Tochter wird Euch führen. Möge der Himmel Euch und Eurem Unterfangen hold sein …“
 

Von einem Wächter, der den nördlichen Zugang zum Jademeer beschützte, erfuhren Ohtah Ryutaiyo und Meister Togo, dass sich die Älteste Rhea – die spirituelle Anführerin der Fraktion – in Boreas-Meeresgrund aufhielt. Als sie ebenfalls dort eintrafen, herrschte ein riesiger Auflauf an Luxon. Es dauerte eine Weile, bis sie das Oberhaupt gefunden hatten.

Meister Togo sprach sie an, während der Assassine im Hintergrund blieb: „Rhea … ich bin es, Togo vom Kloster von Shing Jea. Ich muss dringend mit dir sprechen.“

Überrascht schaute sie auf und sagte mit einer Spur Melancholie: „Togo … was für ein Anblick! Ich fragte mich schon, wann du aus deinem selbstgewählten Exil zurückkehren würdest. Wie du es in der Enge des stickigen Klosters aushältst, werde ich nie verstehen … Nun, was führt dich zu mir, nach so vielen Jahren?“

„Wir brauchen den Speer des Archimorus.“, erwiderte Meister Togo entschieden.

Die Älteste Rhea schüttelte den Kopf, ehe sie beinahe vorwurfsvoll meinte: „Du weißt, dass ich dir den Speer nicht einfach so geben kann … Morgen kehrt Zhu Hanuku, der große Krake aus der Tiefe zurück. Was hast du eigentlich in deinem Kloster gelernt?“

„Wohl nicht genug über die Luxon-Kultur …“, erwiderte er kleinlaut.

Zustimmend erklärte sie: „Offensichtlich. Jedes Jahr kommt Zhu Hanuku wieder, dann findet die Versammlung statt. Die Stärksten von uns kämpfen um das Recht, derjenige zu sein, der den magischen Kraken besiegt und in die Wellen treibt … Togo, wenn du den Speer wirklich willst, müssen du und dein Begleiter wohl darum ihn kämpfen!“
 

Gräfin Danika brachte Shikon No Yosei und Bruder Mhenlo zur Kathedrale zu Heltzer, welche von seltsamen Wesen, sogenannten Aufsehern, belagert wurde. Sie waren einst die Beschützer des Echowaldes und lebten mit den Kurzick in Frieden. Sie unterstanden Urgoz, dem Wächter der Bäume. Doch seit dem Tag des Jadewindes hielten sie die Kurzick für Feinde.

Nachdem die kleine Gruppe es geschafft hatte, den Platz vor dem Haupttor freizuräumen, zog Danika ein Messer aus der Tasche.

Sie schnitt sich in den rechten Zeigefinder und sprach: „Oh, Blut der zu Heltzer … öffne dieses Tor und gewähre uns Einlass in die Kathedrale!“

Das Tor gehorchte ihrem Ruf. Im Innern des gewaltigen Gebäudes lag ein kleiner Schrein, in dem die Urne aufbewahrt wurde. Doch die weiteren Aufsehern bedeuteten einen erneuten Kampf. Als schließlich auch dieser Sieg auf Seiten von Shikon No Yosei und ihren Verbündeten lag, stellte sich die Gräfin der jungen Shing Jea gegenüber und bedeutete ihr mit einer leichten Verbeugung die Urne entgegen zu nehmen.

„Du symbolisiert die Hoffnung Cantha´s … in deinen Händen liegt unser aller Zukunft! Der heilige Viktor wird dich sicher gewähren lassen.“, erklärte sie lächelnd.

Nach einem kurzen Zögern nickte Shikon No Yosei und nahm die Urne von ihrem angestammten Platz. In der nächsten Sekunde gab es eine starke Erschütterung, die einem Erdbeben gleichkam und die Kathedrale zum Einsturz brachte. Bruder Mhenlo eilte durch zurück das Tor hinaus, doch bevor Shikon No Yosei und Gräfin Danika ihm folgen konnten, wurde der Eingang verschüttet.

„Shiko, du müsst Gräfin Danika zum Hinterausgang begleiten! Hast du verstanden? Wir treffen uns dort.“, rief Bruder Mhenlo, in der Hoffnung seine Stimme habe sie erreicht.

Glücklicherweise hatten die beiden Frauen ihn trotz der Gesteinsmassen verstanden und machten sich auf den Weg. Sie rannten die Treppe neben dem Schrein nach oben, nur um auf auf eine große Gruppe Aufseher zu stoßen; die Waldläufer schossen sofort ihre ersten Pfeile ab.

Das Surren der Pfeile wurde von einer ausdrucksstarken, männlichen Stimme unterbrochen, die jedoch nur Shikon No Yosei hören konnte: „Lasst die Urne fallen!“

Obwohl sie den Besitzer jener Stimme nicht kannte, folgte sie seiner Aufforderung. Als die Urne den Boden berührte, spannte sich eine leuchtend blaue Kuppel über Shikon No Yosei und die Danika, sodass sie die Aufseher problemlos besiegen konnten. Verwundert betrachtete die Elementarmagier die Urne. Die Magie, die in ihr steckte, war alt und mächtig. Vielleicht hatten sie doch eine reelle Chance im Kampf gegen Shiro Tagachi … Um den Weg fortsetzen zu können, hob Shikon No Yosei die Urne wieder auf.

Nach einer Vielzahl von Kämpfen und Scharmützeln erstreckte sich vor ihnen endlich der Weg, welcher zum Ausgang führte. Gräfin Danika zog erneut das Messer und vollzog auch hier den Blutzauber. Draußen wurden sie bereits von Bruder Mhenlo erwartet, der die Urne ehrfürchtig betrachtete. Ihre Mission war erfolgreich abgeschlossen. Melancholisch dachte Shikon No Yosei an Ohtah Ryutaiyo und Meister Togo, die – was sie natürlich nicht wusste – sich in diesem Augenblick auf den Kampf um den Speer des Archimorus vorbereiteten.
 

Ohtah Ryutaiyo´s Miene war entschlossen, seine Dolche geschärft. Dies war seine Chance sich in Meister Togos Augen zu beweisen! Er würde nicht verlieren … Stattdessen wollte er den Kampf so schnell, wie möglich hinter sich bringen, um Shikon No Yosei wiederzusehen. Er vertrieb den aufkommenden Gedanken, ihr könne im Echowald etwas zugestoßen sein, mit einem heftigen Kopfschütteln.

Meister Togo wirkte äußerst angespannt, als er ihm zuflüsterte: „Die Luxon werden den Speer nicht leichtfertig herausgeben … Die Clans sind stark. Aber unser schlimmster Gegner wird Argo sein … Er ist der stärkste Elementarmagier des Jademeers. Also hüte dich vor seiner Feuermagie.“

Feuer … Wieder erschien das Bild von Shikon No Yosei vor seinen Augen.
 

Bruder Mhenlo und Shikon No Yosei waren derweil in die Feste Maatu zurückgekehrt. Dort sollten sie sich wiedertreffen. Doch Meister Togo und Ohtah Ryutaiyo waren noch unterwegs, was bedeutete, auch den Speer des Archimorus bekamen sie nicht so ohne weiteres. Möglicherweise stand ihnen ein genauso schwerer Kampf bevor, wie ihnen im Arborstein. Besorgt wollte Shikon No Yosei sofort zum Jademeer aufbrechen.

Der Mönch versuchte sie zu beschwichtigen: „Wenn sie wirklich kämpfen müssen, dann sind sie höchstwahrscheinlich schon längst mitten drin und werden bald zurück sein. Versteh´ bitte … du kannst ihnen nicht helfen.“

„Ich werde nicht hier bleiben und abwarten!“, rief die Elementarmagierin wütend und ihre Energie pulsierte, „Meister Togo hat uns im Kloster gelehrt, auf unser Herz zu hören … Und mein Herz sagt mir, dass ich gehen muss. Es tut mir leid, Bruder Mhenlo … das ist etwas, das Ihr nun verstehen müsst.“

Mit diesen Worten rannte Shikon No Yosei hinaus ins Pongmei-Tal, welches sie mit Hilfe ihrer Luftmagie schnellstens durchquerte.
 

Ohtah Ryutaiyo und Meister Togo gewannen gegen den Krebs-Clans mit einem überragenden Sieg; wesentlich schwieriger war dagegen der Kampf gegen den Schlagen-Clan – die Anführerin, eine Waldläuferin namens Aurora hatte eine starke Mönchin an ihrer Seite, deren Fähigkeiten den geschickten Assassinen beinahe verzweifeln ließen. Er wich gerade einem Pfeil aus, da schoss auf einmal die Hitze eines Feuerballs über ihn hinweg. Ohtah Ryutaiyo wusste sofort, wer den Zauber gewirkt hatte … denn er war schon einmal in solch einer Situation gewesen, im Nahpuiviertel.

„A-Aber … Das kann doch nicht sein … Bist du es wirklich?“, stammelte er, während er sich aufrappelte, „SHIKO!“

Ein erheitertes Lachen erreichte seine Ohren, gefolgt von einer wohlklingenden Stimme: „Vielleicht solltest du dich einfach mal umdrehen … Ohtah.“

Und das tat er. Shikon No Yosei kam langsam auf ihn zu. Eingehüllt von der Macht des Feuers und vor allem unverletzt. Eine Welle der Erleichterung überkam ihn. Wie gebannt ging er ihr entgegen – den Blick fest auf ihre Augen fixiert – bis sie sich genau gegenüber standen.

„Shiko, ich … Ich wollte …“, rang er um die passenden Worte.

Die Elementarmagierin lächelte ihn an und beendete seinen Satz: „Ich weiß, diesmal musste ich mich selbst beschützen … Aber jetzt sind wir ja wieder zusammen.“

Perplex starrte er sie an. Sie wusste, dass er sich Sorgen um sie gemacht hatte … Bevor er allerdings weiter darüber nachdenken konnte, trat er Schildkröten-Clan, angeführt von Argo, auf den Plan. Ihr letztes Hindernis auf dem Weg zum Speer des Archimorus!

Höhnisch richtete der gegnerische Elementarmagier seine Worte an die kleine Gruppe: „Wie ich sehe, habt ihr die anderen Clans besiegt … Doch macht euch keine Hoffnung – ich werde euch die Ehre als Speerträger nicht überlassen! Wenn euch also euer Leben lieb ist, gebt besser gleich auf.“

Seine Arroganz machte Ohtah Ryutaiyo unglaublich wütend. Er setzte schon zu einer Erwiderung an, wollte sich sogar fast auf ihn stürzten, allerdings hielt ihn Meister Togo zurück – stattdessen trat die schöne Shing Jea vor.

„Ich habe bereits viele Gerüchte über dir gehört, der du angeblich >mit deinen Flammen das Jademeer zum Schmelzen bringen könntest<. Trotzdem kann es ein schwerer Fehler sein, seinen Gegner zu unterschätzen … Diese Lektion wirst auch du noch lernen, Argo.“, erklärte Shikon No Yosei, „Mein Name lautet Shikon No Yosei, ich bin Fee der vier Elemente … und fordere dich zu einem Duell der Magier heraus!“

Argwöhnisch betrachtete er sie, bevor er fragte: „Was hätte ich davon auf diesen Vorschlag einzugehen? Andererseits … du gefällst mir. In Ordnung, ich nehme deine Herausforderung an. Und da ich natürlich als Sieger hervorgehen werde, kannst du dich schon mal mit dem Gedanken anfreunden, demnächst eine feurig heiße Verabredung mit mir zu haben.“

Shikon No Yosei zog verächtlich eine Augenbraue hoch. Selbst wenn ihr einziger Lebensinhalt derzeit nicht die Rettung des Reichs des Drachen wäre … Nein, sie wagte es nicht, sich zu Ohtah Ryutaiyo umzudrehen. Sie durfte sich nicht ablenken lassen! Entgegen aller Selbstüberschätzung blieb Argo dennoch ein gefährlicher, ernstzunehmender Gegner.

Plötzlich ertönte eine vertraut wirkende Stimme in ihren Ohren: „Hab´ keine Angst, Shiko. Ich bin bei dir …“

Tränen stiegen der jungen Elementarmagierin in die Augen. Sie spürte, Teinai´s Aura um sich wie einen schützenden Mantel … und stimmte sich auf ihr Lieblingselement ein. Hier hieß es sprichwörtlich >Feuer mit Feuer bekämpfen<! Argo wiederum interpretierte ihr Kanalisieren als Angst und webte den ersten Zauber, dem Shikon No Yosei gekonnt auswich. Sie drehte und duckte sich, blieb ständig in Bewegung. Argo feuerte ein Flammengeschoss nach der nächsten ab, während seine Gegnerin ihn ununterbrochen beobachtete. Als ihre Geschwindigkeit zum Ausweichen nicht mehr genügte, erschuf sie einen Flammenschild.

„Weißt du, warum sie das tut?“, fragte Meister Togo an Ohtah Ryutaiyo gewandt, wartete die Antwort jedoch nicht ab, „Sie macht es wegen dir … Um dir zu beweisen, dass sie genauso bereit ist, dich zu beschützen, riskiert sie alles. In gewisser Weise seit ihr euch unglaublich ähnlich … für eure Ziele würdet ihr beide sogar sterben. Schon bevor Shiko ins Kloster eingetreten ist, habe ich sie aus der Ferne beobachtet und sie ist sich immer treu geblieben … Das ist einer der Gründe, warum ich sie ausgewählt habe. Ich vertraue ihr … und das kannst du ebenfalls.“

Währenddessen traf Shikon No Yosei plötzlich eine Erkenntnis. Sie hatte Argo´s Schwachpunkt herausgefunden. Einen tödlichen Schwachpunkt – er verbrauchte bei weitem zu viel Magie! Ein Duell auf diesem Niveau würde er so nicht mehr länger durchhalten … Und als wolle er ihre Vermutung bestätigten, stoppten augenblicklich seine willkürlichen Geschosse und er machte sich bereit für einen letzten, großen Angriff. Ohtah Ryutaiyo konnte sich trotz der Worte des Ritualisten nur schwer davon abhalten, in den Kampf einzugreifen. Selbst seine eiserne Selbstbeherrschung, die er durch jahrelange Übung beinahe perfektioniert hatte, blieb in Shikon No Yosei´s Gegenwart wirkungslos. Doch ein Eingreifen seinerseits würde gleichzeitig ihre Niederlage bedeuten … Doch auf den Lippen der Rothaarigen lag ein Lächeln. Ein leuchtend warmes Licht strömte aus ihrem Körper. Der entscheidende Augenblick war gekommen – der Segen von Teinai erlaubte es ihr ohne zusätzliche Konzentrationszeit einen besonders mächtigen Zauber zu wirken.

Sie riss die Arme in die Luft und rief: „Stelle dich meinem Meteorenschauer, Argo!“

Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, erkannte der Luxon die Kraft des freigesetzten Elements und hastete aus dem Kampfbereich. Damit war Shikon No Yosei die Siegerin des Duells!

Nachdem der feurige Regen aufgehört hatte, wandte er sich ihr noch einmal zu: „Die Lektion habe ich gelernt, danke. Der Kampf gegen dich hat mich stärker gemacht. Ich verneige mich vor dir …“

Und er verbeugte sich tatsächlich. Obendrein gab ihr sogar noch einen Handkuss – sehr zum Missfallen von Ohtah Ryutaiyo, in dem erneut die Wut hochstieg. Die Röte auf ihren Wangen verstärke seine Gefühlslage zusätzlich und er ballte seine Hände zu Fäusten. Während Meister Togo seine Schülerin beglückwünschte, warf er Argo Blicke zu, die einem fast tödlich erschienen. Shikon No Yosei bemerkte seine Reaktion nicht. Sie nahm den Speer des Archimorus feierlich entgegen und begab sich mit ihren Verbündeten auf den Weg, um den gefürchteten Kraken zu töten.
 

Seelenströme

Auch in den folgenden Tagen besserte sich Ohtah Ryutaiyo´s Laune nicht. Jede freie Sekunde – wenn sie nicht nach Aktivitäten von Shiro Tagachi suchten – verbrachte er damit über Shikon No Yosei und ihre Meinung bezüglich Argo nachzudenken. Die geröteten Wangen, das fehlende Eingreifen … Ob sie etwa romantische Gefühle für ihn hegte? Die bloße Vorstellung versetzte ihn in Rage, zerriss ihn innerlich. Aber zu seinem Glück wurden sie von der kaiserlichen Garde informiert, Shiro hielte sich in der Kanalisation in der Nähe des Sunjiang-Bezirks auf.

Dort entdeckten sie merkwürdige, bläulich schimmernde Fäden, woraufhin Meister Togo ihnen erklärte: „Das sind Seelenströme! Es ist ein sehr altes … Ritual, welches ihm wohl neue Kräfte verleihen soll. Wir müssen jeden einzelnen von ihnen vernichten.“

Sie folgten dem ersten Strom und entdeckten alsbald unter einem Energiekern einen Portalgeist sowie einen Shiro´ken.

„Wir werden Euch nicht enttäuschen, Meister!“, meinte Shikon No Yosei voller Tatendrang.

Ohtah Ryutaiyo brummte etwas Unverständliches und stürmte los. Die Klingen blitzen, als seine und die des Shiro´ken aufeinander trafen. Bevor Shikon No Yosei einen Zauber wirken konnte, hatte er ihm bereits den Gnadenstoß verpasst. Statt auf sie zu warten, rannte er bereits auf den Portalgeist zu, doch dieser warf ihn durch eine Stockwelle zu Boden. Die hübsche Elementarmagierin war sofort zur Stelle und vernichtete den Geist – der Seelenstrom löste sich auf.

„Ich hätte ihn auch allein besiegen können.“, meinte er schroff.

Sie blinzelte verständnislos und erwiderte: „Was ist los mit dir? Wir sind doch ein Team … oder?“

Es war ihr völlig schleierhaft, was in ihrem Begleiter vor sich ging. Seit sie in Boreas-Meeresgrund wieder aufeinander getroffen waren, verhielt er sich ihr gegenüber so abweisend. Das Räuspern von Meister Togo löste die unangenehme Situation auf, die drückende Stimmung blieb allerdings.

Nach und nach vernichteten sie alle Seelenströme. Der letzte von ihnen führte die Verbündeten zu einem großen, freien Platz, in dessen Mitte ihr Feind meditierte.

Seine Anwesenheit weckte Shikon No Yosei´s Zorn und ihr Ruf hallte durch den Raum: „Shiro Tagachi, wir verlangen deine Kapitulation gegenüber Cantha! Verlasse diese Welt – für immer!“

„Verzeiht … aber ich glaube nicht, dass ich das tun werde. Ich überlasse euch Störenfriede lieber meinen Shiro´ken.“, meinte er höhnisch lachend und verschwand.

An seiner Stelle erschienen vier Shiro´ken-Konstrukte. Sie waren so schnell, dass Shikon No Yosei keine Zeit hatte, auf ihre Position zurückzukehren. Der Krieger stand mit erhobenem Schwert genau über ihr und senkte es auf sie herab. Erschrocken kniff sie die Augen zusammen – der Schmerz blieb allerdings aus. Ein Klirren erklang. Zögernd hob sie die Lider und erschrak. Die Schwertklinge war nur wenige Zentimeter über ihr zum Stoppen gekommen! Grund hierfür waren die Dolche eines ihr sehr bekannten Assassinen. Ohtah Ryutaiyo war via Schattenschritt auf sie zugeeilt, um sie vor der tödlichen Bedrohung zu retten. Die Freude, die sie in diesem Moment empfand, rührte nicht von ihrem Überleben her – sie war glücklich, weil er ihr trotz des unausgesprochenen Streits geholfen hatte.

„Es tut mir Leid, Shiko … Ich habe … Ich war …“, sagte Ohtah Ryutaiyo mit deutlich erkennbarem traurigen Unterton, „Ist jetzt auch egal! Bring´ dich in Sicherheit! Ich halte ihn auf.“

Shikon No Yosei rannte zu Meister Togo und Bruder Mhenlo zurück, um mit ihnen gemeinsam in den Kampf einzugreifen. Einzeln wären sie den vier Shiro´ken zwar unterlegen gewesen, aber als Team sah das ganze vollkommen anders aus. Doch kaum war das letzte Konstrukt gefallen, gab es eine gewaltige Explosion. Bevor das Licht sie zu sehr blendete, entdeckte die junge Shing Jea zwei Gegenstände im Zentrum der Energieansammlung – die beiden Artefakte der Kurzick und der Luxon! Die Shing Jea hatte keine Ahnung, wie sie hierher gelangt waren; eigentlich sollten sie sicher verwahrt unterhalb der Feste Maatu liegen.

Shiro Tagachi´s zufriedenes Lachen dröhnten in ihren Ohren: „Die Magie der Urne und des Speers sind vernichtet!“

Danach wurde alles um sie herum schwarz …
 

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Drei Tage waren seit der Zerstörung der Artefakte vergangen … Drei Tage, in denen sich Shikon No Yosei´s Bewusstsein geweigert hatte, diese Tatsache zu akzeptieren. Nun saß sie fassungs- und vor allem hoffnungslos auf einer Wiese im Pongmei-Tal, starrte ins Leere. Die Tränen traten ungewollt über ihre Augenränder. Ohne die Hilfe von Viktor und Archimorus war Cantha dem Untergang geweiht – entweder würde die Pest sie alle auslöschen oder Shiro das Kaiserreich vernichten. Sie hatte auf ganzer Linie versagt, das Vertrauen ihres Meisters enttäuscht …

Als jemand neben ihr Platz nahm, schaute die schöne Elementarmagierin auf. Ihre geröteten Augen sahen in das Antlitz des ehemaligen Am Fah. Ohtah Ryutaiyo wirkte besorgt. Verständlich, immerhin war sie die letzten Tage nicht oder zumindest kaum ansprechbar gewesen.

„Was willst du?“, wollte sie verzweifelt wissen.

Ohtah Ryutaiyo straffte sich und antwortete: „Meister Togo schickt mich, um nach dir zu sehen.“

Seine Worte verletzten sie mehr, als sie zugeben wollte. Als sie hinausgegangen war, hatte sie sich gewünscht, er würde sie aufsuchen und einfach für sie da sein. Weil er bei ihr sein wollte. Weil sie ihm etwas bedeutete. Stattdessen war es ihr Meister gewesen, der ihn ausgesendet hatte …

„Du bist also auf seine Order hier … Verstehe.“, flüsterte Shikon No Yosei kaum hörbar.

Doch er schüttelte den Kopf: „Nein … ich wäre auch ohne seine Anweisung zu dir gekommen! Ich mache mir Sorgen um dich. Weil … weil du mir wichtig bist, Shiko! Ich will nicht, dass dir etwas zustößt … und ich will nicht, dass du traurig bist.“

Ein kurzes Lächeln erschien um ihre Mundwinkel, dann erklang ihre Stimme mit verträumtem Unterton: „Ich bin auf Shing Jea aufgewachsen … bei meiner Tante und mit ihrer Tochter. Zur Zeit studiert Sei in Tyria bei den Deldrimor-Zwergen; sie ist aufgebrochen, noch bevor ich meine Reise begonnen habe. Sie mag es auch nicht, wenn ich traurig bin ...“

„Du vermisst sie sehr.“, stellte Ohtah Ryutaiyo fest.

Die Rothaarige nickte und begann zu erzählen: „Wir waren vorher niemals voneinander getrennt … Und jetzt weiß sie nicht einmal, welcher gewaltigen Aufgabe ich gegenüber stehe. Eigentlich wollte ich ihr regelmäßig Briefe schreiben ... Vielleicht sehen wir uns nie wieder. Wenn Shiro triumphiert, hat sie keine Heimat, in die sie zurückkehren kann. Keine Familie mehr, die auf sie wartet.“

Ohtah Ryutaiyo schwieg einen kurzen Moment, bevor er fragte: „Was ist mit deinen Eltern?“

„Das habe ich dir noch nicht erzählt, nicht wahr? Meinen Vater kenne ich nicht … Bishu wollte oder konnte mir nichts über ihn erzählen; vielleicht weiß er nicht einmal etwas von mir. Und meine Mutter ist tot – sie starb bei meiner Geburt.“, gab Shikon No Yosei mit einem Seufzen zurück und zog einen herzförmigen Anhänger aus ihrem Ausschnitt heraus, „Diese Kette gehörte ihr … Sie soll sie mir mit letzter Kraft umgelegt haben. Daraus habe ich bislang immer meine Kraft gezogen und ich … ich hatte das Gefühl, geliebt zu sein. Sie soll in den Nebeln stolz auf mich sein! Aber ich … ich habe solche Angst! Wenn ich gegen Shiro verliere, zerbricht alles. Einfach alles …“

Ohne zu zögern legte er ihr einen Arm um die Schultern und zog sie an sich heran.

Sanft streichelte Ohtah Ryutaiyo über ihr rotbraunes Haar, während er tröstend murmelte: „Du darfst ruhig weinen. Ich bin für dich da … Wann immer du mich brauchst, werde ich an deiner Seite sein. Ich lasse dich nicht allein, Shiko, niemals! Das verspreche ich dir … Ich schwöre es. Wir werden Shiro aufhalten – gemeinsam!“

Shikon No Yosei klammerte sich fester an ihn, er verstärkte seine Umarmung.

„Vor mehr als drei Jahren habe ich die Am Fah verlassen … Kurz nachdem ich zum General ernannt worden war. Es war damals solch eine Ehre für mich … bis ich erkennen musste, in was für einer Verbrechergilde ich nicht nur mein Leben verbracht … sondern der ich auch noch treu und gerne gedient hatte.“, berichtete Ohtah Ryutaiyo und spürte, wie sich das Mädchen in seinen Armen langsam beruhigte, „Aber eine Medaille hat immer zwei Seiten – nur dank der Ausbildung durch die Am Fah konnte ich ihnen entkommen und … habe nun die Möglichkeit, dich zu beschützen.“

Die Tränen versiegten endgültig; sie wagte es allerdings nicht, sich von ihm zu lösen – dafür fühlte sie sich viel zu sicher, zu geborgen bei ihm.

Trotzdem gewann Shikon No Yosei´s Stimme etwas von ihrer Stärke zurück: „Ich bin so unglaublich froh, dir begegnet zu sein. Ich danke dir, Ohtah, du hast recht … Cantha hat bereits genug gelitten! Der Jadewind hat sein Gesicht für immer verändert – der Wald und das Meer wurden zu Stein, in Kaineng machen sich die Pest und Armut breit. Wir müssen diesen Wahnsinn ein für alle Mal beenden!“

Der Anflug eines Lächelns legt sich auf seine Lippen, während er gleichzeitig das dumpfe Gefühl in seiner Magengegend niederkämpfte – er hatte das merkwürdige Gefühl, das Reich des Drachens würde für diesen Sieg noch ein großes Opfer auf sich nehmen müssen … allerdings wäre das mit Sicherheit nicht Shikon No Yosei!
 

Das Geheimnis der Moloche

Meister Togo ging diesmal allein zur Ältesten Rhea, während Bruder Mhenlo und Shikon No Yosei gemeinsam mit Ohtah Ryutaiyo zum Haus zu Heltzer gingen, um den Grafen und seine Tochter erneut zu treffen. Der Leiter des Klosters hielt es für besser, seine Schülerin im Moment nicht von dem geschickten Assassinen zu trennen, denn er schien im Augenblick der einzige zu sein, der ihr die Kraft gab weiterzukämpfen.

Im Haus zu Heltzer knieten die drei Verbündeten vor den Regenten nieder, bevor Bruder Mhenlo das Wort ergriff: „Wir kommen mit trauriger Kunde, Graf. Wir haben eine Schuld auf uns geladen, die nicht mehr zu tilgen ist …“

„Es ist meine Verantwortung … Ich bin diejenige, die für den Kampf gegen Shiro ausgewählt wurde.“, unterbrach Shikon No Yosei ihn und erhob sich, „Graf zu Heltzer, hört mich an … In der Kanalisation des Sunjiang-Bezirks sind meine Gefährten und ich auf Shiro Tagachi getroffenen. Dort hat er … die Magie der Urne zerstört. Ich bitte Euch untertänigst um Verzeihung … und wenn Ihr Eure Wut gegen einen Schuldigen richten wollt, so nehmt mich.“

Stille hallte durch den Hauptsitz der Kurzick, das Haus zu Heltzer, dann stellte sich Ohtah Ryutaiyo schützend vor sie und erklärte: „Cantha braucht Shiko! Wenn Ihr jemanden bestrafen möchtet, werde ich diese Strafe auf mich nehmen.“

„Lass´ das, Ohtah …“, bat ihn Shikon No Yosei flehend.

Graf zu Heltzer donnerte seine Faust auf eine Lehne seines Throns und sprach mit erhabener Stimme: „Schweigt! Ich wünsche keine weiteren Ratschläge, gegen wen sich meine Wut richten soll. Ihr habt das wertvollste Relikte der Kurzick einer unfassbaren Gefahr ausgesetzt … Wie Ihr bereits sagtet, Mhenlo, dies ist eine Schuld, die nicht wieder gutzumachen ist!“

„Vater, lasse Gnade walten … ich bitte dich.“, mischte sich die Tochter des Grafen in das Gespräch ein, „Wenn du jetzt die Allianz mit ihnen brichst, werden die Kurzick unter dem Triumph von Shiro Tagachi größeres Leid erfahren, als durch die Zerstörung der Urne.“

Bruder Mhenlo räusperte sich leise und meinte: „Shiro wird mit jedem weiteren Tag mächtiger. Wir wissen nicht, was genau er plant, doch Meister Togo hat eine vage Vermutung. Um Cantha den Frieden zu bringen, brauchen wir die Unterstützung der Kurzick … Allein können wir die Befallenen und die Shiro´ken-Armee nicht vernichten.“

Nach einer kurzen Weile sprach Graf zu Heltzer erneut: „Ihr habt weise gesprochen, alter Freund … Genau wie meine kluge Tochter. Ich werde keinem von Euch eine Strafe zukommen lassen. Aber die Zerstörung der Urne hat den Kurzick große Trauer gebracht … Dennoch werden wir Euch helfen. Unter einer Bedingung …“

Shikon No Yosei verbeugte sich tief und erwiderte: „Habt vielen, vielen Dank, Graf zu Heltzer! Was sollen wir für Euch tun?“

„Ihr, Shikon No Yosei und der Assassine, der Euch begleitet, werdet die Ewigen Bäume des Echowaldes aufsuchen.“, erklärte Gräfin Danika, „Drei Kurzick haben sich freiwillig gemeldet, unserem Volk als Moloche zu dienen. Ihr werdet sie zum Ewigen Hain geleiten und danach dafür sorgen, dass das Ritual nicht gestört wird. Ich erwarte Euch und die drei Freiwilligen mit Bruder Mhenlo im Ewigen Hain.“

Sie überreichte Shikon No Yosei eine Karte, auf der die Treffpunkte verzeichnet waren. Danach brach sie mit Ohtah Ryutaiyo auf, während Bruder Mhenlo zurückblieb.
 

Den ersten Treffpunkt erreichten sie schneller, als gedacht. Klaus war jedoch gerade in einen Kampf gegen eine Horde Aufseher verwickelt. Via Schattenschritt gelangte Ohtah Ryutaiyo zu ihm und ging direkt zum Angriff auf die Gegner über. Nachdem die Aufseher ausgeschaltet waren, stießen sie auf einen kleinen Pfad, an dem sie sich mit Leiber treffen sollten. Allerdings wimmelte es auch dort von Feinden, denen sie leider nicht unbemerkt blieben. Überheblich stürzte Klaus auf sie zu, zog sein Schwert aus der Scheide und wollte sie attackieren. Doch Ohtah Ryutaiyo reagierte schneller – in Sekundenbruchteilen stieß er Klaus so kraftvoll zur Seite, sodass dieser nur knapp einer todbringenden Pfeilsalve entging. Er konnte nicht riskieren, noch mehr Zorn der Kurzick auf sie zu ziehen.

„Ohtah, pass´ bitte auf dich auf!“, rief Shikon No Yosei hinter ihm her, bevor sie Klaus half aufzustehen, „Ist alles in Ordnung mit Euch?“

Klaus wischte sich den Dreck von den Hosen, während er aufgebracht antwortete: „Nein, ganz und gar nicht! Ich erwarte etwas mehr Respekt von meiner Leibgarde!“

„Ihr scheint die Gefahr, in der Ihr Euch befunden habt, übersehen zu haben. Ohtah hat Euch das Leben gerettet. Ihr solltet ihm dankbar sein!“, entgegnete die Elementarmagierin schnippisch.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und der Assassine winkte ab: „Lass´ gut sein, Shiko. Wir sollten uns lieber beeilen … Du weißt, wie wichtig diese Mission für Cantha ist.“

Schweigend nickte sie. So sehr ihr das Verhalten von Klaus auch missfiel, sie musste sich zusammenreißen. Auch wenn sie dem Kurzick momentan am liebsten eine Ohrfeige für seine Unverschämtheit verpasst hätte. Sie sah Ohtah Ryutaiyo kurz in die Augen und betrat dann den Weg, an dessen Ende sie Leiber und seine Geliebte fanden; mit einem herzzerreißenden Abschied verließ der junge Mann sie, um seine Pflicht zu erfüllen. Ohtah Ryutaiyo und Shikon No Yosei tat es im Herzen weh, dabei zuzusehen. Berta, die letzte Freiwillige, wiederum erwartete sie bereits wenige Meter vor dem Eingang zum Ewigen Hain – sie beschwerte sich über die Verspätung ihrer Eskorte, weswegen sie bereits allein vorgegangen war. Im Stillen sandte die Elementarmagierin hastig ein Dankgebet an die Geister der Nebel, dass ihr dabei nichts zugestoßen war … Somit war der erste Teil der Bedingung erfüllt und sie meldeten sich bei Baron Mirek Vasburg, der das Ritual überwachen würde.

Der Adlige strahlte zufrieden und antwortete: „Ich danke Euch. Aber die dreckigen Luxon sind in den Echowald eingedrungen – wir müssen gegen sie kämpfen!“

„Die Luxon sind nicht länger die größte Bedrohung für euch. Shiro Tagachi´s Diener und die Befallenen sind auf dem Vormarsch. Deshalb bitten wir Euch in Eurer Position als Anführer der Kurzick-Armee um Hilfe.“, erklärte Shikon No Yosei.

Baron Vasburg sah sie verwundert an, während er abfällig meinte: „Shiro Tagachi? Die Befallenen? Lachhaft!“

In dem Moment, in dem die Elementarmagierin ihre Empörung äußern wollte, schlug die Alarmglocke – jeder Kurzick in der näheren Umgebung wusste, was dieses Zeichen bedeutete und eilig gab Baron Vasburg die entsprechende Befehle: „Schnell, alle Mann auf Position! Schützt die Ewigen Bäume! Und Ihr beide werdet uns im Kampf unterstützen!“

Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo tauschten einen Blick. Sie hatten keine andere Wahl, wenn sie den Baron noch irgendwie umstimmen wollten … Sie mussten jetzt sehr, sehr vorsichtig sein oder eine Hälfte ihrer Unterstützung einbüßen.
 

Es gab drei Zugänge zum Ewigen Hain. Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Baron Vasburg mit der Unterstützung von Gräfin Danika verteidigten jeweils einen davon. Bruder Mhenlo fungierte als Springer. Die Freiwilligen begaben sich zu den Baumbarben, die in den Stämmen der Ewigen Bäumen lebten. Es blieb keine Zeit für lange Erklärungen, denn schon begann der Angriff durch die anrückenden Luxon. Ohtah Ryutaiyo seufzte. Er sorgte sich um die tapfer kämpfende Elementarmagierin auf der anderen Seite des Hains. Während des Kampfes würde es selbst für ihn gegebenenfalls schwer werden rechtzeitig zu Shikon No Yosei zu gelangen … Der laute Warnruf von Baron Vasburg riss seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Eine Riesenschildkröte, die von den Luxon zur Kriegsführung eingesetzt wurde, war auf dem Kampfplatz erschienen und wurde in Position gebrachte. Shikon No Yosei griff die Belagerungsschildkröte, wie man sie nannte, mit den fünf Kurzick-Wächtern an, die unter ihr Kommando gestellt worden waren. Der harte Panzer verlieh ihr zwar gegen physische Angriffe Schutz, doch als Bewohner des Jademeeres war sie anfällig für Feuermagie. Ohtah Ryutaiyo erledigte derweil eine zweite Belagerungsschildkröte mit seinen Giftpfeilen, die er so geschickt warf, dass er die ungeschützten Stellen am Hals traf. Der Kampf wurde zusehends härten. Immer mehr Luxon kamen aus dem Echowald hervor. Doch das schrecklichste stand ihnen noch bevor; der Gesichtsausdruck von Shikon No Yosei war vor Schreck geweitet – die Befallenen waren in den Echowald vorgedrungen und machten sich für einen Angriff bereit! Als die Luxon die Gefahr ebenfalls realisierten, zogen sie die weiße Fahne.

„Wir müssen zusammenarbeiten, wenn wir das hier überleben wollen!“, meinte der Anführer der Luxon an den Baron gerichtet.

Baron Vasburg schaute ihn nachdenklich an und antwortete nach kurzem Zögern laut: „Bis auf weiteres sind die Luxon unsere Verbündeten!“

Shikon No Yosei´s und Ohtah Ryutaiyo´s Blick trafen sich. Sehnsucht lag darin. Am liebsten wären sie aufeinander zugegangen. Um der Versuchung zu widerstehen, wendeten sie sich hastig voneinander ab. Der Kampf gegen die Befallenen forderte ihre volle Aufmerksamkeit. Bevor sich die junge Elementarmagierin allerdings richtig positioniert hatte, rannte bereits ein befallener Krieger auf sie zu, den Hammer hoch erhoben. Den Geistern der Nebel sei dank sah Ohtah Ryutaiyo glücklicherweise genau in diesem Augenblick doch noch einmal zu ihr herüber. Er unternahm einen Schattenschritt und riss seine Begleiterin gerade rechtzeitig mit sich zur Seite, während er gleichzeitig im Flug einen todbringenden Giftpfeil warf.

„Shiko! Geht es dir gut?“, fragte Ohtah Ryutaiyo besorgt.

Shikon No Yosei nickte und schenkte ihrem Retter ein strahlendes Lächeln. Keine Sekunde später war er wieder an seinen Platz zurückgekehrt; seine Schnelligkeit erstaunte sie immer wieder. Nach diesem kleinen Zwischenfall zog sich der Kampf ins Unendliche. Die Minuten flogen nur so an ihnen vorbei, was sich vor allem im Schwinden ihrer Kräfte bemerkbar machte. Abschließend griff eine ungewöhnlich große Horde Befallener an. Ohne sich darüber verständigen zu müssen, griffen Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo gemeinsam an. So endete der Kampf schließlich zu Gunsten der gemischten Zwangsallianz.

Nachdem sich alles gelegt hatte, ging Shikon No Yosei auf Baron Vasburg zu und wollte von ihm sarkastisch wissen: „Glaubt Ihr uns jetzt?“

„Diesen Beweisen kann ich nur schwer widersprechen.“, antwortete er sachlich, „Seid gewiss, Vasburg und die Kurzick-Armee werden Euch unterstützen.“

Bruder Mhenlo begann sofort die weitere Vorgehensweise mit dem Baron zu besprechen. Ohtah Ryutaiyo und Shikon No Yosei traten derweil etwas in den Hintergrund und umarmten sich fest. Sie hatten einen der heftigsten Kämpfe überhaupt hinter sich. Die Erleichterung darüber, dass der andere nur mit kleinen Kratzern und einer durchaus verständlichen Erschöpfung davon gekommen war, war für beide nicht in Worte fassen.
 

Wiedersehen der besonderen Art

Als Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo Meister Togo fanden, der zuvor ja bereits allein nach Cavalon aufgebrochen war, war er gerade in ein Gespräch mit der Ältesten Rhea vertieft.

„Ich glaube, ich habe eine passende Aufgabe gefunden.“, berichtete das Oberhaut mit einer Spur Genugtuung in der Stimme, vielleicht etwas zu sehr mit sich zufrieden.

Die junge Elementarmagierin räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen und wollte höflich wissen: „Von welcher Aufgabe sprecht Ihr?“

„Von deiner, meine liebste Shiko.“, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Eine bekannte Wut stieg in Ohtah Ryutaiyo auf. Auch Shikon No Yosei hatte den Besitzer der Stimme identifiziert – Argo.

Überraschung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab und sie fragte: „Was machst du hier?“

„Zum einen ist das hier mein Zuhause, wie du eigentlich wissen müsstest … Zum anderen wurde ich wegen dir herbestellt, meine Liebe.“, antwortete er zuversichtlich, ohne den Assassinen zu beachten.

Ohtah Ryutaiyo hegte allerdings nicht die Absicht, weiterhin unbemerkt zu bleiben und schaltete sich ungeduldig ein: „Um welche Aufgabe handelt es sich nun?“

„Ach, du bist ja auch da.“, bemerkte Argo, so als würde er ihm erst jetzt auffallen, „Wirklich schade, ich hatte gehofft mit Shiko allein sein zu können … Aber gut, kommen wir zum Grund eures Aufenthaltes. Ihr werdet mit mir die Schildkröten-Babys zu ihrer Heimat eskortieren.“

Die Älteste nickte und ergänzte: „Der Weg verläuft von der Gyala-Brutstätte bis zum Leviathangruben. Die Kurzick greifen uns dort immer wieder an. Besonders in den letzten Wochen haben ihre Angriffe Überhand genommen.“

Geschockt starrte Shikon No Yosei ihren Lehrmeister an. Per Handzeichen bedeutete er seinen beiden Verbündeten – nachdem er sich für einen kurzen Moment entschuldigt hatte – ihm zu folgen; sie gingen ein paar Schritt weiter, sodass die Luxon ihr Gespräch nicht mitanhören konnten.

„Wir können die Kurzick nicht töten!“, sagte Shikon No Yosei aufgebracht, „Nicht nachdem wir sie eben erst als Verbündete gewonnen haben.“

Meister Togo nickte und erwiderte: „Dennoch werden wir gegen sie kämpfen müssen …“

Für einen Moment herrschte bedrückte Stille, dann meldete sich Ohtah Ryutaiyo zu Wort: „Wenn wir es geschickt anstellen, können wir gegen die Kurzick kämpfen ohne sie ernsthaft zu verletzen. Ich kann sie durch einen Schlag mit dem Dolchrücken außer Gefecht setzten. Und ich habe noch ein paar Pfeile mit einem lähmenden Betäubungsgift … Wenn du noch von deiner Feuer- auf die Blitzmagie umsteigt, Shiko, wären wir in der Lage unsere Mission ohne Opfer zu erfüllen.“

Begeistert befürworteten Meister Togo und dessen Schülerin den schnell ausgearbeiteten Plan, der wieder einmal bewies was für ein strategisches Wesen in Ohtah Ryutaiyo steckte.

Argo, dem der Assassine ein Dorn im Auge war, schloss zu ihnen auf und rief laut: „In einer Stunde brechen wir auf.“

Die Verbündeten nickten verstehend. Mit einem Zwinkern in Shikon No Yosei´s Richtung ging er wieder davon. Gerade als die junge Elementarmagierin das Wort an Ohtah Ryutaiyo richten wollte, drehte sich dieser ebenfalls um und verließ den Ort des Geschehens. Ihr verständnisloser Blick folgte ihm, bis er um eine Ecke verschwand.

Der Leiter des Klosters von Shing Jea legte ihr eine Hand auf die Schulter und flüsterte: „Weißt du, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die selbst die Weisesten unter uns nicht verstehen … Das Herz tut Dinge aus Gründen, die der Verstand nicht nachvollziehen kann.“
 

Eine Stunde später kehrte Shikon No Yosei an den ausgemachten Treffpunkt zurück. Argo war mit den Schildkrötenbabys bereits eingetroffen. Doch von Ohtah Ryutaiyo fehlte jede Spur. Denn der vermisste Assassine saß derweil auf einer Welle aus Jade und grübelte nach. Seine Wut – die man genauso gut auch als Eifersucht bezeichnen konnte – war deutlich an den geballten Fäusten erkennbar. Seine Dolche hatte er vorsichtshalber im Halfter gelassen, sonst hätte er nicht dafür garantieren können, dass nicht doch seine dunkle Auftragskiller-Seite zum Vorschein kam und er sich aufmachte, um Argo eine Freifahrtkarte in die Nebel zu spendieren.

„Solltest du nicht lieber an Shiko´s Seite sein … oder hast du vor, sie Argo kampflos zu überlassen?!“, richtete Meister Togo, der ihm gefolgt war, das Wort an ihn, „Ich dachte, sie würde dir etwas bedeuten. Und damit meine ich nicht ihre Rolle im Kampf gegen Shiro … Aber ich glaube, das weißt du selbst, nicht wahr?“

Ohtah Ryutaiyo zuckte zusammen. Er wusste nicht, was ihn mehr schockierte – die Tatsache, dass der alte Ritualist so genau über ihn und seine Gefühle Bescheid wusste oder dass er ihn direkt darauf ansprach.

So stammelte er hilflos vor sich hin: „Ich … Sie … Ich meine, woher wissen Sie, dass ich Shiko … Ach, egal. Shiko … Shiko fällt schließlich auf seine schleimige Tour herein.“

„Die Jugend kann manchmal wirklich schwer von Begriff sein …“, meinte Meister Togo und seufzte resigniert, „Ich kann von mir behaupten, ein sehr guter Beobachter zu sein. Ich habe gesehen, wie du sie ansiehst … und ich habe ihre Blicke gesehen. Shiko ist eine starke Persönlichkeit, die dem Rat ihres Herzens folgt … Vielleicht solltest du das auch tun, Ohtah.“

Mit diesen Worten verließ er den verblüfften Assassinen.
 

Argo betrachtete abermals den Stand der Sonne und wiederholte seine Worte: „Es ist Zeit. Wir müssen uns auf den Weg machen, Shiko.“

„Bitte, warte noch …“, flehte sie besorgt, während ihr Blick starr auf den Zugang gerichtet war.

Der männliche Elementarmagier gab einen missbilligenden Laut von sich. Bevor er sie jedoch erneut drängen konnte, erschien endlich Ohtah Ryutaiyo.

Er kratzte er sich an Hinterkopf und erklärte: „Entschuldigt, ich hatte etwas zu erledigen.“

Shikon No Yosei erhaschte einen kurzen Blick in seine Augen. Dieser eine kurze Wimpernschlag genügte ihr, um zu wissen, dass er log, was ihre Sorge zusätzlich steigerte. Etwas war in der vergangenen Stunde vorgefallen. Etwas, das er vor ihr geheim halten wollte.

Als der Braunhaarige ihren Gesichtsausdruck bemerkte, wandte er sich schnell ab und sagte: „Es ist Zeit, brechen wir auf. Ich übernehme die Zugspitze.“

Mit einem zufriedenen Grinsen legte Argo einen Arm um Shikon No Yosei.

Sie befreite sich allerdings schnell wieder aus seinem Griff und sagte: „Ich werde mich im mittleren Bereich aufhalten. Dann kannst du uns nach hinten absichern.“

Im Verlauf des Weges sollte sich herausstellen, dass dies eine gute Entscheidung von Shikon No Yosei gewesen war. Kaum hatte die Gruppe die Hälfte des Weges hinter sich gelassen, wurden sie von Kurzick-Wächtern angegriffen. Als sie einem Pfeilhagel ausweichen musste, rutschte die junge Shing Jea auf der glatten Jade aus. Dieses Missgeschick blieb einem der Waldläufer natürlich nicht verborgen. Er legte einen Pfeil an die Sehne und zielte mit seinem Bogen auf ihre Brust. Ein kehliger Schrei entrann sich ihr, während der Pfeil auf sie zuraste. Starr vor Schreck war Shikon No Yosei unfähig auszuweichen. Zitternd schloss sie die Augen. Sie hasste solche Augenblicke, immer und immer wieder verfluchte sie ich innerlich für ihre Schwäche. Dann hörte sie jedoch ein Schnaufen über sich und öffnete die Augen wieder.

Ohtah Ryutaiyo, der sich schützend über sie geworfen hatte, fragte: „Alles in Ordnung, Shiko?“

„OHTAH!“, rief sie ängstlich aus.

Ohne Erwiderung begab sich der Assassine mit einem weiteren Schattenschritt zu dem Kurzick und schlug ihn mit einem gezielten Kinnhaken bewusstlos. Seiner Meinung nach, eine viel zu milde Strafe für die Attacke auf Shikon No Yosei – es hatte ihn jedes Quäntchen seiner Selbstbeherrschung gekostet den Waldläufer nicht zu töten.

„Du … du bist nicht verletzt? Ich versteht nicht … Ohtah, geht es dir wirklich gut?“, stotterte die Elementarmagierin hilflos, als er wieder an ihre Seite zurückgekehrt war.

Die Sorge, die sie um ihn verspürte, trieb ihm die Röte ins Gesicht.

Lächelnd half er ihr beim Aufstehen und berichtete: „Ja, ich bin unverletzt. Der Mantel, den ich trage, schützt mich. Er stammt noch aus meiner Zeit als Am Fah … Die gegenüberliegenden Äxte mit dem mehrfach gehörnten Tenguschädel sind ihr Gildensymbol. Ich habe es trotz meines Verrates nicht geschafft ihn abzulegen … Aber glaub´ mir, auch ohne ihn hätte ich dich beschützt. Ich werde mein Versprechen niemals brechen …“

Perplex starrte sie ihm hinterher, während er auf seinen Posten zurückkehrte. Ohtah Ryutaiyo hatte zwar geschworen, sie – wenn nötig mit seinem Leben – zu beschützen und hatte diese Bereitschaft auch schon einige Male unter Beweis gestellt, doch dabei war er bislang noch nie so sehr in Gefahr geraten. Es rührte sie zwar, dass er ein solches Risiko für sie einging, doch tat es ihr gleichzeitig weh – er durfte wegen ihr nicht sterben. Aber wieso nahm er überhaupt all das für sie in Kauf? Ging es ihm dabei wirklich nur darum Cantha vor Shiro zu retten? Sie seufzte betrübt und schüttelte den Kopf. Im Moment gab es wichtigeres, um das sie sich kümmern musste.

Argo, der die ganze Situation beobachtet hatte, knirschte mit den Zähnen. Der vertraute Umgang zwischen ihnen passte ihm ganz und gar nicht. Er musste sich beeilen, wenn er seinen Plan noch in die Tat umsetzen wollte. Am besten heute noch, bevor ihm dieser dahergelaufene Straßen-Assassine am Ende noch zuvor kam.

Der Rest des Weges verlief ohne weitere Probleme, so konnte Shikon No Yosei ihrem maskierten Kampfgefährten auffallend oft beobachten, ohne dass er selbst es mitbekam. Am Leviathangruben angekommen, verließen die Schildkrötenbabys die Gruppe und gingen ihrer Wege. Allerdings war die Mission damit nicht beendet – die Kurzick waren ihnen heimlich gefolgt. Sie wollten die drei Zugbegleiter, die sich nun in Sicherheit wiegten, erbarmungslos anzugreifen. Aber Shikon No Yosei reagierte schneller als von ihnen erwartet.

Sie warf sich zwischen die Fronten und erhob die Stimme: „Wartet! Ich bitte die Luxon und die Kurzick um Gehör … Mein Name ist Shikon No Yosei. Mein Begleiter Ohtah Ryutaiyo und ich sind Gesandte von Meister Togo, dem Leiter des Klosters von Shing Jea. Was ich euch zusagen habe, betrifft jeden einzelnen von uns! Cantha steht am Rand des Untergangs – denn Shiro Tagachi ist zurückgekehrt! Er ist auch der Verursacher der Pest Cantha´s. Wir versuchen mit aller Kraft unsere Heimat vor ihm zu retten! Doch das können wir nicht allein. Der Echowald wurde bereits von Befallenen angegriffen und das Jademeer wird mit Sicherheit auch nicht mehr lange verschont bleiben.“

Ohtah Ryutaiyo, der an ihre Seite getreten war, nahm ihre Hand und sagte: „Den Kampf gegen Shiro werden wir selbst bestreiten. Aber die Pest wird erst dann endgültig aus Cantha verschwinden, wenn wir alle Befallenen und Shiro´ken getötet haben! Deshalb flehen wir die Kurzick und die Luxon um ihre Hilfe an.“

Shikon No Yosei warf sich vor den beiden Truppen zu Boden und rief: „Ihr müsst diese Feindschaft beenden! Cantha hat doch schon genug gelitten. Wollt ihr unserer Heimat wirklich noch mehr antun? Wir haben einen gemeinsamen Feind, jeder Bewohner dieses Reiches – sei er von Shing Jea, aus Kaineng, dem Echowald oder dem Jademeer! Nur gemeinsam haben wir die Kraft, das alles zu beenden. Vertraut mir … Ich werde für euch gegen Shiro kämpfen! Aber ich brauche eure Hilfe dafür! Cantha braucht euch!“

Die Kurzick und die Luxon betrachten einander, als sehen sie sich zum ersten Mal. Man merkte ihnen an, dass sie die Möglichkeiten gründlich abwogen. Sie zögerten. Doch letztendlich hatten sie nur eine Chance – wenn sie überleben wollten, mussten sie ein Bündnis schmieden. Zumindest bis dieser Kampf beendet war. Und so schwenkten sie die weißen Flagge. Damit hatten Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo ihr Ziel erreicht. Nun standen ihnen genug Verbündete zur Verfügung, um den offenen Kampf gegen Shiro Tagachi zu beginnen.

Argo räusperte sich leise und meinte an die Elementarmagierin gewandt: „Shiko, ich muss dich unter vier Augen sprechen.“

Mit einem verwirrten Blick nickte sie zustimmend und folgte ihm. Auf einer weiten Fläche blieb der Luxon schließlich stehen und stellte sich ihr gegenüber.

Er sah ihr tief in die Augen und erklärte: „Seit unserem Duell habe ich viel nachgedacht … Ich habe mich verändert, du hast mich verändert. Shikon No Yosei … ich, Argo, Anführer des Schildkröten-Clans, habe mich in dich in verliebt!“

Shikon No Yosei schnappte nach Luft. Sie hätte es vorhersehen müssen. Argo hatte die ganze Zeit über Andeutungen gemacht. Und auch wenn sie seine Gefühle nicht erwiderte, schmerzte es sie ihm wehtun zu müssen.

„Argo … es tut mir Leid. Weißt du, aus irgendeinem Grund scheinen die Geister der Nebel entschieden zu haben, dass ich diejenige sein muss, die Cantha vor der Zerstörung durch Shiro retten soll. Ausgerechnet ich …“, antwortete sie und sah ihn dabei unentwegt an, „Außerdem-“

Der Elementarmagier hob die Hand und beendete ihren Satz: „Außerdem gehört dein Herz bereits einem anderen … Ist es nicht so?“

Ein Schlucken und ein zartes Nicken waren ihm Antwort genug.

Er lächelte, als er sie sanft auf die Wange küsste und ihr anschließend ins Ohr hauchte: „Ich wusste es. Aber auch, wenn ich ihn auf gewisse Weise beneide … er scheint mir doch etwas, sagen wir, schwer von Begriff zu sein.“

Das Lachen, das Shikon No Yosei ihm danach schenkte, würde der Luxon niemals vergessen, denn dieses eine Mal galt es ganz allein Argo.
 

Die letzte Chance

Die Freude über den Erfolg von Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo war groß. Allerdings hatte der Assassine sie nicht darauf angesprochen, was Argo von ihr gewollt hatte. Und die Elementarmagierin hatte nicht vor, ihm davon zu erzählen. Denn das stille Übereinkommen beider von nun wieder als perfektes Team zu kämpfen, trieb allen Beteiligten ein glückliches Lächeln ins Gesicht. Aber diese Freude wurde schon bald wieder getrübt. Die schwerste Aufgabe stand ihnen noch bevor. Die Magie der Urne des heiligen Sankt Viktor und des Speer des Archimorus waren vernichtet. Ohne neue Strategie hatten sie – so schwer dies auch zu akzeptieren war – keine Chance gegen Shiro Tagachi. Obwohl es Meister Togo nicht gefiel, musste er all ihre Hoffnung auf ihre letzte verbliebene Möglichkeit setzen. Neben Vizu, Viktor und Archimorus gab es noch ein einziges Wesen in Cantha, das bereits zu der Zeit des Jadewindes gelebt hatte … Kuunavang, die weise Drachin. Ihr Reich waren die Verschlafenen Gewässer, der südlichste Punkt des Kaiserreiches. Dort trafen der Echowald und das Jademeer in einem gewaltigen Strudel aufeinander, der durch die Auswirkungen des Jadewindes natürlich ebenfalls zu Kristall geworden war. Früher war dieser Ort für den Erntedanktempel berühmt gewesen und der amtierende Kaiser hatte sich dort für mehrere Tage eingeschlossen, um unter ständigem Glockengeläut für die gute Ernte des aktuellen Jahres zu danken und für die kommende Zeit zu beten. Hier hatte Shiro seinen Herrn getötet und den Jadewind über Cantha gebracht … Und dort befand sich nun die kleine Gruppe, die versuchte ihn aufzuhalten. Doch kaum dass sie das Gelände des Strudels betreten hatten, wurden sie von einer Horde Befallener angegriffen. Shiro war also bereits bis hierher vorgedrungen!

„Shiro muss auch Kuunavang verhext haben!“, meinte Shikon No Yosei entsetzt.

In diesem Moment, da sie den Satz ausgesprochen hatte, erschien die Drachin. Ihr Körper war feuerrot, durch Pusteln entstellt und ähnelte in gewisser Weise den Befallenen. Selbst ihre Stimme war grässlich verzerrt. Noch während die Verbündeten damit beschäftigt war, die Befallenen auszuschalten, richtete Kuunavang einen Angriff auf Meister Togo. Der schwarze Blitz traf und schleuderte ihn zur Seite, während sie bereits einen weiteren Angriff vorbereitete.

„Meister Togo, Vorsicht!“, rief Shikon No Yosei und warf sich schützend vor ihn.

Als Ohtah Ryutaiyo sah, wie sie vom zweiten Blitz getroffen wurde, schrie er haltlos: „SHIKO!“

Shikon No Yosei fiel bewusstlos zu Boden. Die Macht der Drachin, deren Lebensjahre in Jahrhunderten gezählt wurden, war für ein junges Mädchen von gerade einmal fünfzehn Jahren viel zu stark gewesen. Der geschockte Assassine starrte mit leerem Blick vor sich hin. Tränen sammelten sich in seinen Augen; es war das erste Mal seit unzähligen Jahren. Kraftlos ließ er seine Dolche fallen und unfähig sich länger auf den Beinen zu halten.

Monoton murmelte er: „Ich habe mein Versprechen … meinen Schwur nicht gehalten. Ich habe versagt. Vollkommen versagt … Warum, Shiko? Sag´ mir, warum … Nicht du … Nein, nicht du solltest das Opfer für den Kampf gegen Shiro sein … Ich bin schuld. Es ist ganz allein meine Schuld. Ich habe dich nicht beschützt … Als du mich wirklich gebraucht hast, habe ich einfach nur zugesehen … Bitte, Shiko … Bitte … Ich brauche dich. Verlass´ mich nicht …“

Meister Togo dagegen war wie erstarrt. Natürlich hatte er gewusst, welches Risiko diese Mission darstellte … doch hatte er geglaubt, mächtig genug zu sein, um ihr Überleben zu sichern. Darum hatte er auch nach Bruder Mhenlo schicken lassen – einzig zu ihrem Schutz. Vielleicht hatte er sich auch zu sehr auf die Schattenschritte des Assassinen verlassen, der bereits so oft rechtzeitig eingeschritten war …

Mit einem tiefen Knurren setzte Kuunavang zum sicheren Gnadenstoß auf die Elementarmagierin an. Schneller als das menschliche Auge den Bewegungen folgen konnte, griff Ohtah Ryutaiyo wieder nach seinen Dolchen und nahm via Schattenschritt Verteidigungsposition über ihrem leblosen Körper ein. Seine Miene war ernst. Wenn er schon sterben sollte, dann für sie! Kuunavang schoss einen weiteren Blitz ab, der Ohtah Ryutaiyo unweigerlich treffen würde. Doch plötzlich wurde er von einem hellen Licht geblendet, das direkt vor ihm aufgetaucht war und den Angriff annullierte. Er rieb sich die Augen, schaute genauer hin und erkannte in Mitten des Lichts Shikon No Yosei.

„Shi-Shiko?“, fragte er unglaubwürdig, war sie doch eben noch bewusstlos gewesen.

Die Elementarmagierin faltete die Hände und betete in Gedanken zu Teinai. Deren Geist legte die Arme um ihren Schützling, verschmolz praktisch mit ihr. Und das Licht nahm an Intensität zu.

Der Leiter des Kloster befreite sich aus seiner Lethargie und sagte ehrfürchtig: „Das ist unglaublich. Teinai hat die schlummernden Kräfte in Shiko erweckt … Das ist reine Energie!“

Ohtah Ryutaiyo´s Gedanken überschlugen sich. Erst glaubte er, Shikon No Yosei sei durch den Angriff der Drachin umgekommen, dann stand sie von einer Sekunde zur anderen vor ihm und war auf einmal viel stärker. Nein, eigentlich war sie bereits seit einiger Zeit nicht mehr das hilflose Mädchen, dem er in der Unterstadt begegnet war. Sie war an der Verantwortung, die ihr übertragen worden war, gewachsen. War sie überhaupt jemals wirklich schwach gewesen?

Shikon No Yosei bemerkte seine gedankliche Abwesenheit und sprach ihn an: „Was ist los, Ohtah? Ich dachte, wir sind ein Team … Oder hast du etwa den Glauben in uns verloren?“

Erschrocken sah er sie an und schüttelte den Kopf. Im Grunde war es egal, wie stark sie geworden war, sie war immer noch die Shikon No Yosei, mit der er durch Cantha gereist war. Daran würde sich nie etwas ändern. Die Energie, die Shikon No Yosei um sich herum als Licht konzentrierte, erreichte ihr Maximum und die beiden Elementarmagierinnen lenkten sie auf Kuunavang. Nach einer gleißenden Explosion, schwebte die Drachin erschöpft vor ihnen nieder. Ihre Schuppen glitzerten wieder in den verschiedensten Grün- und Blautönen.

„Durch Shiro´s Berührung verkam mein Körper. Ihr habt mich von seinem Einfluss befreit.“, erklärte sie schwach, „Ich schulde Euch Dank. Aber die Zeit drängt … Der Kaiser schwebt in großer Gefahr! Shiro hat vor ihn zu töten. Shikon No Yosei, Eure magische Energie hat die Kraft Shiro zu besiegen. Vertraut auf Euch und Eure Verbündeten … und auf den Himmelssturm. Aber vergesst nicht, Eure Magie ist nur so stark, wie Euer eigener Wille!“

Shikon No Yosei nickte verstehend. Sie hatte nie zu träumen gewacht, dass solche Kraft besaß – und konnte es sogar jetzt kaum glauben. Doch um Cantha zu retten, würde sie diese Kraft einsetzen, zu welchem Preis auch immer.
 

Der Palast des Kaisers

Der Aufbau des Palastes ließ Meister Togo darauf schließen, dass Shiro Tagachi Kaiser Kisu im Thronsaal festhielt und ihn dort töten würde – was wohl lediglich eine Frage der Zeit war. Ebenso klar war, dass er den Palast nicht alleine angegriffen haben konnte. Darum begleiteten diesmal auch ein paar Kurzick und Luxon sowie die kaiserliche Armee die Mission. Als Shikon No Yosei vor den Toren des Palastes stand, begann sie unkontrolliert zu zittern. Sie hatte Angst – Angst zu spät zu kommen, Angst zu versagen, Angst vor der direkten Konfrontation mit Shiro Tagachi. Im nächsten Moment spürte sie eine Berührung an ihrer Hand, irritiert hob sie den Blick und sah in das lächelnde Antlitz von Ohtah Ryutaiyo.

Er flüsterte ihr so leise zu, dass nur sie ihn verstehen konnte: „Ich bin bei dir … Wir werden Shiro nicht ungeschoren davon kommen lassen. Vertrau´ mir …“

Entschlossen nickte die junge Elementarmagierin. Mit ihm an ihrer Seite konnte sie alles schaffen.

„Die Wächter des Kaisers kennen den Palast besser, als jeder andere von uns, darum werden sie uns führen. Meister Togo, Bruder Mhenlo, Ohtah und ich werden dabei so gut es geht, unsere Kräfte sparen, damit wir gewappnet sind, wenn wir im Thronsaal eintreffen … Sind alle einverstanden?“ meinte Shikon No Yosei.

Das zustimmende Nicken von allen Anwesen machte den Plan zur beschlossenen Sache. Den Weg durch den Palast als »harten Kampf« zu bezeichnen, wäre wohl die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen, denn um zum Kaiser zu gelangen, mussten sich die Verbündeten durch jeden Raum kämpfen, welche nur so vor Shiro´ken wimmelten. Allein wären Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Meister Togo und Bruder Mhenlo verloren gewesen.

Schließlich blieben die Wächter vor einem geöffneten Tor stehen und der Anführer sagte: „Dies ist der Thronsaal. Dort hinten befindet der Kaiser!“

In dem Augenblick, da sie den Saal betraten, sendete Shiro Tagachi eine gewaltige Schockwelle aus, die sie alle zu Boden schleuderte. Der Leiter des Klosters von Shing Jea war im Anschluss daran der erste, der wieder auf die Beine kam. Schwankend ging er auf den Kaiser zu.

„Ich … komme, Bruder.“, murmelte er geschwächt, doch Shiro Tagachi horchte bei diesen Worten auf.

Ein teuflisches Lachen hallte durch den Raum: „Ihr gehört als auch zur Kaiserfamilie … Gut, sehr gut, das kommt mir gelegen! Ihr seid mir schon längst ein Dorn im Auge.“

Keuchend richtete sich Shikon No Yosei auf. Ihr Blick war verschwommen. Sie blinzelte ein paar Mal benommen. Langsam klärte sich die Szene vor ihren Augen. Shiro Tagachi schwang seine Schwerter, die er wie Dolche führte, und schnitt Meister Togo damit die Kehle durch. Das Blut, das aus der Wunde trat und an den Schwertern klebte, vollendete das Ritual, an dem Shiro Tagachi seit Ausbruch der Pest arbeitete – ein Ritual, das ihn in Welt der Lebenden zurückkehren ließ.

„Ich bin zurückgekehrt!“, schrie er mit selbst zufriedener Stimme.

Shikon No Yosei, die alles mitangesehen hatte, hatte einen Schock erlitten. Ihr Körper starr. Ihre Augen auf den toten Körper ihres Lehrmeisters gefesselt. Ihre Wangen tränennass. Die Energie rauschte in ihren Ohren, pumpte unaufhörlich durch ihre Adern. Es war mehr als Wut, mehr als Trauer. Es war purer Hass, den sie auf Shiro Tagachi verspürte.

Aber Ohtah Ryutaiyo kam ihr zuvor: „Shiro, du Mistkerl! Du bist unerlaubterweise in diese Welt eingedrungen, hast die Pest über uns gebracht, ehrwürdige Geister zu deinen Sklaven gemacht und unschuldige Menschen getötet, nur um deine eigene Armee zu stärken. Du hast Unglück, Verzweiflung und Krieg über Cantha gebracht! Es reicht ein für alle Mal!“

Seine Worte wurden lediglich mit einem höhnischen Laut quittierte. Wütend wollte Ohtah Ryutaiyo auf ihn zu stürmen. Shikon No Yosei hob jedoch den Arm und versperrte ihm so den Weg; stattdessen ging sie selbst auf den Verräter zu.

Ihre Stimme war gefasster, als sie sich fühlte: „Shiro Tagachi … du bist dir keines deiner Verbrechen bewusst. Du benutzt die Gefühle der Menschen und Geister. Du hast Meister Togo geopfert, um selbst wiedergeboren zu werden. Ich werde Cantha nicht länger deinen selbstsüchtigen Pläne aussetzen … Deshalb fordere ich, die Fee der vier Elemente und Verteidigerin von Cantha, dich zum Kampf auf!“

„Keiner von euch ist meiner Macht gewachsen. Ich bin unbesiegbar! Aber wenn ihr unbedingt kämpfen wollt … soll es so sein. In genau vierundzwanzig Stunden hier im Thronsaal, damit ihr noch ein bisschen Zeit habt euch vom Leben zu verabschieden!“, erwiderte er arrogant und steckte seine Schwerter in die Halfter auf seinem Rücken.
 

Seiketsu´s Rat

Kaiser Kisu führte Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Bruder Mhenlo in einen abgesicherten, geheimen Raum des Palastes. Dort konnten sie sich bis zu dem Kampf gegen Shiro Tagachi ausruhen, neue Kräfte sammeln. Ihre übrigen Verbündeten hatten die Anweisung erhalten, sich nicht einzumischen. Ihre Aufgabe war es lediglich gewesen, sich um die Shiro´ken zu kümmern. Kaum hatte Shikon No Yosei das Innere des geheimen Raumes betreten, brach sie zusammen. Die Erschöpfung durch die Trauer machten sich bemerkbar. Es war schon fast ein Wunder, dass ihre Beine sie überhaupt bis zu diesem Zeitpunkt getragen hatten. Doch bevor die hübsche Elementarmagierin auf dem Boden aufschlagen konnte, fing Ohtah Ryutaiyo sie auf und trug sie zu dem Lager, das an einer Seite des Raumes aufgebaut war. Behutsam bettete er sie darauf und setzte sich neben sie. Dann nahm er ihre linke Hand zwischen seine Finger. Was auch immer Shikon No Yosei in ihrem Innern gerade durchmachte, er würde für sie da sein und ihr Halt geben.

„Du darfst jetzt nicht aufgeben. Hörst du, Shiko? Ich brauche dich. Ich brauch dich so sehr …“, flüsterte der geschickte Assassine kaum hörbar, „Du hast sogar den Angriff von Kuunavang überstanden. Damals dachte ich wirklich, du wärst tot … Ich hätte nicht weitermachen können, wenn du nicht zu mir zurückgekommen wärst. Bitte, Shiko …“

Derweil befand sich Shikon No Yosei in völliger Dunkelheit. Sie sah sich um. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie hatte Angst. Plötzlich erschien ein kleiner Lichtpunkt vor ihr, der immer größer und größer wurde. Schließlich nahm er die zarte Gestalt von Seiketsu No Akari an.

„Sei, bist … bist du es wirklich?“, fragte Shikon No Yosei ungläubig und umarmte ihre Cousine dann stürmisch.

Sanft streichelte die braunhaarige Mönchin ihre Cousine, während sie antwortete: „Ja, Shiko, ich bin es … Ich bin hier um dir zu helfen. Weißt du, wir befinden uns hier in der Gefühlswelt deines Herzens. Es ist erfüllt mit der Trauer um Meister Togo … Wir alle trauern um ihn. Sein Verlust ist ein schwerer Schlag für Cantha. Aber du darfst dein Licht der Hoffnung nicht erlöschen lassen! Erinnere dich wieder daran, warum du diesem Kampf aufgenommen hast …“

Vor den beiden jungen Frauen schienen verschiedene Bilder aus der Vergangenheit von Shikon No Yosei. Bilder ihrer Kindheit. Ihre Ausbildung im Kloster von Shing Jea. Der Tag, an dem Meister Togo ins Dorf Tsumei gekommen war. Und als letztes ihre erste Begegnung mit Ohtah Ryutaiyo.

„Ohtah …“, sagte Shikon No Yosei teils traurig, teils voller Sehnsucht.

Schlagartig wurde es etwas heller um sie herum. Verwirrung lag auf ihrem Gesicht.

Seiketsu No Akari lächelte leicht und erklärte: „Hier herrschen deine Gefühle … Sie spiegeln sich in Finsternis und Licht wieder. Die Trauer um Meister Togo überlagert derzeit alles andere. Shiko, erwecke das Licht in dir! Du bist nicht allein … Du hast diesen jungen Mann an deiner Seite. Und mich. Egal, wie viel Tausende von Kilometern wir auch voneinander getrennt sind, ich werde immer in deinem Herzen sein. Das verspreche ich dir, Schwesterchen … Also vertreib´ die Finsternis und lasse dein Licht leuchten … Oder Shiro wird Cantha endgültig ins Verderben stürzen!“

Die Mönchin zeigte ihr ein weiteres Bild, auf dem ein einfaches Lager zu sehen war; darauf lag Shikon No Yosei mit geschlossenen Augen. Neben ihr saß Ohtah Ryutaiyo und hielt mit verzweifeltem Gesichtsausdruck ihre Hand.

Seiketsu No Akari, die eine Hand auf Shikon No Yosei Schulter gelegt hatte, meinte: „Letztendlich ist es deine Entscheidung, Shiko. Du musst entscheiden, ob du dich dem Kampf stellst oder ob du dich von der Trauer überwältigen lässt. Bedenke jedoch … Ohtah braucht dich. Ich brauche dich. Cantha braucht dich … Und Meister Togo´s Seele sieht dir aus den Nebeln heraus zu.“

Langsam verwandelte sich Seiketsu No Akari in den kleinen Lichtpunkt zurück und nur ihre Stimme hallte noch in der Dunkelheit wieder: „Glaube fest an deine innere Stärke!“

Shikon No Yosei schloss die Augen und sagte: „Du hast recht … Ich darf nicht aufgeben. Es ist meine Aufgabe, Shiro zu vernichten. Ich bin dafür verantwortlich! Ich kann nicht davonlaufen. Auch, wenn ich am liebsten alles vergessen würde … All diese schrecklichen Bilder, all diese furchtbaren Kämpfe. Aber ich muss stark sein. Für Sei … für Ohtah … für Teinai … für Bruder Mhenlo … und besonders für Meister Togo … Ich werde sie nicht enttäuschen!“

Entschlossen öffnete sie ihre Augen und schaute in das vertraute Gesicht von Ohtah Ryutaiyo.

„Shiko! Ich habe mir solche Sorgen gemacht … Wie geht es dir?“, sprach er sie er erleichtert an.

Vorsichtig setzte sich die Elementarmagierin auf und erwiderte: „Es geht mir … besser. Finsternis hielt mein Herz umschlungen. Trauer und Hoffnungslosigkeit haben sich in mir breit gemacht. Ich wollte nicht mehr kämpfen … Doch meine Schwester hat mir wieder neuen Mut gegeben. Sie hat mich zurück zum Licht geführt … Ich werde Cantha nicht dem Verderben und Shiro´s Wahnsinn überlassen!“

„Ich helfe dir!“, bestätigte Ohtah Ryutaiyo ernst, „Ich komme mit dir. Wohin du auch gehst …“

Dankbar nickte Shikon No Yosei. Dann registrierte sie plötzlich, dass sie in diesem Bereich des Raums allein waren. Gerade als sie ihren Mund zum Sprechen öffnen wollte, spürte sie wie Ohtah Ryutaiyo´s Finger über ihre Wange streichelten. Überrascht sah sie ihn an. Bislang hatte er immer nur ihre Hand gehalten oder sie gelegentlich mal in den Arm genommen.

„Ich … Shiko, ich muss dir etwas sagen … Etwas, das ich dir eigentlich schon längst hätte sagen sollen.“, begann der Assassine und eine deutliche Röte stieg ihm ins Gesicht, „Der Tod von Meister Togo hat mir gezeigt, wie schnell sich das Leben komplett ändern kann. Deshalb muss ich es dir jetzt sagen – Shiko … ich habe mich in dich verliebt, als ich dich das erste Mal gesehen habe und jeder Tag, den ich mit dir verbringe, lässt mich dich mehr lieben! Ich weiß, ich bin deiner nicht würdig und meine Schuld ist noch längst nicht beglichen … ich will einfach nur bei dir sein, um dich zu beschützen.“

Shikon No Yosei sah tief in seine Augen. Er zitterte beinahe. Die Anspannung war unerträglich.

Mit ihren Fingern fuhr sie langsam über seine Hand und erzählte: „In dieser Finsternis zeigte mir Sei Bilder aus meiner Vergangenheit. Auch eines unserer ersten Begegnung … Und auf einmal wich die Dunkelheit. Weißt du, Ohtah, ich bin nicht so mutig, wie ich manchmal scheine … wenn überhaupt. Aber ich hatte mir geschworen, sollte ich den Kampf gegen Shiro gewinnen, würde ich dir meine Gefühle offenbaren … Ich würde dir meine Liebe gestehen … Es ist mir vollkommen egal, wer du warst, bevor wir uns begegnet sind – ich sehe in dir einen Helden, der sein Leben dafür einsetzt, dieses Land vor einem grauenhaften Schicksal zu bewahren … Ich liebe dich.“

Ohtah Ryutaiyo´s Augen weiteten sich. Zaghaft kam er Shikon No Yosei´s Gesicht näher und nahm es in seine Hände. Bevor sich ihre Lippen berührten, schlossen beide die Augen.
 

Der letzte Kampf: Verderben oder Rettung?

Neu entschlossen betraten Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Bruder Mhenlo das kaiserliche Refugium. Der tyrianische Mönch lächelte zufrieden, als er seine beiden Gefährten Hand in Hand erblickte. Für ihn war es nur eine Frage der Zeit gewesen, wann dies geschehen würde. Er wusste, dass auch Meister Togo die Vertrautheit und die Blicke beider aufgefallen waren. Der Leiter des Klosters von Shing Jea hatte zwar anfangs skeptisch auf den geschickten Assassinen reagiert, doch die gemeinsame Zeit hatte ihn umgestimmt. Er hatte seiner Schülerin nur das Beste gewünscht …

In einiger Entfernung zu ihrem Gegner blieb eben jene stehen und Shikon No Yosei wandte sich zum ersten Mal wie eine wahre Anführerin an ihre Freunde: „Uns steht der bislang schwerste Kampf bevor. Die Reise durch Cantha hat uns geprüft, uns alles abverlangt. Heute wird sich zeigen, ob wir stark genug sind die letzte Prüfung zu bestehen … In Gedenken an Meister Togo, der uns diese Aufgabe übertragen hat, stellen wir uns Shiro Tagachi in diesem alles entscheidenden Kampf. Bruder Mhenlo, Ihr haltet Euch bitte im Hintergrund. Ohtah, du darfst keinesfalls auf seine Provokationen eingehen. Ich selbst werde Teinai´s und meine Macht vereinen … Shiro wird als erster den >Himmelssturm< zu spüren bekommen!“

Bruder Mhenlo nickte, Ohtah Ryutaiyo zog zur Bestätigung seine beiden Dolche. Gemeinsam überwanden sie die letzten Meter. Neben dem Leichnam von Meister Togo stand Shiro Tagachi bereits bereit zum Kampf.

Siegessicher richtete er seine Schwerter auf Shikon No Yosei und erklärte: „Ihr sollt als Warnung für alle Canthaner sterben! Und mit dir … Shikon No Yosei, die du sein Blut geerbt hast, fange ich an!“

Jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Sein Blut«? Etwa … jenes von Meister Togo? Das würde bedeuten, sie wäre seine … Tochter. Konnte das möglich sein?

Bevor Shikon No Yosei ihn danach fragen konnte, rief Shiro Tagachi mit höhnischem Gesichtsausdruck: „Grüß´ deine heiß geliebten Geister der Nebel … Shikon No Yosei ist verbannt!“

Manches hatten sie befürchtet. Mit vielem hatten sie gerechnet. Doch dies übertraf ihre schlimmsten Vorstellungen. Shikon No Yosei verschwand spurlos vor den Augen von Ohtah Ryutaiyo und Bruder Mhenlo, von Shiro Tagachi irgendwohin geschickt.

„SHIKO!“, schrie Ohtah Ryutaiyo nach einem ersten Schreckmoment fassungslos, „Was hast du mit ihr gemacht, Shiro?“

Langsam stolzierte der größere Assassine auf ihn zu und meinte: „Ich habe sie für immer in die Nebel verbannt … Sie irrt nun für alle Zeit dort umher. Nicht tot … nicht lebendig …“

Ohtah Ryutaiyo schluckte die aufkommenden Tränen hinunter. Er musste die Aufgabe zu Ende führen. Für Shikon No Yosei! Aber die unglaubliche Wut raubte ihm den Verstand. Innerhalb von Sekundenbruchteilen blitzten seine Klingen auf und ein lautes Klirren erklang, als seine Dolche und die Shiro Tagachi´s aufeinander trafen. Sie standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber, doch sie waren sich nicht ebenbürtig – Shiro wehrte mit Leichtigkeit jeden Angriff ab, was den Zorn seines Gegners zusehends verstärkte. Bruder Mhenlo sank auf die Knie. Die Situation erschien ihm hoffnungslos. Meister Togo war tot, Shikon No Yosei in den Nebeln eingeschlossen, Ohtah Ryutaiyo blind vor Rache und er selbst hilflos. In seiner Verzweiflung riss der Mönch die Hände zum Himmel, schickte ein Stoßgebet an die Fünf Götter. Er fragte sich, ob er den falschen Weg gewählt hatte. Als Diener Dwaynas galt es Leben mit Heilmagie zu schützen. Als Diener Balthasars Leben mit Peinmagie auszuschalten. Er hatte sich entschieden, seiner Mutter zu folgen … Hätte er doch besser auf seinen Vater hören sollen? Zwischen all der Unklarheit stand jedoch eines glasklar fest – ohne die Kraft und den Mut von Shikon No Yosei war Cantha verloren! Shiro Tagachi rammte Ohtah Ryutaiyo den Schwertknauf in die Magengegend. Die Wucht schleuderte ihn zu Boden, machte ihn benommen. Bevor er seine Lage einschätzen konnte, spürte er kalten Stahl an seiner Kehle. Der Gnadenstoß war nur noch eine Frage von Sekunden.

Überheblich fragte Shiro Tagachi ihn: „Ist das wirklich alles, was ihr zu bieten habt? Ist Cantha in den letzten zweihundert Jahren wirklich so schwach geworden? Ich bin enttäuscht …“

Ein gewaltigen Feuerball zog knapp über seinen Kopf weg und zwang ihn zum Zurückweichen.

Leise Schritte kamen näher, die von einer vertrauten Stimme begleitet wurden: „Cantha ist viel stärker, als du glaubst. Du wirst die wahre Kraft eines Menschen, die seine Gefühle ihm geben, niemals verstehen, Shiro Tagachi … du bist eigentlich nur zu bemitleiden. Aber ich kann dir nicht verzeihen, was du meiner geliebten Heimat angetan hast … Ich werde dieses Kampf jetzt beenden!“

Unglauben, Überwältigung, Schock, Freude und Entschlossenheit waren einzelne Eindrücke, welche Shikon No Yosei in den Gesichtern der drei Anwesenden finden konnte. Shiro Tagachi konnte nicht glauben, dass sie sich aus ihrem Gefängnis befreit hatte. Ohtah Ryutaiyo war schlichtweg erleichtert sie wiedersehen. Bruder Mhenlo strahlte vor Freude.

„Shi-Shiko … du … du … Wie?“, stammelte Ohtah Ryutaiyo.

Selbstbewusst stellte sich Shikon No Yosei ihrem Feind gegenüber und erzählte: „Du magst mich in die Nebel geschickt haben. Allerdings hast du einen entscheidenden Aspekt vergessen … Ich trage den Geist von Teinai in mir! Sie hat mich hierher zurückgeführt.“

Shiro Tagachi senkte seine Klingen und gestand: „Ich habe dich unterschätzt. Du bist gar nicht so ein einfältiges Mädchen, wie ich dachte. Du könntest mir wirklich von großem Nutzen sein … Und hübsch bist du auch. Ich mache dir ein Angebot – ich werde Cantha nicht vernichten … sondern es stattdessen als neuer Kaiser beherrschen. Nimm´ meine Hand und werde meine Kaiserin!“

Die schöne Elementarmagierin starrte zwischen der auffordernden Hand und Ohtah Ryutaiyo hin und her. Auf der einen Seite konnte sie seinen Tod nicht riskieren. Auf der anderen Seite kam eine Unterwerfung Cantha´s durch Shiro Tagachi nicht in Frage.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, erklärte Shiro Tagachi siegessicher: „Dem Kleinen werde ich nichts tun … auch deine anderen Freunde und Verbündeten werden verschont. Ich könnte sogar Shing Jea von der Pest befreien. Das war doch dein Ziel … der Grund für deine Reise.“

„Tu es nicht, Shiko, bitte. Ich will das nicht!“, flehte Ohtah Ryutaiyo sie an.

Shikon No Yosei schloss die Augen und antwortete: „Würde ich auf dein … Angebot, wie du es nennst, eingehen, wäre ich wirklich ein einfältiges Mädchen. Du kennst mich nicht … Ich will Cantha nicht reagieren – ich will es nur beschützen! Und mein Ziel werde ich aus eigener Kraft erreichen. Deshalb werde ich nicht langer dulden, dass du Cantha länger mit deiner Anwesenheit beschmutzt!“

Sie kniete nieder, sammelte Energie. Über ihr schwebte der Geist Teinai´s, welcher die Hände auf ihre Schultern gelegt hatte. Das bekannte Licht umhüllte beide. Shikon No Yosei führte ihre Hände vor dem Körper zusammen und richtete sie anschließend zum Himmel. Rote Wolken umgaben das kaiserliche Refugium. Blitze zuckten. Donner grollte. Flammen züngelten. Sterne funkelten. Die Energie stieg weiter an. Die beiden Frauen leiteten all ihre Magie in diesen letzten Angriff.

Als die Kraft ihr Maximum erreicht hatte, öffnete Shikon No Yosei die Augen und sperrte Shiro Tagachi in eine Energiekugel ein, aus der er nicht mehr entkommen konnte. Dann ließ sie den Himmelssturm auf ihn nieder fahren. Er hatte keinen Möglichkeit den Feuerkugeln, Blitzen, Sternen und Flammenzungen auszuweichen.

Leise flüsterte Shikon No Yosei: „Ich kenne den Grund für deinen Hass auf Cantha nicht … Selbst wenn, würde ich ihn wahrscheinlich niemals verstehen. Du hast unserem Land großes Leid zugefügt. Doch der Jadewind wird sich nicht wiederholen … Die vorhandenen Schäden sind zwar unumkehrbar, aber ich kann neue verhindern. Es ist vorbei … Cantha ist von dir befreit!“
 

Der Göttliche Pfad

Der Kampf gegen Shiro Tagachi war endgültig vorbei. Das Kaiserreich des Südens gerettet. Die Helden unendlich erleichtert. Suun war es, der Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Bruder Mhenlo auf dem Göttlichen Pfad empfing – dem heiligsten Ort des Kaiserpalastes, welcher nur besonderen Menschen zugänglich war.

„Ich danke Euch, Shikon No Yosei … Euch und Euren Verbündeten. Verzeiht mir, wie ich Euch im Nahpuiviertel behandelt habe.“, sprach das Orakel der Nebel, „Von den Gesandten darf ich Euch ausrichten, dass Eure Schuld beglichen ist. Sie haben Shiro Tagachis Seele in einen abgeschiedenen Teil der Unterwelt verbannt. Aus diesem Gefängnis kann er sich nicht befreien. Ihr könnt Euren Weg beruhigt weitergehen …“

Zögerlich fragte Shikon No Yosei: „Wohin wird er mich führen? Habt Ihr einen Rat für mich?“

„Es gibt nur eines, das ich Euch mitgeben kann … Vertraut auf Euch und auf jene, die Euch vertrauen.“, erwiderte Suun und wandte sich ab.

Während sie dem Pfad folgte, ergriff Bruder Mhenlo das Wort: „Meister Togo´s Tod ist gerächt. Ich hoffe, er kann nun in Frieden in den Nebeln ruhen.“

„Das tut er ganz bestimmt.“, bestätigte Ohtah Ryutaiyo und ergriff die Hand seiner Geliebten.

Doch diese fragte etwas kleinlaut an den Mönch gewandt: „Hat … hat er Euch gegenüber jemals etwas über … seine Familie verlautet? Also außer Kaiser Kisu, meine ich …“

Im Gegensatz zu dem geschickten Assassinen, hatte der Tyrianer Shiro´s Worte nicht gehört und konnte nur verneinen – er kannte Meister Togo nur als reisenden Ritualisten und Leiter des Klosters.

„Und nun wird es auch für mich Zeit, nach Hause zurückzukehren. Es war mir eine Ehre, an eurer Seite zu kämpfen.“, meinte er lächelnd, „Das kein Abschied für immer … Ich bin sicher, wir werden uns wiedersehen.“

Mit feuchten Augen umarmte die Elementarmagierin ihn und der Assassine schüttelte ihm die Hand. Sie warfen einen letzten Blick auf ihren Gefährten, bevor sie ihn schließlich allein zurück ließen und um der nächsten Ecke bereits von einer feiernden Meute erwartet wurden – es waren die Kurzick und die Luxon. Vor Graf zu Heltzer und der Ältesten Rhea knieten Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo nieder.

„Erhebt Euch, meine Freunde. Ihr verneigt Euch vor keinem Kurzick, die Kurzick verneigen sich vor Euch.“, sagte der Graf.

Die Älteste pflichtete ihm bei: „So ist es … Auch die Luxon beugen vor Euch ihr Haupt.“

Perplex nahmen die beiden wieder eine aufrechte Position ein und beobachteten gebannt, wie die anwesenden Kurzick und Luxon dem Befehl ihrer Oberhäupter folgten und vor ihnen zu Boden gingen, um ihnen ihren Respekt auszudrücken. Nachdem sich alle wieder erhoben hatten, umarmte Gräfin Danika Shikon No Yosei fest.

Als sie danach einen Stück trat, erklang eine bekannte Stimme: „Ich muss sagen … ich bin sichtlich beeindruckt. Shiko, ich gratuliere dir … Ich meine, ich gratuliere euch. Ohtah, ich war nicht sehr freundlich zu dir … Nimmst du meine Entschuldigung an?“

Der Luxon-Champion hielt ihm seine Hand hin, welche Ohtah Ryutaiyo ergriff und das Lächeln seitens Argo erwiderte.

„Aber merk´ dir eines …“, drohte der geschickte Assassine ihm, „Shiko gehört zu mir!“

Mit einem unterdrückten Lachen entgegnete Shikon No Yosei: „Wer gehört hier wem? Vielleicht gehörst du ja auch zu mir?!“

Lachend verabschiedeten sie sich von einander. Die lauten Jubelrufe waren noch lange zu hören und letztendlich führte der Göttliche Pfad sie zu Kaiser Kisu, der mit seiner gesamten Leibgarde vor dem Tor nach Kaineng wartete.

Würdevoll begann der Kaiser zu sprechen: „Shikon No Yosei … Ohtah Ryutaiyo … auf eurer Reise habt ihr allerlei Gefahren erlebt und überstanden. Auch wenn der Tod meines Bruders ein großer Verlust für uns alle ist, so glaube ich, ihn gut genug zu kennen, um sagen zu können, er hätte nie so stolz auf einen seiner Schüler sein können, wie auf euch beide. Um seiner zu gedenken, werde ich ihm ein Denkmal im Tahnnakai-Tempel bauen lassen.“

„Meister Togo´s Seele wird dies als große Ehre empfinden. Er liebte den Tempel beinahe ebenso sehr, wie sein Kloster.“, äußerte sich Shikon No Yosei und verbeugte sich tief, „Mein verehrter Kaiser … wie mein Meister liebe auch ich Shing Jea. Deshalb … möchte ich dorthin zurück.“

Mit einem Seufzen antwortete Kaiser Kisu: „Nur ungern stimme ich Eurer Bitte zu. Aber nicht, weil ich es Euch nicht gönne oder Ihr es nicht verdient hättet ... sondern weil ich Kaineng nur zu gern unter Eurem Schutz sehe. Deshalb hoffe ich, dass Ihr unserem Reich weiterhin stets zu Diensten sein werdet … als »Verteidigerin von Cantha und Shing Jea«!“

„Ich danke Euch. Euer Bruder erwählte mich für diese Aufgabe … daher seid versichert, ich folge stets seinem Vorbild und stelle mein Leben zum Schutze unseres Landes zur Verfügung.“, verkündete Shikon No Yosei wahrheitsgemäß, „Da wäre noch etwas, Majestät … Ohtah´s Vergangenheit bei den Am Fah – bitte, begnadigt ihn.“

Beinahe erwartete sie Einspruch seinerseits, doch stattdessen wunderte sie sich erst einmal über den verwunderte Blick des Kaisers … Gut, seine Ausbildungsstätte war vielleicht nicht so, wie von einem Helden erwartet wurde, aber zählten nicht vor allem die Taten der jüngsten Zeit. Da von ihrem Liebsten noch immer kein Kommentar kam, drehte sie sich. Und plötzlich verstand die Rothaarige die Verwirrung – Ohtah Ryutaiyo war spurlos verschwunden!
 

Das Ende einer Reise

Shikon No Yosei betrachtete das aufgewühlte Wasser des Springbrunnens, der in der Nähe des Bejunkan-Pier stand. Die Tränen, die nichts mit Freude zu tun hatten, hinterließen Spuren auf ihrem Gesicht. Ihre Augen waren geschwollen. Ihr Blick leer. Ihre Wangen gerötet. Obwohl sie ganz Kaineng nach ihm abgesucht hatte, gab es keine Spur von Ohtah Ryutaiyo. Er war wahrlich ein vollendeter Schatten … Sie erinnerte sich daran, wie sie ihm begegnet war, was er alles für sie riskiert und wie sie ihre Trauer mit seiner Hilfe überwunden hatte, wie sie sich gegenseitig ihre Liebe gestanden hatten, wie er auf einmal verschwunden war. Er war einfach so verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Als wäre er nur ein Traum gewesen … oder ein Geist. Heftig schüttelte die Elementarmagierin den Kopf. Nein, Ohtah Ryutaiyo war der Mann, den sie liebte! Und er empfand genauso für sie. Aber warum nur war er dann verschwunden? Nach all den unzähligen Kämpfen, dem weiten Weg … Seine Worte klangen überdeutlich in ihren Ohren.

In der Unterstadt: „>Mein Name ist Ohtah … Ohtah Ryutaiyo.< >Ich habe Euch seit Eurer Ankunft in Kaineng beobachtet.< >Glaubt mir, Ihr könntet ein perfektes Zielobjekt für sie sein – deshalb biete ich Euch meine Hilfe an.< >Weil ich Euch mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln beschützen werde, Shikon No Yosei – wenn nötig auch mit meinem Leben.<“

Im Nahpuiviertel: „>Ich fürchte mich nicht. Ich bleibe an Eurer Seite … Mein Wort bindet mich – koste es, was es wolle! Solange ich lebe …< >Ihr könnt diesen Kampf nicht allein bestreiten. Ich werde nicht zulassen, dass Shiro Tagachi in irgendeiner Weise Hand an Euch legt!<“

In Senjis Ecke zu Meister Togo und Bruder Mhenlo: „>Ich war einst ein Mitglied der Am Fah und habe nun eine Schuld gegenüber Cantha abzutragen … Darum werde ich Shikon No Yosei bei ihrem Kampf gegen Shiro Tagachi unterstützen. Mit oder ohne Eure Erlaubnis.<“

Im Tahnnakai-Tempel: „>Habt Ihr etwa vergessen, wer den Geistern das angetan hat? Denkt an Eure Aufgabe und Euer Ziel! SHIKO!<“

Im Pongmei-Tal: „>Nein … ich wäre auch ohne seine Anweisung zu dir gekommen! Ich mache mir Sorgen um dich. Weil … weil du mir wichtig bist, Shiko! Ich will nicht, dass dir etwas zustößt … und ich will nicht, dass du traurig bist.< >Du darfst ruhig weinen. Ich bin für dich da … Wann immer du mich brauchst, werde ich an deiner Seite sein. Ich lasse dich nicht allein, Shiko, niemals! Das verspreche ich dir … Ich schwöre es. Wir werden Shiro aufhalten – gemeinsam!< >Aber eine Medaille hat immer zwei Seiten – nur dank der Ausbildung durch die Am Fah konnte ich ihnen entkommen und … habe nun die Möglichkeit, dich zu beschützen.<“

In der Gyala-Brutstätte auf dem Weg zum Leviathangruben: „>Der Mantel, den ich trage, schützt mich. Er stammt noch aus meiner Zeit als Am Fah … Die gegenüberliegenden Äxte mit dem mehrfach gehörnten Tenguschädel sind ihr Gildensymbol. Ich habe es trotz meines Verrates nicht geschafft ihn abzulegen … Aber glaub´ mir, auch ohne ihn hätte ich dich beschützt. Ich werde mein Versprechen niemals brechen …<“

Im Raisu-Palast: „>Ich bin bei dir … Wir werden Shiro nicht ungeschoren davon kommen lassen. Vertrau´ mir …< >Ich helfe dir! Ich komme mit dir. Wohin du auch gehst …< >Ich … Shiko, ich muss dir etwas sagen … Etwas, das ich dir eigentlich schon längst hätte sagen sollen. Der Tod von Meister Togo hat mir gezeigt, wie schnell sich das Leben komplett ändern kann. Deshalb muss ich es dir jetzt sagen – Shiko … ich habe mich in dich verliebt, als ich dich das erste Mal gesehen habe und jeder Tag, den ich mit dir verbringe, lässt mich dich mehr lieben! Ich weiß, ich bin deiner nicht würdig und meine Schuld ist noch längst nicht beglichen … ich will einfach nur bei dir sein, um dich zu beschützen.<“

Während all diese Erinnerungen auf sie einwirkten, traten weitere Tränen über ihre Augenränder und ließen kleine Wellen auf der Wasseroberfläche des Springbrunnens entstehen. Das Schiff der kaiserlichen Garde, welches sie zum Hafen von Seitung bringen sollte, legte bei Sonnenuntergang ab – es blieben ihr demnach nur noch knapp zwei Stunden. Wenn sie Ohtah Ryutaiyo bis dahin nicht fand, würde sie ihn vielleicht niemals wiedersehen … Sie biss sich auf die Unterlippe, ballte ihre rechte Hand zur Faust und wischte sich mit dem linken Handrücken über das Gesicht. Dann stand sie auf. Es gab nur noch einen Ort, an dem sich ihr Geliebter aufhalten konnte – die Unterstadt. Die einzige Chance, in die sie all ihre Hoffnungen setzte!
 

Die Unterstadt war noch genauso verwinkelt, kalt und dunkel, wie bei Shikon No Yosei´s erstem Aufenthalt. Sie zitterte, nicht wegen der Kälte oder der Dunkelheit. Sie hatte Angst, sich getäuscht zu haben und Ohtah Ryutaiyo nicht oder nicht rechtzeitig zu finden …

„OHTAH!“, schrie sie und lauschte dem mehrfachen Echo.

Keine Reaktion. Kein Geräusch. Keine Bewegung. Kein Grund aufzugeben! Ohtah Ryutaiyo war ein Meister im Verstecken und lautlosen Bewegen. Doch wenn er wirklich hier war, würde sie ihn aufspüren. Und es gab genau zwei Möglichkeiten, wie sie dies erreichen konnte … Möglichkeit eins wäre gefährlich. Sie müsste ihre magische Energie konzentrieren und damit die Unterstadt durchfluten um ihn so aus den Schatten zu treiben. Möglichkeit zwei wäre noch gefährlicher – allerdings wahrscheinlich wesentlich effektiver, sollte er sich in ihrer Nähe befinden. Shikon No Yosei musste sich selbst Gefahr bringen. Ohtah Ryutaiyo würde nicht zulassen, dass ihr etwas geschah und auftauchen, um sie zu retten.

Sie atmete tief durch. Plötzlich sah sie aus den Augenwinkeln einen Schatten, der jedoch keinesfalls ihr Geliebter sein konnte. Dafür war er viel zu groß. Anscheinend wollten ihr die Bewohner der Unterstadt die Frage abnehmen, für welche Möglichkeit sie sich entscheiden sollte. Die Elementarmagierin wirbelte um die nächste Ecke. Vor ihr standen drei Befallene. Mit einem Mal wurde ihr – zur Situation völlig unpassend – bewusst, dass es eine ganze Weile her war, seit sie das letzte Mal gegen Befallene gekämpft hatte. Der letzte Kampf mit ihnen war im Echowald, im Ewigen Hain gewesen. Danach hatte sie es nur noch mit Kuunavang, einer Unzahl Shiro´ken und Shiro Tagachi selbst zu tun bekommen.

Die Szene war wie erstarrt. Shikon No Yosei wagte es kaum zu atmen. Ihre Gegner benötigten einen Augenblick, um ihre Anwesenheit zu realisieren. Sie waren wohl sehr überrascht. Aber diese Verzögerung war nicht von Dauer. Während der Mönch sich darauf einstellte, seine Mitstreiter zu heilen, webte der Nekromant ein paar Flüche und der Assassine wetze seine Dolche, die gleichzeitig seine Beine bildeten. Irgendwie war das Ironie des Schicksals. Um einen Assassinen aus seinem Versteck zu locken, stand Shikon No Yosei einem Assassinen gegenüber. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, während sie die Augen schloss. Sie zitterte nicht mehr. Ohtah Ryutaiyo hatte während ihrer Reise durch Cantha mehrfach sein Leben riskiert – nun war sie an der Reihe, alles für ihre Liebe einzusetzen. Der Befallene stach mit seinen Dolch zu.

Shikon No Yosei spürte einen kräftigen Lufthauch und ihre Beine verloren den Boden unter ihren Füßen. Er war tatsächlich gekommen! Sanft setzte Ohtah Ryutaiyo die Elementarmagierin wieder ab, die mit stark klopfendem Herzen beobachtete, wie ihr Retter die Befallenen erbarmungslos abschlachtete. Denn anders konnte man seine Bewegungen nicht beschreiben.

„Du hast mich gerettet.“, stellte Shikon No Yosei überflüssigerweise fest.

Ohtah Ryutaiyos Gesichtsausdruck und seine Stimme waren von Wut verzerrt: „Als ob ich eine andere Wahl gehabt hätte! Wie konntest du nur, Shiko?! Warum hast du das getan?“

„Um dich wiederzusehen.“, erwiderte sie und merkte, wie ihre Augen feucht wurden, „Warum hast du mich verlassen?“

Schnaubend schüttelte er den Kopf, bevor er erklärte: „Es war ein Traum, Shiko! Ein Traum … verstehst du das? Ich meine … ich bin ein Auftragsmörder! Ich wurde von Verbrechern aufgezogen. Du bist jetzt die gefeiertste Heldin von ganz Cantha – ich würde nur einen Schatten darauf werfen. Und … was wird deine Tante von uns halten? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich über solch einen Mann für die Tochter ihrer geliebten Schwester freut …“

„Warum machst du es dir nur selbst so schwer, Ohtah?“, wollte die Elementarmagierin traurig wissen, „Ja, du bist Assassine … ein ausgezeichneter Assassine sogar. Und ja, du hast in einer Verbrechergilde gelebt … Na und? Du hast sie verlassen! Weil du anders bist! Warum siehst du nur deine Vergangenheit? Warum nicht die Gegenwart, nicht die Zukunft? Deine Vergangenheit ist ein Teil von dir … Doch sie bestimmt nicht deine Zukunft. Du hast die Wahl, Ohtah … Akzeptiere deine Vergangenheit und lebe im Licht … Oder laufe vor ihr davon und verstecke dich weiterhin im Schatten. Wähle … Welchen Weg willst du gehen?“

Prompt stellte der ehemalige Am Fah ihr eine Gegenfrage: „Glaubst du wirklich, dass wir in der Realität eine Chance hätten, glücklich zu sein? Wenn es nicht darum geht, einem Feind hinterher zu jagen, sondern um jeden einzelnen Tag …“

„Ich glaube es nicht nur, ich weiß es!“, entgegnete Shikon No Yosei und nahm seine Hand, „Du weißt, was Shiro gesagt hat … über meine Abstammung. Ich möchte es glauben … Und wenn Meister Togo wirklich mein Vater war, dann wäre uns sein Segen sicher gewesen.“

Dagegen konnte Ohtah Ryutaiyo nicht widersprechen. Natürlich war der Ritualist bei ihrem ersten Aufeinandertreffen misstrauisch gewesen … aber später hatte er ihn aufgesucht, damit der Assassine Argo nicht das Feld überließ. Zu diesem Zeitpunkt kannte Meister Togo bereits die Gefühle, die er für seine … Tochter hegte und billigte sie nicht nur, sondern unterstützte sie.

„Ich werde Sunn´s Rat hören … »Vertraut auf Euch und auf jene, die Euch vertrauen.«“, bekräfte Shikon No Yosei noch einmal ihre Entscheidung, „Ohtah … hier in der Unterstadt standen wir uns das erste Mal gegenüber. Gleich zu Beginn hast du mir von deiner Vergangenheit erzählt … Ich wusste Bescheid und ich habe mich trotzdem in dich verliebt. Ich liebe dich, Ohtah! Ich liebe dich, so wie du bist. Ich brauche dich …“

Ohtah Ryutaiyo zog sie in eine Umarmung und flüsterte: „Und ich brauche dich. Ich wollte … ich wollte nicht zwischen dir und deiner Zukunft stehen. Ich wollte nicht, dass du meinetwegen leiden musst … Spott ertragen musst.“

„Das größte Leid der Welt wäre nichts im Vergleich dazu, dich zu verlieren.“, meinte die Rothaarige lächelnd.

Langsam beugte sich Ohtah Ryutaiyo zu ihr herunter. Der folgende Kuss sollte beiden noch lange im Gedächtnis bleiben. Er war ein Versprechen … Ein Versprechen auf ein gemeinsames Leben auf Shing Jea. Um dieses Versprechen halten zu können, hob der Assassine, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, seine Geliebte auf seine Arme und rannte im Schatten zurück nach Kaineng, zum Bejunkan-Pier, an dem das Schiff bereits Ablege fertig auf seine letzten, beiden Passagiere wartete.
 

Mit ihrer Rückkehr nach Shing Jea in Begleitung von Ohtah Ryutaiyo endet Shikon No Yosei´s Reise durch Cantha. Die Quelle der Pest ist ausgelöscht, doch es wird noch einige Zeit dauern bis das gesamte Kaiserreich von den Befallenen befreit wäre und es sich von den Folgen dieser Auseinandersetzung erholen konnte.

Shikon No Yosei selbst ist nicht mehr diejenige, die damals mit Meister Togo aus Zen Daijun zu dieser Mission aufgebrochen ist. Ihre magische Energie ist deutlich angestiegen und der Segen Teinai´s liegt noch immer über ihr, der Fee der vier Elemente und unanfechtbaren Verteidigerin von Cantha und Shing Jea!

Aber das Wertvollste, was diese Reise ihr geschenkt hat, ist die Liebe zu Ohtah Ryutaiyo. Ihr Glück scheint nun nahezu perfekt; allerdings gibt es noch etwas, das einen Schatten auf ihr Leben wirft … denn etwas fehlt ihr noch. Wie lange wird ein richtiges Wiedersehen mit Seiketsu No Akari wohl auf sich warten lassen? Wohin wird ihr Weg Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo als nächstes führen? Die Seiten des Buchs des Lebens werden kontinuirlich umgeblättert und schon bald wird eine neue Geschichte dieser Legende erzählt werden …

Erzählung 01: Das Schicksal eines Assassinen

Segen oder Fluch

Kaiser Kisu unterstanden drei Männer, die loyaler nicht hätten sein können. Ihnen oblagen verschiedene Zuständigkeiten und jeder seiner Wünsche war ihnen buchstäblich Befehl. Als Stimme des Kaisers sorgte Koe dafür, dass die Worte Kisu´s ins Volk getragen wurden. Te, die Hand des Kaisers, erledigte Aufgaben, welche der Herrscher nicht selbst ausführen konnte. Die Klinge des Kaisers zu sein bedeutete, sich jedem Feind Cantha´s entgegenzustellen und Ken hätte sein Leben gegeben, um die Bürger des Kaiserreiches zu beschützen. Darum nahm er jeden Einsatz ernst, so harmlos er zu Beginn auch scheinen mochte oder es aus Sicht anderer nur um ein paar Bauern ging. Besonders seit die Aktivitäten der Am Fah und der Jadebruderschaft gestiegen waren, gab es immer mehr zu tun. Ken setzte mehr Wachen für Patrouillen ein und ordnete häufigere Kontrollen der gefährlichen Bezirke an. An den meisten Tagen führte er sie persönlich an. Wie heute zum Beispiel.

„Hauptmann, es sieht alles ruhig aus.“, meinte einer der Wächter.

Ken nickte und entgegnete: „Und das ist genau der Grund, warum wir noch wachsamer sein sollten. Es ist zu ruhig … Vergesst nicht, diese Verbrecher lauern in den Schatten. Ihr dürft euch nie zu sicher sein, sonst überfallen und töten sie euch in wenigen Sekunden!“

Sein Untergebener salutierte ergeben. Niemand wagte es der Klinge des Kaisers offen zu widersprechen, auch wenn ein Großteil der Wachen diese Aufträge für Verschwendung hielten. Nur wenige Augenblicke später hallten grässliche Schreie durch die Straßen Kaineng´s. Ken und seine Männer rannten, so schnell sie konnten mit gezückten Waffen zum Ort des Geschehens. Eine Gruppe Assassinen aus der Gilde der Am Fah hatte eine Handvoll canthanischer Bauern umzingelt – kein unbekanntes Bild in dieser Zeit; sie nutzten die Armut der Menschen aus, um sie als neue Mitglieder zu werben.

„Ihr bekommt uns nicht!“, rief ein junges Mädchen, das ihr Haar in zwei, kurzen Zöpfen trug.

Ihre Reaktion überraschte Ken. Normalerweise verhielten sich die Bauern still und waren viel zu besorgt um ihr Leben, als dass sie die Am Fah herausgefordert hätten. Doch ließ ihn das nicht in seinem Handeln zögern. Er eröffnete den Angriff und seine Männer schlossen zu ihm auf. Nur ein Assassine konnte ihnen entkommen.

„Geht es Euch gut?“, fragte er das Mädchen, welches sich zur Wehr gesetzt hatte.

Sie lächelte und antwortete: „Dank Eurem schnellen Eingreifen. Ihr habt unser Leben gerettet.“

„Ich glaube, diese Mistkerle hätten sich ganz schön anstrengen müssen, um gegen Euch zu bestehen.“, erklärte Ken anerkennend, „Darf ich Euch nach Eurem Namen fragen?“

Die schöne Canthanerin verbeugte sich leicht, während sie erwiderte: „Man nennt mich Chuntao … Wer Ihr seid,weiß ich natürlich. Es ist mir eine Ehre, die Klinge des Kaisers kennenlernen, die stets sogar für die ärmsten Bewohner dieses Landes kämpft. Ihr seid so etwas, wie ein Volksheld bei uns.“

„Seid versichert, dass dies nicht meine Absicht ist … Es geht mir lediglich darum, den Menschen Cantha´s ein möglichst sicheres Leben zu bieten.“, widersprach Ken ihr, wobei er sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen konnte.

Von diesem Tage an suchte Ken, wann immer es ihm möglich war, Chuntao´s Gegenwart auf. Er wusste, ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Kaisers durfte er sicher keiner Frau nähern. Doch zum ersten Mal in seinem Leben war ihm etwas wichtiger, als seine Loyalität gegenüber Kisu – er hatte sich verliebt.
 

Es war Nacht. Weit nach Mitternacht. Die Straßen von Kaineng lagen im Dunkeln. Kaum ein Geräusch war zu vernehmen, außer den hastigen Schritten einer jungen Frau, die durch die Stadt schlich. Sie kannte die Gefahr, welcher sie sich aussetzte, doch noch gab es kein Anzeichen der Am Fah oder der Jadebruderschaft. In einem Bauernviertel machte Chuntao Halt. Sie drückte das weiße Bündel näher an ihre Brust. Dann legte sie es auf die Türschwelle eines der kleinen Häuser. Sie wusste nicht, welche Familie dort lebte, aber sie hoffte nur das Beste für ihn.

„Verzeih´ deiner Mutter bitte. Ich liebe dich, mein Sohn … Trotzdem muss ich dich verstecken. Niemand darf erfahren, wessen Kind du in Wirklichkeit bist. Nicht einmal dein Vater … Es würde ihn nur in Schwierigkeiten bringen. Und dich erst recht. Hier bist du hoffentlich in Sicherheit!“, flüsterte sie dem Säugling zu und küsste ihn auf die Stirn, „Leb´ wohl … Ohtah.“

Chuntao warf ihm einen letzten, traurigen Blick zu, bevor sie um die nächste Ecke verschwand. Nur wenige Augenblicke später war ihr schmerzerfüllter Schrei zu hören, gefolgt von einem höhnischen Lachen zweier Männer, die sich aus dem Schatten lösten.

Einer von ihnen hielt den blutbeschmierten Dolch in Händen und fragte: „Was meinst du? Sollen wir ihm Gnade gewähren … und ihn zu seiner Mutter in die Nebel schicken?“

„Nein.“, widersprach der andere, während er das Kind abschätzend musterte, „Wir nehmen ihn mit in unsere geliebte Gilde … Irgendwann wird er selbst entscheiden, ob dieses Geschenk ein Segen oder ein Fluch ist. Und sein Name … Wie hat ihn dieses Weib gleich noch genannt? >Ohtah< … Ja, Ohtah Ryutaiyo.“

Sein Kumpane blieb misstrauisch: „Aber unser Anführer? Glaubst du er ist damit einverstanden?“

„Ich nehme ihn in meine Obhut und trage die Verantwortung für ihn. Solange er es noch nicht selbst kann …“, entschied er und hob das Päckchen aus Leinentüchern beinahe zärtlich vom Boden auf.
 

In den folgenden sechs Jahren schloss Ohtah Ryutaiyo seine Grundausbildung bei den besten Lehrmeistern der Am Fah ab. Sein Adoptivvater Rien überwachte seinen Unterricht akribisch – besonders seit er zum Anführer der Gilde aufgestiegen war, denn in ihm war der Plan gekeimt aus dem Jungen eine Art Geheimwaffe zu machen, welche den Krieg mit der Jadebruderschaft ein für alle Mal beenden und ihnen die Macht über Cantha sichern sollte. Für Ohtah Ryutaiyo stand erst einmal die Entscheidung an, welchen Weg er beschreiten wollte. Die Wahl seiner Klasse bestimmte sein weiteres Leben. Er stand vor Rien, der im übrigen ein Mönch war, und hielt den Blick ehrfürchtig gesenkt. Er hatte bereits sehr früh gelernt, dass es ihm besser erging, wenn er sich unterwürfig zeigte, als wenn er frech den Anweisungen seines Mentors trotzte.

„Ohtah … mein Sohn. Heute ist der Tag der Entscheidung gekommen. Es wird sich zeigen, ob du den Am Fah den nötigen Wert bringst, den man sich von dir erhofft. Darum möchte ich nun hören, wie du dich entschieden hast … Willst du in die Gilde aufgenommen und als offizielles Mitglied betrachtet werden?“, fragte ihn sein Mentor betont.

Ohtah Ryutaiyo hob den Blick und antwortete mit einer Entschlossenheit, die weit jenseits seines Alters lag: „Ja, Vater! Ich will der Gilde mein Leben widmen.“

„Deine Antwort macht mich stolz! Welche Waffe und welchen Weg hast du für dich gewählt?“, fuhr sein Mentor fort.

Er zog seine beiden Dolche aus dem Gürtel und erwiderte: „Meine Dolche sind meine besten Freunden geworden; sie haben mich noch nie im Stich gelassen und ich möchte ihnen auch in Zukunft mein Vertrauen schenken … Darum habe ich den Weg des Assassinen für mich gewählt.“

Sein Mentor verbeugte sich knapp vor ihm und sagte: „Dann stell´ dich jetzt zum Kampf … Und natürlich wirst du gegen eines unserer Mitglieder kämpfen. Gehst du siegreich aus diesem Zusammentreffen hervor, bist du ein Am Fah. Solltest du allerdings verlieren – und somit Schande über dich bringen – wirst du noch im selben Augenblick durch die Waffen deines Gegners den Tod finden. Hast du das verstanden?“

„Jawohl!“, rief Ohtah Ryutaiyo und packte seine Dolche fester.

Keine Sekunde später erschien sein Gegner via Schattenschritt. Der junge Am Fah war tief beeindruckt – diese Kunst gehörte zu den Hauptgründen, warum er sich für den Weg als Assassine entschieden hatte. Währenddessen bezog sein Gegenüber Stellung, doch Ohtah Ryutaiyo führte den ersten Angriff. Mit einem lauten Klirren trafen sich die vier Klingen. Sie wirbelten auseinander, taxierten sich und stürmten erneut aufeinander zu. Wieder und wieder verhakten sich die Dolche ineinander; obwohl beide ihr Bestes gaben, schaffte es keiner die Oberhand zu erlangen. Als der andere sich nach einem weiteren Schlag zurückzog, nutzte Ohtah Ryutaiyo die Gelegenheit, um zu seinem Adoptivvater zu sehen. Er hatte ihn aufgenommen, sich um ihn gekümmert, ihm ein Zuhause gegeben. Und nun erwartete er von ihm, dass er sich als würdig erwies.

„Ich darf nicht verlieren!“, presste Ohtah Ryutaiyo zwischen den Zähnen hervor und spannte seine Muskeln an.

Flüchtige Schatten umgaben ihn. Schneller als für das menschliche Auge sichtbar, bewegte er sich auf seinen Gegner zu, führte einen Leithandangriff aus und schlug ihm anschließend mit einem gezielten Rückhandschlag die Dolche aus den Fingern. Zum Schluss rammte Ohtah Ryutaiyo dem feindlichen Assassinen noch den Dolchknauf in de Magengegend, sodass dieser bewusstlos zusammenklappte.

„Ich habe gewonnen.“, stellte er zufrieden fest.

Endlich hatte er den ersten Schritt geschafft – er war kein Kind mehr. Ab sofort gehörte er den Am Fah an und schon bald würde seine Ausbildung zum Assassinen beginnen. Dann könnte er wirklich nützlich für die Gilde sein und Rien stolz machen.

Seinem Mentor dagegen blieb die Luft im Hals stecken. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass Ohtah Ryutaiyo seinen Gegner so schnell besiegen würde … immerhin hatte ihm ein in Ungnade gefallener, aber voll ausgebildeter Meuchelmörder gegenüber gestanden. Er wusste, sein Schützling verfügte über großes Potenzial, doch sein Talent musste noch mehr gefördert werden. Es reichte nicht ihn einfach nur auszubilden – seinem Sohn fehlte die »moralische« Überzeugung der Gilde. Jeder andere hätte einen tödlichen Schlag nachgesetzt, Ohtah Ryutaiyo dagegen hatte nicht einmal darüber nachgedacht, ihn zu töten. Dann lächelte der Anführer der Am Fah. Es war noch genügend Zeit – mit Ohtah Ryutaiyo hatten sie die perfekte Waffe entdeckt. Ein Junge, der sich vollkommen nach ihren Vorstellungen formen ließ. Seit seiner Geburt war er darauf vorbereitet worden, zu ihnen zu gehören. Jetzt musste seine Grausamkeit geweckt werden. Am besten indem er sie selbst zu spüren bekam. Schluss mit dieser verdammten Ehrlichkeit!
 

Ohtah Ryutaiyo´s Ausbildung zum Assassinen der Am Fah näherte sich seinem Höhepunkt entgegen. In den vergangen vier Jahren hatten ihm seine verschiedenen Ausbilder keine Gnade gewährt – Rien hatte natürlich dafür gesorgt, dass er nur von den Besten der Gilde lernte. Sie trieben ihn zu immer größeren Leistungen an und bestrafen ihn beim kleinsten Fehltritt äußert hart – ebenfalls auf Befehl des Anführers. Während dieser Zeit veränderte sich Ohtah Ryutaiyo´s Gefühlswelt. Sein Herz verfiel nach und nach der Finsternis … sie schlich sich in seine Gedanken – genauso wie sein Adoptivvater es seit jenem Tag geplant hatte. Schon bald würde aus seinem Sohn die Waffe werden, die er sich wünschte. An Disziplin und Willen fehlte es ihm dafür nicht; Ohtah Ryutaiyo begann noch vor Sonnenaufgang mit seinem Training. Gegen Mittag an diesem Tag wurde er von seinen Lehrmeistern gerufen.

„Ohtah, mein Sohn, seit gut zehn Jahren lebst du hier im Versteck der Am Fah. Doch du bist immer noch kein vollwertiges Mitglied unserer geliebten Gilde … dies soll sich nun ändern. Du musst deine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Heute Nacht. Ich erwarte, dass du ihn zu meiner vollsten Zufriedenheit ausführen wirst. Hast du mich verstanden, Ohtah?“, erklärte sein Mentor.

Ohtah Ryutaiyo nickte ergeben und erwiderte: „Jawohl, Meister!“
 

Der geschickte Assassine schlich durch die Straßen Kaineng´s. Er verließ sich vollends auf sein Gespür, um sein Ziel zu erreichen. Plötzlich stand er vor einem großen, luxuriösen Anwesen – das Haus der vier Minister des Himmelsministeriums. Leise begab er sich auf dessen Rückseite. Dort kletterte er die Fassade hinauf und suchte nach dem Feuerminister. Das letzte Zimmer, im obersten Stockwerk gehörte ihm. Ohtah Ryutaiyo zog seinen Dolch und stieß ihn zwischen das Fenster und die Wand. Dann bewegte er den Dolch auf und nieder. Mit einem Mal sprang es geräuschlos auf, sodass er unerkannt hineingleiten konnte und bewegte sich wie ein lebendiger Schatten auf den Feuerminister zu. Es war einfach nicht zu leugnen, trotz seiner Jugend und Unerfahrenheit war Ohtah Ryutaiyo bereits jetzt ein ausgezeichneter Assassine. Die Jahre bei den Am Fah hatten sich gelohnt. Bisher hatte er allerdings seine Gegner nur außer Gefecht gesetzt. Heute Nacht sollte sich das ändern. Sein Auftrag bestand darin den Feuerminister zu töten … Warum sollte er ihn auch am Leben lassen? Er besaß Macht. Macht, die Kaineng´s Bewohnern helfen könnte. Doch die Stadt verkam immer mehr. Es musste etwas unternommen werden! Und seine Gilde wollte sich einzige für Cantha einsetzen, den Bewohnern ein besseres Leben ermöglichen. Der Minister hatte es nicht anders verdient! Ein kleiner Stoß mitten in sein Herz bedeutete für Ohtah Ryutaiyo zu einem vollwertigen Mitglied der Am Fah zu werden und wer weiß, vielleicht würde das neue Mitglied des Ministeriums seine Macht besser einsetzten. Ohtah Ryutaiyo´s Dolch blitzte im Licht des Mondes auf, als er ihn ohne Laut niederfahren ließ; damit war sein Auftrag ausgeführt.
 

Ohtah Ryutaiyo kehrte ins Versteck zurück. Sein Mentor erwartete ihn im großen Saal; zu beiden Seiten des Weges waren Am Fah aufgestellt. Er fühlte sich sofort an eine Ehrengarde erinnert und lächelte. Sie alle würden Zeuge seiner Aufnahme in die Gilde der Am Fah werden.

„Ich verlange einen Bericht von dir, Ohtah.“, sagte Rien angespannt.

Er legte den blutverschmierten Dolch vor seinen Adoptivvater auf den Boden und antwortete: „Vor Euch liegt der Dolch, mit dem ich den Feuerministers in die Nebel geschickt habe. An ihm klebt sein Herzblut, Meister.“

„Ich bin sehr stolz auf dich, mein Sohn. Komm´ zu mir …“, erwiderte der Anführer der Am Fah und schloss ihn in die Arme, „Ich wusste von Anfang an, dass du geschickt bist, aber du hast meine kühnsten Vorstellungen noch übertroffen … Ein solches Talent, wie jenes, welches du besitzt, kann ein Segen und ein Fluch sein. Du hast dir unser Vertrauen verdient. Ich ernenne dich hiermit zu einem vollwertigen Mitglied der Am Fah Gilde! Erhebe dich … Ohtah Ryutaiyo!“

Das Gesicht seines Mentors strahlte vor Glück. Ohtah Ryutaiyo erwiderte seinen Blick. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er für seinen Mentor viel mehr empfand, als er bisher gedacht hatte. Für ihn war er nicht nur sein Mentor, sondern wirklich sein Vater.
 

Ohtah Ryutaiyo war glücklich. Sein Leben als Am Fah gab ihm einen Sinn. Auch wenn er in der Gilde so etwas wie einen Sonderstatus einnahm, hatte er hier zum ersten Mal das Gefühl von Familie. Er, der beste Assassine unter ihnen, war der einzige, der sich sein Quartier selbst hatte wählen dürfen. Es lag abseits und viel höher als die anderen Zimmer der großteils unterirdischen Gildenhalle – darum besaß nur dieser Raum ein kleines Fenster. Normalerweise mieden die Am Fah Helligkeit so gut es ging und hielten sich im Verborgenen, doch in Ohtah Ryutaiyo liebte die Sehnsucht nach dem Licht … Er kannte die Sonnenbahn, das Wechseln des Mondes und den unzähligen Sternen gab er eigene Namen. Vielleicht lag diese Verbundenheit ja an seinem Namen – auf jeden Fall war er kein gewöhnlicher Am Fah.

Auch sein Adoptivvater hatte das erkannt: „Mein Sohn … dir steht eine große Zukunft in unsrer Gilde bevor. Du darfst nie vergessen, du bist ein wirklich außergewöhnlicher Junge!“

Ja, anders als die anderen Mitglieder hatte er die Gilde nicht aufgesucht, sondern war bereits sein ganzes Leben hier. Kein Wunder, dass er also anders war. Doch heute stand ihm wie jedem anderen Am Fah auch eine Aufgabe im Namen der Gilde bevor. Ohtah Ryutaiyo sollte ein potenzielles Mitglied prüfen … So wie er einst gegen einen von ihnen hatte kämpfen müssen. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Wäre der Junge würdig, so würde er ihn verschonen. Ansonsten hatte der Bewerber Pech und musste mit seinem Leben dafür bezahlen. Wer auch immer das Innere ihrer Gildenhalle gesehen hatte, blieb entweder oder verließ sie als Leiche. Die Sonnenstrahlen streiften seine Haut. Ein warmes Prickeln durchlief ihn. Es war soweit …

Ohtah Ryutaiyo blieb mit den Schatten verschmolzen. Niemand wusste, wo er sich befand. Nicht einmal sein Mentor konnte ihn ausfindig machen. Und doch zweifelte dieser keine Sekunde lang, dass sein Schützling sich im Saal befand. Das Tor öffnete sich langsam, ein junger Mann trat zügig ein. Unwillkürlich fragte sich Ohtah Ryutaiyo, welche Gründe ihn dazu bewogen hatten der Gilde beitreten zu wollen. Sicher erlebte er dieselbe Nervosität, wie er selbst vor einigen Jahren.

„Welche Waffe und welchen Weg hast du für dich gewählt?“, erklang die Stimme des Anführens, welcher am anderen Ende auf seinem gewohnten Platz zwischen den Lehrmeistern saß.

Der Fremde legte einen Pfeil an die Sehne seines Bogens und antwortete: „Meine Pfeile haben bisher immer ihr Ziel getroffen. So werde auch ich mein Ziel erreichen und als Waldläufer den Am Fah alle Ehre bereiten.“

Mut hatte er, das musste Ohtah Ryutaiyo freilich zugeben und musterte ihn genauer. Äußerlich schien er auf den ersten Blick ganz ruhig. Nicht einmal seine Hand, mit der er die Sehne hielt, zitterte. Aber da war etwas in seiner Haltung, die Unsicherheit ausdrückte. Natürlich, er wusste nicht, welche Art von »Eignungstest« ihn erwartete.

„Ich möchte dir deinen Gegner vorstellen … Er ist ein personifizierter Schatten und unserer bester Assassine. Deine Aufgabe ist es ihm im Kampf auf Leben und Tod gegenüberzutreten.“, erklärte Rien und klopfte ungeduldig auf die Stuhllehne, „Ohtah … wir warten.“

Sofort löste Ohtah Ryutaiyo die Schattenverschmelzung und zeigte sich. Sein Adoptivvater schielte aus den Augenwinkeln für den Bruchteil einer Sekunde zu ihm herüber – er hatte ihn sofort wahrgenommen. Anders der junge Waldläufer. Jetzt zeigte sich deutlich Überraschung auf seinem Gesicht. Mit einem Kampf schien er gerechnet zu haben, denn er hatte den Pfeil nicht von der Sehne gelöst, aber sicher nicht mit einem so ausgezeichneten Gildenmitglied, das er nicht einmal sah – Anfängerfehler. Unwürdig. Also ließ sich der Assassine von seiner erhöhten Position fallen, nur um leichtfüßig inmitten des Saals aufzukommen. Sofort richtete sich die Pfeilspitze auf seine Kehle. Er lächelte. Zu langsam; der Schuss verfehlte ihn. Er hätte ihn vielleicht getroffen, wenn er ihn abgeschossen hätte, als Ohtah Ryutaiyo noch in der Luft gewesen war. Es bedurfte nicht einmal eines Schattenschrittes – Ohtah Ryutaiyo hatte seinen Dolch geworfen, noch bevor sein Gegenüber nach dem nächsten Pfeil gegriffen hatte. Leblos fiel sein Körper zu Boden. Angewidert zog er seine Waffe aus dessen Rumpf. Solche Schwächlinge hatten in der Gilde nichts verloren … Ohne von Rien entlassen zu werden, verließ Ohtah Ryutaiyo den Saal und ging in sein Zimmer. Die heutige Begegnung hatte ihn auf eine Idee gebracht.
 

In den folgenden Tagen bekam niemand Ohtah Ryutaiyo zu Gesicht. Die meiste Zeit verbrachte er im unbenutzten Trainingsraum. Ohtah Ryutaiyo öffnete den Lederbeutel, den er an der Hüfte trug, und holte eine Handvoll kleiner Pfeile heraus. Seine Augen wanderten zu den Zielscheiben, die in unterschiedlichen Abständen aufgestellt waren. Er musste üben, wenn er sie genauso beherrschen wollte, wie seine Dolche. Nein, beherrschen allein genügte nicht … blind führen traf es eher. Er musste Perfektion erlangen, ein absolut tödlicher Schatten werden – mit hundertprozentiger Trefferquote. Der Assassine lief los. Die Bewegungen waren für das bloße Auge nicht zu sehen, als er mit der flachen Hand einen Pfeil nach dem anderen auf die Ziele warf. Ein einziger Pfeil verfehlte den schwarzen Kreis in der Mitte. Ohtah Ryutaiyo fluchte stumm. Sein Training musste noch härter und länger werden!
 

Ohtah Ryutaiyo´s sechzehnter Namenstag war gekommen. Auf den Tag genau vor all diesen Jahren hatten die Am Fah ihn in den Straßen Kaineng´s gefunden. Und seitdem gehörte sein Herz, sein Körper, sein Leben der Gilde. Doch der heutige Tag sollte Ohtah Ryutaiyo´s Leben für immer verändern. Etwas stimmte nicht, er fühlte es. Es war ein komisches Gefühl, eine böse Vorahnung; nichts greifbares, aber etwas schwebte über ihm. Am Nachmittag wurde er schließlich – nach endloser und sinnloser Grübelei – von Rien zu sich gerufen. Dies war in den vergangenen Wochen immer seltener vorgekommen. Warum wusste der junge Assassine nicht; er konnte sich auch nicht vorstellen, seinen Adoptivvater auf irgendeine Weise erzürnt zu haben.

Er kniete vor ihm nieder und konnte es nicht vermeiden, dass seine Stimme leicht zitterte: „Ihr wolltet mich sprechen, Meister …“

„Nicht verwunderlich, wenn man den heutigen Tag bedenkt.“, entgegnete der Anführer der Am Fah, „Mein Sohn, seit sechs Jahren dienst du unserer geliebten Gilde als Assassine. Du hast dir einen Namen gemacht, den sogar unsere Feinde fürchten … Jetzt ist die Zeit gekommen, dass du endlich die Position einnehmen kannst, die du verdienst.“

Verständnislos hakte Ohtah Ryutaiyo nach: „Was meint Ihr damit?“

„Ohtah Ryutaiyo … hiermit erhältst du das Kommando über die dritte Einheit. Ich befördere dich zum General!“, erklärte sein Mentor anerkennend.
 

Nervosität durchströmte Ohtah Ryutaiyo. Zum ersten Mal betrat er das geheime Zimmer, in dem sich jede Woche die ranghöchsten Mitglieder der Am Fah versammelten, um über die Gildenaktivitäten zu beraten. Unter ihnen natürlich Rien als Anführer, die vier Lehrmeister und neun Generäle. Ohtah Ryutaiyo war der jüngste von ihnen. Sie saßen um einen niedrigen Tisch versammelt, auf dem ihre persönlichen Waffen lagen.

„Willkommen, junger Freund.“, begrüßte ihn einer der Anwesenden, „Setz´ dich und leg´ deine Dolche vor dich.“

Ohtah Ryutaiyo tat wie geheißen und nahm neben seinem Adoptivvater Platz. Natürlich war es auch in dieser hohen Runde kein Geheimnis, dass Rien ihn wie seinen eigenen Sohn aufgezogen hatte.

„Wir sind vollzählig.“, bemerkte dieser nun und sah sie einzeln an, „Wie letzte Woche bereits angemerkt, ist es inzwischen sicher, wer für die Vorkommnisse in Cantha verantwortlich ist – Shiro Tagachi´s Gildensymbol wurde gesichtet. Die Pest breitet sich immer weiter aus, die Bewohner Kaineng´s leben in Angst vor den Befallenen. Aber es reicht noch nicht … Wir müssen die Krankheit noch mehr vorantreiben. So sind nicht nur die kaiserlichen Wachen beschäftigt, sondern die Jadebruderschaft hat ebenfalls große Rückschläge zu verzeichnen. Leider wird dabei auch unsere Gilde nicht ohne Schaden bleiben … Bis wir eine Möglichkeit finden die Pest zu kontrollieren, müssen wir sie auf herkömmliche Weise übertragen.“

Geschockt krallte Ohtah Ryutaiyo seine Hände an den Stuhllehnen fest. Er konnte nicht glauben, was Rien soeben gesagt hatte. Dass er die Jadebruderschaft los werden wollte, verständlich – aber die Canthaner dafür in Monster zu verwandeln? Schlimmer noch, seine treu ergebenen Gildenmitglieder. Er, den er wie einen Vater liebte, plante die Eroberung des gesamten Kontinents und sein erstes Ziel war der Kaiserthron! Wie hatte der geschickte Assassine nur so blind sein können? Mit einem Mal brach seine ganze Welt in sich zusammen. Die Am Fah waren alle samt Verbrecher … die gesamte Gilde. Und er war ein Teil dieser Verbrecher-Gilde …
 

In dieser Nacht wälzte sich Ohtah Ryutaiyo unruhig von einer Seite zur anderen, immer wieder – Alpträume plagten ihn ohne Ende. Erst stand er mit schlagendem Herzen seinem Mentor gegenüber, seine Dolche fest umklammert und wählte den Weg des Assassinen für sich. Kaum hatte er die Wort ausgesprochen, veränderte sich das Bild. Ohtah Ryutaiyo kniete nach seinem erfolgreichen Kampf gegen einen der Am Fah-Assassinen vor ihrem Anführer, der ihn in der Gilde empfing. Als nächstes schlich er durch die Nacht zum Haus der Minister und tötete einen von ihnen mit einem einzigen Stoß ins Herz. In einem stummen Schrei fuhr Ohtah Ryutaiyo in die Höhe. Das Grauen trieb ihn in den Wahnsinn; er hatte in den vergangenen so viele – höchstwahrscheinlich unschuldige – Menschen im Namen der Gilde getötet. Diese Schuld würde sein ganzes Leben lang auf seinen Schultern lasten. Egal was er auch tat, er konnte diese Taten niemals ungeschehen machen. Warum hatte er nie bemerkt, was die Am Fah wirklich im Schilde führten? All die Jahre war er ihnen treu ergeben gewesen. Sie hatte aus ihm einen grausamen Mörder gemacht … Nein, er hatte zugelassen, dass sie ihn so formten. Der erste Sonnenstrahl des neuen Tages fiel durch Ohtah Ryutaiyo´s kleines Fenster. Er wärmte ihn sofort. Das Licht vertrieb jede Finsternis … Vielleicht gab es noch eine Chance für ihn. Irgendeine Möglichkeit etwas für Cantha zu tun. Er musste fliehen, die Am Fah verlassen … noch heute!

„Niemand ist geeigneter vor den Am Fah zu fliehen, als ein Am Fah …“, murmelte Ohtah Ryutaiyo leise vor sich hin.
 

Seit fast einem Monat war Ohtah Ryutaiyo auf der Flucht vor den Am Fah. Zunächst war er ihnen eher nur knapp entkommen – beinahe jede Nacht durchstreiften die Häscher der Gilde die Stadt nach ihm. Gleichzeitig konnte er auf diese Weise genau ihre Aktivitäten verfolgen; denn was machte man auf einer langweiligen Suchmission? Man unterhielt sich über spannendere Themen – Pläne zur Machtergreifung langen ganz vorn im Trend.

Darum stand d junge Assassine verborgen auf dem Dach eines Bauernhauses und beobachtete die Straße zu seinen Füßen. Bislang war nichts verdächtiges zu sehen. Er hatte sich aber ganz sicher nicht verhört … Die Am Fah erwarteten in dieser Nacht die Lieferung eines seltenen Artefaktes. Es musste einfach hier sein! Er kannte jeden Winkel von Kaineng – wenn man vom Raisu-Palast einmal absah –, und dies war der beste Ort, um die Unterstadt zu betreten … Auf einmal betrat eine gebeugte Gestalt den unübersichtlichen Platz.

„Du bist pünktlich.“, stellte eine Stimme zufrieden fest.

Ohtah Ryutaiyo hatte sie nicht bemerkt, nichts hatte auf ihre Anwesenheit hingedeutet. Zwei Assassinen und ein Mann, der wie ein Himmelsadept gekleidet war, lösten sich von einer Wand und traten ins Zwielicht.

„Habt Ihr dabei, was ich will?“, wollte der Adept wissen.

Der Bauer nickte und holte ein Gefäß unter dem Gewand hervor.

„Ah, der Kelch … endlich.“, gab er genüsslich von sich, so als zergehe ihm das Wort förmlich auf der Zunge, „Ihr habt Eure Sache gut gemacht … Jetzt will ich Euch dafür belohnen. Ihr sollt der erste sein, dem seine Macht zuteil wird!“

Angst spiegelte sich plötzlich in der Stimme des Mannes wieder: „Was … was passiert danach mit mir, Bruder Tosai?“

Bruder Tosai? Ohtah Ryutaiyo verrenkte sich beinahe den Hals, um in sein Gesicht schauen zu können. Es erschien ihm zu gefährlich seine Position zu verändern; die Aktivität der Schatten könnte ihn verraten. Schließlich gelang es ihm trotzdem. Ohne seine eiserne Selbstbeherrschung hätte der junge Assassine allerdings einen Schrei ausgestoßenen. Nie würde er dieses Gesicht vergessen – dieser angebliche Adept des Himmelsministeriums war kein anderer, als sein erster Gegner, den er hatte besiegen müssen, um in die Gilde aufgenommen zu werden … Jetzt fiel es ihm wieder ein; ein paar der Am Fah hatten sich über Tosai lustig gemacht, weil er gegen ein kleines Kind verloren habe. Ohtah Ryutaiyo hatte geglaubt, er wäre daraufhin aus der Gilde ausgestoßen worden – stattdessen hatte er nun wohl eine zweite Chance bekommen.

Derweil füllte Tosai ein merkwürdiges, grünes Pulver in den Kelch, von dem sofort ein stinkender Dunst aufstieg.

„Wenn du zu Cantha´s Elite gehören willst, mein Freund, trink´!“, befahl der Am Fah auffordernd.

Der Mann richtete sich etwas gerade auf. In seinen Augen konnte Ohtah Ryutaiyo von der Erschöpfung durch die Armut lesen. Langsam nahm er Tosai den Kelch ab und stürzte den Inhalt die Kehle hinab. Das Gefäß entglitt seinen Händen, aber natürlich war einer der Assassinen rechtzeitig zur Stelle, um es aufzufangen. Der Mann brach unterdessen zusammen und begann sich grauenhaft zu verändern. Ohtah Ryutaiyo packte eine schreckliche Vorahnung, widerstand jedoch der Versuchung, den Blick abzuwenden. Nur wenige Sekunden später hatte er Gewissheit – aus dem Canthaner war einer der gefürchteten Befallenen geworden, die seit einiger Zeit durch das Land streiften. Sofort nahm Ohtah Ryutaiyo Reißaus und tauchte erst in sicherer Entfernung wieder auf. Er wusste, dass die Am Fah geplant hatten, die Pest für ihre Zwecke zu missbrauchen … Aber das? Starben denn nicht schon genug Unschuldige? Jetzt hatten sie auch noch eine Methode gefunden die Befallenen selbst zu erschaffen …
 

Trotz seines Verrates hatte Ohtah Ryutaiyo seine Am Fah-Tracht nicht für einen Tag abgelegt. Der Gildenumhang schützte ihn vor feindlichen Angriffen. Und nun tarnte das Gewand ihn auch noch vor seinen früheren Verbündeten.

„Wer seid Ihr?“, wollte Tosai von ihm wissen, als er direkt vor den drei Am Fah erschien.

Ohtah Ryutaiyo deutete eine Verbeugung an und antwortete: „Thaho. Anführer Rien schickt mich – er meinte, eine zusätzliche Eskorte wäre sicherer.“

Tosai´s Blick blieb misstrauisch. Ehe sich Ohtah Ryutaiyo versah, hatte er einen Dolch geworfen, der seine Maske zerteilte und ihn enthüllte.

„Du!“, rief er, „Ohtah … Verräter! Wegen dir habe ich in Schande gelebt!“

Im ersten Moment überrumpelt standen die drei Assassinen wie erstarrt da. Die Am Fah verstanden nicht wirklich, was geschehen war. Ohtah Ryutaiyo konnte nicht glauben, dass sein Plan so schnell ein so großer Reinfall gewesen war. Doch er erholte sich schneller und tötete sie mit zwei seiner Giftpfeile.

„Wie beim letzten Mal … nur du und ich. Vielleicht kannst du ja damit deine Ehre wiederherstellen.“, erklärte Ohtah Ryutaiyo provokant.

Tosai zog seine Waffen und entgegnete: „Das wird es sicher! Denn ich werde Rien deinen Kopf überreichen! Bin gespannt, was er zum Tod seines einst so geliebten Ziehsohns sagen wird. Was glaubst du, wie er reagieren wird?“

Sein Vater … Tosai hatte seinen wunden Punkt getroffen. Er verachtete Rien für das, was er ihm vorgespielt und zu was er ihn gemacht hatte. Aber trotz allem konnte er ihn nicht hassen. Es genügte nicht, um Ohtah Ryutaiyo vergessen zu lassen, dass er ihn wie einen Sohn aufgezogen hatte. Vielleicht hatte er Ohtah Ryutaiyo sogar geliebt … auf seine Weise. Andersrum ganz sicher.

Die Unaufmerksamkeit seines Gegners nutzend, griff Tosai den Assassinen an. Eine blutige Schramme leuchtete auf Ohtah Ryutaiyo´s Wange auf, die ihn endgültig wachrüttelte. Und er gab sie vollkommen dem Kampf hin. Er wirbelte umher, beschrieb blitzende Bögen und mit einem schlagkräftigen Doppelangriff, entwaffnete er Tosai schließlich.

„Ich kann dich nicht am Leben lassen. Diesmal nicht …“, murmelte Ohtah Ryutaiyo und stieß zu.
 

Nachdem Ohtah Ryutaiyo den Kelch der Verdorbenheit vernichtet hatte, wurde es um die Am Fah erst einmal sehr still – sein Vater wusste sicher, dass er es gewesen war, der Tosai aufgehalten hatte, und hielt sich deshalb vorerst zurück. Ganz anders als die Befallenen. Sie vermehrten sich auch ohne das Zutun der Gilde immer schneller. Es verging kein Tag, an dem nicht Dutzende von ihnen unter den Dolchen oder Giftpfeilen des Assassinen starben. Die restliche Zeit verbrachte er damit, Gerüchten zu lauschen.

„Hast du schon gehört?“, fragte gerade einer der Bauern einen anderen, „Meister Togo soll morgen nach Kaineng kommen. In Begleitung eines jungen, hübschen Mädchens.“

Sein Bekannter antwortete: „Aber was will er denn hier? Sonst verlässt er doch nie sein Kloster.“

„Ja, etwas muss passiert sein! Vielleicht hat es mit dieser lächerlichen Behauptung zu tun … Du weißt schon, dass der Verräter Shiro Tagachi zurückkehren will.“

Ohtah Ryutaiyo hatte genug gehört. Wenn Shiro Tagachi wirklich offen in Aktion treten sollte, würde die Am Fah nichts mehr davon abhalten, ihn mit all ihren Männern zu unterstützen und jeden zu vernichten, der sich ihm in den Weg stellen würde. Trotz ihrer eigenen Ambitionen verehrte die Gilde vor allem anderen Macht … und in der gesamten Geschichte Cantha´s gab es wohl keinen anderen, der größere Macht ausgestrahlt hatte. Von dem Verrat an seinem Kaiser einmal abgesehen – welch Ironie, dass er damit wahrscheinlich ein noch größeres Vorbild für die Am Fah darstellte –, galt der Jadewind als Inbegriff von Macht! Sollte es daher tatsächlich eine Möglichkeit für ihn geben, in die Welt der Lebenden zurückzukehren, stünde dem Reich des Drachen eine weit schlimmere Bedrohung bevor, als »nur« eine aufmüpfige Straßengilde … Er musste so schnell wie möglich zum Zentrum von Kaineng. Von dort aus konnte er Meister Togo und seinen Schützling aus dem Schatten heraus folgen. Wenn es für ihn jemals eine Chance auf Wiedergutmachung geben sollte, musste er für das Wohl von Cantha eintreten … und ebenso sein Leben dafür einsetzen, wie für die Gilde, der er gedient hatte.
 

So folgte Ohtah Ryutaiyo von Stund ihrer Ankunft an, Meister Togo´s Schülerin. Während er sich mit dem Kaiser traf, half sie den Bewohnern von Kaineng. Dies war nicht ihr erstes Zusammentreffen mit den Befallenen – aus einem Gespräch hörte er heraus, dass selbst ihre Heimat, die abgelegene Insel Shing Jea bereits von den Auswirkungen betroffen war.

Als sich Shikon No Yosei auf dem Vizunahplatz wieder mit ihrem Meister traf, stieß ein weiterer Verbündeter zu ihnen – Bruder Mhenlo getroffen, ein berühmter Mönch aus Tyria. Was aufgrund des heftigen Kampfes, in den sie kurz darauf gerieten, von unglaublich gutem Timing sprach. Ohtah Ryutaiyo hatte sie bislang lediglich beobachtet und bewunderte vor allem in diesem Moment, wie tapfer sie gegen diese furchterregenden Ungeheuer kämpfte. Bis eine gewaltige Horde ihren Meister ins Visier nahm. Selbstlos stellte sie sich vor ihn. Und so traf sie der lähmende Zauber eines Gegners. Noch bevor der Assassine recht mitbekam, was er da eigentlich tat, hatte er bereits seine Giftpfeile geworden und die Befallenen brachen in sich leblos zusammen. Verwirrt sah sich die Elementarmagierin um. Ihr Blick blieb genau an jener Stelle hängen, an der er sich im Schatten verborgen hielt. Sein Atem stockte. Es war das erste Mal, dass er ihr tatsächlich in die Augen sah … Augen, die ihn wie gefangen hielten … Und zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er wirkliche Angst. Doch er fürchtete nicht um sich selbst – sondern um das Leben von Shikon No Yosei. Egal, wie gut sie war oder wie viel sie noch zu lernen hatte – sie würde zur Zielscheibe werden … von weiteren Befallenen, Am Fah, Shiro Tagachi. Von diesem Moment an ging es nicht mehr darum, seine Schuld zu begleichen – er wollte sie nur noch um jeden Preis beschützen!
 

Offenbar wollte Meister Togo seine Schülerin noch weiter auf die Probe stellen – denn er schickte sie erneut alleine los. Ohtah Ryutaiyo folgte ihr weiterhin unerkannt, er konnte nicht mehr von ihrer Seite weichen. Viele Stunden irrte sie durch die Unterstadt. Dann setzte sie sich erschöpft auf den Boden; es war nicht zu übersehen, dass sie sich verlaufen hatte. Was sollte er tun? Er konnte ihr nicht helfen, wenn er weiterhin in seinem Versteck blieb. Aber wollte er es wirklich riskieren sich zu zeigen?

Noch während der Assassine über die verschiedenen Möglichkeiten nachdachte, sprang Shikon No Yosei wieder auf die Füße, zeigte direkt auf ihn und fragte: „Wer bist du?“

Ein amüsiertes Lachen entfuhr ihm, noch bevor er sich beherrschen konnte. Seit Jahren war ihm ein solcher Laut nicht mehr über die Lippen gekommen. Dieses junge Mädchen mit der Seerose im Haar war wirklich erstaunlich, das musste er ihr zugestehen. So unternahm Ohtah Ryutaiyo einen Schattenschritt und stand nunmehr direkt vor ihr.

„Ihr habt mich entdeckt, dies gelingt nicht vielen. Mein Name ist Ohtah … Ohtah Ryutaiyo.“, stellte er sich vor, „Und sollte die Frage nicht eher lauten, was eine Schülerin des angesehenen Meister Togo allein an solch einem unangemessenen Ort verloren hat? Wir leben in sehr gefährlichen Zeiten – überall lauern die Mitglieder der Straßengilden und die Befallenen. Meint Ihr nicht auch … Shikon No Yosei?“

Beim Klang ihres Namens zuckte sie zusammen. Das hatte sie nicht erwartet. Was immer Meister Togo ihr auch über Kaineng erzählt hatte, sie war keinesfalls ausreichend für die Aufgabe vorbereitet.

Ihre Augen waren vor Verwunderung aufgerissen, als sie wissen wollte: „Woher kennst du meinen Namen?“

„Ich habe Euch seit Eurer Ankunft in Kaineng beobachtet.“, antwortete Ohtah Ryutaiyo und kniete vor ihr nieder, „Zu meiner Schande muss ich gestehen, ich war ein Assassine der Am Fah … Glaubt mir, Ihr könntet ein perfektes Zielobjekt für sie sein – deshalb biete ich Euch meine Hilfe an.“

Shikon No Yosei schien verwirrt bezüglich seines Angebots. Allerdings war sie klug genug, um zu erkennen, dass sie momentan ziemlich in der Klemme steckte.

„Warum sollte ich dir vertrauen?“, brachte sie mit Mühe heraus.

Er zog einen seiner Dolche aus dem Halter an seiner Hüfte, hielt ihn ihr entgegen und erklärte: „Weil ich Euch mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln beschützen werde, Shikon No Yosei – wenn nötig auch mit meinem Leben. Außerdem … scheint es mir so, als bräuchtet Ihr einen Führer.“

Sie holte hörbar Luft. Und nach einer Weile nickte sie zustimmend.
 

Die Sonne ging bereits unter, als Ohtah Ryutaiyo und Shikon No Yosei das Nahpuiviertel erreichten. Mit einem Mal blieb die Elementarmagierin stehen und sah ihn unvermittelt an.

„Danke, dass du mich begleitet hast.“, meinte sie, „Nun muss ich mich den himmlischen Prüfungen stellen …“

Der Assassine hielt ihrem Blick stand und erwiderte entschlossen: „Ich bleibe an Eurer Seite … Mein Wort bindet mich! Solange ich lebe …“

„A-Aber …“, begann Shikon No Yosei, überlegte es sich dann jedoch anders, „Weißt du, warum ich Weh No Su werden muss?“

Er umging diese Frage und erwiderte stattdessen: „Ich weiß, warum Ihr nach Kaineng gekommen seid … Ihr könnt diesen Kampf nicht allein bestreiten. Ich werde nicht zulassen, dass Shiro Tagachi in irgendeiner Weise Hand an Euch legt!“

Sie wusste, dass er recht hatte. Es stand in ihren Augen. In diesen wunderschönen Augen ...

„Dein Versprechen … ich nehme es dankbar an.“, erklärte Shikon No Yosei verlegen und riss ihn damit aus seinen Träumen, „Gehen wir, Ohtah!“

Er lächelte schief und gemeinsam betraten sie das Gelände des Nahpuiviertels.
 

Damit endet Ohtah Ryutaiyos Schicksal als einsamer Schatten und seine Geschichte an der Seite von Shikon No Yosei beginnt ... Eine Geschichte, die die Welt verändern wird!

Unzählige Kämpfe, gefährliche Schlachten, treue Verbündete und wahre Liebe erwarten den jungen Assassinen ... Doch kann er dem Fluch seiner Vergangenheit wirklich entrinnen?

Buch 02: Legende gegen Prophezeiung

Der Brief eines alten Bekannten

Cantha, das Kaiserreich im Süden dieser Welt, war für Außenstehende schon immer ein geheimnisvolles und wundersames Land gewesen. Über viele Jahre hatte die Beziehung zu den anderen Kontinenten gelitten und zusehends abgenommen. Der Initiative des im Kampf gegen Shiro Tagachi gefallenen Meister Togo war es zu verdanken, dass die Verbundenheit und damit die Kommunikation sowie der Handel mit Tyria wiederhergestellt war. Glücklicherweise musste man sagen … Nicht nur, dass die Canthaner dadurch Hilfe und Unterstützung bekommen hatten, sondern so war es Bruder Mhenlo auch möglich gewesen, seinerseits eine dringende Botschaft an Shikon No Yosei zu schicken.

Überrascht öffnete diese den aus Tyria stammenden Brief, auf den mit fein säuberlicher Schrift ihr und der Namen ihrer Heimat geschrieben stand, und las ihn laut vor, sodass Ohtah Ryutaiyo mithören konnte: „Liebe Shiko, lieber Ohtah, ich hoffe, es geht euch gut. Ihr fragt euch sicherlich, warum ich euch gerade jetzt schreibe. Ich ersuche euch in einer sehr wichtigen Angelegenheit … Glint, die Drachin und Prophetin Tyrias, hat mich zu sich gerufen. Ihr müsst wissen, Tyria ist ein gespaltenes Land … Ich selbst stamme aus Ascalon, doch meine Heimat wurde von den Charr zerstört. Darum bin ich mit den überlebenden Flüchtlingen nach Kryta gegangen. Aber der friedliche Schein dort trügt … Gruppen und Parteien kämpfen gegen einander. Ich fürchte, eine nahende Katastrophe, die weit über unsere Grenzen reichen wird … Deshalb bitte ich euch, helft mir! Wenn ihr diesen Brief in Händen haltet, kann ich zwei Wochen auf eure Ankunft in Löwenstein warten. Dann muss ich aufbrechen … Auf bald, meine Freunde, Mhenlo.“

Als sie geendet hatte, sahen sich Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo schweigend an. Es bedurfte keinerlei Diskussion oder gar der Frage, ob sie nach Tyria reisen würden, um Bruder Mhenlo zu helfen. Er war ihnen im Kampf gegen Shiro beigestanden – hatte sein Leben für sie riskiert –, es wurde Zeit diesen Gefallen zu erwidern!
 

Bruder Mhenlo überprüfte den Stand der Sonne. Sie hatte ihr Zenit erreicht. Das Schiff würde in wenigen Augenblicken ablegen. Zeit für ihn an Bord zu gehen. Allein an Bord zu gehen, denn Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo waren – aus welchem Grund auch immer – bislang nicht erschienen.

„Wartet!“, rief eine ihm bekannte Stimme und der Mönch drehte sich um.

Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Seine beiden Verbündeten rannten über den Kai auf ihn zu. Mit einer festen Umarmung begrüßte er sie. Seine Freude war nicht in Worte zu fassen. Er war so glücklich darüber, sie an seiner Seite zu haben. Denn sollte es tatsächlich zu einem Kampf kommen, wäre er ohne ihre Unterstützung machtlos gewesen und hätte den Untergang seines Landes mitansehen müssen … Doch so gab es wenigstens eine Chance auf Frieden für Tyria.

„Wohin geht die Reise eigentlich?“, wollte Ohtah Ryutaiyo plötzlich wissen.

Bruder Mhenlo, der einen kleinen Moment brauchte, um seine Gedanken wieder zu ordnen, antwortete daraufhin: „In die Südlichen Zittergipfel … zu einer Festung der Deldrimor-Zwerge. Dort existiert ein Portal, das uns in Glint´s Höhle führen wird. Ich danke euch wirklich sehr, dass ihr gekommen seit.“

„Es ist uns eine Ehre und eine Freude, Bruder Mhenlo.“, erwiderte Shikon No Yosei, die bei dem Reiseziel aufgehorcht hatte, „Es tut uns übrigens Leid, dass wir so spät sind … Unser Schiff kam in einen Sturm, weswegen wir etwas vom Kurs abgekommen sind.“

Die hübsche Elementarmagierin lächelte. Zum einen weil sie sich wahrlich über das Wiedersehen mit Bruder Mhenlo freute. Zum anderen weil sie sich fragte, ob es in den Südlichen Zittergipfeln noch ein Wiedersehen gebe würde – ein Wiedersehen mit Seiketsu No Akari …
 

Das Schiff war bereits einige Stunden unterwegs. Die Sonne ging unter. Wenn sie am nächsten Morgen wieder aufgehen würde, hätten sie ihr Ziel erreicht. Shikon No Yosei lehnte an der Brüstung und atmete die salzige Meeresluft ein. Der tyrianische Ozean war ganz anders, als jener in ihrer Heimat. Der Blick wurde nicht vom Nebel getrübt, sondern reichte bis an den Horizont.

Bruder Mhenlo, der sich zu ihr gesellte, fragte: „Gefällt es dir?“

„Oh ja, das tut es. Ich fühle mich so frei … unbeschwert. Und dass obwohl wir wahrscheinlich bald wieder einem schweren Kampf bestreiten müssen.“, antwortete die Elementarmagierin lächelnd und legte eine kleine Pause ein, „Ihr habt in Eurem Brief geschrieben, Eure Heimat sei zerstört worden und dass Ihr flüchten musstet … Würdet Ihr mir mehr davon erzählen?“

Der Mönch seufzte schwermütig, dann begann er zu erzählen: „Mit Tyria ist es so ähnlich, wie mit Cantha … Nur ohne Hoffnung auf Frieden. Jede Zone lebt für sich und tritt nur selten in Kommunikation. Ascalon war ein prächtiges, grünes Königreich voller Leben …“

Er sprach von den Wäldern und Feldern, dem friedlichen Leben – wäre da nur nicht der Große Nordwall gewesen, hinter dem das Charr-Gebiet lag. Die Charr, blutrünstige Kreaturen, deren Körperteile an Stiere, Löwen und Katzen erinnerten und die auf zwei Beinen gingen, wollten Ascalon erobern. Doch solange es den Wall gegeben hatte, lebten sie großteils uneingeschränkt von den wilden Bestien. Bis die Schamanenkaste eines schrecklichen Tages die Unsichtbaren Götter anrief und einen vernichtenden Zauber auf das Land herabfahren ließ. Feuer regnete vom Himmel, die Erde bebte, Explosionen zerstörten alles. Es blieb nichts außer Asche und Trümmern von dem einst prunkvollen Königreich übrig. Nur wenige Ascalonier hatten den Angriff überlebt – unter ihnen Bruder Mhenlo und sein Prinz. Rurik sammelte die Überlebenden und führte sie, gegen den Befehl des Königs, durch die Nördlichen Zittergipfel in Richtung Kryta. Während Flucht wurde er allerdings von den Steingipfel-Zwergen getötet.

„Verstehst du, Shiko, ich kann nicht zulassen, dass der Weiße Mantel Kryta im Kampf gegen die Glänzende Klinge vernichtet … Die Ascalonier dürfen ihr Zuhause kein zweites Mal verlieren!“, schloss er seine Erzählung mit verzweifeltem Unterton in der Stimme.

Shikon No Yosei legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter und eindringlich: „Sorgt Euch nicht länger, Bruder Mhenlo. Wir werden Tyria ebenso wenig untergehen lassen wie Cantha. Darauf habt ihr mein Wort!“
 

[B[Die Flammensucher-Prophezeiung

Bruder Mhenlo durchschritt das Portal als erster, Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo folgten ihm auf dem Fuße. Das, was sie auf der anderen Seite sahen, raubte ihnen den Atem. Glint´s Höhle war einmalig. Die schöne Elementarmagierin konnte ihren Blick nicht von den Kristallen lösen, die das dämmrige Licht in seine Spektralfarben brach. Überall glänzte ein einziges Farbenspiel. Tief im Innern der Höhle wartete die Drachin, deren Körper ebenfalls mit Kristallen besetzt war.

Ihre Stimme, die von ihrer Macht sprach, erklang in den Köpfen der drei Besucher: „Ich wusste, dass Ihr kommen würdet, Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo. Mit meiner Einladung beabsichtigte ich, dass Ihr, Bruder Mhenlo, Eure einstigen Kampfgefährten zu Hilfe rufen würdet.“

„Wenn Ihr gewusst habt, dass Bruder Mhenlo uns als Unterstützung anfordern würde, bedeutet das, dass tatsächlich eine Katastrophe auf Tyria zukommt.“, meinte Ohtah Ryutaiyo sachlich.

Glint nickte leicht antwortete: „So ist es, junger Assassine … Vor über achthundert Jahren sprach ich die Flammensucher-Prophezeiung aus. Sie besagt, eines Tages würde der Flammensucher erscheinen und mit seiner Macht die Unsichtbaren Götter bezwingen.“

Bruder Mhenlo blieb die Luft weg und er stotterte geschockt: „Die … Unsichtbaren Götter?! Ihr … Ihr sprecht von jenen, die … die von der Schamanenkaste angepriesen wurden?“

Mit wissender Stimme erwiderte die Drachin: „Ich sehe, meine Wahl war richtig. Ja, die Charr haben Eure Heimat Ascalon auf ihren Befehl hin zerstört … Und jetzt kämpfen die Anhänger des Weißen Mantels aus demselben Grund gegen die Mitglieder der Glänzenden Klinge, um ganz Tyria aus dem Gleichgewicht zu bringen.“

„Aber wer oder was sind diese >Unsichtbaren Götter<?“, fragte Ohtah Ryutaiyo verständnislos.

Gleichzeitig wunderte er sich, dass seine Geliebte kein Wort mehr gesagt hatte, seit sie die Höhle von Glint betreten hatten …

Diesmal war eine Spur von Furcht in Glint´s Stimme: „Man nennt sie auch die Mursaat … Eine alte Zauberwirker-Rasse, welche die Macht des Spektrallichts als furchtbare Waffe einsetzen kann.“

„Gut, wir müssen also irgendwie diesen Konflikt stoppen. Aber … was genau erwartet Ihr von uns?“, wollte der einstige Am Fah wissen.

Glint schloss die diamantbesetzten Augen und erklärte: „Die Prophezeiung geht noch weiter … Der Flammensucher wird ein noch viel gefährlicherer Gegner, als die Mursaat sein. Seine Herrschaft wäre das Ende von Tyria! Denn er wird mit Hilfe des Zepters von Orr die allmächtigen Titanen kontrollieren können. Dennoch gibt es Hoffnung … Die Auserwählten haben die Kraft den Flammensucher aufzuhalten und diesem Land den Frieden wiederzugeben.“

„Ohtah und ich sind diese Auserwählten …“, kombinierte Shikon No Yosei, „Ihr übertragt uns hiermit die Aufgabe gegen die Mursaat zu kämpfen und die Auferstehung des Flammensuchers zu verhindern … beziehungsweise … ihn zu vernichten.“

Der anerkennende Blick Glint´s war Antwort genug.
 

Rettungsmission

Glint hatte Bruder Mhenlo, Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo durch ein Portal zurück in die Südlichen Zittergipfel geschickt. Der erste Schritt, den sie unternehmen mussten, war die Anführerin der Glänzenden Klinge zu befreien. Die Widerstandskämpferin war von Weißen Mantlern gefangen genommen worden und sollte den Mursaat geopfert werden. Doch das Unterfangen zu ihrer Rettung sollte sich als schwieriger herausstellen, als gedacht. Denn keiner der drei Verbündeten kannte sich in dem verschneiten Gebiet aus. Aus diesem Grund wandten sie sich an die Deldrimor und baten, um eine Audienz bei König Jalis Eisenhammer, welchen der Mönch während der Flucht nach Kryta kennengelernt hatte und auf dessen Großherzigkeit er hoffte.

In Droknar´s Schmiede, einem der großen Stützpunkte der Zwerge, empfing der König sie mit den Worten: „Willkommen, Willkommen! Es freut mich Euch wiederzusehen, Bruder Mhenlo. Es ist lange her, seit Ihr mein Land mit den Euren durchquert habt … Bitte, verzeiht mir meine Unhöflichkeit, wenn ich sage, es ist mir eine besondere Freude Euch, liebe Shikon No Yosei, endlich kennenzulernen.“

Shikon No Yosei fühlte sich überaus geehrt, dass Jalis Eisenhammer sie direkt angesprochen hatte.

Sie kniete nieder und antwortete: „Ich danke Euch, König Jalis. Seiketsu scheint Euch einiges erzählt zu haben. Wenn Ihr mir die Frage gestattet … Wie geht es ihr?“

Der Gesichtsausdruck des Königs veränderte sich und er sagte ausweichend: „Sie ist meine fleißigste Studentin und befindet sich zur Zeit auf einer Mission.“

„Es wird Zeit dem König unser Anliegen vorzutragen.“, meldete sich Bruder Mhenlo zu Wort.

Die Elementarmagierin nickte geknickt und meinte: „Wir – also, meine Begleiter und ich – brauchen die Hilfe der Deldrimor. Die Mursaat und ihre Diener, die Weißen Mantler wollen Tyria unterwerfen … Nicht nur die Menschen sind in Gefahr, sondern alle, die in diesem Land leben. Ich bitte Euch, König Jalis, helft uns im Kampf gegen die Mursaat!“

Jalis Eisenhammer bedachte sie mit einem ruhigen Blick, während er erwiderte: „Ja, das werden wir. Allein um Seiketsu einen Gefallen zu tun … Ich könnte ihr nicht mehr in die Augen sehen, würde ich Euch abweisen.“
 

Die Luft in den Südlichen Zittergipfeln war eiskalt. Der Weg hart und beschwerlich. Anders als die Zwerge waren die drei Verbündeten nicht an diese Temperaturen und den Schnee gewöhnt. Deshalb belegte Bruder Mhenlo sie mit Schutzgebeten und Shikon No Yosei ließ kleine Feuerbälle um sie herumtanzen. Gemeinsam hatten sie einen Plan für die Rettungsmission ausgearbeitet. Die Späher der Deldrimor wussten, wohin die Gefangenen gebracht worden waren und führten sie zu einem Labyrinth aus Eishöhlen. In eine dieser Höhle war eine Gefängniszelle eingebaut, in der zwei junge Frauen zusammengekauert auf dem kalten Boden saßen. Ihren Mienen nach zu urteilen, hatten sie bereits alle Hoffnung aufgegeben. Ohtah Ryutaiyo ließ sich ein kleines Pulverfass und zwei Feuersteine geben. Via Schattenschritt bewegte er sich auf das Gefängnis zu und stellte das Pulverfass davor ab. Danach bat er die beiden Frauen auf Abstand zu gehen, damit er das Gitter aufsprengen konnte. Sie hoben den Blick. Ihr Gesichtsausdruck war eigenartig … irgendwie erleichtert und gleichzeitig schmerzerfüllt. Ohtah Ryutaiyo ignorierte es, so gut es ging, konzentrierte sich stattdessen auf seine Aufgabe. Während er mit den Feuersteinen hantierte, um die Zündschnur in Brand zu setzen, erschien eine Gruppe Weißer Mantler. Der Assassine bemerkte sie nicht, im Gegensatz zu Shikon No Yosei. Vor einiger Zeit hatte sie mit Teinai´s Hilfe einen neuen, tödlichen Zauber entwickelt. Es wurde Zeit ihn in der Praxis auszuprobieren … Sie erschuf in ihrer rechten Handfläche eine kleine Flamme und hielt ihre Hand in die Richtung ihrer Gegner – anschließend konzentrierte sie sich auf die entzündbaren Stoffe, die sie trugen. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende geführt, hörte sie die qualvollen Schreie. Die Laute zogen auch die Aufmerksamkeit von Ohtah Ryutaiyo auf sich, der sich hinter einem hohen Schneeberg vor der Explosion des Pulverfasses verborgen hatte. Die Schreie waren so laut, dass der Knall der Explosion beinahe unterging. Die befreiten Frauen verließen die Zelle und sahen sich ungläubig um. Sie konnten nicht fassen, gerettet worden zu sein. Shikon No Yosei und Bruder Mhenlo freuten sich so sehr mit ihnen, dass sie ihre Deckung fallen ließen und unvorsichtig wurden. Darum bemerkten sie nicht, wie weitere Gegner hinter ihnen auftauchten. Diesmal handelte es sich allerdings nicht um Menschen – es waren Mursaat! Mit einem Lächeln auf dem Gesicht drehte sich Ohtah Ryutaiyo derweil zu ihnen um und öffnete den Mund zu einem Schrei … doch er blieb ihm im Hals stecken. Zu groß war seine Angst um jene eine, die er von ganzem Herzen liebte. In den darauffolgenden Sekunden sollte Shikon No Yosei am eigenen Leib zu spüren bekommen, welche Art von Magie die Mursaat besaßen. Einer von ihnen schleuderte ihr seine »Spektralqual« entgegen, welche sie trotz eines Ausweichversuch am Bein streifte. Der Schmerz schoss ihr durch den ganzen Körper, raubte ihr die Kraft und ließ sie zusammensinken.

Eine der beiden Frauen riss Ohtah Ryutaiyo aus seinem Schock, in dem sie ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: „Bringt Evennia von hier weg. Ich vertraue Euch ihr Leben an … In der Zwischenzeit werde ich die Mursaat aufhalten. Für Kryta gehe ich bis zum bitteren Ende!“

Die Frau, die eigentlich zu der Klasse der Waldläufer zu gehören schien, zog ein Schwert, das an ihrem Gürtel befestigt war, und rannte auf die Mursaat zu. So ermöglichte sie es Bruder Mhenlo und den Deldrimor Shikon No Yosei zu Ohtah Ryutaiyo und damit in Sicherheit zu bringen.
 

Ein Fünkchen Hoffnung

Die Deldrimor führten sie zu einem ihrer Eisschiffe, mit dem sie fliehen konnten. Dort angekommen riss Ohtah Ryutaiyo sich seinen rechten Ärmel ab und verarztete damit die Wunde an Shikon No Yosei´s Bein, welche unaufhörlich blutete.

Um von ihren Schmerzen abzulenken, sagte sie plötzlich: „Was ich dich schon sehr lange einmal fragen wollte … Was bedeutet eigentlich diese Tätowierung auf deinem Arm?“

Tatsache war nämlich, Ohtah Ryutaiyo trug ein Tattoo auf dem rechten Unterarm. Es waren schwarze Linien, die sich zu einem windenden Drachen zusammenfügten.

„Ein weiteres Überbleibsel meiner Am Fah-Zeit …“, berichtete der Assassine ruhig, während er den Verband begutachtete, „Mein … Vater erklärte mir vor vielen Jahren einmal, sie würde unsere Verbundenheit mit Cantha symbolisieren … Unsere Verbundenheit und unser großes Ziel. Was dieses große Ziel beinhaltete, habe ich ja erst viel später erfahren, nachdem ich General geworden war. Weshalb ich die Gilde verlassen haben … >Cantha´s Bürger unterjochen, die Monarchie absetzen und das Land eigenmächtig regieren<.“

Bewunderung lag im Blick der schönen Elementarmagierin, als sie erwiderte: „Mir gefällt es … Es passt zu dir. Verschlungen, unergründlich, geheimnisvoll. Und … schließlich bist du mit Cantha verbunden! Nicht als Am Fah … als Held und mein Beschützer. Es hat sich nur die Aufgabe geändert … Der Grund, warum du kämpfst ist ein anderer als früher.“

Sprachlos und gerührt von ihren Worten, umfasste Ohtah Ryutaiyo Shikon No Yosei´s Gesicht, küsste ihre Augenlider, ihre Wangen und schließlich ihre Lippen. Als sie sich danach verliebt in die Augen schauten, drang ein trauriges Schluchzen an ihre Ohren. Evennia, die Anführerin der Glänzenden Klinge, weinte um ihre tote Freundin. Denn es war unmöglich, allein gegen eine Gruppe Mursaat zu bestehen – ohne jeden Schutz vor der Spektralqual.

„Ich kann es nicht fassen … Saidra … Saidra ist tot.“, brachte sie unter ihren Tränen hervor, doch dann machte sich die Wut in Evennia breit, „Wenn es die Alte Götter noch gibt, die Ihr Euch von unserem Land abgewendet habt, so hört mich an! Saidra´s Leben war zu kurz. Sie hätte nicht sterben sollen. Sie hat sich für mich … für uns … für Tyria geopfert. Die Mursaat werden büßen … Sie werden büßen für jeden einzelnen unserer Blutstropfen, die sie vergossen haben. Balthasar sei mein Zeuge! Bis zum bitteren Ende …“

Die Wiederholung von Saidra´s Worten trieben auch Shikon No Yosei die Tränen in die Augen.
 

Der Anfang war gemacht … die Anführerin der Glänzenden Klinge befreit, der Weiße Mantel und die Mursaat herausgefordert. Nun galt es den Kampf gegen sie richtig aufzunehmen. Allerdings stellte die Spektralqual ein gewaltiges Problem dar. Shikon No Yosei konnte sich, obwohl sie versuchte es zu verbergen, mehr schlecht als recht auf dem verletzten Bein halten. Des weiteren hatte sie Probleme ihre Magie zu konzentrieren. Die Waffe der Mursaat war nicht grundlos gegen andere Zauberwirker entwickelt worden. Sie durften dieser Kraft kein zweites Mal zum Opfer fallen. Doch für jedes Problem gab es eine Lösung … So musste es auch eine für dieses geben. Und die Deldrimor kannten die Antwort! Sie hüteten nicht umsonst das Wissen Tyria´s in ihren gewaltigen Hallen aus Stein. Inmitten der Südlichen Zittergipfel lebte ein Wesen, deren Lebensalter Jahrtausende betrug. Dieses Wesen wurde von den Zwergen »die Seherin« genannt. Angeblich hatte ihr Volk vor vielen Jahren gegen die Mursaat gekämpft.

Die Zwerge kümmerten sich derweil um Evennia, die lautstark protestierte, und brachten sie in ein sicheres Versteck. Mindestens genauso dickköpfig war Shikon No Yosei. Sie duldete keinerlei Widerspruch von Bruder Mhenlo und ignorierte Ohtah Ryutaiyo´s Befürchtungen. Für sie war ihr Entschluss unabänderlich, sie würde die beiden zur Seherin begleiten! Die einzige Einschränkung, die sie akzeptierte, war, dass der Assassine sie auf seinem Rücken trug – was jedoch auch seinen Kampfausfall bedeutete. Aus diesem Grund wurden sie von einem Teil der Leibgarde des Königs eskortiert. Er wollte alles dafür tun, dass der schönen Elementarmagierin in seinem Reich nichts zustieß – und damit meinte er keinesfalls solche »kleinen« Verletzung, wie die an ihrem Bein –, denn für ihn gehörte Seiketsu No Akari zu seinem Volk. Und ihre Familie war gleichsam ein Teil seiner Familie.

Die Höhle, in der sich die Seherin aufhielt, lag zentral im Steingipfel-Territorium. Der Weg dorthin war allerdings einfach. Es begegneten ihnen kaum Feinde, was ziemliches Misstrauen erregte. Als sie die Seherin erblickten, ließ Ohtah Ryutaiyo Shikon No Yosei von seinem Rücken steigen, stützte sie jedoch weiterhin.

„Ich grüße Euch … Mein Name ist Shikon No Yosei, ich bin die Fee der vier Elemente. Wenn ich Euch meine Begleiter vorstellen darf – Ohtah Ryutaiyo, Bruder Mhenlo und die Deldrimor-Zwerge.“, richtete die junge Elementarmagierin das Wort an ihre Gegenüber und zeigte auf die jeweils angesprochenen Personen, „Man sagte uns, Ihr hättet schon einmal gegen die Mursaat gekämpft und könntet uns helfen, den Kampf ebenfalls aufzunehmen.“

Das magische Wesen, deren Körper an altes Leder erinnerte, nickte und ließ ihre Stimme in den Köpfen ihrer Besucher erklingen: „Ja, das war zu der Zeit der Verkündung der Flammensucher-Prophezeiung … Damals kamen sie aus einer anderen Dimension nach Tyria. Ihr müsst wissen, sie sind unsere natürlichen Feinde … deshalb sind wir ihnen hierher gefolgt. Es gelang uns, sie in ihre Welt zurückzuschicken und den Zugang zu versiegeln, doch sie haben eine Möglichkeit gefunden mit Tyria in Verbindung zu treten. Diese mentale Kommunikation mit den Charr machte sie zu den >Unsichtbaren Göttern< … Keiner der Schamanen hatte sie jemals gesehen. Dennoch sind sie ihren Befehlen gefolgt und haben die Versiegelung mit einem Zauber gesprengt. Die gewaltige Energie, die dabei frei wurde, ist der wahre Grund für die völlige Zerstörung und jetzige Unfruchtbarkeit Ascalon´s. Und nun haben sie es auf Kryta abgesehen …“

„Aber warum?“, rief Bruder Mhenlo sichtlich wütend aus.

Es war nicht weiter verwunderlich. Die Mursaat trugen immerhin die Schuld an der Vernichtung seiner Heimat.

Die Seherin faltete ihre Hände, während sie erklärte: „Sie wollen alles dem Erdboden gleich machen … Sie wollen diese Welt für sich. Wir können Euch allerdings nicht sagen, aus welchen Gründen sie ausgerechnet Tyria für sich beanspruchen.“

„Wie können wir sie aufhalten?“, wollte Shikon No Yosei mit einer Spur von Angst wissen.

Sie hatte die Konfrontation mit den Mursaat noch nicht verarbeitet. Zu stark spürte sie die Folgen.

Nach einem kurzen Augenblick erwiderte die Seherin beinahe ehrfürchtig: „Mit dem Zauber der >Imprägnierung<. Unsere Magie schützt vor ihrer >Spektralqual<.“

Diesmal war Ohtah Ryutaiyo derjenige, der ihr eine Frage diesbezüglich stellte: „Wie können wir diese Imprägnierung erlangen?“

Ein leichtes Zucken ihrer Mundwinkel ließ darauf schließen, dass sie lächelte, als die Seherin meinte: „Indem wir sie Euch verleihen.“

„Und werdet Ihr das tun?“, fragte nun Bruder Mhenlo, der seine Wut hinunter geschluckt hatte.

Ein zustimmendes Nicken begleitete die Antwort der Seherin: „Den würdigen unter euch … Glint hat es Euch bereits mitgeteilt, Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo. Ihr seid die Auserwählten, die gegen sie und ihn kämpfen werdet. Aber es gibt insgesamt drei Auserwählte … Und Ihr, Bruder Mhenlo, seid keiner davon. Eure Aufgabe war es, Eure Verbündeten hierher zu führen – och diesen Kampf könnt Ihr nicht gewinnen.“

„Wer ist es? Kennen wir den dritten Auserwählten?“, platzte es aus Shikon No Yosei heraus.

Die Seherin antwortete nur ausweichend: „Ihr werdet ihm schon sehr bald begegnen … Anders als Ihr, ist er bemächtigt, sich selbst vor ihrer Kraft zu schützen.“

Langsam schwebte sie auf Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo zu und legte ihnen jeweils eine ihrer vier Hände auf den Kopf. Die Magie der Seherin strömte in ihre Körper, bildete einen magischen Schutz um sie herum. Die dadurch entstandene Wärme erinnerte Shikon No Yosei an das Licht, das sie umhüllte, wenn sie sich mit Teinai´s Macht vereinigte. Apropos Teinai – seltsamerweise spürte sie in letzter Zeit keine Regung mehr von dem Geist der heldenhaften Elementarmagierin, die sich in ihrem Innern verbarg. Bereits vor ihrem Zusammentreffen mit den Mursaat … sonst hätte sie diesen Umstand ebenfalls ihrer Magie zugeschrieben. Doch so … war schon wirklich sehr eigenartig … beunruhigend.
 

Ein lang ersehntes Wiedersehen

Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo kehrten in Begleitung von Bruder Mhenlo und den Deldrimor zurück, ohne sich vergewissern zu können, dass die Imprägnierung wirkte. Denn selbst an Stellen, an denen es bisher von Mursaat gewimmelt hatte, war kein einziger Gegner zu entdecken gewesen.

„Meine Freunde! Wie schön, dass Ihr zurück seid!“, rief Jalis Eisenhammer freudig aus, als sie ihm erneut ihre Aufwartung machten, „Euren lächelnden Gesichtern nach zu urteilen, war Euer Unterfangen erfolgreich. Sehr schön … sehr schön.“

Die hübsche Elementarmagierin unterdrückte ein Lachen und erwiderte: „Ja, das war es, Eure Majestät. Wir hoffen nun eine größere Chance gegen unsere Feinde zu haben.“

„Ja, ja. Sicherlich, sicherlich. Aber während Euer Abwesenheit haben meine Späher den Aufenthaltsort dieser dreckigen Steingipfel herausgefunden. Sie haben – unfassbarerweise, wirklich einfach unfassbar – meinen Palast, die Feste Donnerkopf besetzt!“, erzählte der König, der allein davon immer aufgebrachter wurde, „Sie sind endgültig zu weit gegangen! Sie werde büßen! Deshalb fordere ich jetzt Eure Hilfe!“

Von der leicht theatralischen Übertreibung erheitert, kostete es Shikon No Yosei große Mühe eine ernsthafte Antwort zu geben: „Selbstverständlich stehen wir Euch zur Verfügung, König Jalis. Ich werde nicht eher ruhen, bevor die Steingipfel von Eurem Eigentum vertrieben sind …“

„Also, jetzt mal ehrlich … Du hast dich wirklich kein bisschen geändert, Shiko.“, ertönte eine Stimme im Saal, die Shikon No Yosei mehr als nur vertraut war, „Aber dein Mut und deine Entschlossenheit erstaunen mich trotzdem immer wieder.“

Beinahe panisch huschte ihr Blick umher. Sie versuchte den Besitzer der Stimme auszumachen. Ihr Versuch blieb solange erfolglos, bis eine Gestalt hinter dem großen Stuhl hevortrat, den der König der Deldrimor als Thron benutzte. Sie musste sich bereits vor Shikon No Yosei´s Ankunft dort versteckt haben. Die Augen der Heldin Cantha´s waren geweitet. Tränen stiegen über ihre Augenränder. Und auch in denen der jungen Frau, die ihr gegenüber stand, konnte man ein feuchtes Glitzern erkennen. Beide bissen sich auf ihre Unterlippen. Die gebannte Atmosphäre zwischen ihnen war fast greifbar. Zunächst verstand Ohtah Ryutaiyo die Reaktion seiner Geliebten nicht. Erst in den folgenden Sekunden begriff er. Dieses braunhaarige Mädchen war Seiketsu No Akari, die Shing Jea für ein Studium bei den Deldrimor-Zwergen in den Südlichen Zittergipfeln verlassen hatte. Nach mehreren bewegungslosen Augenblicken war Shikon No Yosei die erste, die sich wieder rührte. Da sie wegen ihrer Verletzung nicht in der Lage war, ihrer Cousine entgegen zu rennen, breitete sie einfach die Arme aus. Kaum hatte sie dies getan, lagen sie und Seiketsu No Akari bereits in einer herzzerreißenden Umarmung. Ihre Tränen gewannen gegen die Unterdrückung und wollten anschließend kein Ende mehr finden. Ein solch gefühlsvolles Wiedersehen hatte weder Tyria noch der Rest der Welt jemals gesehen.
 

Seiketsu No Akari hatte Shikon No Yosei eine kleine Menge Schlafmittel verabreicht, um sie behandeln zu können, was leider nicht bedeutete, dass sie keine Schmerzen mehr spürte. Langsam löste die Mönchin den Ärmel, den Ohtah Ryutaiyo notgedrungen als Verband um ihr Bein gebunden hatte. Die offene Wunde blutete zwar nicht mehr, wollte aber auch nicht heilen … Und dass obwohl die sonstigen Folgen der Spektralqual, wie etwa die Störung ihrer Zauberkünste, bereits abgeklungen waren.

„Dein Name ist Ohtah, nicht war?“, richtete die begabte Mönchin das Wort an den Assassinen, der ihre Frage mit einem Nicken quittierte, „Du musst Shiko jetzt gut festhalten … Sie darf sich nicht zu stark bewegen, sonst kann ich ihre Verletzung nicht heilen.“

Erstaunen breitete sich in seinem Gesicht aus und er fragte überrascht: „Du kannst sie heilen?“

Im Grunde genommen eine berechtigte Frage – denn Bruder Mhenlo war dieses Unterfangen nicht gelungen. Dennoch ging Seiketsu No Akari nicht auf diese Infragestellung ihrer Fähigkeiten ein, sondern schloss die Augen, legte ihre Hände übereinander und hielt beide knapp über das Bein ihrer Seelen-Schwester.

„Dwayna, die du mir die Macht der Heilung verliehen hast, ich rufe dich an … Lass´ meine Energie in ihren Körper fließen, auf dass sie gerettet wird … Um das Leben zu erhalten, das du ihr geschenkt hast, hilf mir …“, murmelte sie die Beschwörungsformel des Heilgebetes.

Kleine, blaue Flöckchen fielen auf die Wunde. Kaum hatten die ersten sie berührt, bäumte sich Shikon No Yosei vor Schmerzen auf. Ohtah Ryutaiyo verstärkte seinen Griff und drückte seine Stirn gegen die seiner Geliebten. Er wünschte sich, er könnte das Leid für sie ertragen. Es dauerte einige Minuten, bis sich die Wunde geschlossen hatte und zarte Haut die Stelle bedeckte. Erschöpft setzte sich Seiketsu No Akari auf den Boden. Ihr Atem ging keuchend. Trotz der verhältnismäßig kleinen Verletzung war es viel schwieriger gewesen, als sie angenommen hatte, was bedeutete, die Mursaat waren im Grunde noch gefährlicherer Gegner.

Ohtah Ryutaiyo hielt ihr seine Hand entgegen, um ihr auf zu helfen und sagte: „Seiketsu … ich danke dir! Ich danke dir von ganzem Herzen … Ohne Shiko wäre einfach alles sinnlos für mich. Ich liebe sie mehr, als mein Leben …“

„Ich weiß.“, bestätigte die Studentin und legte dem Assassinen eine Hand auf die Schulter, nachdem sie mit seiner Hilfe aufgestanden war, „Shiko ist etwas besonderes … wertvoller als jeder Schatz. Ich werde immer für meine kleine Schwester da sein … und für dich nun auch. Denn du bist derjenige, den sie liebt und damit gehörst du auch zu dieser … meiner Familie! Ich werde mich vor dem Kampf gegen Steingipfel jetzt ein bisschen hinlegen. Bleib´ du bei ihr. Sie wird dich sehen wollen, wenn sie aufwacht.“

Seiketsu No Akari verschwand durch die Tür und Ohtah Ryutaiyo konnte ihr nur noch sprachlos hinterhersehen, bevor er sich wieder neben Shikon No Yosei setzte und ihre Hand in seine nahm.
 

Das neue Ziel

Als Shikon No Yosei am nächsten Morgen erwachte, sah sie wie derjenige, dem ihr Herz gehörte, bei dem Versuch über ihren Schlaf zu wachen, selbst eingeschlafen war. Der Anblick, der er ihr bot, trieb ihr ein sanftes Lächeln ins Gesicht. In manchen, stillen Augenblicken konnte sie die Liebe, die Ohtah Ryutaiyo ihr entgegen brachte, einfach nicht fassen. Immer war er an ihrer Seite, gab ihr Kraft und Schutz, brachte sie zum Lachen, erfüllte ihr jeden unausgesprochenen Wunsch. Kurz gesagt, er machte sie jeden Tag glücklich. Sacht streichelte sie ihm ein paar Haare zur Seite, die ihm in kurzen Fransen ins Gesicht hingen. Realistisch betrachtet war ihre Liebe wirklich ein Wunder … Ohtah Ryutaiyo war ein ausgezeichneter Kämpfer, sah gut aus, war stark, selbstlos und unendlich mutig. Im Grund genommen konnte er jede haben, die er wollte. Doch er wollte nur sie allein … So schämte sich Shikon No Yosei manchmal für ihre Abhängigkeit. Sie machte sich Vorwürfe, dass er wieder und wieder sein eigenes Leben riskierte, um sie zu beschützen und um ihr zu helfen. Egal, wohin sie auch gehen würde, er würde ihr folgen – selbst wenn es seinen Tod bedeuten würde.

Kaum hörbar flüsterte Shikon No Yosei: „Du bist vielleicht bereit für mich zu sterben … Aber ich bin nicht bereit dich sterben zu lassen! Denn … was wäre mein Leben ohne dich?“

Sie beugte sich zu ihm herüber und legte ihre Lippen auf seine. Gerade als sie sich zurückziehen wollte, wurde sie von ihn wieder nach vorne gezogen und sie küssten sich erneut.
 

Seiketsu No Akari bestätigte ihre vollständige Genesung und gab damit den Startbefehl für die Zurückeroberung der Feste Donnerkopf. Die Deldrimor-Zwerge bewaffneten sich, auch König Jalis Eisenhammer rüstete sich für den Kampf. Bruder Mhenlo war dafür zuständig die Verletzungen der Deldrimor zu heilen; im Traum hätte er nicht daran gedacht, in den Tempel der Gelassenheit zurückzukehren und seine Verbündeten im Stich zu lassen – Seherin hin oder her, er blieb ein Teil dieses Kampfes. Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari bildeten die Spezialeinheit. Die Reihen der Steingipfel-Zwerge waren stark. Doch die Deldrimor kämpften mit eiserner Entschlossenheit. Sie konnten ihren Verwandten diesen Frevel nicht verzeihen – letztendlich würden die Steingipfel unterliegen. Im Kampf bemerkte Shikon No Yosei, dass ihre Feuermagie an Stärke gewonnen hatte. Sie lächelte leicht und schielte zu Seiketsu No Akari hinüber, die unter großer Konzentration Schutzgebete sprach. Ihr hatte die Elementarmagierin die neue Kraft zu verdanken. Das Wiedersehen mit ihrer Cousine hatte sie seelisch gestärkt. Sehr überraschend fanden jedoch alle drei Mitglieder der Spezialeinheit, dass sie sich beinahe ohne Worte verstanden … Shikon No Yosei und Seiketsu No Akari waren zwar früher bereits ein Team gewesen, aber sie hatten sich lange Zeit nicht gesehen. Und zwischen Seiketsu No Akari und Ohtah Ryutaiyo hatte es bisher keinerlei Bindung gegeben. Sie waren einfach – wie die junge Möchin bereits sehr richtig erkannt hatte – eine Familie und damit alle ein Teil von einander!

Als die Deldrimor und ihre Verbündeten in das Innere der Feste gelangten, erstarrten Jalis Eisenhammer und Seiketsu No Akari gleichermaßen. Im Nachhinein hätten sie wissen müssen, dass die Besetzung des Palastes nur von einem einzigen Zwerg hatte angeordnet sein können.

„Was ist mit dir?“, fragte Shikon No Yosei besorgt.

Seiketsu No Akari schluckte und erklärte: „Er war es … Dragnar Steinhaupt. Er war der Grund für meine letzte Mission … Um König Jalis zu provozieren, hat Dragnar den tyrianischen Studenten entführt. Er ist der Vetter unseres Königs … und der Anführer der Steingipfel-Zwerge.“

„Das bedeutet, wenn wir ihn töten, zerbricht die Armee der Steingipfel.“, schlussfolgerte Ohtah Ryutaiyo.

Ein Nicken seitens der canthanischen Mönchin war die Antwort.

„Wir werden ihn für seine Taten büßen lassen … das verspreche ich dir, Seiketsu.“, entschied Shikon No Yosei und wandte sich an ihren Geliebten, „Und danach stellen wir uns den Mursaat.“

Keine Sekunde später machte der flinke Assassine einen Schattenschritt auf Dragnar Steinhaupt zu und tötete sein massiges Reittier mit einem gezielten Dolchstoß. Noch bevor der Zwerg den Boden berührte, verwandelte Shikon No Yosei ihn in eine lebendige Fackel. Sie war zwar keine Mörderin – und würde es in Gedenken an Meister Togo niemals sein wollen –, doch wer ihren Liebsten Schaden zufügte, verdiente nichts anderes als den Tod!

Ein lauter Jubelschrei verkündete den Sieg der Deldrimor. Stolz nahm König Jalis Eisenhammer seinen Platz auf dem Thron wieder ein. Die Atmosphäre, die diese Szene ausstrahlte, sprach von Macht und Gerechtigkeit. Aber diese freudige Stimmung war nicht von Dauer, denn ein gewaltiger Blitz durchzuckte die Feste Donnerkopf, welcher sich im großen Innenhof materialisierte. Aus dem bläulichen Licht trat ein Mann, der ein meeresgrünes Gewand mit langem Mantel und einen großen Zauberstab trug.

Der Mann, der allem Anschein nach ein Magier war, ging auf Shikon No Yosei zu und sagte ehrfürchtig zu ihr: „Ich habe lange auf Euch gewartet, Shikon No Yosei. Wenn ich mich Euch vorstellen darf … mein Name lautet Wesir Khilbron. Ich bin hier, um Euch auf die nächste Etappe Eurer Reise zu führen.“

„Was meint Ihr damit?“, fragte sie verständnislos und ihr Blick huschte zu Ohtah Ryutaiyo.

Wesir Khilbron räusperte sich leise, bevor er erklärte: „Habt Ihr Euch nicht gefragt, warum Ihr in den letzten Tagen keinem einzigen Mursaat begegnet seid? Sie wissen, genau wie Ihr, von der Flammensucher-Prophezeiung … Deshalb haben sie die Südlichen Zittergipfel verlassen.“

„Was?“, riefen Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Bruder Mhenlo entsetzt.

Der Magier nickte und meinte: „Sie haben sich zur Feuerring-Inselkette begeben. Dort wollen sie Euch und die anderen beiden Auserwählten töten … Sie gehen davon aus, dass Ihr Ihnen trotz der hiesigen Gefahren folgen werdet.“

„Glaubt Ihr, wir haben eine Chance sie aufzuhalten?“, wollte die Elementarmagierin wissen.

Ihr Gegenüber nickte erneut und antwortete: „Oh ja, das glaube ich. Doch zunächst müsst Ihr selbst zum Feuerring gelangen. Im Vulkan Abaddon´s Maul werde ich Euch zeigen, wie Ihr die Mursaat vernichten könnt.“

„Dann werde ich mich auf den Weg dorthin machen.“, entschied Shikon No Yosei, „Aber … ich zwinge niemanden mich zu begleiten.“

Ein Lachen erfüllte den Innenhof und Ohtah Ryutaiyo fragte ironisch: „Und du denkst wirklich, dass ich dich allein gehen lassen würde?“

Shikon No Yosei lächelte. Nein, das hatte sie nicht. Dennoch war es ihr Ernst gewesen …

Der Wesir verbeugte sich leicht vor dem Assassinen und bestätigte: „Damit hätte sich der zweite Auswählte Euch angeschlossen.“

„Und wer ist jetzt der letzte Auswählte?“, warf Bruder Mhenlo die Frage auf, die alle interessierte, denn von der Seherin hatte sie ja bereits erfahren, dass er es nicht war.

Bevor Wesir Khilbron darauf allerdings eine Antwort geben konnte, meldete sich jemand zu Wort, der bisher geschwiegen hatte: „Ich bin es.“

Shikon No Yosei wirbelte herum und schaute verwundert ins Antlitz von Seiketsu No Akari.
 

Die Bedeutung des Tors von Komalie

Vollkommen perplex wurde Seiketsu No Akari angestarrt. So bemerkte keiner von ihnen, wie Wesir Khilbron, ohne Blitz wohl gemerkt, verschwand.

„Das ist ja alles schön und gut … Aber eine Expedition zum Feuerring wäre reiner Selbstmord!“, unterbrach König Jalis Eisenhammer die angespannte Stille.

Der geschickte Assassine suchte mit seinen Augen Shikon No Yosei´s Blick und erwiderte: „Mag sein … Doch wenn wir uns den Mursaat nicht stellen, wird sich eine Schreckensherrschaft von Tyria aus über die ganze Welt verbreiten. Wir müssen sie jetzt aufhalten!“

„Solange du an meiner Seite bist, Ohtah, fürchte ich den Tod nicht.“, flüsterte seine Geliebte.

Dann wandte sich Shikon No Yosei an Seiketsu No Akari. Sie wusste, dass die Mönchin keinen Widerspruch dulden würde. In dieser Beziehung waren sie sich einfach zu ähnlich … Deshalb ließ sie es gleich bleiben.

„Ich versteh´ dich nicht, Seiketsu …“, meinte der König und schüttelte den Kopf, „Warum?“

Ihr sanftes Lachen begleitete ihre Antwort: „Weil Tyria eine zweite Heimat für mich geworden ist. Und die Deldrimor eine zweite Familie. Das lasse ich mir das nicht wegnehmen … Ich werde kämpfen für das, was ich liebe!“

„Dann werde ich Euch zum Feuerring führen.“, meldete sich einer der obersten Kommandanten zu Wort, „Für Deldrimor und für dich … mein Bruder.“

Schweren Herzens nickte Jalis Eisenhammer nach einem zögerlichen Moment und erwiderte: „Ich danke dir … Möge der Große Zwerg mit dir sein, Bruder!“

„Wenn Balthasar uns gnädig ist, sehen wir uns im Riss wieder!“, sagte Brechnar Eisenhammer, bevor sich beide umarmten.
 

Shikon No Yosei stand im Bug des Schiffes und schirmte diesen mit ihrem Flammenschild gegen die Lava und Gesteinsbrocken ab, die durch die Luft wirbelten. Die aktiven Vulkane waren der Hauptgrund, warum Schiffe die Feuerring-Inseln mieden. Um die Flanken kümmerten sich Seiketsu No Akari und Bruder Mhenlo mit ihren vielfältigen Schutzgebeten. Es war erstaunlich, wie viel die junge Canthanerin in der Zeit bei den Deldrimor gelernt hatte. Ohtah Ryutaiyo wiederum stand hinter Brechnar Eisenhammer, der das Schiff steuerte. Zum ersten Mal seit er Shikon No Yosei begegnet war, fühlte er sich nutzlos … Bisher hatte er immer einen Weg gefunden ihr beizustehen – doch dieses Mal plagten ihn Zweifel. Konnte er auch hier auf dem Feuerring seinen Schwur halten?

Das Glutsteinlager war der einzige Hafen, den man ansteuern konnte, wenn man die Feuerring-Inseln betreten wollte. Von dort aus gelangte man über ein Arsenal aus Lavastein und Lavaseen zum Vulkan Abaddon´s Maul. Der Name allein genügte, um Shikon No Yosei einen Schauer über den Rücken zu jagen. Und dass obwohl sie als Feuermagierin noch am ehesten mit der Hitze und der Gefahr umgehen konnte. Doch wenn man von Gefahr sprach, stellten die Mursaat ein beinahe noch größeres Problem dar, als die gewaltigen Lavamassen. Die Mursaat hatten auf dem Feuerring ihre Festungen erreichtet. Durch die schimmernden Steine, aus denen die Festungen gebaut waren, floss konstant eine große Menge an Magie, welche die Mursaat zusätzlich stärkte. Nur die Spektralqual brachte ihnen keinen Vorteil mehr – zumindest nicht gegen Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari, die, so gut es ging, ihre beiden Begleiter vor einem Schaden zu bewahren versuchten. Richtig schlecht sah es für die mutigen Helden aber erst aus, als sie entdeckten, dass der Zugang zum Innern des Vulkans von einer gewaltigen Ansammlung Mursaat bewacht wurde. Gegen diese Anzahl von Gegnern konnten sie nicht bestehen.

„Ich werde gehen.“, beschloss Brechnar Eisenhammer auf einmal, wodurch er überraschte Blicke seiner Kameraden erntete.

Seiketsu No Akari kniete sich zu ihm hinunter und meinte eindringlich: „Das könnt Ihr nicht tun! Was ist mit König Jalis? Was soll ich ihm sagen? Ihr werdet-“

„Es ist in Ordnung. Mein Bruder weiß es. Er hat mich verstanden … Ich wünsche Euch Glück – der Große Zwerg wacht über Euch.“, unterbrach der Deldrimor sie mit einem Lächeln.

Entschlossen rannte der Zwerg auf die Mursaat zu. Ungeschützt traf ihn die Spektralqual von allen Seiten. Sein Herz verstummte augenblicklich. Sein Körper fiel zu Boden. Die Mursaat gaben den Blick auf ihn frei. Unzählige Brandwunden und ein Strom aus Blut gaben ein Bild des Schreckens ab. Sein Plan, die Mursaat wegzulocken war vollkommen gescheitert. Seiketsu No Akari´s Augen füllten sich mit Tränen. Ohtah Ryutaiyo starrte den leblosen Körper fassungslos an. Shikon No Yosei zitterte. Sie erinnerte sich nur zu gut an den Tod von Meister Togo … Dieses Mal war sie ebenso hilflos gewesen, wie damals. Ihre Wut war unbeschreiblich. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Die Energie in ihrem Innern schwoll an. Sie verlor die Kontrolle über ihre Feuermagie, die ungezähmt aus jeder Pore ihres Körper drängte – ohne die Verschmelzung mit Teinai war es ihr nicht möglich, diese riesige Menge richtig zu lenken. Jeder einzelne Mursaat fand durch ihre Macht den Tod und die ewige Verdammnis in der Unterwelt. Nachdem sich die Lage wieder beruhigt hatte, gaben Shikon No Yosei´s Knie nach und sie fiel bewusstlos zu Boden. Aber wie so oft, war Ohtah Ryutaiyo zur Stelle um sie aufzufangen.
 

Als die vier verbliebenen Kämpfer – die junge Elementarmagierin gestützt von ihrem Geliebten – den Zugang zu Abaddon´s Maul durchschritten, erschien Wesir Khilbron vor ihnen.

Mit dröhnenden Kopfschmerzen hörte Shikon No Yosei, wie der Magier sagte: „Ich grüße Euch, Auserwählte der Flammensucher-Prophezeiung … Inmitten von Abaddon´s Maul liegt das Tor von Komalie. Es ist der Schlüssel … Ihr müsst nur das Siegel zerstören, dann ist Tyria von den Mursaat befreit! Geht! Geht und erfüllt eure Pflicht!“

Shikon No Yosei ging taumelnd auf das Tor zu und sah sich das Siegel an. Ein physischer Angriff würde nichts ausrichten können, es musste mit Energie geöffnet werden. Noch bevor sie ihre Vorgehensweise erläuterte, ergriff Ohtah Ryutaiyo bereits ihre rechte und Seiketsu No Akari ihre linke Hand. Bruder Mhenlo dagegen blieb auf Abstand. Dies war nicht seine Aufgabe. Die Elementarmagierin spürte die Kraft ihrer Liebsten durch ihre Adern pulsieren. Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Gemeinsam konnten sie die Mursaat bezwingen. In dem Moment, in dem die Energie ihr maximales Limit erreicht hatte, löste Shikon No Yosei ihre Hände und richtete sie auf das Tor von Komalie. Der Feuerring wurde von einem Erdbeben erschüttert. Das Siegel bröckelte, bekam Risse. Und mit einer gewaltigen Lichtexplosion zerriss es vollständig. Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Seiketsu No Akari und Bruder Mhenlo wurden von der Druckwelle gegen die Felswände geschleudert. Benommen beobachteten sie, wie sich Wesir Khilbron in ein gehörntes Wesen verwandelte.

Mit deutlicher Euphorie hielt er sein Zepter in die Höhe und rief: „Es ist vollbracht! Die Flammensucher-Prophezeiung hat sich erfüllt! Mit dem Zepter von Orr kontrolliere ich, der Untote Lich die Titanen und bringe Tyria die völlige Vernichtung!“

Die Worte, die sie großteils nur als einzelne Teile wahrgenommen hatten, fügten sich langsam zusammen. Stück für Stück eröffnete sich ihnen der Sinn. Wesir Khilbron war der Untote Lich. Der Untote Lich war der Flammensucher. Der Flammensucher besaß das Zepter von Orr. Das Zepter von Orr verlieh die Macht die Titanen zu kontrollieren. Und die Titanen verhießen das Ende von Tyria …
 

Das Ende von Tyria?

Die Flammensucher-Prophezeiung, welche die Drachin Glint vor so vielen Jahrhunderten ausgesprochen hatte, hatte sich erfüllt! Der Flammensucher war erschienen … Die Mursaat waren vernichtet … Die Titanen stellten eine noch größere Gefahr für das Land dar … War nun wahrhaftig das Ende von Tyria gekommen? Die letzte Chance auf Rettung wäre ein Sieg über den Untoten Lich durch die drei Auserwählten Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari.

Der Untote Lich war derweil mitsamt der Titanen-Armee verschwunden, die er aus dem geöffneten Tor gerufen hatte – doch seine höhnische Stimme hallte durch die Vulkanberge: „Wenn ihr mutig genug seid, folgt mir zum Vorhof der Hölle!“

Der Vorhof der Hölle war ein riesiger Vulkan, der sich auf der dritten und gefährlichsten Insel des Feuerrings befand … Shikon No Yosei, die teilweise von dem Energieverlust, teilweise von dem Schock, geschwächt war, sank erneut zu Boden. Ihre Augen waren geweitet und starrten auf das Tor von Komalie.

„Shiko, keiner von uns wusste, wer Wesir Khilbron in Wirklichkeit ist … und dass er uns so verraten würde.“, versuchte Seiketsu No Akari sie aufzubauen.

Mit schmerzverzerrter Stimme erwiderte die Elementarmagierin: „Dennoch habe ich die Titanen befreit. Versteht ihr das nicht? Ich trage die Schuld daran!“

„Nein, das tust du nicht.“, widersprach ihr Ohtah Ryutaiyo und zwang sie mit einem kraftvolleren Griff, als sie es von ihm gewohnt war, ihn anzusehen, „Selbst wenn sich die Prophezeiung erfüllt hat … wir können ihn aufhalten. Hörst du, Shiko? Zusammen können wir es schaffen! Solange wir die Hoffnung auf den Sieg in uns tragen. Ich liebe dich, Shiko, und ich werde meine ganze Kraft aufbringen, um dir zu beweisen, dass der Flammensucher und die Titanen nicht das Ende von Tyria einläuten werden!“

Shikon No Yosei befreite sich von ihm und stand taumelnd auf. Ihre rechte Hand legte sich über ihr Herz. Es schlug … es schlug kraftvoll und gleichmäßig. Sie war noch am Leben. Ohtah Ryutaiyo war am Leben. Seiketsu No Akari war am Leben. Sie konnten noch kämpfen! Plötzlich spürte Shikon No Yosei nach so langer Zeit endlich wieder die Präsenz von Teinai in ihrem Körper, in ihrem Geist. Die Verzweiflung ihres Schützlings hatte sie aufgeweckt. So gab sich Shikon No Yosei der Macht der verstorbenen Elementarmagierin hin und wurde wieder einmal von dem hellen Licht umhüllt.

„Was geht hier vor?“, rief Seiketsu No Akari erschrocken, die es zum ersten Mal miterlebte.

Shikon No Yosei öffnete den Mund und die Stimme Teinai´s drang daraus hervor: „Fürchtet euch nicht. Ich komme mit Rat zu euch in dieser schweren Stunde … Du hast recht mit deinen Worten, junger Assassine. Es gibt einen Weg, wie ihr siegen könnt – doch ihr müsst wagen, ihn zu gehen! Das Schicksal hat euch aus gutem Grund für diese Aufgabe ausgesucht.“

Das Licht erlosch und diesmal sprach Shikon No Yosei selbst: „Danke, Teinai … Ja, wir können Tyria retten. Selbst wenn dies meinen Tod bedeutet … Ich werde nicht aufgeben! Niemals!“
 

Im Vorhof der Hölle: leben oder sterben

Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Seiketsu No Akari und Bruder Mhenlo betraten die Region des Vorhofs der Hölle. Er wurde seinem Namen wahrlich gerecht. Die Lavaseen, die Vulkanberge und vor allem die Titanen sprachen von tödlicher Gefahr. So ähnlich musste wohl wirklich die Hölle in den tiefsten Tiefen der Unterwelt aussehen. Gerade, als die ersten Titanen zum Angriff übergehen wollten, erschien ein strahlendes Licht vor den vier und die Titanen zerfielen langsam zu Staub.

Eine ihnen bekannte Stimme erklang in ihren Ohren: „Ihr habt einen weiten Weg hinter Euch … Aber der wahre Kampf liegt noch vor Euch. Um Tyria von den Titanen zu befreien, müsst Ihr das Tor von Komalie wieder versiegeln. Der Untote Lich muss auf dem Blutstein im Innern des Vulkans sterben … Sein Tod wird genug Energie diesen Zauber freisetzen.“

Nachdem Glint´s Stimme verstummt war, verschwand auch das Licht.

Sie folgten einem Weg Richtung Südosten, da sie dort in etwa das Zentrum vermuteten, in dem sich, laut Glint, der Blutstein befinden sollte. Eine der letzten, magischen Steinplatten, welche in der Alten Zeit für Opferrituale verwendet worden waren.

In einem kleinen Tal erfassten die scharfen Augen von Ohtah Ryutaiyo eine Gestalt und er hinderte seine Freunde am Weitergehen. Die Person, die dort stand, war nicht der Untote Lich. Bei genauem Betrachten konnte man ein flammendes Schwert sowie einen roten Mantel erkennen. Bruder Mhenlo standen Schock, Trauer und Wut deutlich ins Gesicht geschrieben. Er kannte denjenigen, der sich ihnen in den Weg gestellt hatte. Untot ebenso wie sein Meister … Dennoch konnte der Mönch es nicht glauben und ging wie in Trance auf den Mann zu.

„Bitte … bitte, sagt mir, dass das nicht wahr ist … Das darf nicht wahr sein! Seid … seid Ihr das wirklich? Antwortet mir!“, verlangte er mit brüchiger Stimme.

Der Untote lächelte gequält, während er antwortete: „Ich bin es, alter Freund. Ich bin Rurik … Nein, ich war Rurik.“

„Aber wie kann das sein, mein Prinz? Ich dachte … ich dachte, Ihr wärt am Frosttor gefallen!“, erwiderte Bruder Mhenlo verzweifelt.

Prinz Rurik, der einstige Thronerbe Ascalon´s erklärte: „So hätte es sein sollen. Ich gehöre nicht mehr in die Welt der Lebenden. Doch ich wurde zurückgerufen … Verzeiht mir, Mhenlo, ich will nicht gegen Euch kämpfen! Aber mir bleibt keine andere Wahl.“

Der Untote hob sein Schwert zum Angriff. Shikon No Yosei reagierte ohne nachzudenken. Sie zog einen von Ohtah Ryutaiyo´s Dolchen aus seinem Halfter und schleuderte ihn auf den Prinzen. Die Klinge versank tief in dessen Brust. Genau an der Stelle, an der früher sein Herz geschlagen hatte – früher, als er noch ein Mensch gewesen war.

Schwach flüsterte Prinz Rurik ein paar letzte Worte: „Ich … ich danke Euch, Fremde. Ihr habt mich von ihm erlöst … Ihr habt meine Seele von der Folter und Knechtschaft des Untoten Lich befreit.“

Der Prinz Ascalon´s starb ein zweites Mal. Diesmal mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Er ist als Mensch gestorben …“, meinte Ohtah Ryutaiyo und legte dem Mönch eine Hand auf die Schulter.

Seiketsu No Akari und Shikon No Yosei schwiegen, während ein leises Schluchzen von Bruder Mhenlo durch das Tal hallte.
 

Aufgrund des langes Marsches, einer gewagten Kletterpartie und einem endlosen Kampf gegen eine Armee Titanen hatten sie den Großteil ihrer Kräfte eingebüßt. Ihr Atem ging keuchend. Der Schweiß stand auf ihren Stirnen. Ihre Kleider waren angesenkt.

„Ein letzter Kampf.“, murmelte Bruder Mhenlo.

Seiketsu No Akari bestätigte nickend: „Ein letzter Kampf gegen den Untoten Lich.“

„Ein letzter Kampf gegen den Untoten Lich, um Tyria zu retten.“, fügte Ohtah Ryutaiyo hinzu und Shikon No Yosei vervollständigte mit leiser Stimme, „Ein letzter Kampf gegen den Untoten Lich, um Tyria zu retten, den wir gewinnen werden!“

Sie überwanden die letzten Meter, die sie noch vom Blutstein trennten. Der Untote Lich stand genau in dessen Mitte und erwartete sie.

„Ich bin sichtlich beeindruckt … Ihr habt einen weiten Weg zurückgelegt, euch im Kampf bewährt und alle Hindernisse überwunden. Aber hier endet eure Glückssträhne!“, sagte er lachend.

Sie verteilten sich um den Blutstein herum, kreisten den Untoten Lich ein.

Dann erhob die schöne Elementarmagierin ihre Stimme: „Du lachst über Dinge, die du nie versehen wirst … Wie Shiro bist auch du nur zu bemitleiden. Tyria ist zwar nicht meine Heimat … doch es gibt viele, denen dieses Land wichtig ist! Wir kämpfen für all diejenigen, die sich dir nicht selbst in den Weg stellen können! In ihrem Namen werden wir dich töten! Die Flammensucher-Prophezeiung verheißt nicht unser aller Ende … Wir werden diese Prüfung bestehen! Solange auch nur noch in Fünkchen Hoffnung in uns brennt, werden wir weiterkämpfen! Das schwöre ich dir bei allen vier Elementen und beim Lichte Teinai´s!“

Damit entbrannte der Kampf. Der Untote Lich erschuf kleine »Seelenstrudel«, welche bei direkter Berührung Energie entzogen. Dolchangriffe seitens Ohtah Ryutaiyo waren völlig nutzlos gegen sie, weswegen er den Untoten Lich in ein Gefecht verwickelte. Bruder Mhenlo belegte ihn währenddessen dauerhaft mit Schutz- und Heilgebeten. Seiketsu No Akari tat dasselbe bei Shikon No Yosei, die sich vorrangig um die Seelenstrudel kümmerte. Nachdem sie alle vernichtet hatte, sah sie zu ihrem Geliebten. Der Assassine hatte es tatsächlich geschafft einen Nahkampf zu provozieren, bei dem der Untote Lich seine Dolchstöße mit den Händen parierte. Wären sie in einer etwas weniger gefährlichen Situation gewesen und hätten nicht dem personifiziertem Bösen gegenübergestanden, hätte dieses Bild Shikon No Yosei durchaus zum Lachen gebracht. Doch sie musste sich konzentrieren. Seiketsu No Akari und Bruder Mhenlo bezogen hinter ihr Stellung, als die Elementarmagierin mit geschlossenen Augen niederkniete und die gewaltige Macht des Feuers anrief. Sie entzog der Lava ihre Kraft und vermischte sie mit ihrer eigenen Energie. Ohne sichtbares Zeichen zog sich Ohtah Ryutaiyo via Schattenschritt vom Zweikampf mit dem Untoten Lich zurück und warf noch im Flug eine Handvoll Giftpfeile auf ihn. Im selben Moment öffnete Shikon No Yosei wieder die Augen und entfesselte die gesammelte Feuermagie – dank Teinai´s innerer Unterstützung genauso, wie die Shing Jea es wollte. Der Blutstein begann zu beben. Die geballte Energie hatte ihn aktiviert. Runen schimmerten in verschiedenen Farben. Blitzschnell entfernten sich die vier Verbündeten von ihm. Gerade rechtzeitig, denn die Feuermagie und die Giftpfeile brachten dem arroganten Flammensucher seine verdiente Strafe. Das Tor von Komalie leuchtete auf, öffnete sich und sog alle verbliebenen Titanen wieder in sich hinein. Sogar das Siegel erneuerte sich. Das Beben verstärkte sich, erfasste inzwischen die gesamte Feuerring-Inselkette. Die Lavaseen türmten sich auf. Aus dem Gestein schossen Lavafontänen in die Höhe. Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Seiketsu No Akari und Bruder Mhenlo waren sich einig. Es war Zeit zu verschwinden!

Erneut erschien Glints vor ihnen und ihre Stimme in ihren Köpfen: „Die Schwingen des Schicksals haben gut gewählt … Das Böse, das so lange Zeit im Herzen Tyria´s schlummerte, ist ausgelöscht. Die teuflische Verbundenheit gelöst. Die Flammensucher-Prophezeiung erfüllt. Das Tor von Komalie bis in alle Ewigkeit verschlossen. Ihr habt eure Aufgabe erfüllt, ihr habt Tyria gerettet! Doch nun müsst Ihr Euch selbst retten … Geht durch dieses Portal und ihr werdet in einer vertrauten Umgebung erwachen. Lebt wohl, meine Freunde, bis wir uns eines Tages wiedersehen!“

Ein strahlendes Portal öffnete sich und zog sie in sein Inneres.
 

Abschied und Hoffnung

Als die vier wieder zu Bewusstsein kamen, spürten sie zunächst nur eine eisige Kälte. Sie öffneten langsam ihre Augen und fanden sich zurück in den Südlichen Zittergipfeln, genauer gesagt in Droknar´s Schmiede. Vor ihnen stand Jalis Eisenhammer mit seinem Gefolge. Ihre Freudenschreie drangen erst jetzt wirklich an ihre Ohren. Der Kampf war einfach zu anstrengend gewesen, sie waren noch immer ganz benommen.

„Ihr habt etwas vollbracht, was niemandem sonst gelungen wäre!“, lobte der König der Deldrimor- Zwerge ihre Heldentat, „Ihr habt das drohende Unheil abgewendet … Deldrimor dankt Euch! Ganz Tyria dankt Euch!“

Seiketsu No Akari biss sich auf die Unterlippe, um ihre Tränen zurückzuhalten und sagte dann verzweifelt: „Wir haben diese Ehre nicht verdient, mein König … Euer Bruder … ist …“

„Sorge dich nicht, mein Kind. Brechnar wusste, was er tat. Er hat dich auf diese Reise begleitet, um dein Leben zu bewahren. Ihm war klar, wie wichtig du den Deldrimor in der vergangen Zeit geworden bist. Um deinen Tod zu verhindern, hat er sein Leben bereitwillig gegeben … Irgendwann werde ich ihn sicher wiedersehen.“, erklärte Jalis Eisenhammer und wischte seinem Schützling die Tränen von den Wangen, die dennoch über ihre Augenränder getreten waren.

Shikon No Yosei, die ebenfalls den Tränen nahe war, sagte: „Trotzdem können wir diesen Kampf nicht nur als Triumph ansehen. Brechnar und die Glänzende Klinge Saidra … Sie haben sich beide für uns geopfert.“

„Behaltet sie Eurem Herzen und Eurer Erinnerung, dann werden sie nicht umsonst gestorben sein.“, meinte der Zwerg gütig und legte eine kleine Pause ein, um seine Worte wirken zulassen, „Um ihrer zu gedenken und unsere Rettung zu feiern, veranstalten wir heute ein großes Fest!“

Perplex sahen sich Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Bruder Mhenlo an.

Mit einem kleinen Lächeln flüsterte Seiketsu No Akari ihnen zu: „Abrupte Themenwechsel sind typisch für die Deldrimor-Zwerge … besonders für unseren König.“
 

Bis spät in die Nacht dauerte das Fest an. Es wurde getanzt, gesungen, gegessen und getrunken. Die Trauer und die Freude waren deutlich spürbar. Shikon No Yosei verstand inzwischen, warum die Deldrimor diesem Brauch folgten. Es tat gut, half loszulassen. Sie hatte sich etwas abseits gesetzt und beobachtete die Sterne. Der Himmel über Tyria zeigte ganze andere Bilder als jener ihres geliebten Canthas.

„Du denkst an Zuhause, nicht wahr?“, riss ihre Cousine sie plötzlich aus ihren Gedanken.

Die Elementarmagierin nickte und antwortete: „Ja … Vor dir kann ich wohl gar nichts verbergen, oder, Seiketsu? Ohtah und ich werden morgen aufbrechen.“

„Auch das dachte ich mir …“, bestätigte Seiketsu No Akari, „Ich werde mein Studium weiter fortsetzen. Ich habe es noch lange nicht beendet … Ich … ich meine … würdest ... würdest du ...“

Shikon No Yosei zog sie in eine Umarmung und flüsterte: „Bis du wieder da bist, werde ich Shing Jea allein beschützen und … auf dich warten. Ich hab´ dich lieb, Sei!“

Damit wiederholte sie die Worte, die sie bereits bei Seiketsu No Akaris Abreise auf Shing Jea zu ihr gesagt hatte.

„Danke, Shiko … danke.“, erwiderte die Mönchin und zog ein großes Bündel das ihrer Tasche, welches sie ihrer Cousine überreichte, „All diese Briefe habe ich in den vergangenen Monaten geschrieben. Ich weiß, was du in Cantha durchmachen musstest … deshalb habe ich sie nicht abgeschickt. Aber jetzt ist es Zeit sie dir zu geben. Und diesmal müssen wir uns wirklich regelmäßig schreiben!“

Die Shing Jea lachte – erst war ihr der Kampf mit Shiro Tagachi in die Quere gekommen, dann hatte sie Angst gehabt zu schreiben – und antwortete: „Versprochen …“
 

Auf der Fahrt zurück nach Shing Jea kämpft Shikon No Yosei´s Herz mit Freude und Trauer … Ihr Wunsch nach einem Wiedersehen mit Seiketsu No Akari ist zwar für den Moment erfüllt, aber der neuerliche Abschied war schwerer, als beim ersten Mal. Trotzdem hat die junge Elementarmagierin das Gefühl nicht nur ihre geliebte Seelen-Schwester von einer anderen Seite, sondern auch Ohtah Ryutaiyo besser kennengelernt zu haben. Dafür brennt eine Frage nun deutlicher als jemals zuvor in ihr – warum ausgerechnet sie? Für den Kampf gegen Shiro Tagachi hatte sie Meister Togo bestimmt, doch diesmal war es, laut Glint, das Schicksal selbst gewesen … Tief in sich spürt Shikon No Yosei bereits jetzt, dass dies nicht ihre letzte Aufgabe gewesen ist.

Erzählung 02: Das Schicksal einer Mönchin

Von Heimat und Stärke

Seiketsu No Akari wurde in eine große, steinerne Halle unter der Erde geführt. Ein Teil des Palastes lag zwar auch überirdisch, aber die wahre Pracht der Feste Donnerkopf lag hier unten. Sie staunte über die detailreiche Verzierungen der Fassaden und die Magie, welche von den leuchtenden Steinen ausging. Erst jetzt begriff Seiketsu No Akari wirklich, wie alt und mächtig das Volk der Deldrimor in Wirklichkeit war. Und von diesen Meistern würde sie die nächsten vier Jahre lernen.

Sie schielte zu den anderen beiden Auserwählten. Es waren beides junge Männer. Der tyrianische Student hatte helle Haut und blonde Haare; er war ebenfalls Mönch. Anders dagegen der Waldläufer aus Elona – seine Haut war von der Sonne dunkel gebrannt. Unwillkürlich fragte sich die Shing Jea, ob sie miteinander auskommen würden.

Der Deldrimor, der sie in Empfang genommen hatte, gab den Wächtern einen Wink und augenblicklich öffneten sie das große Tor. Es führte in den Thronsaal – ein imposant wirkender Zwerg mit einer Plattenpanzer-Rüstung und einer schmiedeeisernen Krone auf dem Kopf hatte dort Stellung bezogen.

„Ich begrüße euch. Es freut mich, dass ihr euch für das Studium entschieden habt.“, sprach er mit kraftvoller Stimme, „Mein Name ist Jalis Eisenhammer … Ich bin der König der Deldrimor! Mein Reich wird euch in den kommenden Jahren eine Heimat bieten. Und wann immer ihr etwas auf dem Herzen habt, scheut euch nicht mit mir darüber zu sprechen. Egal, wie klein euch die Angelegenheit auch erscheinen mag … ich werde für euch da sein. Denn ab dem heutigen Tag gehört zu meinem Volk, Klerus von Kryta, Seiketsu No Akari von Shing Jea und Jabari von Kourna!“

Die Studenten beugte ihr Knie vor dem Herrscher als Zeichen ihrer Ehrerbietung.
 

Das Zimmer, in dem Seiketsu No Akari von nun an leben würde, war nicht sehr groß, doch ihr genügte es. Es gab ein Bett, einen Schreibtisch, einen Stuhl, einen Kleiderschrank und einen Spiegel. Eine einfache Studierstube eben. Seufzend betrachtete sie die beiden goldenen Armbänder an ihren Handgelenken. Ihre Mutter hatte sie ihr zum Abschied geschenkt – eines hatte ihr selbst gehört … das andere trug ihr Vater bis zu seinem Tod. War es ein Fehler gewesen Meister Togo´s Angebot anzunehmen? Sie war kaum hier und schon vermisste ihre Heimat, ihre Familie … besonders wenn sie an all die Gerüchte dachte. Seiketsu No Akari hatte zufällig gehört, wie sich ein paar Zwerge über die Pest Cantha´s unterhalten hatten – inzwischen sei sogar Shing Jea betroffen und der Leiter des Kloster leite Gegenmaßnahmen ein. Ob das bedeutete, Shikon No Yosei war in Gefahr? Nahm sie vielleicht genau in dieser Sekunde den Kampf gegen die Befallenen auf?

Die junge Mönchin öffnete eine Schublade des Schreibtisches und nahm ein Blatt Pergament, Tinte, sowie eine Feder zur Hand und begann einen Brief zu schreiben: „Liebe Shiko, jetzt sitze ich doch schon viel früher an diesem Brief, als ich eigentlich wollte … Ich dachte wirklich, ich wäre stärker. Ein Monat ist es jetzt her, dass ich Shing Jea verlassen habe. Shing Jea, unsere Familie und dich … Trotzdem schaffe ich es einfach nicht, meine Entscheidung wirklich zu bereuen, obwohl mir die Frage ständig durch den Kopf geht; ich will diese Chance nutzen – ich werde stärker werden, so stark wie du! König Jalis begrüßte uns heute als neuen Teil von Deldrimor … aber Shing Jea wird immer meine Heimat bleiben – dort, wo meine kleine Schwester ist! Jetzt brummst du, nicht wahr? Und nun lachst du, weil ich dich so gut kenne. Shiko … ich habe Angst. Stimmt es, dass sogar Shing Jea von der Pest betroffen ist? Hat Meister Togo dich deswegen ausgerechnet jetzt zur Verteidigerin bestimmt? Bitte, pass´ auf dich auf! Du wirst es schaffen, ich weiß es! Denn ich vertraue dir … Gib´ nicht auf! Ich bin in Gedanken bei dir. In Liebe, deine Sei“

Seiketsu No Akari faltete das Pergament zusammen und legte es zurück in eine Schublade ihres Schreibtisches. Sie konnte den Brief nicht abschicken, jetzt noch nicht. Solange würde sie ihn und alle folgen aufbewahren. Wenn Shikon No Yosei wirklich einen Kampf oder besser gesagt einen Krieg gegen die Befallenen führte, konnte sie keinerlei Ablenkung gebrauchen. Und vielleicht war sie ja gar nicht mehr auf Shing Jea … Die Pest betraf ganz Cantha. Die junge Mönchin wollte den Gedanken nicht zu ende führen, wie groß die Aufgabe sein könnte, der sich ihre Cousine in nächsten Zeit stellen musste …
 

Beinahe drei Monate waren seit Beginn des Studium vergangen. In dieser Zeit hatte Seiketsu No Akari ihre Trauer so gut es ging zu verstecken versucht und ihre Energie in die Arbeit gelegt. Sie wollte so viel wie möglich lernen, um Shikon No Yosei als Partnerin bei der Verteidigung von Shing Jea zur Seite stehen zu können.

In dieser Nacht träumte Seiketsu No Akari, wie so häufig, von ihrer Heimat. Sie lief durch die grünen Felder Shing Jea´s und genoss die warme Sonne auf ihrem Gesicht. Doch plötzlich veränderte sich die Umgebung. Sie befand sich nicht mehr auf der Insel, so viel stand fest, sondern stand in einem unbekannten, weiten große Raum mit roten Wänden. Ihr Blick wanderte umher … bis ihr der Atem im Hals stecken blieb. Vor ihren Augen fiel Shiko No Yosei bewusstlos zu Boden; ein fremder, junger Mann fing sie gerade rechtzeitig auf und legte sie auf ein Bett. Was war hier nur los? War mit Shikon No Yosei passiert? War das hier Wirklichkeit oder nur ein Trugbild ihrer Sorge? Seiketsu No Akari versuchte sich zu beruhigen, konzentrierte ihre Energie. Mit einem Schlag herrschte völlige Dunkelheit. Aber etwas stimmte nicht mit ihr. Verwirrt starrte sie auf ihre Hände; sie bestanden aus reinem Licht.

„Sei, bist … bist du es wirklich?“, fragte Shiko No Yosei, die auf einmal in der Finsternis aufgetaucht war, und umarmte sie.

Da wurde Seiketsu No Akari bewusst, wo und warum sie hier war.

Sie streichelte Shiko No Yosei über das Haar und erwiderte: „Ja, Shiko, ich bin es … Ich bin hier um dir zu helfen. Weißt du, wir befinden uns hier in der Gefühlswelt deines Herzens. Es ist erfüllt mit der Trauer um Meister Togo … Wir alle trauern um ihn. Sein Verlust ist ein schwerer Schlag für Cantha. Aber du darfst dein Licht der Hoffnung nicht erlöschen lassen! Erinnere dich wieder daran, warum du diesem Kampf aufgenommen hast …“

Sie zeigte ihrer Seelen-Schwester Bilder aus ihrer Kindheit. Auch von jenem Tag, als Meister Togo sie als Verteidigerin von Shing Jea auserwählt hatte. Und schließlich auch ihre erste Begegnung mit Ohtah Ryutaiyo.

„Ohtah …“, flüsterte Shiko No Yosei mit Tränen in den Augen.

Daraufhin wich die Finsternis zurück und es wurde etwas heller um sie herum.

Seiketsu No Akari lächelte zufrieden und erklärte: „Hier herrschen deine Gefühle … Sie spiegeln sich in Finsternis und Licht wieder. Die Trauer um Meister Togo überlagert derzeit alles andere. Shiko, erwecke das Licht in dir! Du bist nicht allein … Du hast diesen jungen Mann an deiner Seite. Und mich. Egal, wie viel Tausende von Kilometern wir auch voneinander getrennt sind, ich werde immer in deinem Herzen sein. Das verspreche ich dir, Schwesterchen … Also vertreib´ die Finsternis und lasse dein Licht leuchten … Oder Shiro wird Cantha endgültig ins Verderben stürzen!“

Die junge Mönchin dachte an den großen Raum. Vor ihnen erschien ein neues Bild.

In dem Raum stand ein einziges Bett und darauf lag Shiko No Yosei mit geschlossenen Augen; neben ihr saß Ohtah und hielt ihre Hand. Er wirkte verzweifelt.

„Letztendlich ist es deine Entscheidung, Shiko. Du musst entscheiden, ob du dich dem Kampf stellst oder ob du dich von der Trauer überwältigen lässt.“, meinte Seiketsu No Akari und legte eine Hand auf die Schulter ihrer Cousine, „Bedenke jedoch … Ohtah braucht dich. Ich brauche dich. Cantha braucht dich … Und Meister Togo´s Seele sieht dir aus den Nebeln heraus zu.“

Etwas begann an ihr zu ziehen und sie fügte schnell hinzu: „Glaube fest an deine innere Stärke!“

Sie war kurz vor dem Aufwachen, doch die Stimme von Shikon No Yosei erreichte sie dennoch: „Du hast recht … Ich darf nicht aufgeben. Es ist meine Aufgabe, Shiro zu vernichten. Ich bin dafür verantwortlich! Ich kann nicht davonlaufen. Auch, wenn ich am liebsten alles vergessen würde … All diese schrecklichen Bilder, all diese furchtbaren Kämpfe. Aber ich muss stark sein. Für Sei … für Ohtah … für Teinai … für Bruder Mhenlo … und besonders für Meister Togo … Ich werde sie nicht enttäuschen!“

Dann öffnete Seiketsu No Akari die Augen und lag wieder auf ihrem Bett in den südlichen Zittergipfeln, ihr Atem ging schneller. Sie hatte in diesem … Traum nicht nachgedacht und einfach Dinge geschehen lassen oder gesagt, von denen sie wusste, dass sie Shikon No Yosei helfen würden. Tränen bildeten sich in ihren Augen – trotz der weiten Entfernung war sie ihrer Cousine so nahe gewesen. Blieb nur die Frage, wie lange Seiketsu No Akari dieses Gefühl festhalten konnte, bevor der Schmerz sie wieder übermannte …
 

Seiketsu No Akari lernte jeden Tag äußerst fleißig. Sie hatte viele neue Fähigkeiten aus den Lehren der Deldrimor gewonnen. Die Geschichte der Deldrimor war der erste Themenbereich, den sie in Geschichte durchgenommen hatten – es war für Seiketsu No Akari sehr interessant zu erfahren gewesen, wie das Volk der Deldrimor entstanden war und welche Lehren der Foliant des Rubikon über den Großen Zwerg verbreitete –, anschließend arbeiteten sie sich Stück für Stück weiter. Es war unfassbar, wie viel Wissen die Zwerge über Jahrhunderte zusammengetragen hatten. Wann immer König Jalis Zeit hatte, leistete er ihnen bei Vorlesungen Gesellschaft oder hielt sogar selbst Vorträge. Es scheute ihn nicht einmal ihnen in der Bibliothek beim Suchen zu helfen, wenn sie ein bestimmtes Buch nicht finden konnten oder mehr über ein Thema erfahren wollten.

An diesem Abend besuchte Jalis Eisenhammer Seiketsu No Akari in ihrer Stube – sie hatte wieder einmal einen Brief an Shikon No Yosei verfasst.

„Was verschafft mir die Ehre Eures Besuchs, Eure Majestät?“, fragte die junge Mönchin höflich.

Der Deldrimor nahm auf dem Stuhl am Schreibtisch Platz, während Seiketsu No Akari sich auf den Rand ihres Bettes setzte.

„Ich wandere häufig durch mein Schloss, musst du wissen … zu jeder erdenkliches Tages- und Nachtzeit.“, berichtete er und ließ sie dabei nicht aus den Augen, „Manchmal höre ich Geräusche, die … mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Ohne lauschen zu wollen natürlich. Weißt du, was ich meine?“

Seiketsu No Akari wusste es. Er hatte ihr Schluchzen gehört, wenn sie sich in den Schlaf geweint oder ihre fertigen Briefe gelesen hatte. Jalis Eisenhammer kannte ihre Schwäche.

„Ich bin ein alter Mann, ich habe viel gesehen in meinem Leben.“, fuhr der König fort, „Du bist anders, als Klerus oder Jabari … und das liegt nicht daran, dass du ein Mädchen bist. Du verbirgst etwas … Du versuchst deine Gefühle zu unterdrücken. Du hast Heimweh, mein Kind, nicht wahr?“

Sie vergrub ihr Gesicht zwischen den Händen und antwortete: „Ja … egal, ob ich wach bin oder schlafe. Ich habe praktisch mein ganzes Leben in unserem kleinen Dorf verbracht und kenne jeden Zentimeter von Shing Jea. Ich liebe diese Insel! Und … ihre Menschen …“

Diesmal wollten die Tränen einfach nicht kommen. Zu hart war die Wahrheit. Sie gehörte hier nicht hin. Ihre Heimat war und würde für immer Shing Jea sein.

„Ich verstehe …“, erwiderte der König mitfühlend, „Als Herrscher dieses Landes und eines ganzen Volkes spuken mir ständig Sorgen im Kopf herum. Um nicht von ihnen beherrscht zu werden, suche ich nach Dingen, die mein Herz erfreuen … Deshalb komme ich auch so häufig zu euch in den Unterricht. Es befreitet mir Freunde. Eines möchte ich dich noch fragen, Seiketsu … Warum hast du dich auf das Studium bei uns eingelassen?“

Seiketsu No Akari richtete sich gerade auf – König Jalis verdiente es, dass sie sich mehr zusammenriss – und erklärte: „Schon bevor meine Schwester Shiko … Shikon No Yosei und ich unsere Ausbildung begannen, haben wir darüber gesprochen, wie schön es ist, anderen helfen zu können. Wir wollten nicht alles so hinnehmen, wie es ist … Wir wollten für unsere Heimat und seine Bewohner da sein. Shiko hat den Weg der Elementarmagierin gewählt … Sie ist unglaublich stark, auch wenn sie sich dessen noch nicht ganz bewusst ist. Ich dagegen kann nicht kämpfen. Aber ich wollte bei ihr sein! Immer … Deshalb bin ich Mönchin geworden, um sie mit meinen Gebeten zu beschützen! Meister Togo sagte damals, ich sei talentiert … Ich bin nur hier, weil ich so unglaublich schwach bin. Ich muss stärker werden, sonst kann ich Shiko nicht helfen.“

Jalis Eisenhammer zeigte den Anflug eines Lächeln, bevor er zur Tür ging.

„Jemand, der einen solch aufrechten Wunsch in sich trägt, kann jede Stärke entwickeln, die er braucht …“, sagte er beim Hinausgehen und schloss die Tür hinter sich, „Du sagst, deine Schwester wäre sich ihrer wahren Kraft nicht bewusst? Du ebenfalls nicht, mein Kind … noch nicht.“
 

Jalis Eisenhammer wanderte durch den Thronsaal. Immer wieder von einer Seite zur anderen und zurück. Sein Bruder hielt sich am Rand, beobachtete ihn eine Weile.

„Ich möchte Euch nicht zu nahe treten, mein König … Gestattet mir dennoch die Frage, was bedrückt Euch so?“, wollte er schließlich wissen.

König Jalis blieb stehen, wandte sich an Brechnar und erwiderte: „Entschuldige, Bruder … es war unhöflich von mir dich so in Ungewissheit zu lassen. Die Steingipfel machen mir Sorgen. Unser Vetter hat die Befehlsgewalt übernommen. Er will jeden einzelnen von uns auslöschen.“

„Dragnar?!“, sagte der Deldrimor entsetzt, „Das ist übel, Majestät. Er kennt keine Gnade … Aber ich glaube nicht, dass wir einen offenen Krieg riskieren dürfen. Das würde zu viele Leben kosten. Und die Zahl unseres Volk schrumpft ohnehin bereits.“

Der König nickte: „Ja, ich schließe mich deiner Meinung an. Nur was können wir tun? Dragnar will meinen Thron und damit die Kontrolle über die gesamten Zittergipfel! Ich muss meine Untertanen beschützen, egal um welchen Preis …“
 

Seiketsu No Akari ahnte derweil nichts von dem ernsten Gespräch, das nur wenige Meter über ihr geführt wurde.

Sie saß an ihrem Schreibtisch und verfasste einen weiteren Brief an Shiko No Yosei: „Liebe Shiko, ich denke, du kennst das Gefühl, wenn man einfach alles hinschmeißen will, nicht mehr weitermachen möchte. So geht es mir in letzter Zeit … Morgen jährt sich der Tag, an dem Meister Togo in unser Dorf kam. Doch … du hattest es bei deinem Kampf gegen Shiro auch nicht leicht, nicht wahr? Jedes Mal, wenn ich schwanke, denke ich daran, dass du immer weitergemacht hast. Du hast nicht aufgegeben, bis Cantha befreit war … Selbst hier in Tyria erreichen uns Geschichte über deine Heldentat. Ich bin sehr stolz auf dich! Darum darf ich nicht aufgeben. Ich werde nicht aufgeben! Ich will zurück nach Shing Jea … als Absolventin der Deldrimor! Mach´ dir keine Sorgen um mich – eigentlich geht es mir hier sehr gut. Bis bald, deine Sei“

In diesem Moment klopfte es an die Tür. Seiketsu No Akari sah überrascht auf. Normalerweise bekam sie so spät keinen Besuch mehr – von König Jalis einmal abgesehen, aber der kam nur jeden fünften Tag in der Woche und das war vorgestern gewesen. Sie öffnete die Tür, draußen stand Klerus.

„Guten Abend, Seiketsu.“, grüßte er sie, „Darf ich reinkommen?“

Es war das erste Mal, dass Klerus sie in ihrer Stube aufsuchte. Sie fragte sich, ob etwas passiert sei, gab aber kommentarlos den Weg frei. Er schaute sich kurz um, bevor er seinen Blick wieder auf sie heftete. Seiketsu No Akari lehnte an ihrem Schreibtisch und wartete.

„Ich muss dir etwas sagen …“, begann er und räusperte sich, „Ich habe mich in dich verliebt!“

Ihre Augen weiteten sich. Ein riesiges, imaginäres Fragezeichen erschien in ihrem Kopf.

Mit schwacher Stimme murmelte sie: „Wie … wie war das?“

„Ich liebe dich, Seiketsu.“, wiederholte er, diesmal kraftvoller.

Nie hätte Seiketsu No Akari mit solch einer Entwicklung gerechnet. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie schluckte schwer. Noch nie hatte ihr jemand seine Liebe gestanden, geschweige denn sich für sie als Frau interessiert. Oder zumindest hatte sie nichts dergleichen mitbekommen. Sie mochte Klerus … doch Liebe? Sie hatte sich ihre Zukunft bislang nie als Ehefrau vorgestellt …

Sie konnte ihn nicht ansehen, als sie ihm ihre Antwort mitteilte: „Ich … ich bin … Ich meine, ich fühle mich geehrt … wirklich. Nur … für mich gibt es zur Zeit nichts wichtigeres als dieses Studium. Ich kann … ich kann deine Gefühle nicht erwidern. Es tut mir Leid …“

„Du musst dich nicht entschuldigen. Es war mir einfach nur wichtig dir die Wahrheit zu sagen … Mir tut es leid, sollte ich dir damit zu nahe getreten sein.“, winkte er ab, „Ich wollte einfach, dass du weißt, wie sehr ich dich bewundere …“

Damit verließ er das Zimmer. Seiketsu No Akari rutschte an ihrem Schreibtisch entlang zu Boden.

Draußen im Korridor ging Klerus am Türrahmen gelehnt in die Knie. Im Grunde sollte ihn ihre Antwort nicht überraschen. Hatte er nicht sogar damit gerechnet? Seiketsu No Akari hatte nicht das kleinste Anzeichen gegeben, dass sie sich für ihn interessierte … Im Gegenteil, sie mied jeden Kontakt zu ihm oder Jabari, der nichts mit dem Studium zu tun hatte. Dennoch tat es weh – in ihren Augen war absolut kein Zweifel gewesen. Kein Schimmer, weswegen er hoffen konnte. Warum wurde ausgerechnet seine Liebe nicht erwidert? Er musste hier raus, frische Luft schnappen. Klerus schlich durch die Gänge bis in die oberirdischen Räume. Sorgsam darauf bedacht von niemandem gesehen zu werden, trat er ins Freie. Die Feste Donnerkopf war manchmal wie ein Gefängnis … König Jalis hatte ihnen verboten, allein hinaus zu gehen. Doch Klerus ignorierte diese Warnung. Er ging hinaus in die Wälder, lief durch den Schnee, spürte die Kälte. Alles war besser, als vor Seiketsu No Akari´s Tür am Boden zu liegen … In diesem Moment fuhr ihm ein höllischer Schmerz durch den Hinterkopf und Klerus hörte ein teuflisches Lachen, während er das Bewusstsein verlor.
 

König Jalis hielt das Pergament mit zitternden Händen fest. Das durfte nicht wahr sein! Die Steingipfel schreckten wirklich vor nichts zurück.

Das Tor zum Thronsaal wurde geöffnet, Seiketsu No Akari und Jabari traten ein.

„Verzeiht die Störung, Eure Majestät.“, begann die Mönchin mit Besorgnis in der Stimme, „Wir … wir können Klerus nicht finden. Er scheint … verschwunden zu sein.“

Jalis Eisenhammer nickte niedergeschlagen: „Seiketsu, Jabari … ich muss euch leider mitteilen, Klerus wurde entführt. Er ist in der Gewalt der Steingipfel. Sie fordern einen Austausch … sonst werden sie ihn töten. Ich habe bis morgen Abend Zeit, mich ihnen auszuliefern. Habt keine Angst, ich werde unseren Freund nicht im Stich lassen. Er steht unter dem Schutz der Deldrimor. Es ist die Pflicht eines König, jedes Mitglied seines Volkes mit seinem Leben beschützen. Im Namen des Großen Zwergs!“

Seiketsu No Akari starrte den Zwerg entsetzt an. Sie wusste nicht, was sie mehr schockierte – dass er sich für Klerus opfern wollte oder dass Klerus wegen ihr gefangen genommen wurde. Klerus hatte ihr seine Liebe gestanden, sie ihn abgewiesen. Daraufhin war er aus der Feste Donnerkopf verschwunden – direkt in die Arme ihrer Feinde. Sie wusste, was Shikon No Yosei in dieser Situation tun würde … Und dasselbe musste sie jetzt auch durchziehen. Nicht nur für König Jalis … sondern vor allem für Klerus!

Sie verließ den Raum mit einer tiefen Verbeugung und zog Jabari dabei hinter sich her. Erst vor ihrem Zimmer blieb sie stehen.

„Ich brauche deine Hilfe.“, eröffnete sie ihm, „Ich werde nicht zulassen, dass König Jalis sich in die Hände der Steingipfel begibt! Das wäre das Ende von Deldrimor … Darum werde ich Klerus befreien und zurückbringen!“

Der Waldläufer zog eine Augenbraue hoch und hakte nach: „Jetzt mal langsam, Kleines … Du willst allein in das Lager unserer Feinde?!“

„Ja. Und ich habe nicht viel Zeit, bis das Ultimatum abläuft.“, erwiderte sie entschlossen.

Jabari sah sie an, als wäre sie von allen guten Geistern verlassen, und meinte: „Das ist purer Selbstmord!“

„Nein, ich komme ganz sicher zurück. Ich sterbe nicht, bevor ich nicht wieder zu Hause bin …“, widersprach sie ihm und sie schaute ihn durchdringend an, „Jabari, du musst den König irgendwie davon abhalten, zu den Steingipfel zu gehen! Er darf von dieser Unternehmung nichts mitbekommen – kann ich mich auf dich verlassen?“

Ihr Blick machte jeden weiteren Widerspruch zunichte. Jabari nickte ergeben und sie lächelte dankbar. Endlich begriff Seiketsu No Akari, warum sich Shikon No Yosei dem Kampf gegen Shiro Tagachi gestellt hatte. Es gab etwas, das sie beschützen wollte …
 

Seiketsu No Akari saß in ihrer gewöhnlichen Haltung an ihrem Schreibtisch. Vor ihr lag ein leeres Blatt Pergament und in ihrer Hand hielt sie ihre Feder. Doch ihr Gesichtsausdruck war anderes, als gewöhnlich. Bisher war es ihr zumeist eine Freude gewesen an Shiko No Yosei zu schreiben, doch nun hatte Seiketsu No Akari Angst vor dem, was sie schreiben würde …

Dann endlich begann sie zu schreiben: „Liebe Shiko … erst vor wenigen Tagen habe ich einen Brief verfasst, mit dem ich mir und dir geschworen habe, nicht aufzugeben. Genauso wie du es nicht getan hast. Ich klammere mich an deinen Mut … in der Hoffnung er möge auf mich übergehen. Du warst stets die große Heldin von uns beiden! Ich war zwar deine >große Schwester<, aber du hast auf mich aufgepasst, mich wieder aufgebaut. Immer. Noch nie habe ich mir so sehr gewünscht, du könntest bei mir sein, wie heute … Es gibt etwas, das ich tun muss. Es fällt mir schwer, darüber nachzudenken … Doch wenn ich es dir, Shiko, nicht anvertrauen kann, dann kann ich es niemand anvertrauen. Wegen mir ist Klerus in die Gewalt unserer Feinde geraten, der Steingipfel-Zwerge. Du fragst dich, warum das meine Schuld sei? Liebeskummer … Ich konnte seine Liebe nicht erwidern. Ich bin dafür verantwortlich, dass er die Feste verlassen hat. Deshalb kann ich nicht zulassen, dass sie ihm etwas antun … oder König Jalis, gegen den er ausgetauscht werden soll. Für Jabari ist es ein wahres >Himmelfahrtskommando< … Aber du kennst mich, Shiko, – ich werde keinen Unschuldigen zurücklassen, niemals! Sonst könnte ich nie mehr an deiner Seite stehen. Nicht als Schwester … und schon gar nicht als Verteidigerin. Trotzdem kann ich nicht gehen, ohne dir diese Zeilen zu schreiben. Jabari habe ich gesagt, ich würde zurückkommen, um jeden Preis. Das will ich – auf jeden Fall! Doch … ich will ehrlich zu dir sein, Schwesterchen, wenn die Rettung nicht schnell über die Bühne geht, dann … bezweifle ich, dass ich aus dem Lager der Steingipfel zurückkehren werde. Ich muss es schaffen, wenigstens Klerus da raus zu bringen … Es tut mir ehrlich leid. Ich habe keine Wahl, Shiko. Früher wollte ich nicht kämpfen, ich wollte nur beschützen. Von dir und deinen Taten habe ich gelernt, dass man manchmal nur beschützen kann, wenn man kämpft … Ich verspreche dir, ich werde nicht aufgeben! Wenn ich untergehe, dann kämpfend! Und … wenn es mein Schicksal ist, sehen wir uns in Shing Jea wieder … Ansonsten warte ich in den Nebeln auf dich! Ich liebe dich, Schwesterchen! Deine Sei“

Sie faltete das Pergament zusammen. Dann schrieb sie Shiko No Yosei´s Namen darauf und öffnete die Schublade mit den anderen Briefen. Doch statt wie sonst den Brief oben drauf zu legen, nahm sie alle heraus und schrieb eine kurze Notiz dazu. Sollte sie nicht in dieses Zimmer zurückkommen, würden die Deldrimor sie nach Cantha schicken und Shikon No Yosei würde die ganze Wahrheit erfahren. Mit diesem Gedanken machte sich Seiketsu No Akari auf den Weg zu ihrer Rettungsmission.
 

„Wo willst du hin, mein Kind?“, erklang die Stimme König Jalis´, als sich Seiketsu No Akari davon stehlen wollte.

Sie fuhr zusammen, schluckte schwer und drehte sich zu ihm um. Hinter dem König standen einigen bewaffnete Soldaten. Und an seiner Seite entdeckte sie Jabari.

„Es tut mir leid.“, meinte der Elonier, „Aber ich konnte nicht schweigen. Du wärst nicht zurückgekommen!“

Fassungslos starrte sie ihn an. Er hatte Jalis in ihren Plan eingeweiht.

„Warum vertraust du dich mir nicht an, Seiketsu?“, wollte er mit Nachdruck wissen, „Du bist so anders, seit Klerus verschwunden ist …“

Das wusste sie selbst. Aber wen würde es schon kaltlassen, dass er einen anderen zum Tode verurteilt hatte? Gut, sie hatte die Entwicklung nicht vorhersehen können … und Klerus zu belügen, nur um seine Gefühle zu schonen, wäre ebenso wenig in Frage gekommen. Trotzdem fühlte sie sich verantwortlich. Sie waren alle Studenten der Deldrimor … eine Gemeinschaft. Es war einfach ihre Aufgabe, ihm zu Hilfe zu eilen.

„Durch Jabari bin ich über alles im Bilde. Glaube mir, es wäre mir eine Freude mich für meinen Schützling eintauschen zu lassen …“, erklärte Jalis Eisenhammer, „Aber ich kenne die Art der Steingipfel. Ich bezweifle, dass sie Klerus wirklich freilassen würden … dazu sind sie viel zu grausam. Du hast mich dazu gebracht, noch einmal in Ruhe über alles nachzudenken, Seiketsu. Und ich stimme dir zu. Wir werden Klerus aus den Fängen dieser verdammten Steingipfel befreien!“

Erleichterung durchströmte Seiketsu No Akari und sie antwortete: „Ich danke Euch von Herzen, König Jalis! Bitte, erlaubt mir diese Mission selbst anzuführen.“

Jalis Eisenhammer begriff sofort, was sich hinter dieser unscheinbaren Bitte verbarg – sie wollte nicht, dass er die Feste Donnerkopf verließ. Seine Berater hatten diesen Wunsch ebenfalls vorgebracht. Zu groß war die Gefahr einer Falle. Aber durfte er als König seelenruhig abwarten, während seine Untertanen sich in Gefahr begaben?

Die junge Mönchin sah ihm direkt in Augen, als sie sagte: „Euer Volk braucht Euch hier in Sicherheit. Vertraut mir, lasst mich für Euch kämpfen … Um das zu beschützen, was mir wichtig geworden ist!“

„Ich werde dich begleiten.“, mischte sich Jabari ein, „Es ist unsere Aufgabe unseren Kameraden zurückzubringen!“

Der Deldrimor gab sich geschlagen: „Ihr dürft nicht an euch zweifeln … sonst werdet ihr scheitern. Die Steingipfel sind gerissen. Ich gebe euch fünf meiner besten Krieger mit. Seid wachsam … und kommt gesund wieder.“

Seiketsu No Akari verbeugte sich und versprach: „Beim Namen von Deldrimor, wir werden Euch sicher nicht enttäuschen!“
 

Der Schnee unter ihren Füßen knirschte. Die Luft hätte eisig sein sollen, doch Seiketsu No Akari spürte es nicht. Sie lächelte. Ihre Schutz- und Heilgebete waren noch nie so stark gewesen. Ihr Aufenthalt bei den Deldrimor hatte sich jetzt bereits gelohnt.

Seiketsu No Akari sah in die Gesichter ihrer Verbündeten, als sie an der Grenze ihres Territoriums angelangt waren und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern: „Wir müssen einen Angriff ihrer Soldaten provozieren. Je mehr wir hier herauslocken können, desto einfacher wird es für Jabari und mich durch ihre innere Verteidigung zu stoßen.“

„Ihr wollt ohne Geleitschutz gehen?“, wiederholte einer der Krieger ungläubig.

Die Mönchin nickte: „So fallen wir weniger auf. Und mit etwas Glück schaffen wir es sogar wieder heil heraus. Habt keine Furcht. Ich glaube an den Schutz Dwayna´s. Und ich vertraue darauf, dass der Großen Zwerg mit uns ist …“

Sie und Jabari versteckten sich hinter einem Felsen, während die Deldrimor mit Kampfgeschrei auf das Lager der Steingipfel zu stürmten. Natürlich hatten diese ihre Konkurrenten längst bemerkt und gingen zum Gegenangriff über. Eine wilde Schlacht nach Zwergenart entbrannte – die Gelegenheit für die beiden Studenten. Ungesehen schlichen sie hinein. Und obwohl Seiketsu No Akari wahrhaft keine Meisterin im Orten von Auren war – Shikon No Yosei war um Welten geschickten darin –, spürte sie die einzelnen Lebenslichter. Davon befand sich nur eine weit unter ihnen, allein.

„Wir müssen einen Weg in die Kerker finden.“, flüsterte die shing Jea.

Der Elonier mit seinem geübten Blick entdeckte in dem zwielichtigen Gang einen Treppe, die nach unten führte. Vorsichtig, um nicht in irgendwelche Fallen zu tappen, stiegen sie hinab.Alles roch modrig, Schleim klebte an den Wänden und Knochen lagen verstreut.

„Soll nochmal einer sagen, die Feste Donnerkopf würde stinken.“, scherzte Jabari.

Der Weg wurde nur vereinzelt von mickrigen Kerzenstummeln beleuchtet. Sie konnten kaum die Hand vor Augen sehen, bis sie um der nächsten Kurve vollkommen von Dunkelheit eingehüllt waren. Da konnte nur noch Magie helfen … Seiketsu No Akari konzentrierte sich auf das Licht in ihrem Innern. Es füllte sie aus, wärmte sie. Und dann schwand die Finsternis. Seiketsu No Akari strahlte regelrecht. Jabari stand der Mund offen so etwas hatte er noch nie gesehen.

„Diesen Zauber habe ich selbst entwickelt …“, meinte sie entschuldigend – genau genommen nachdem sie Shikon No Yosei im Traum gesehen hatte.

In diesem Moment hörten sie einen Ruf: „Hallo?! Ist da jemand? Bitte, helft mir!“

So schnell sie konnten, sprinteten sie die letzten Treppen hinunter und fanden Klerus, der sich an die Gitterstäbe klammerte.

„Seiketsu!“, stieß er erleichtert heraus, „Jabari! Ihr seid gekommen!“

Seiketsu No Akari berührte seine Hand und antwortete sanft: „Wir würden doch keinen Kamerad im Stich lassen! Die Deldrimor kämpfen draußen gegen die Steingipfel. Wir sollten uns beeilen und dich hier rausschaffen. Ich weiß nicht, wie lange sie noch durchhalten werden.“

Das war Jabari´s Stichwort – er nahm einen Dietrich aus der Tasche und brach damit das Kerkerschloss auf. Klerus fiel regelrecht in Seiketsu No Akari´s Arme. Die ständige Dunkelheit hatte ihn beinahe sämtliche Kräfte gekostet. Sie lächelte. Dankbar, dass ihm sonst nichts weiter zugestoßen war.

„Ich trage ihn.“, meinte der Waldläufer und sie half ihm, ihn auf seinen Rücken zu laden.

Der Rückweg dauerte erheblich länger. Klerus hatte das Bewusstsein verloren. Trotzdem stiegen sie die Treppe weiter hoch, ohne einen Laut von sich zu geben. Als sie den beleuchteten Teil erreichte, beendete Seiketsu No Akari ihr Dasein als lebendige Fackel. Nach drei weiteren Kurven traten sie endlich wieder in den Gang hinaus. Und wurden dort von den spitzen Speeren der Steingipfel in Empfang genommen.

„Widerstand ist zwecklos!“, brummte einer der Soldaten, „Lasst den Gefangen zurück und ergebt euch!“

Jabari bewegte sich nicht, er sah Seiketsu No Akari an. Sie schüttelte jedoch den Kopf, war nicht bereit einfach aufzugeben. Das Leuchten hatte ihre Magie ausgezehrt, es waren ihr kaum noch Reserven geblieben. Dennoch sammelte sie sich noch ein letztes Mal und flutete alles in einem heiligen Licht, das ihre Feinde verbrannte.

„Lauf´, Jabari!“, hauchte sie, als sie zusammenbrach, „Rettet euch …“
 

Seiketsu No Akari spürte Wärme um sich herum. Wie einfach es doch wäre, sich wieder fallen zu lassen und allem zu entfliehen … Aber nun da ihr Bewusstsein erwacht war, kehrte auch die Erinnerung zurück. Sie hatte ihre gesamte Magie verbraucht. Um Jabari und Klerus die Flucht zu ermöglichen … Erschrocken riss sie die Augen auf. Sie wusste nicht, wo sich befand – dies war nicht ihr Zimmer in der Feste Donnerkopf. Wie war der Kampf ausgegangen? Wo war sie? War das Unterfangen erfolgreich gewesen? Sie brauchte Antworten.

„Du bist endlich wach, mein Kind. Gut, dein Körper hat neue Magie gebildet.“, begrüßte König Jalis sie, der an ihrem Bett saß.

Seiketsu No Akari schluckte und erwiderte: „Verzeiht mir. Ich habe Euch enttäuscht, mein König. Ich konnte die Mission nicht zu Ende führen … Aber bitte, sagt mir, was geschehen ist. Ist Klerus befreit worden? Wie lange war ich ohne Bewusstsein?“

„Langsam, mein Kind. Du brauchst noch Ruhe. Und zunächst einmal möchte ich dir sagen, dass du mich ganz und gar nicht enttäuscht hast! Ich bin sehr stolz auf dich. Stolzer, als jemals zuvor. Jabari hat mir von deinem Einsatz berichtet.“, antwortete König Jalis ruhig, „Bevor du ohnmächtig wurdest, hast du ein Peingebet verwendet, nicht wahr? Es hat die Steingipfel … gelinde gesagt, aus dem Weg geräumt. Gleichzeitig heilte es deine beiden Kumpanen. Klerus hat dich hinausgetragen, Jabari beendete dort die Auseinandersetzung zwischen unseren Soldaten und den restlichen Steingipfeln. Ach ja, da fällt mir ein – Klerus hat sich lang und breit bei mir entschuldigt. Er schämt sich für seinen Leichtsinn, seine Unvernunft. Und er macht sich Vorwürfe, weil du dich wegen ihm in Gefahr gebracht hast. Während deiner dreitägigen Bewusstlosigkeit kam er immer wieder her, um nach dir zu sehen. So, ich glaube, damit sind deine Fragen beantwortet.“

Seiketsu No Akari hatte König Jalis schweigend angehört. Sie krallte sich in ihr Bettlaken. Es war ungerecht. Wieso hatte sich Klerus ausgerechnet in ein Mädchen verliebt, dass seine Liebe nicht erwidern konnte? Das hatte er nicht verdient … Doch sie konnte ihn nicht lieben, auch wenn sie es sich in diesem Augenblick wünschte. Zum ersten Mal in ihrem Leben sehnte sich ein winziger Teil von ihr nicht nach Shing Jea zurückzukehren.

„König Jalis, eine Frage gäbe es da noch …“, wechselte sie das Thema, um auf andere Gedanken zu kommen, „Wo sind wir hier eigentlich? Dies ist nicht die Feste Donnerkopf.“

Ein trauriger Ausdruck legte sich auf das Gesicht des Herrschers, als er erzählte: „Nein, das ist sie nicht … Wir sind in einem Haus in Droknar´s Schmiede. Nachdem ihr losgezogen wart, meinten meine Berater, ich solle mich aus dem Palast zurückziehen. Gestern haben meine Späher die Nachricht gebracht, dass sich Dragnar in der Feste breitgemacht habe! Er hat uns tatsächlich den Krieg erklärt. Diesmal wird er büßen – das schwöre ich beim Großen Zwerg!“

So aufgewühlt hatte Seiketsu No Akari den König noch nie erlebt. Dies war bitterer ernst. Die Hallen seiner Vorfahren waren ihm heilig.

Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, klang seine Stimme so ernst, wie noch nie: „Seiketsu … wie du weißt, waren wir schon immer mit den Steingipfeln verfeindet, aber bislang hielten sich die Auseinandersetzungen in Grenzen. Nun haben sie eine Schwelle überschritten, nach der ich keine Gnade mehr walten lassen kann … Ich habe bereits mit Klerus und Jabari gesprochen. Jetzt muss ich dich fragen. Seiketsu, du wurdest nicht in das Volk der Deldrimor geboren … deshalb stelle ich es dir frei, kämpfst du in diesem Krieg an unserer Seite … oder kehrst du in deine Heimat zurück?“

Seiketsu No Akari benötigte einige Sekunden, bis sie seine Frage verdaut hatte. Sie konnte nach Hause, endlich … König Jalis gab ihr die Möglichkeit dem Krieg zu entfliehen. Sie musste nicht kämpfen. Aber … konnte sie auch? So einfach abhauen, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern? Wurde sie hier im Augenblick nicht mehr gebraucht? Und Klerus und Jabari waren doch gerade erst wirkliche Freunde geworden.

„Ich danke Euch, König Jalis, dass Ihr mir die Wahl lasst.“, kam es leise von Seiketsu No Akari, dann hob sie ihren Blick, „Shing Jea ist und bleibt meine Heimat. Dort lebt meine Familie, die auf mich wartet … Und das werden sie so lange, bis ich mein Studium hier beendet habe! Ich lasse die Deldrimor nicht im Stich! Denn … die Südlichen Zittergipfel sind inzwischen auch meine Heimat und die Zwerge meine zweite Familie!“

Lächelnd berührte Jalis Eisenhammer ihre Wange. Unendlicher Stolz lag in seinem Blick.

Ein Klopfen lenkte ihre Aufmerksamkeit zur Tür – Brechnar Eisenhammer, Jalis Bruder, trat ein.

„Dem Großen Zwerg sei Dank, Ihr seid wach! Ganz Deldrimor war in Sorge um Euch!“, sagte der Krieger, was der Mönchin die Röte ins Gesicht trieb, „Und genau zum richtigen Zeitpunkt! Bruder, deine Gäste sind wieder da.“

Über Seiketsu No Akaris Kopf erschien ein imaginäres Fragezeichen, das Jalis Eisenhammer zum Lachen brachte: „Ja, es gab auch etwas Erfreuliches, während du bewusstlos warst. Bruder Mhenlo hat Deldrimor mit zwei seiner Verbündeten um Hilfe gebeten. Und ich bin sicher, du kennst sie …“
 

Im größten Raum des Hauses empfing Jalis Eisenhammer Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Bruder Mhenlo, die zusammen mit einer handvoll Deldrimor die Anführerin der Glänzenden Klinge aus der Gewalt der Mursaat und des Weißen Mantels befreit hatten. Die niederträchtige Organisation mit ihren sogenannten Unsichtbaren Göttern beschmutzten bereits seit einigen Wochen das Territorium der Zwerge.

„Meine Freunde! Wie schön, dass Ihr zurück seid!“, rief der König freudig aus, „Euren lächelnden Gesichtern nach zu urteilen, war Euer Unterfangen erfolgreich. Sehr schön … sehr schön.“

Seiketsu No Akari, die hinter dem provisorischen Thron kniete, lächelte in sich hinein, da begann Shikon No Yosei zu sprechen: „Ja, das war es, Eure Majestät. Wir hoffen nun eine größere Chance gegen unsere Feinde zu haben.“

„Ja, ja. Sicherlich, sicherlich. Aber während Euer Abwesenheit haben meine Späher den Aufenthaltsort dieser dreckigen Steingipfel herausgefunden. Sie haben – unfassbarerweise, wirklich einfach unfassbar – meinen Palast, die Feste Donnerkopf besetzt! Sie sind endgültig zu weit gegangen! Sie werde büßen! Deshalb fordere ich jetzt Eure Hilfe!“, erzählte der König, der sich schon wieder aufzuregen drohte.

Die Mönchin konnte Shikon No Yosei´s leichte Erheiterung heraushören: „Selbstverständlich stehen wir Euch zur Verfügung, König Jalis. Ich werde nicht eher ruhen, bevor die Steingipfel von Eurem Eigentum vertrieben sind …“

Das war ihr Stichwort: „Also, jetzt mal ehrlich ... Du hast dich wirklich kein bisschen geändert, Shiko. Aber dein Mut und deine Entschlossenheit erstaunen mich trotzdem immer wieder.“

Seiketsu No Akari trat aus ihrem Versteck heraus. Die Augen ihrer Seelen-Schwester weiteten sich, sie weinte. Und auch ihre Freude schwappte über ihre Augenränder. Beide bissen sich auf ihre Unterlippen. Eine eklektische Spannung lag in der Luft. Shikon No Yosei breitete sie Arme aus – kaum eine Sekunde später lagen sich die beiden Frauen in den Armen.
 

So kam es, dass Seiketsu No Akari für den Kampf gegen die Mursaat, die Titanen und schlussendlich den Untoten Lich, der von Anfang an alle Fäden in Händen gehalten hatte, wieder an der Seite von Shikon No Yosei stand – wenn auch nur kurzzeitig. Denn wie sie König Jalis versprochen hatte, blieb die junge Mönchin in Tyria, als sich die beiden Helden auf den Rückweg nach Cantha machten. Für die Deldrimor liegt der eigentliche Krieg noch vor ihnen … Und Seiketsu No Akari, Klerus und Jabari werden gemeinsam alles dafür tun, um die Südlichen Zittergipfel zurückzugewinnen.

Bis das Schicksal sie irgendwann wieder in ihre Heimat führen wird …

Zwischenspiel 01: Ohtah in Lebensgefahr

Die schwerste Entscheidung

Shikon No Yosei durchschritt das Tor zum Linnok-Hof. Die junge Mönchin Jamei erwartete sie bereits. Jamei hatte nach Meister Togo´s Tod seine Nachfolge – sprich die Führung des Klosters – übernommen. Und galt somit die inoffizielle Vorgesetzte der Verteidigerin von Cantha und Shing Jea. Direkt nach Kaiser Kisu. Nur kamen die beiden Frauen nicht wirklich miteinander zurecht – Jamei war einfach nicht wie ihr Meister, den sie so sehr bewundert hatte, und genau diese Anzweiflung ihrer Autorität verbesserte die Beziehung nicht gerade.

„Ihr habt nach mir gerufen, Meisterin Jamei.“, sagte die Shing Jea mit einer knappen Verbeugung.

Die Braunhaarige nickte ernst: „So ist es, Shikon. Ihr hattet in den letzten Wochen bereits großen Erfolg im Kampf gegen die Befallenen … doch heute Morgen erreichte das Kloster eine dringende Nachricht aus der Gemeinde Linkei, welche in der Nähe der Haiju-Lagune liegt. Dort soll eine gewaltige Gruppe Befallener rebellieren und die Dorfbewohner in Angst versetzen.“

„Ohtah und ich werden uns natürlich sofort darum kümmern.“, antwortete Shikon No Yosei entschlossen.

Mit einem sanften Lächeln erwiderte sie: „Ihr werdet aber nicht alleine gehen. Ich gebe Euch vier Schüler zur Unterstützung mit. Wir dürfen keinesfalls eine Niederlage riskieren.“

Shikon No Yosei verbeugte sich abermals, bevor sie den Linnok-Hof verließ. Dabei versuchte sie die leichte Wut zu unterdrücken, die in ihr aufstieg. Jamei vertraute noch immer nicht auf ihre Fähigkeiten als Verteidigerin … Wieder spürte sie den Stich im Herzen. Nicht, dass sie eingebildet war – aber sie und ihr Liebster hatten schließlich Shiro Tagachi sowie den Untoten Lich besiegt.
 

Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und die vier Schüler des Klosters nahmen den Saoshangweg zum Hafen von Seitung und gingen von dort aus durch die verschneiten Jaya-Klippen. In der Haiju-Lagune angekommen, machten sich die kleine Gruppe auf die Suche nach den Befallenen. Sie durchquerten eine Höhle und entdeckten auf der anderen Seite ein weites Feld, das sich vor ihnen erstreckte. Die Schüler wollten es betreten, aber Ohtah Ryutaiyo stellte sich ihnen in den Weg.

Er sah sich um und flüsterte: „Ihr dürft nichts unüberlegtes tun. Begebt euch nie unbedacht auf feindliches Territorium. Und nun seht genau hin …“

Die Schüler folgten seinem Blick und fuhren vor Schreck zusammen. Am anderen Ende des Feldes lagerten die Befallenen, die es zu vernichten galt.

„Es gibt etwas, das ihr niemals vergessen dürft, wenn ihr gegen Befallene kämpft.“, meldete sich Shikon No Yosei ebenso leise zu Wort, „>Niemand wird wirklich freiwillig zum Monster.< Alles, was wir noch für sie tun können, ist, sie von diesem Schicksal zu erlösen und ihre Seelen in die Nebel zu schicken … Auch ich habe diese Lektion lernen müssen“

Ohtah Ryutaiyo verkniff sich ein Lachen und meinte: „Nicht zu vergessen, dass unsere große Heldin hier, genau wie ihr auch einst nur eine einfache Schülerin des Klosters war.“

„Die nur aufgrund deiner wunderbaren Hilfe überleben konnte … Ja, ja. Ich weiß.“, scherzte die Elementarmagierin, wurde anschließend aber schlagartig wieder ernst, „Ab jetzt heißt es absolute Konzentration – wir dürfen ihnen keine Möglichkeit zur Flucht lassen!“

Auf den Gesichtern der Schüler breitete sich ein kleines Lächeln aus. Ohtah Ryutaiyo zog seine Dolche und Shikon No Yosei tat den ersten Schritt auf das Feld hinaus. Der geschickte Assassine rannte in geduckter Haltung an seiner Geliebten vorbei, direkt auf die Befallenen zu. Derweil gingen die Schüler und Shikon No Yosei in Angriffsposition.

„Angriff!“, rief die schöne Shing Jea, als die ersten Befallenen durch die gezielten Giftpfeile starben.

Die Schüler schlugen sich tapfer. Es war ihr erster, richtiger Kampf außerhalb des Klosters, der sie auf eine harte Probe stellte. Jamei sollte allerdings Recht behalten – trotz aller Schwierigkeiten waren sie eine große Hilfe. Der Kampf neigte sich bereits dem Ende entgegen, als der Letzte verbliebene Befallene, ebenfalls ein Assassine plötzlich einen Schattenschritt auf Shikon No Yosei zu machte. Seine Waffe schwebte drohend über ihr. Sie war so von der Attacke überrumpelt, dass ihr magischer Schutz versagte. Aber nicht nur sie selbst war überrascht, auch die Schüler waren wie erstarrt. Der Dolch des Befallenen sauste auf die Elementarmagierin herab. Im letzten Moment warf sich Ohtah Ryutaiyo – ebenfalls via Schattenschritt – vor Shikon No Yosei. Schwer verwundet brach der canthanische Assassine zusammen.

„OHTAH!“, schrie Shikon No Yosei erschrocken und wurde durch den Schock zurück ins Kampfgeschehen katapultiert.

Gnadenlos feuerte sie einen Feuerball direkt auf das Herz des Befallenen, der zu einem Haufen Asche verkohlte.

Anschließend sank sie neben ihrem bewusstlosen Liebsten zu Boden und ließ ihrer Verzweiflung freien Lauf: „Ohtah, bitte! Du darfst nicht sterben! Hörst du? Bleib´ bei mir! Bitte! Warum hast du das nur getan? Du verdammter Idiot! Was soll ich denn ohne dich machen? Ich brauche dich! Ich liebe dich, Ohtah! Bitte! Bitte, du darfst nicht sterben!“

Unter Tränen riss sie einen Stoffstreifen von ihrer Kleidung ab und versuchte damit die Blutung der Wunde zu stillen. Die Farbe wich bereits aus seinem Gesicht.

Einer der Schüler aus dem Kloster räusperte sich leise und meinte: „Meisterin Jamei wird ihm sicher helfen können. Wir müssen ihn schnellstmöglich ins Kloster bringen.“

Mehr als ein knappes Nicken brachte sie nicht zustande. Auf einem Wink hin, formte sich eine Trage aus Erde und Gestein. Im Stillen wünschte sich Shikon No Yosei, Seiketsu No Akari könnte jetzt bei ihr sein … oder zumindest Bruder Mhenlo.
 

Nach einem erschwerten Rückweg erreichten die Gruppe das Kloster von Shing Jea, welches sofort die Leiterin verständigte.

„Ohtah wurde … von einem Befallenen verwundet.“, erklärte Shikon No Yosei verstört, „Er … hat mich beschützt. Es ist meine Schuld …“

Jamei legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter und sprach: „Ich werde alles in meiner Machtstehende tun, um ihm zu helfen. Das verspreche ich Euch, Shikon.“

Die Schüler, die seine Trage trugen, folgten ihr so behutsam wie möglich. Nur Shikon No Yosei blieb zurück, während ihre Beine langsam nachgaben.

„Meisterin Jamei ist erfahrener als Seiketsu. Ihre Heilkraft ist ausgereifter. Trotzdem … könnte sie dir sicher etwas geben, was sonst niemand kann. Hoffnung … Kraft.“, sprach sie auf einmal ihre Tante an, die sich ihr langsam genähert hatte, „Seiketsu war stets deine Schwester, mich dagegen hast du nie als deine Mutter … nicht wahr? Und ja, das ist gut so – ich bin nicht Kai. Du bist ihre Tochter und deshalb glaube ich, dass du genau weißt, was zu tun ist … wenn der schlimmste Fall eintritt.“

Die Rothaarige wollte sie schon fragen, was sie damit meinte – dann jedoch traf sie die Erkenntnis von selbst. Ohtah Ryutaiyo war nicht einfach nur schwer verwundet … er war von einem Befallenen vergiftet worden. Wenn er dieser Verletzung erlag, würde ihm dasselbe geschehen wie einst Minister Cho bei ihrer ersten Mission mit Meister Togo …

„Egal, wie weit Sei und ich voneinander getrennt sein mögen, sie ist immer bei mir … Ich habe ihr versprochen, dass wir Cantha eines Tages gemeinsam verteidigen werden.“, antwortete sie entschieden, „Doch noch gebe ich Ohtah nicht auf! Denn auch er hat mir etwas geschworen …“
 

Einige Zeit später verließ Jamei das Behandlungszimmer, in dem Ohtah Ryutaiyo untergebracht war, und ging mit vorsichtigen Schritten zu Shikon No Yosei, die sich nach dem Gespräch mit Adeptin Bishu ebenfalls in den Krankenflügel begeben hatte.

„Wie geht es ihm, Meisterin Jamei?“, wollte sie sofort wissen.

Die junge Leiterin des Klosters wich ihrem Blick aus und antwortete: „Ich werde ehrlich zu Euch sein, Shikon – das Gift des Befallenen hatte sich bereits weitläufig verteilt und er hat eine Menge Blut verloren ... Ich weiß nicht, ob er die nächsten Stunden überleben wird. Und ... nun ja ... Ihr wisst wohl selbst am Besten, was dann geschehen wird.“

Die Elementarmagierin nickte, ohne eine Stück Unsicherheit und trat an das Lager ihres Liebsten heran. Als er nach ihrem Sieg über Shiro Tagachi in die Unterstadt verschwunden war, hätte sie selbst ihr Amt niedergelegt, um wieder mit ihm zusammen sein zu können … Es wäre für sie eine schier unmögliche Entscheidung zwischen Ohtah Ryutaiyo und Cantha. Nichtsdestotrotz gerade weil Meister Togo Shikon No Yosei dazu auserkoren hatte, kannte sie ihre Pflicht genau. Sie berührte den herzförmigen Anhänger an ihrem Hals. Bishu mochte recht haben – in ihr lebte der Geist ihrer Mutter, die Shing Jea ebenso sehr geliebt hatte. Aber noch mehr liebte sie Ohtah Ryutaiyo …

„Ich brauche dich, Ohtah. Du darfst mich nicht verlassen – bitte … tu´ mir das nicht an! Wir sind die Verteidiger von Cantha und ja, es war seit jeher mein größter Wunsch, für meine Heimat zu kämpfen. Doch jetzt … Ich glaube an dich, Ohtah! Hörst du? Du hast mich unzählige Male gerettet – ich weiß, du hast die Kraft, um zu mir zurückzukommen!“, redete die Rothaarige ihm zu, während sie seine Hand hielt, und begann dann zu beten, „Teinai, bitte, verweigere ihm den Zutritt zu den Nebeln … Die Götter mögen ihm beistehen! Und mir … Ich kann keinem Befallenen erlauben, hier im Kloster zu wüten … deshalb flehe ich euch an, bewahrt ihn vor diesem Schicksal!“

Langsam senkte sich ein goldrotes Licht über der Insel. Sie blinzelte ein paar Mal. Zunächst erschien es, als würde sich die untergehende Sonne auf seinem Gesicht spiegeln, doch beim genaueren Betrachten stellte die Elementarmagierin fest, dass seine Wangen wieder an Farbe gewonnen. Ein leises Stöhnen verstärkte den Fluss ihrer Tränen. Die Luft blieb Shikon No Yosei im Hals stecken, als sein Blick durch den Raum wanderte, bis er endlich ihren fand.

„Shiko …“, flüsterte er kraftlos.

Sie rückte ein wenig näher und erwiderte beruhigend: „Ja, ich bin hier. Ich bin hier. Du hast es geschafft, Ohtah …“

„Ja … du lebst. Ich habe meine Aufgabe … ein weiteres Mal erfüllt.“, meinte der geschickte Assassine und schloss die Augen, „Du ... warst diejenige ... die mich aus ... der Dunkelheit ... gerettet hat. Du bist diejenige, die ... die ich ... liebe. Deshalb werde ... werde ich dich ... für immer ... beschützen ... Mit meinem Leben ... beschützen. Das verspreche ich dir ...“

Genau das zeichnete Ohtah Ryutaiyo aus. Allein ihr Leben zählte für ihn, das wusste sie … einerseits liebte Shikon No Yosei ihn dafür und gleichzeitig hasste sie es. Denn wenn er ihretwegen wirklich sterben würde, könnte sie das nicht ertragen. Diesmal hatte ihn erneut seine Ausbildung bei den Am Fah gerettet, bei der sein Körper kontinuierlich verschiedenen Giften ausgesetzt wurde, um ihn fast vollkommen immun dagegen zu machen … Doch irgendwann wäre sie es – egal, zu welchem Preis!
 

In den darauffolgenden Wochen erholte sich Ohtah Ryutaiyo´s Körper vollständig von den Auswirkungen des Giftes. Einzig eine Narbe am Arm und die schreckliche Erinnerung blieben zurück. Genauso wie Shikon No Yosei´s Wunsch, welcher in ihrem Herzen weiterlebte …

Buch 03: Von Legenden, Göttern und Finsternis

Hilfe für die Sonnenspeere

Neben dem südlichen Kaiserreich Cantha und dem zentral gelegenen Großreich Tyria existierte im Osten noch ein weiterer Kontinent dieser Welt. Elona, das Land der goldenen Sonne … Ein Land der Schätze und Reichtümer. Ein Land der Helden. Ein Land, beschützt von seinen Hütern – dem Orden der Sonnenspeere. Doch nun bedrohte ein Schatten das Land. Der Schatten eines alten und vergessenen Feindes. Die Finsternis brach an. Die Zeit der Fünf Götter endete …

Noch wusste man in Cantha und auf Shing Jea nichts von dieser Finsternis und das Leben dort ging seinen gewohnten Gang. Im Kloster wurden neue Schüler aufgenommen und ausgebildet. Im Dorf Tsumei genoss man den Frieden und die Sicherheit, welche durch die Verteidiger gewährleistet waren. Jene Verteidiger waren Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo, die sich zur Zeit auf Wunsch des Kaisers in der Hauptstadt Kaineng aufhielten.

Kaiser Kisu lächelte und sprach: „Ich danke Euch, dass Ihr gekommen seid. Dank Eurer Bemühungen ist das Land von den Befallenen befreit! Ihr macht Eurem Ruf alle Ehre … Leider ist diese meine Freude nicht der einzige Grund für Eurer Kommen. Vor einigen Tagen erreichte ein Schiff unseren Hafen. Es brachte einen Hilferuf mit sich … Ruft die Speermarschall herein!“

Das Tor zum Thronsaal öffnete sich. Eine Frau trat ein, die eine weiße Rüstung und einen Flügelhelm auf dem Kopf trug. Besonders auffällig war ihre dunkle Hautfarbe, welche in Cantha oder Tyria für gewöhnlich nicht vorkamen – nur für Bewohner der östlichen Region war dies ein typisches Merkmal.

„Ich grüße Euch.“, sagte die Frau und verbeugte sich leicht vor Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo, „Mein Name ist Kormir. Ich bin die Anführerin des Ordens der Sonnenspeere.“

Die Elementarmagierin erwiderte die Verbeugung und bat: „Berichtet uns von Eurem Problem.“

„Gerne. Mein Land Elona ist ein vielschichtiges Land. Die vier Zonen, in die es eingeteilt ist, unterscheiden sich sehr. Bisher lebten die Bürgen friedlich nebeneinander. Doch jetzt ist unser Land ist in Gefahr und die Sonnenspeere können es nicht alleine retten. Die Fünf Götter haben sich von uns abgewendet …“, erzählte Kormir mit Trauer in der Stimme, „Deswegen kam ich hierher. Denn selbst in Elona spricht man von Euch und Euren Taten, Shikon No Yosei. Ich bitte Euch, kommt mit mir und helft mir die Finsternis abzuwenden!“

Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo sahen sich an. Sie nickten. Sie konnten niemandem ihre Hilfe verweigern, der so verzweifelt klang.

„Wir werden Euch helfen, Speermarschall Kormir.“, antwortete der Assassine und wandte sich anschließend an den Kaiser, „Seid unbesorgt, Hoheit … Shiko beschütze ich mit meinem Leben!“
 

Das Schiff legte ab. Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo sahen mit melancholisch wehmütigem Blick zur Küste.

„Unsere dritte, große Reise.“, sagte der Assassine und legte seine Arme um sie.

Sie lehnte sich an seine Brust, bevor sie flüsterte: „Unser dritter Kampf. Aber … solange du bei mir bist, Ohtah … solange du bei mir bist, habe ich keine Angst. Ich werde immer weiterkämpfen.“

Shikon No Yosei drehte sich in seiner Umarmung herum und küsste ihn sanft.

Kormir räusperte sich leise und meinte: „Ich möchte Euch nicht stören, aber ich habe noch eine Aufgabe als Speermarschall zu erledigen. Dürfte ich Euch bitten niederzuknien?“

Lächelnd kamen sie der Aufforderung nach und die Paragon sprach mit geschlossenen Augen: „Ich möchte den Fünf Göttern zwei neue Beschützer Elona´s vorstellen und sie um ihren Segen bitten. Balthasar, Gott des Krieges und des Feuers, verleih´ ihnen deine Stärke … Dwayna, Göttin des Lebens und der Luft, verleih´ ihnen ein Gefühl für ihre Mitmenschen … Grenth, Gott des Todes und des Wasser, verleih´ ihnen ein Gespür für Gerechtigkeit … Melandru, Göttin der Natur und der Erde, verleih ihnen innere Harmonie … Lyssa, Göttin der Schönheit und der Energie, verleih´ ihnen Inspiration im Kampf gegen jene, die sich ihnen und Elona entgegen stellen … Ich, Kormir, Anführerin des Ordens der Sonnenspeere, ernenne Euch, Shikon No Yosei, und Euch, Ohtah Ryutaiyo, zu Sonnenspeer-Kastellanen. Somit habt Ihr Befehlsgewalt über die alle Truppen unseres Ordens.“

Von dieser Ehrung überwältigt, erwiderten sie wie aus einem Mund: „Wir werden Euer Vertrauen nicht enttäuschen. Elona wird nicht von der Finsternis verschlungen werden!“
 

Es wurde eine lange Fahrt. Über zwei Wochen waren vergangen, seit das Schiff die Küste Cantha´s hinter sich gelassen hatte.

An diesem Morgen rief die Wache im Ausguck endlich: „Land! Land in Sicht! Istan liegt vor uns!“

Istan war die Provinz, in der das Hauptquartier der Sonnenspeere lag. Es war eine Insel, die fast doppelt so groß war wie Shing Jea, aber ebenso voller Wunder steckte. Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo eilten zu Kormir, die bereits im Bug stand. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Verständlich, wenn man bedachte, wie lange sie ihre Heimat nicht mehr gesehen hatte. Ein neues Land, ein neues Abenteuer, ein neuer Kampf, neue Freunde, neue Verbündete und neue Feinde warteten auf die beiden canthanischen Helden. Doch gemeinsam fühlten sie sich stark genug um diese neue Herausforderung zu meistern.

Ein paar Stunden später legte das Schiff am Sonnenhafen an. Eine junge Frau, die schätzungsweise in etwa dasselbe Alter hatte wie Shikon No Yosei, winkte der Speermarschall eifrig.

„Kormir! Kormir! Es ist etwas schreckliches geschehen! Varesh Ossa´s General Morgahn-“, rief die junge Frau aufgeregt.

Kormir legte ihr die Hände auf die Schultern und sagte: „Beruhige dich, Tahlkora. Was genau ist in meiner Abwesenheit vorgefallen?“

„Varesh hat sich mit Dämonen eingelassen! Sie steht mit dem dunklen Gott im Bunde! Mit Abaddon!“, erklärte Tahlkora kein bisschen ruhiger, „Das Apokryphum wurde erweckt! Morgahn hat den Ältestenrat einberufen! Er fordert in Varesh´s Namen die Bestrafung der Sonnenspeere, weil sie sich gegen die kournischen Soldaten zur Wehr gesetzt haben.“

Mit einer deutlichen Blässe im Gesicht wollte die Paragon wissen: „Wo sind sie? Im Konsulat?“

„Ja. Die Verhandlungen haben vor knapp einer Stunde begonnen. Als ich hörte, dass Euer Schiff gesichtet wurde, kam ich sofort hierher um Euch zu informieren.“, erwiderte die Mönchin.

Das sanfte Lächeln kehrte auf Kormirs Gesicht zurück und sie bestätigte: „Das hast du sehr gut gemacht, Tahlkora. Ich danke dir vielmals.“

Dann wandte sie sich in ernster Stimmlage an ihre Begleiter: „Ich muss meine Sonnenspeere verteidigen und eine Katastrophe verhindern. Würdet Ihr mich begleiten?“

Nun umspielte die Lippen der Elementarmagierin ein Lächeln. Der Assassine wiederum zog lediglich eine Augenbraue nach oben, so als könne er nicht glauben, dass Kormir ihnen wirklich diese Frage stellte.

Aber da ein letzter Funken Zweifel in ihrem Blick blieb, meinte Shikon No Yosei: „Natürlich werden wir mit Euch gehen. Aus diesem Grund sind wir schließlich hierher gekommen. Wir werden Euch helfen Elona und die Sonnenspeere zu retten!“

So eilten sie die Stufen des Piers hinauf, hinein in die Hauptstadt Kamadan und auf direktem Wege zu dem großen, imposanten Gerichtsgebäude. Kraftvoll stieß die Paragon das Tor zum Konsulat auf – drinnen waren vier Männer und eine Frau heftig am Diskutiere, zwei weitere Personen sahen schweigend zu.

„Was geht hier vor, Ältester? Wieso stehen meine Sonnenspeere vor Gericht?“, wollte sie aufgebracht wissen.

Ein Mann, der ebenfalls zur Klasse der Paragone gehörte, antwortete: „Eure Gefolgsleute haben einige absurde und haltlose Anschuldigungen gegen meine Herrin erhoben.“

„Schweigt, General Morgahn! Ich habe nicht mit Euch gesprochen!“, erklärte Kormir beinahe wütend, „Ich weiß aus erster Hand, dass diese Anschuldigungen gegen Varesh Ossa weder absurd noch haltlos sind! Als Anführerin des Ordens der Sonnenspeere verlange ich, dass Kriegsherrin Varesh Ossa zurücktritt und sich einem Urteil des Ältestenrates stellt!“

Ohne Erwiderung oder Einhaltung der Höflichkeit verließ General Morgahn augenblicklich das Konsulat. Er war sichtlich außer sich und würde nach Gandara zurückkehren, einer Stadt in der Provinz Kourna, um dort Kriegsherrin Varesh Ossa zu berichten. Auch Kormir verließ gefolgt von Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Tahlkora und ihren anderen Untergebenen das Konsulat. Sie erteilte den Befehl, alle verfügbaren Sonnenspeere sofort zu versammeln.
 

Gegen Abend war es soweit. Kormir trat den Sonnenspeeren gegenüber. Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo flankierten sie.

Kormir erhob ihre Stimme für eine Rede an die Mitglieder ihres Ordens: „Ich habe euch etwas wichtiges mitzuteilen. Wir stehen am Rande der Finsternis … Am Rande eines Krieges … Doch wir verkörpern das Licht der Sonne, das über die Dunkelheit und ihre Schatten siegen wird! Ein Sonnenspeer kämpft nie allein! Auf zum Sieg über Varesh Ossa und die Dämonen Abaddon´s!“

„Für Elona!“, schrien die Anwesenden wild durcheinander.

Stolz winkte die Speermarschall vier ausgewählte Sonnenspeere zu sich und sagte: „Freunde, hiermit stelle ich euch die neuen Befehlshaber unseres Ordens vor – Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo, Helden aus dem weit entfernten Cantha. Auf Seiten der Sonnenspeere Dunkoro, unser Meisterstratege … Koss, unser stärkster Kämpfer … Melonni, unsere Fachfrau für Strategie … und Tahlkora, unseren fleißigen Neuzugang, kennt Ihr ja bereits.“
 

Begegnung mit Varesh Ossa

Am nächsten Morgen betraten Kormir, Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo in Begleitung von Dunkoro erneut das Konsulat, indem der dreiköpfige Ältestenrat bereits versammelt war.

Der Älteste Suhl empfing sie mit den Worten: „Kormir, warum habt Ihr die Sonnenspeere versammelt? Varesh hat Eure Vorwürfe abgestritten und Eure Gefolgsleute aus Kourna verbannt.“

„Das hatte ich befürchtet.“, erwiderte die Paragon, „Ab sofort sind Varesh Ossa und ihre Anhänger Feinde von Elona!“

Dunkoro nickte und erklärte: „Wir müssen nach Gandara segeln und sie aufhalten!“

„Und zwar bevor es zu spät ist! Dabei wären istanische Schiffe sehr hilfreich.“, fügte Kormir hinzu.

Skeptisch meinte der Älteste mit hochgezogener Augenbraue: „Ihr wollt einen Bürgerkrieg beginnen? Zuvor sollten wir der Diplomatie eine Chance geben …“

„Varesh stellt eine Bedrohung für Elona und seine Bürger dar!“, mischte sich Shikon No Yosei plötzlich ein, „Es ist unsere Pflicht als Sonnenspeere, das Land zu schützen!“

„Ihre Pflicht werden meine Sonnenspeere mit oder ohne Eure Hilfe erfüllen, Ältester.“, bestätigte die Speermarschall und legte eine kleine Pause ein, „Wird uns die Istani-Flotte unterstützen?“

Der Älteste Suhl tauschte einen Blick mit seinen beiden Beratern und stimmte schließlich zu: „Ja, das wird sie. Mögen uns die Fünf Götter beistehen!“
 

Die Überfahrt nach Gandara gelang Dank der istanischen Unterstützung problemlos. Das eigentliche Problem lag jedoch noch vor den Sonnenspeeren. Kormir entschied sich, die Vorhut selbst anzuführen. Koss und ein paar handverlesene Kämpfer begleiteten sie. Ihre Aufgabe bestand darin, die Lage auszukundschaften und der Haupttruppe Bescheid zu geben, die aus Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Dunkoro und der Armee der Sonnenspeere bestand. Tahlkora und Melonni übernahmen die Nachhut, welche dafür Sorge zu tragen hatte, dass die Kournier nicht fliehen konnten. Doch trotz Planung, Ausstattung und Vorbereitung war die Besetzung der Mondfestung ein Schock für die Sonnenspeere. Hunderte Kournier unter Waffen waren bereit zum Kampf. Nach Stunden erreichte die Haupttruppe die Botschaft, Kormir habe Varesh Ossa auf dem großen Platz in der Mitte der Festung umzingelt. Selbstverständlich eilten die Sonnenspeere, unter der Führung von Shikon No Yosei, ihr sofort zur Hilfe.

„Ich danke Euch für Euer Kommen.“, begrüßte die Speermarschall sie und machte eine ausholende Geste, „Sonnenspeere, macht euch bereit! Verschont sie, wenn sie sich ergeben, und jetzt vorwärts!“

Langsam rückten die Kämpfer des Ordens vor und umzingelten Varesh Ossa, samt ihrer Anhänger.

Mit einem triumphierenden Lachen sprach die Kriegsherrin: „Narren! Eure Götter sind schwach … Doch mein Gott verleiht mir Stärke! ABADDON!“

Ein dunkelviolettes Licht leuchtete auf dem Platz auf. Erst jetzt bemerkte die canthanische Elementarmagierin die Abbilder der Götter, die auf dem Platz verteilt waren. Darauf waren Balthasar, Dwayna, Grenth, Melandru, Lyssa und ein weiterer Gott zu sehen. Seine drei Augenpaare blitzten gefährlich. Es war der dunkle Gott, den die Fünf Götter vor Jahrhunderten aus ihren Reihen verbannt hatten, weil er sie mit seinen Anhängern stürzen wollte – Abaddon, der Gott des Wissens und Hüter der Geheimnisse.

Das Lachen der Kriegsherrin stoppte abrupt und sie rief: „Kommt zu mir! Kommt herbei und helft mir, ihr Kreaturen der Qual! Reinigt Elona von diesen widerwärtigen Sonnenspeeren und bereitet den Weg für unseren Herrn!“

Geschockt beobachteten sie, wie Varesh Ossa Abaddon´s Dämonen anrief. Sie stiegen aus dem violetten Licht und materialisierten sich. Nach einem kurzen Orientierungsmoment griffen sie die Sonnenspeere an.

„Rückzug! Rückzug!“, schrie Kormir entsetzt und winkte ihre Untergebenen zu sich, „Hört ihr nicht?! Zieht euch zurück! Rückzug!“

Aber es war bereits zu spät. Während Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo die hintersten Reihen und die Nachhut evakuieren konnten, wurden viele Sonnenspeere, die an vorderster Front gestanden hatten, von den Dämonen getötet oder von den Kourniern gefangen genommen. Tahlkora, Dunkoro und Melonni konnten sich noch retten … Doch Kormir und Koss gehörten zu den Gefangenen.
 

Der Zufluchtsort der Sonnenspeere

Die überlebenden Sonnenspeere benötigten dringend ein geschütztes Versteck, in dem Varesh Ossa sie nicht finden konnte. Aus diesem Grund arrangierte Melonni ein Treffen mit dem Ältesten Jonah, der in ihrem Heimatdorf Ronjok lebte. Direkt hinter dem kleinen Dorf lag unterirdisch eine große Höhle. Der Zugang war durch Pflanzen und Felsen verborgen. Allerdings wurde die Höhle von einer Horde Insekten belagert. Als Shikon No Yosei davon erfuhr, konnte sie sich ein kleines Lachen nicht verkneifen. Sie und Ohtah Ryutaiyo hatten gegen Befallene, Shiro´ken, Mursaat und Titanen gekämpft, von Shiro Tagachi und dem Untoten Lich einmal ganz abgesehen. Da stellte eine handvoll Ungeziefer nun wirklich kein sonderliches Problem dar … Und nachdem alle Insekten getötet waren, sprudelte wieder frisches, klares Wasser aus der Quelle.

Shikon No Yosei atmete tief ein und sagte: „Das verschafft uns einen Stützpunkt …“

Tahlkora setze sich gemütlich auf eine Brücke und meinte: „Einen Ort zum Ausruhen.“

Dunkoro rief die Sonnenspeere zusammen und bestätigte: „Einen Ort zum Planen.“

Melonni lachte erleichtert und rief: „Einen Ort für den Schlag gegen Varesh!“

Neben dem Stützpunkt und einer Versorgungstation für Verletzte, richteten sie zusätzlich eine Kommandostelle ein. Dort zog Dunkoro alle verfügbaren Sonnenspeere zusammen.

Er wandte sich an Shikon No Yosei und erklärte: „Kormir kann uns im Moment nicht führen. Doch der Orden der Sonnenspeere braucht eine leitende Hand. Sie hat Euch vertraut und Euch für würdig gehalten. Im Namen der Fünf Götter … verkünde ich Eure Ernennung zur neuen Speermarschall!“

Augenblicklich fielen die Sonnenspeere vor ihr auf die Knie, um ihre Treue zu bekunden. Hilflos sah die Elementarmagierin zu Ohtah Ryutaiyo, der ebenfalls niedergekniet war, ihren Blick jedoch erwiderte. Der Assassine nickte ermutigend. Als ob sie es nicht geahnt hätte – er war in den Plan eingeweiht gewesen … Und natürlich hatte er ihm zugestimmt. Shikon No Yosei wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte. Für einen Sieg benötigten sie einen wahren Anführer. Sie war sich nicht sicher, ob sie dieser Aufgabe gerecht werden würde. Doch sie wollte es versuchen.

„Ich danke Euch, Dunkoro … Euch und den Sonnenspeeren.“, erwiderte Shikon No Yosei endlich nach langem Schweigen, „Varesh mag einen ersten Sieg errungen haben, aber die Schlacht um Elona hat gerade erst begonnen. Noch haben wir eine Chance zu gewinnen! Solange wir zusammenhalten und daran glauben, können wir es schaffen … Für Kormir! Für Elona!“

„Für Kormir! Für Elona!“, stimmten die Anwesenden in den Ruf ein.
 

Einige Tage nach Shikon No Yosei´s Ernennung zur Speermarschall kehrte einer der Späher zurück, welche sie ausgesandt hatte Kormir und Koss zu finden. Sofort wurden Dunkoro, Tahlkora, Melonni und Ohtah Ryutaiyo in die Kommandostelle gerufen.

„Ich habe das Lager der Kournier entdeckt, in dem Koss gefangen gehalten wird!“, berichtete der Späher und zeigte die Position auf einer Karte, „Es liegt in der Arkjok-Bastei … vom Zufluchtsort also in südöstlicher Richtung.“

Shikon No Yosei lächelte erleichtert und erwiderte: „Ich danke dir. Mit dieser Information haben wir die Möglichkeit, Koss und die anderen Sonnenspeere zu befreien. Ohtah, Tahlkora und Melonni, ihr werdet mich begleiten.“

„Jawohl, Speermarschall Shiko!“, antwortete die drei.

Nur Dunkoro widersprach ihr: „Das könnt Ihr nicht tun! Was, wenn Euch etwas zustößt?“

Der Blick der schönen Elementarmagierin wurde ernst, als sie entgegnete: „Dann wird es einen neuen Anführer geben. Ich kann nicht hier bleiben … Denn, wisst Ihr, ich werde niemals einen Befehl erteilen, den ich nicht selbst ausführen würde!“
 

Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Tahlkora und Melonni schlichen durch die Arkjok-Bastei. Sehr darauf bedacht, sich unauffällig zu bewegen. Den Informationen zufolge wurden Koss und ein paar wenige andere Sonnenspeere in einer kournischen Festung festgehalten. Es war zwar ein Risiko mit nur vier Mann anzurücken, doch die Elementarmagierin baute den Überraschungsmoment. Und ihr Plan sollte aufgehen – ein einziger Sturmangriff genügte, um die Wachen in der Festung zu überrollen. In einem Zweikampf nahm Ohtah Ryutaiyo dem ranghöchsten Offizier den Schlüssel für die Gefängniszellen ab und warf sie seiner Geliebter zu, die daraufhin ihre Verbündeten befreite – Koss sprang vor Freude in die Luft und drückte Shikon No Yosei fest an sich. Sehr zum Missfallen des geschickten Assassinen, der die Szene beobachtete.

„Ich danke Euch von ganzem Herzen. Doch noch sind wir nicht sicher.“, meinte Koss, nachdem er die Umarmung gelöst hatte.

Ohtah Ryutaiyo stellte sich zwischen ihn und Shikon No Yosei und erklärte: „Da du ja nicht auf dem aktuellsten Stand bist, informiere ich dich sehr gerne darüber, dass wir bereits einen Unterschlupf organisiert und ausgestattet haben.“

Die junge Shing Jea bedachte ihren Liebsten mit einem verwunderten Blick. Er selbst übernahm bereits die Führung für die Rückkehr in den Zufluchtsort.

„Habe ich deinen Freund irgendwie verärgert?“, wollte Koss leise von Shikon No Yosei wissen.

Sie seufzte und flüsterte: „Ich glaube, er ist ein bisschen eifersüchtig. Er reagiert manchmal etwas überempfindlich. Weil er mich liebt … und mich nicht verlieren will. Dabei hat er eigentlich gar keinen Grund dazu. Ich liebe ihn … nur ihn. Mehr als alles andere.“
 

Wie tötet man einen Dämon?

Dunkoro hatte Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo zu einer Besprechung in der Kommandostelle gerufen. Neben ihm und dem befreiten Koss standen noch ein älterer Mann und eine junge Frau an dem den runden Tisch, auf welcher eine Karte von Elona ausgebreitet war.

„Wer sind diese Leute?“, wollte Shikon No Yosei verwundert wissen.

Der Mönch lächelte und antwortete: „Unsere Verbündeten. Dieser Mann nennt sich >Meister der Gerüchte< … Er ist der Leiter des Ordens der Gerüchte, einer geheimen Organisation, die aus Elitespionen besteht und das übernatürlich Böse bekämpft. Und diese Frau-“

„Ist eine Korsarin! Ihr wisst, was die Korsaren Istan angetan haben, Dunkoro! Können wir ihr wirklich vertrauen?“, meldete sich Ohtah Ryutaiyo abrupt zu Wort.

Er hatte die Geschichte auf der Überfahrt von Kormir gehört – die kleineren Dörfer waren kaum einen Mondzyklus lang sicher, wenn nicht die Sonnenspeere diesem Piratenvolk nicht kontinuierlich Einhalt gebot. Die Speermarschall hatte sich zunehmend Sorgen gemacht, was mit den Bewohnern von Istan geschehen würde, wenn sich der Orden nun einem anderen, größeren Gegner zuwandte …

Koss lachte auf und meinte: „Wir brauchen sie. Ihre Schwester weiß, wo Kormir gefangen gehalten wird.“

„Du solltest mich besser kennen, alter Freund.“, ermahnte die Korsarin, „Ich helfe euch, eure Anführerin zu befreien … dafür helft ihr mir, den Schatz zu bergen.“

Der Meister der Gerüchte schüttelte den Kopf und entgegnete: „Es ist wichtiger, dass wir die Dürre aufhalten und zwar bevor der Elon absorbiert wird. Denn dann wäre ganz Elona verloren!“

„Eine schwierige Situation … Wir müssen Kormir retten. Aber … als Sonnenspeere ist es unsere Pflicht, Elona zu schützen.“, erklärte die schöne Elementarmagierin nachdenklich und wandte sich an ihren Geliebten, „Ohtah, ich sage es wirklich nicht gerne …“

Ohtah Ryutaiyo sah sie wehmütig an, während er erwiderte „Ja. Und du weißt, dass mir das ganz und gar nicht gefällt. Ich hasse es, dich allein gehen zu lassen … Wer wird dich beschützen, wenn ich nicht bei dir bin?“

„Mein Orden.“, mischte sich der Meister der Gerüchte ein, „Margrid wird Euch zu Kormir führen. Shikon No Yosei und ich vernichten die Dürre.“

Dunkoro räusperte sich und erklärte: „Danach werden wir Kourna hinter uns lassen müssen … Für einen Krieg stehen uns nicht genügend Mann zur Verfügung. Der Orden der Sonnenspeere ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Wir müssen nach Vaabi … und die dortigen Fürsten von unserer Sache überzeugen, damit sie uns ihre Truppen zur Verfügung stellen.“

Zustimmendes Nicken und getroffenes Schweigen waren die Antwort.

„Kommt Ihr?“, fragte der Meister der Gerüchte die Elementarmagierin einen Moment später.

Sie biss sich auf die Unterlippe, bevor sie mit gedämpfter Stimme antwortete: „Geht schon einmal vor …“

Bis auf Margrid verbeugten sich die Anwesenden vor Shikon No Yosei, bevor sie die Kommandostelle verließen. Als sie allein waren , hob der Assassine seine Hand und legte sie auf ihre Wange, streichelte darüber. Langsam wanderten seine Finger nach oben, über ihre Schläfe zu ihrer Stirn und auf der anderen Seite wieder nach unten. Auch hier verweilte er einen Moment auf ihrer Wange, schließlich berührte ihre Lippen mit seinen.

Zärtlich hauchte Shikon No Yosei in den Kuss hinein: „Das wird nicht mein letzter Kuss an dich gewesen sein … er wird über uns beide wachen. Ich liebe dich, Ohtah …“

Wenn es etwas gab, dass Ohtah Ryutaiyo wirklich hasste, dann waren es Abschiede. Sie fügten ihm größere Schmerzen zu, als es das schärfste Schwert vermochte …
 

Shikon No Yosei lief in ihrem Quartier auf und ab. Die Truppe unter der Leitung von Ohtah Ryutaiyo war bereits aufgebrochen. Ihr Ziel war Gandara, die Mondfestung. Eine schwere Aufgabe stand ihnen bevor, doch auch die Elementarmagierin würde es nicht einfach haben … Mithilfe des Meisters der Gerüchte sollte sie einen von Abaddon´s Elite-Dämonen vernichten, der das Wasserwerk und damit die Wasserversorgung ganz Elona´s kontrollierte.

Der Meister der Gerüchte betrat lautlos ihr Zelt und fragte: „Seid Ihr bereit?“

„Ich habe bereits gegen etliche Kreaturen gekämpft.“, erwiderte Shikon No Yosei mit zitternder Stimme, „Aber … könnt Ihr mir eine Frage beantworten – wie tötet man einen Dämon?“

Der Nekromant sah sie ruhig an und antwortete: „Auch wenn es Dämonen sind, Ihr dürft nicht vergessen – sie sind ebenso sterblich wie Ihr und ich. Die Dürre gehört zur Familie der Erd-Dämonen und somit ist Eure Blitzmagie sicher am wirkungsvollsten gegen sie. Macht Euch nicht zu viele Gedanken … Glaubt an Euch und wir werden siegreich aus dieser Mission hervorgehen.“

Ein zuversichtliches Lächeln erschien auf ihren Lippen.
 

Shikon No Yosei, der Meister der Gerüchte und ein paar Akolythen seines Ordens kämpften gegen die Soldaten von Varesh Ossa und die Jünger der Dürre. Der Meister der Gerüchte sollte übrigens Recht behalten. Shikon No Yosei´s Blitze waren wahrlich effektiver als ihre Feuermagie, denn sie hatte beides gegen die Dämonen ausprobiert. Der Kampf führte sie einmal durch das komplette Wasserwerk, bis sie schließlich den großen Wasserfall des Elon erreichten. Dort erwartete sie bereits die Dürre, ein gewaltiges Monster aus Sand, Erde und Abaddon´s Energie. Shikon No Yosei rang nach Luft. Noch nie war sie einem solchen Monstrum gegenüber gestanden.

„Verteilt euch! Kreist die Dürre ein!“, gab der Meister der Gerüchte Anweisung, „Shikon No Yosei, Ihr greift gemeinsam mit mir frontal an. Wir müssen ihre Aufmerksamkeit auf uns lenken.“

Die Elementarmagierin war unfähig etwas zu erwidern. Dieser Plan war der reine Wahnsinn. Ein Angriff des Dämons und sie wären beide tot. Dennoch wich sie nicht zurück, denn sie erinnerte sich an seine Worte vor ihrer Abreise. Sie sollte an sich glauben. Außerdem hatte sie Ohtah Ryutaiyo versprochen, zu ihm zurückzukommen. Sie konnte hier einfach nicht sterben!

Nachdem sich die Kämpfer aufgestellt hatte, erklang die Dürre zischend: „Ihr kommt zu spät … Gerüchte. Ich habe den Elon fast verschlugen. Greift mich ruhig an … Ihr habt keine Chance.“

„Teinai … bitte, steh´ mir bei.“, betete Shikon No Yosei kaum hörbar und streckte ihre Hände in die Höhe, während sie ihre Stimme erhob, „Verdunkle den Himmel! Schicke Wolken, schicke Sturm! Schick´ mir Blitz und Donner!“

Die Wolken zogen sich zusammen, Regen setzte ein, Donner hallte durch das Wasserwerk, Blitze erhellten die Umgebung. Sie sammelten sich direkt über der Dürre und entluden sich in einem alles entscheidenden Angriff. Shikon No Yosei ließ sich, den Meister der Gerüchte und seine Anhänger schweben. Es wäre sicherlich nicht sehr vorteilhaft gewesen, weiterhin im Wasser des Elon stehen zu bleiben, da Wasser bekanntlicherweise Strom und somit auch Blitze leitete.

Erschöpft senkte die schöne Elementarmagierin die Arme und augenblicklich klarte der Himmel über ihnen wieder auf. Die Mission war erfolgreich abgeschlossen.
 

Ohtah Ryutaiyo war gleichsam erfolgreich in den Zufluchtsort zurückgekehrt. Der einzige Nachteil, der sich daraus ergeben hatte, war, die überlebenden Kournier und somit auch Varesh Ossa wussten, dass die Sonnenspeer nicht vernichtet waren … Seitdem lief er, ähnlich wie Shikon No Yosei zuvor, in der Kommandostelle auf und ab. Angst und Sorge durchzogen seine Gedanken.

Kraftvoll schlug er mit der Faust auf den Tisch und flüsterte mit erstickter Stimme hinzu: „Bitte … bitte, Shiko … Komm´ zu mir zurück …“

„Das wird sie.“, meinte Tahlkora, die unbemerkt die Kommandostelle betreten hatte, „Shiko ist sehr stark … und ihr Wunsch, dich wiederzusehen, wird sie leiten.“

Er richtete sich wieder auf und antwortete: „Ich vergesse immer wieder, dass sie nicht mehr das beinahe naive Mädchen ist, das beschützt werden muss … So war sie am Anfang unserer ersten Reise. Hilflos, unbedacht, übereifrig. Aber niemals schwach … Ich kann nichts dagegen tun. Ohne Shiko wäre mein Leben sinnlos … Sie ist das Licht meines Lebens.“

Im diesem Moment stürmte Koss herein und rief: „Sie sind zurück! Shiko und der Meister der Gerüchte! Kommt! Sie sind draußen bei Dunkoro! Shiko wurde von einem Pfeil getroffen!“

Der letzte Satz schaltete Ohtah Ryutaiyo´s Verstand aus. Er rannte augenblicklich los und stieß dabei den Tisch um, was er jedoch ohne abbremsen ignorierte. Shikon No Yosei saß auf einem Stuhl und legte ihre Hand auf den frischen Verband, den Dunkoro ihr angelegt hatte. Als der Assassine sie erreichte, ging er vor ihr auf die Knie und griff nach ihrer freien Hand, die er an seine Wange drückte. Die Erleichterung, dass sie lebte, war gewaltig.

„Ohtah …“, sagte Shikon No Yosei erfreut, „Ich habe schon gehört – du konntest Kormir befreien. Die Sonnenspeere können also wieder hoffen. Du bist eben mein Held …“

Ohtah Ryutaiyo hob seinen Blick und erwiderte betrübt: „Ja, Kormir hat trotz der schweren Verletzungen überlebt. Sie ist nur ganz knapp der Hinrichtung entgangen … Aber du bist verletzt – ich hätte bei dir sein sollen.“

„Es ist bloß ein kleiner Streifschuss. Unsere Flucht verlief etwas … holprig.“, entgegnete sie ruhig und zog ihn für einen langen Kuss zu sich.
 

Dunkoro, Koss, Melonni, Tahlkora, Ohtah Ryutaiyo und Shikon No Yosei berieten sich.

Die Elementarmagierin sah auf die Karte von Elona und erklärte: „Morgen brechen Ohtah und ich nach Vaabi auf. Ich werde nur Freiwillige mitnehmen … Niemand ist verpflichtet, mir zu folgen.“

„Du bist eine gute Anführerin. Ich werde dir auch weiterhin folgen.“, antwortete Koss sofort.

Melonni nickte und meinte: „Um mein Dorf zu retten, würde ich alles tun!“

„Vaabi ist meine Heimat … und es wird bald ein Fest stattfinden, auf dem wir die Fürsten treffen können.“, erzählte Tahlkora aufgeregt.

Für einen Augenblick herrschte Stille, dann sagte Dunkoro: „Es fällt mir schwer Kourna zu verlassen … Aber ich werde es tun. Ich muss es tun … Für das Wohl von Elona.“
 

Der Schwur der Fürsten

In Vaabi übernahm Tahlkora die Wegführung. Sie brachte die Sonnenspeere auf dem kürzesten Weg zum Garten von Seborhin, in welchem das Fest der Lyss stattfinden sollte. Allerdings konnte eine alte Freundin Tahlkora´s Kehanni nur drei Einladungen besorgen – für Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und natürlich die junge Mönchin. Bevor sie den Garten betreten durften, mussten sie ihren Körper und ihren Geist jedoch am Brunnen der Lyss, aus dem geheiligtes Wasser floss, reinigen.

Tahlkora kniete vor dem Quell nieder und betete: „Oh Lyssa, Göttin der Schönheit und der Energie, ich bitte dich … gewähre uns Einlass und sei uns hier in deinem Lande gnädig, auf dass unser Unterfangen siegreich sei!“

Sie übergoss sich selbst und ihre beiden Begleiter mit dem kühlen, klaren Wasser, dessen Magie deutlich spürbar war. Dann betraten sie den Festsaal, an dessen Stirnseite ein Podest mit den Thronen der Fürsten von Vaabi aufgebaut war.

„Ganz links, im roten Gewand … Fürst Ahmtur der Starke. Sein Hauptsitz ist die Zitadelle von Dzagonur. In der Mitte, im blauen Gewand … Fürst Bokka der Prächtige. Sein Palast befindet sich in Makuun die Leuchtende. Und ganz rechts außen, im goldenen Gewand … Fürst Mehtu der Weise. Er lebt in der Bibliothek von Chokhin. Außerdem … ist er mein Vater.“, erklärte Tahlkora und wurde gegen Ende immer leiser.

Perplex sahen Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo zwischen der jungen Mönchin und dem imposanten Fürsten hin und her.

Stotternd stellte die Elementarmagierin die Frage: „Warum … warum hast uns verschwiegen, dass du eine … Prinzessin Vaabi´s bist?“

„Ich … ich wollte nicht, dass ihr einen falschen Eindruck von mir bekommt. Ich wollte, dass ihr mich als die kennenlernt, die ich bin … nicht als das, was ich bin.“, antwortete Tahlkora ehrlich.

Ohtah Ryutaiyo nickte und bestätigte: „Das verstehe ich gut …“

Seine Geliebte schluckte. Die Antwort Tahlkora´s musste ihn ja an sich erinnern. Er wollte auch als »Ohtah Ryutaiyo« gesehen werden und nicht als ehemaliger Am Fah …

„Lasst uns zu den Fürsten gehen. Wir müssen es schaffen, sie zu überzeugen!“, lenkte die Mönchin das Gespräch wieder um, denn auch sie bemerkte den Stimmungswechsel.

Ihre Begleiter nickten zustimmend. Jeder von ihnen übernahm einen der Fürsten. Shikon No Yosei sprach mit Fürst Ahmtur, Ohtah Ryutaiyo mit Fürst Bokka und Tahlkora ging selbstverständlich zu ihrem Vater. Doch die Fürsten zu überzeugen stellte sich als weitaus schwieriger heraus, als sie bisher angenommen hatten. Varesh Ossa war als Kriegsherrin ein Sinnbild von Truppenstärke, immer wieder versuchten sie, ihnen den Ernst der Lage zu erklären.

Plötzlich erschien ein Bote, der Fürst Ahmtur eine Botschaft überreichte: „Verehrte Fürsten, die Monster Vaabi´s bedrohen weiterhin die Städte, es wird mit jedem weiteren Tag gefährlicher für die Bürger. Es wird gebeten, dass Ihr schnellstmöglich Soldaten ausschickt.“

„Dann wird es Zeit, sich zu verabschieden. Wir müssen uns um unsere Truppen kümmern!“, riefen alle drei Fürsten anschließend wie aus einem Mund.

Fürst Mehtu wandte sich erneut an Tahlkora: „Wirst du mich begleiten, meine Tochter?“

„Ich habe andere Pläne, Vater … Ich will für Elona kämpfen.“, antwortete sie leicht ärgerlich, „Mit oder ohne Eure Hilfe!“

Er schüttelte den Kopf und erwiderte: „Du bist ebenso stur wie deine Mutter. Wir werden später noch einmal über dieses Thema sprechen … Im Moment sollst du deinen Willen haben.“

Damit zogen die Fürsten mit ihrem Hofstaat und ihren Wachen ab.
 

Um das Vertrauen und Unterstützung der Fürsten zu bekommen, stellten sich Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo temporär in ihre Dienste. Zwar hatten ihre Freunde unter den Sonnenspeere ihnen ihre Hilfe angeboten, doch sie hatten abgelehnt. Der Orden musste sich neu formieren, das benötigte Zeit und war ebenso wichtig wie die Fürsten. Davon abgesehen genossen es die beiden Verliebten ein bisschen allein zu sein. Und ihre Mühen sollten sich auszahlen. Nach wenigen Wochen im Dienste der Fürsten wurden sie zu einer Unterredung gerufen.

Sie knieten vor den hohen Herrschaften nieder und Shikon No Yosei ergriff das Worte: „Wir danken Euch für diese Audienz … auch im Namen des Ordens der Sonnenspeere.“

„Die jüngsten Ereignisse zwingen uns zu diesem Schritt.“, erwiderte Fürst Ahmtur, „Wir geben es nicht gerne zu … aber Ihr hattet recht, werte Shikon No Yosei. Ihr habt mich auf dem Fest der Lyss gewarnt und ich wollte Euch nicht glauben. Verzeiht mir bitte … Varesh Ossa hat die Gefängnisse der loyalsten Anhänger Abaddon´s geöffnet. Sie ist damit zu einer Bedrohung für Vaabi und ganz Elona geworden!“

Fürst Mehtu nickte zustimmend und meinte: „Aufgrund der alten Schriften aus der Zeit der Sechs Götter nehmen wir an, dass sie bisher nur einen Bruchteil von Abaddon´s Armee befreit hat. Das bedeutet, sie benötigt eine größere Energiequelle … und diese findet sie einzig in Sebelkeh.“

„Varesh Ossa muss vernichtet werden! Aus diesem Grund werden wir die Sonnenspeere unterstützen!“, endete Fürst Bokka.

Die Elementarmagierin lächelte und antwortete: „Wir müssen uns beeilen … Die Finsternis hat begonnen!“

„Aber noch ist unsere Zeit nicht abgelaufen.“, fügte der Assassine hinzu, als er seiner Geliebte seine Hand auf die Schulter legte, „Wir werden verhindern, dass Varesh Abaddon befreit.“

Kaum waren seine Worte verklungen wurde das Tor aufgeschlagen und die Botin, die herein gestürmt kam, berichtete atemlos: „Lyssa sei Dank! Ich habe Euch gefunden, Shikon No Yosei!Kehanni … Kehanni schickt mich … Sebelkeh … Sebelkeh wird angegriffen … Dämonen … Dämonen sind eingefallen … Sie haben die … die Priester der Lyss brutal … abgeschlachtet … Sie brauchen Eure Hilfe!“

Shikon No Yosei ballte ihre Hände zu Fäusten und sagte: „Jetzt ist Varesh zu weit gegangen! Dafür soll sie büßen! Gehen wir, Ohtah!“

„Unsere Truppen werden Euch begleiten. Ihr habt unseren Schwur als Fürsten von Vaabi!“, erklärte Fürst Ahmtur und die Anführer der fürstlichen Armeen salutierten.
 

Blasphemie

So schnell es ihnen möglich war, eilten Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo mit einem Teil der Truppen zum Schrein von Sebelkeh. Eine kleine Ansammlung von Menschen stand in einiger Entfernung zum Eingang. Die beiden Canthaner erkannten sie sofort – General Morgahn und seine kournischen Soldaten.

Der Paragon ging auf sie zu und sprach mit erhobenen Händen: „Hört mich an! Wir sind nicht länger Eure Feinde, wir gehören nicht mehr zu Varesh´s Truppen … nicht nachdem, was sie getan hat. Ich stamme selbst aus Vaabi und war ein Schüler der Lyssa-Priester. Varesh versprach sie zu schonen, doch sie hat ihr Wort gebrochen. Ihr müsst verstehen, ich kenne Varesh Ossa, seit sie ein Kind war … Sie war immer zielbewusst, klug und stark in ihrem Glauben. Als Dunkelheit sie umgab, blieb ich ihr treu ergeben und führte weiterhin blind ihre Befehle aus … bis es zu spät war. Sie hat diesen heiligen Ort mit Blut besudelt, nur um ihr Ritual zu vollenden! Das Ritual, das Abaddon´s Gefängnis durchbrechen wird … Sie wird bald noch mehr unschuldiges Blut vergießen. Ich muss sie aufhalten … doch dazu brauche ich Eure Hilfe!“

„Ich habe das Gefühl, Ihr sprecht die Wahrheit, Morgahn. Der Schmerz, den man empfindet wenn die eigene Heimat vor dem Untergang steht, kann einen sehr verändern …“, entgegnete Shikon No Yosei, „In Ordnung, kämpfen wir gemeinsam für das Wohl Elona´s!“
 

Der Schrein von Sebelkeh wimmelte nur so vor Abaddon´s Anhängern, den Margonitern. Sie hatten sich um die »Blasphemie« versammelt, den neuen Elite-Dämon. Anders als die Dürre bestand er nicht aus fester Materie, sondern rein aus dunkler Energie der Qual. Somit wurde ihre Vernichtung wieder die Aufgabe von Shikon No Yosei, während Ohtah Ryutaiyo ihr Rückendeckung gab und die anderen Sonnenspeere kümmerten sich um die Margoniter kümmerten. Die Blasphemie schwang ihre Waffe, zielte auf Shikon No Yosei. Sie riss ihren rechten Arm hoch und ihre Flammenschild wehrte den Angriff ab. Es folgte Schlag auf Schlag. Der geschickte Assassine hielt derweil einen regelrechten Pfeilhagel auf, der sie niederstrecken sollte. Mit einem kräftigen Windhauch stieß die schöne Shing Jea die Blasphemie von sich. Bevor der Dämon die überraschende Wendung wirklich begreifen konnte, konzentrierte Shikon No Yosei bereits ihre Feuermagie. Ihr Meteorenschauer fuhr auf die Blasphemie nieder. Nun galt es noch die Qualen-Risse zu schließen, die Sebelkeh eingenommen hatten. Shikon No Yosei ging zur Mitte des Schreins und breitete ihre Arme aus, ließ ihre positive Energie in die Risse hineinströmen, was diese versiegelte. Auch die Sonnenspeere hatten inzwischen ihre Kämpfe beendet und den Sieg errungen. Staunend beobachteten sie die Elementarmagierin. Ohtah Ryutaiyo schüttelte belustigt den Kopf – egal wie viel Zeit er auch mit ihr verbrachte, sie wurde mit jedem weiteren Tag stärker und stärker.

Zurück am Spiegel von Lyss sprach General Morgahn Shikon No Yosei erneut an: „Dieser Kampf ist gewonnen, doch Varesh ist noch lange nicht besiegt. Sie wird das Ritual abschließen …“

„Wohin geht sie?“, wollte Ohtah Ryutaiyo wissen.

Der Paragon seufzte und erklärte: „Ins Ödland … zum Schlund der Qual. Dort sind die Fesseln von Abaddon´s Gefängnis am schwächsten.“

„Dann folgen wir ihr dorthin.“, erwiderte Shikon No Yosei entschlossen, „Inzwischen ist es kein Befehl mehr meines Kaisers, der mich antreibt … Lasst uns mit Kormir Kontakt aufnehmen. Sie wird wissen wollen, was passiert ist.“

General Morgahn druckste leicht, bevor er sagte: „Ich möchte Euch begleiten. Ich muss meine Schuld gegenüber Elona begleichen!“

Sowohl Shikon No Yosei als auch Ohtah Ryutaiyo erstarrten in ihrer Bewegung. Sie kannten diesen Wortlaut … Es gab eben nicht nur in Cantha Menschen, die Fehler machten. Doch jeder verdiente die Chance, sie wiedergutzumachen … Eine Chance auf ein Leben im Licht.

„Wir zählen auf Eure Hilfe, Morgahn!“, meinte der Assassine entschieden.
 

Der Weg durch das Ödland

Die Sonnenspeere knieten vor Kormir nieder. Ihre Verletzungen waren soweit verheilt, aber … ihr Augenlicht hatte sie für immer verloren. Dennoch hielten die Mitglieder ihres Ordens zu ihr.

„Ich freue mich, dass Ihr unversehrt zurückgekehrt seid.“, sagte Kormir lächelnd.

Shikon No Yosei trat vor und erzählte: „Es ist uns gelungen, die Fürsten zu überzeugen. Wir haben eines von Varesh´s Ritualen vereitelt, doch … sie ist noch nicht besiegt.“

Gemeinsam mit Ohtah Ryutaiyo berichtete sie von ihrem Plan, die Verfolgung aufzunehmen, und General Morgahn´s Unterstützung.

Als sie geendete hatten, antwortete Kormir nachdenklich: „Ihr habt Euren Auftrag mit Bravour gemeistert. Ich bin sehr stolz, dass Ihr mein Amt übernommen habt, Shikon No Yosei. Und Ihr habt richtig entschieden – wir müssen ebenfalls ins Ödland gelangen. Es geht wohl nicht anders … Ich muss mit einem alten Bekannten sprechen. Palawa Joko ist der einzige, der uns jetzt helfen kann.“

„PALAWA JOKO?!“, rief Tahlkora erschrocken aus, „Ihr sprecht von der Geißel Vaabi´s? Dem Herrscher der Untoten und Verlierer der Schlacht von Jahai? Das kann nicht Euer Ernst sein!“

Wie sich herausstellte, war es Kormir jedoch sehr ernst. Sie führte Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo zum Denkmal der Schlacht von Jahai, das sich in der Nähe des Zufluchtsorts der Sonnenspeere befand. Tahlkora hatte sich strickt geweigert, sie zu begleiten.

„Ich, Kormir, Anführerin des Ordens der Sonnenspeere rufe Euch aus den Tiefen der Unterwelt zurück in die Welt der Sterblichen. Überwindet die Grenze und zeigt Euch mir … Palawa Joko!“, beschwor die Paragon den uralten König.

Vor den drei erschien eine etwa zweieinhalb Meter große Gestalt, deren Haut grau und fahl war, und die mit einer grässlich verzerrten Stimme sprach: „Ihr benötigt also meine Hilfe … Kormir.“

Als die Paragon den Mund für eine Antwort öffnete, drang stattdessen ein grässlicher Schrei daraus hervor. Hinter Kormir war ein Qualen-Riss erschienen, der sie in seinen Sog zog. Von einer Sekunde zur anderen war die Speermarschall verschwunden.

„KORMIR!“, schrien die Sonnenspeere verzweifelt.

Palawa Joko knurrte und erklärte an die Elementarmagierin gerichtet: „Abaddon hat ihre Seele geraubt und sie in sein Reich verschleppt. Aber kommen wir zurück zu den wirklich wichtigen Dingen … Der widerliche Orden der Gerüchte hat mich hier eingesperrt. Kormir hat mich befreit … Ich schulde euch wohl etwas. Also sprecht schnell – warum hat sie mich gerufen?“

Shikon No Yosei ging zitternd zu ihm, nicht aus Furcht … Es war die Trauer um Kormir, die sie zittern ließ. Tränen standen in ihren Augen, Fassungslosigkeit in ihrem Gesicht.

Dennoch riss sie sich zusammen, schluckte und sagte mit ruhiger Stimmlage: „Palawa Joko … Ihr wart einst ein großer König. Wir müssen Euer Land durchqueren … um Varesh Ossa zu stellen. Und zwar lebend.“

Palawa Joko lachte laut auf und antwortete: „Ihr wollt die Nachfahrin dieses verdammten Turai Ossa verfolgen? Tja, da muss ich euch enttäuschen – nur Tote und Dämonen wandeln heil durch die Schwefelebene.“

Diesmal war es wieder Shikon No Yosei, die das Wort ergriff: „Lügt uns nicht an, Palawa Joko! Es heißt, Sterbliche wären bereits in Euer Land eingedrungen. Wie sind sie dorthin gekommen?“

Ihr Gegenüber lachte schallend und meinte geheimnisvoll: „Das war keine Lüge. Sterbliche können nicht durch die Schwefelebene ziehen. Aber unter dem Sand reisen große Würmer. Sie können euch als Reittiere dienen. Doch zeigt ihnen, dass ihr der Herr seid … andernfalls seid ihr Wurmfutter!“

„Wo finden wir diese Würmer?“, wollte der Assassine wissen.

Gespielt ergeben erwiderte Palawa Joko: „Da Ihr mich befreit habt, werde ich euch zu den Junundu führen. Zwei Sonnenspeere werden gegen ihre Königin kämpfen müssen. Überzeugt ihr sie, folgen euch ihre Kinder. Ach, aber erwartet nicht, dass ich euch gegen sie helfen werden.“

Ohtah Ryutaiyo sah Shikon No Yosei an, doch sie schüttelte ihren Kopf und entgegnete: „Dunkoro soll mir helfen diesen Kampf zu gewinnen.“

„Warum darf ich erneut nicht an deiner Seite stehen?“, flüsterte der Assassine kaum hörbar.

Die Elementarmagierin sah zum Himmel und meinte: „Weil ich dir vertraue … Wenn ich wider Erwarten doch unterliegen sollte, wirst du die Sonnenspeere gegen Varesh führen!“
 

Shikon No Yosei und Dunkoro betraten die Fläche des Plateaus, das nicht von Schwefeldämpfen überzogen war. Sie nahmen Kampfstellung ein.

„Königin der Junundu! Ich, Shikon No Yosei, fordere den Gehorsam Eurer Kinder. Kommt aus Eurer Höhle und stellt Euch mir!“, rief die Elementarmagierin selbstbewusst.

Dunkoro stieß einen erstickten Schrei aus, als die gewaltige Wurm-Königin aus dem schwefligen Sand schoss. Shikon No Yosei schluckte im selben Augenblick wie Ohtah Ryutaiyo. Seine Fäuste zuckten. Er verstand nicht, warum sie Dunkoro und nicht ihn als ihren Partner gewählt hatte – selbst wenn sie wollte, dass er der neue Anführer des Ordens wurde. Warum hatte sie nicht Tahlkora gefragt? Wieso ausgerechnet Dunkoro? Ohtah Ryutaiyo vertraute seinen Fähigkeiten einfach nicht.

Besagter Mönch wirkte Schutzzauber auf Shikon No Yosei, welche nieder kniete und flüsterte: „Oh Teinai … ich weiß, dass du bei mir bist. Aber diesen Kampf muss ich allein bestreiten. Ich darf mich nicht immer auf Ohtah oder dich verlassen … Dieser Kampf ist meine Prüfung. Wenn ich sie nicht bestehe, habe ich gegen Varesh erst recht keine Chance.“

Nachdem sie sich wieder erhoben hatte, ging sie zielsicher auf die Königin zu. Beide Kontrahentinnen bereitete ihren ersten Angriff vor. Das Plateau bot keinerlei Ausweichmöglichkeit, Shikon No Yosei würde unweigerlich von dem Energiestrahl getroffen werden. Nur mit Mühe schafften es Koss und Melonni Ohtah Ryutaiyo festzuhalten, der seiner Geliebten zu Hilfe eilen wollte. Seine Dolche hatte er bereits aus dem Halfter gezogen. Sie streckte ihre Hände nach vorne aus und eine Feuerbrust brach los. Die Flammen wuchsen in die Höhe, es regnete Feuerbälle, Lava bahnte sich seinen Weg durch den Sand. Die Königin der Junundu senkte ihren Kopf. Sie hatte sich ergeben … Sofort rief Shikon No Yosei ihre Magie zurück. Das Feuer verschwand. Es war beinahe so, als hätte es nie einen Kampf auf in der Schwefelebene gegeben.

Auf einen Laut der Junundu erwiderte die junge Frau: „Ich möchte das Ödland mit meinen Begleitern sicher durchqueren. Unser Ziel ist der Schlund der Qual!“

Auf den Befehl ihrer Mutter erschienen einige Sandwürmer. Noch bevor Palawa Joko sie warnen konnte, wurden Morgahn, Koss, Melonni, Dunkoro und Tahlkora verschluckt. Ohtah Ryutaiyo zog Shikon No Yosei an sich, hielt sie einfach nur einen Augenblick fest in seinen Armen. Dann kletterten sie gemeinsam in den letzten Junundu. Es war zwar äußerst unbequem in Innern der Würmer, doch wenigstens würden sie diese Art der Reise überleben.
 

Eine schwere Entscheidung

Nach vielen Stunden wurden die Sonnenspeere im wahrsten Sinne des Wortes ausgespuckt.

General Morgahn sah sich um und flüsterte ehrfürchtig: „Der Schuld der Qual … Dies ist der Ort, an dem die Fünf Götter einst Abaddon besiegten und sein Gefängnis schufen. Deshalb kann es nur hier endgültig zerstört werden.“

„Verstehe … deshalb will Varesh das Ritual also hier abschließen.“, erwiderte Shikon No Yosei ebenso leise, „Wir müssen verhindern, dass die Welt in Qual versinkt …“

Der Paragon seufzte betrübt und meinte: „Ich denke an Varesh, wie sie war … Sie tat so viel für Kourna, war uns eine gute Anführerin. Dann wurde sie von Abaddon berührt … und meine Herrin verfiel dem Wahnsinn … Ich wasche ihr Andenken wieder rein!“

„Wir werden es jetzt beenden.“, sagte Ohtah Ryutaiyo ermutigend.

Die sieben Sonnenspeere betraten gemeinsam den Schlund der Qual. Im Innern wurden sie bereits von Varesh Ossa und Abaddon´s Dämonen erwartet.

„Ich freue mich, dass Ihr gekommen seid.“, meinte die Kriegsherrin höhnisch lachend, „Sieh an, sieh an … Morgahn, du Verräter, hast also die Seiten gewechselt … Dunkoro, in deinem Alter sollte man sich nicht mehr auf solch eine beschwerrliche Reise machen … Und Koss, ein Krieger ohne jeden Sinn und Verstand. Melonni, du bist so von dir überzeugst, dass du die Realität übersiehst … Ach, Tahlkora, nur ein kleines Kind, das Abenteuerspiele spielt … Keiner von euch stellt eine ernsthafte Bedrohung dar.“

Shikon No Yosei trat vor und sagte: „Es reicht! Morgahn hat mir vieles von dir erzählt, Varesh … wie du früher warst. Ich glaube, die Varesh von damals war mir sehr ähnlich. Aber du bist vom richtigen Weg angekommen. Du stehst kurz davor deine Heimat zu zerstören … das kann ich dir nicht verzeihen!“

„Ah ja … dich hätte fast vergessen – Shikon No Yosei, die neue Anführerin der Sonnenspeere. Es ist mir wahrlich eine Ehre, dass ich diejenige sein darf, die dich töten wird.“, erwiderte Varesh Ossa und lächelte, „Und dein Freund ist auch hier … Ohtah Ryutaiyo, ein schöner, junger Mann wie du sollte eigentlich nicht auf der Seite dieser Verlierer stehen. Schließe dich mir an und du wirst unbesiegbar!“

Der Assassine nahm die Hand seiner Geliebten und antwortete: „Die Macht, von der du sprichst, ist nichts als eine Illusion. Ich werde niemals von Shiko´s Seite weichen! Hörst du? Niemals!“

„Wie Schade … Aber gut, gut. Dann werde ich dich eben vom Gegenteil überzeugen müssen. Spüre die Macht meines Herrn und gib dich ihr hin!“, rief Varesh und schleuderte ihm dunkle Energie aus dem Reich der Qual entgegen.

Shikon No Yosei riss sich los, stieß ihn zur Seite und mit einer Lichtexplosion wurde sie selbst von der Energie Abaddon´s getroffen. Ohtah Ryutaiyo war zu keiner Regung fähig. Mit geweiteten Augen beobachtete er, wie ihr Körper von dunklem Nebel umhüllt wurde und auf Varesh Ossa zuschwebte.

„Ja, ja … die Liebe. Jeder von uns muss eben Opfer bringen …“, machte sie sich über die Tat der Elementarmagierin lustig, „Erhebe dich … Shikon No Yosei, Fee der Dunkelheit!“

Der Nebel lichtete sich. Und Shikon No Yosei war vollkommen verändert. Finstere Flammen wogen um sie herum und sie trug nicht mehr die Seerose im Haar, sondern ein schwarzes Haarband, passend zu ihrem Kleid. Doch das schlimmste waren ihre Augen – ihre glänzenden, tiefbraunen Augen hatten sich in blutrote Löcher verwandelt. Das einzige, das noch daran erinnerte, dass wirklich Shikon No Yosei vor ihnen stand, war die Kette mit dem herzförmigen Anhänger, die sie nach ihrer Geburt von ihrer Mutter Kai bekommen hatte.

„Mein Herr ist Abaddon … Ihr wollt seine Wiederauferstehung verhindern? Das werde ich nicht zulassen. Die Welt soll von Qual getränkt sein und Finsternis die Sonne bedecken! Schließt Euch uns an oder sterbt durch meine Hand!“, rief sie mit grässlich verzerrter Stimme.

Ohtah Ryutaiyo starrte sie durch einen Tränenschleier an. Seine geliebte Shikon No Yosei war nicht mehr sie selbst. Sie war zu einer Dienerin des dunklen Gottes geworden. Von Abaddon berührt, genau wie Varesh Ossa. Und dass nur, um ihn vor diesem Schicksal zu bewahren. Diese Veränderung war seine Schuld … Er hatte seine Pflicht nicht erfüllt, seinen Schwur nicht gehalten – es war seine Aufgabe sie zu beschützen, nicht umgekehrt.

Schwerfällig stand der Assassine vom Boden auf und fragte leise: „Wie können wir sie von Abaddon´s Einfluss befreien, Dunkoro?“

„Indem wir sie töten.“, antwortete der Mönch geknickt.

Tahlkora sah ihn erschrocken an und entgegnete aufgebracht: „Wir können Shiko doch nicht töten! Sie ist unsere Freundin! Sie hat mehrmals ihr Leben für uns und Elona riskiert!“

„Wir haben keine andere Wahl. Wenn wir es schaffen sie zu … verliert Abaddon einen Teil seiner Macht.“, pflichtete Melonni Dunkoro bei.

Ohtah Ryutaiyo sah sie angewidert an und sagte: „Zum Preis von Shiko´s Leben … Weißt du, Melonni, Shiko sieht es als ihre persönliche Aufgabe an, all jenen zu helfen, die ihre Stärke benötigen … Bei mir ist das etwas anders. Mir ist es im Grunde vollkommen egal, was mit Elona geschieht. Ich kämpfe nur für Shiko! Und es ist mir völlig gleichgültig, wen oder was ich töten muss, um sie zu beschützen!“

„Beruhige dich, Ohtah. Wir alle wussten, worauf wir uns einließen.“, erklärte Koss, „Aber du hast recht … genauso wie Dunkoro. Dennoch können wir Shiko nicht einfach so töten. Es liegt jetzt ganz allein bei dir, Ohtah … Aber wenn du sie nicht erreichst … dann werden wir-“

Der Assassine schüttelte den Kopf: „Nein, ich werde es tun. Shiko würde genauso handeln, wenn sie an meiner Stelle wäre. Ich habe es doch eben gesagt – es ist gleichgültig, wen oder was ich töten muss … solange ich Shiko dadurch beschützen kann. Und wenn es keine andere Möglichkeit gibt, soll es so sein. Dann wird Shiko durch meine Waffe sterben!“

Sein Herzschlag verlangsamte sich. Er dachte daran, als er Shikon No Yosei zum ersten Mal auf dem Vizunahplatz gesehen hatte, wie ihre Augen ihn verzaubert hatten. An diesem Tage hatte er sich entschieden, sein Leben unter ihres zu stellen. Heute galt es die Ernsthaftigkeit dieses Entschlusses zu beweisen. Sollte er bei dem Versuch, sie zu erlösen, wirklich scheitern, würde er erst Shikon No Yosei´s Leben und anschließend sein eigenes beenden. Er würde sie nicht allein gehen lassen – sie würden den Weg in die Nebel gemeinsam gehen …
 

Ohtah Ryutaiyo stellte sich der dunklen Shikon No Yosei mit erhobenen Dolchen gegenüber.

„Du hast dich dazu entschlossen, als erster zu sterben?“, stellte sie höhnisch fest.

Er atmete tief ein und antwortete: „Erinnerst du dich? Ich habe dir einst geschworen, dass ich dich beschützen werde … egal was auch geschehen mag. Ich bitte dich inständig, hör´ mich an …“

„Deine kleine Shiko gibt es nicht mehr. Sie wurde zusammen mit Teinai aus diesem Körper verbannt! Aber die neue Shikon No Yosei ist viel stärker …“, entgegnete die Fee der Dunkelheit.

Die Augen des Assassinen schlossen sich und er erklärte: „Du irrst dich. Niemand ist stärker als meine geliebte Shiko … Nicht Shiro, nicht der Untote Lich, nicht Varesh, nicht Abaddon, vor allem nicht du … Bitte, Shiko, komm´ zu mir zurück … ich flehe dich an! Du bist das Licht, das mich aus der Finsternis geholt hat …“

„Ich werde dir beweisen, dass es sie nicht mehr gibt! Spüre die Macht Abaddon´s!“, rief sie.

Dunkle Energie flog auf Ohtah Ryutaiyo zu, prallte jedoch an einem unsichtbaren Schutzschild ab.

Perplex lauschte er, wie ihm jemand zuflüsterte: „Gib´ sie nicht auf, Ohtah! Die wahre Shiko lebt noch … Rette sie! Befreie sie! Es ist deine Aufgabe … Ich kann jetzt nur noch aus den Nebeln über sie wachen.“

Teinai löste sich von ihm. Sie vertraute auf seine Liebe. Er war Shikon No Yosei´s einzige Chance.

Plötzlich hörte er ihre vertraute Stimme: „Zögere nicht länger, Ohtah! Tu es! Bitte, du musst mich töten … Du hast keine andere Wahl. Ich liebe dich!“

Fassungslos ließ der Assassine seine Waffen fallen, die laut klirrend auf dem Boden aufkamen.

Während er wie in Trance auf sie zu ging, sagte er: „Nein, Shiko. Ich werde es nicht tun, jetzt nicht mehr … Ich werde nicht länger mitansehen, wie Abaddon deinen Körper und deinen Geist gefangen hält. Ich liebe dich, Shiko … Hörst du? Mehr als ich je einen anderen Menschen lieben könnte. Dein Leben ist mir wichtiger, als alles andere!“

Als er direkt vor ihr stand, zog er sie in seine Arme und verschloss ihren Mund mit seinen Lippen.

Nach dem Kuss raunte er ihr ins Ohr: „Du hast die Kraft dich von Abaddon zu befreien … Lass´ dir deine wahre Macht nicht nehmen. Glaub´ an dich … so wie ich an dich glaube!“

Shikon No Yosei durchfuhr ein Ruck. Sie richtete sich kerzengerade auf und rührte sich nicht mehr, doch in ihrem Innern tobte ein Kampf. Die Elementarmagierin kämpfte mit all ihrem Willen gegen die Kontrolle Abaddon´s. Sie wollte um jeden Preis ihre Freiheit zurückerlangen. Er wollte sie als Werkzeug, um die Welt in Qual zu tauchen. Da begann Shikon No Yosei´s Körper zu leuchten … es war das Licht ihrer wahrer Macht, das sie in ihr eigenes Selbst zurückverwandelte. Abaddon´s Einfluss hatte sie vollständig verlassen.

„Ohtah … du warst fantastisch. Ich danke dir …“, hauchte Shikon No Yosei und hob die Hand an seine Wange.

Bereits im nächsten Moment wurden sie beide von einer gewaltigen Druckwelle weg geschleudert.
 

Varesh´s Ende

Varesh Ossa war wutentbrannt. Erst hatte dieser Assassine Abaddon seine Dienerschaft verweigert und nun nahm er ihm auch noch seine neuste Untergebene.

„Ihr habt es gewagt, euch meinem Herrn zu widersetzen! Ihr habt seine Ehre beschmutzt! Ohtah Ryutaiyo … Shikon No Yosei … das werdet ihr mir büßen!“, rief die Kriegsherrin erbost.

Die beiden Canthaner nickten sich zu und bezogen Kampfstellung. Die anderen Sonnenspeere taten es ihnen gleich.

Koss lachte freudig und sagte: „Ich bin echt froh, dass du es geschafft hast, Ohtah … Und jetzt lasst uns gemeinsam für Elona kämpfen!“

Ohtah Ryutaiyo verdrehte die Augen. Einerseits verstand er, dass sie ihr Land um jeden Preis retten wollten, anderseits war die Entscheidung von Dunkoro und Melonni für ihn unverzeihlich. Doch nun musste er sich auf den Kampf konzentrieren, denn die Derwisch schwang bereits ihre Sense durch die Luft. Und auch die Dämonen näherten sich ihnen.

Shikon No Yosei schloss die Augen und flüsterte kaum hörbar: „Teinai … dein Segen hat mich verlassen. Aber sorge dich nicht … ich kann die Macht in mir endlich selbst kontrollieren. Ich werde dich auch weiterhin stolz machen, das verspreche ich dir! Möge deine Seele in den Nebeln ihren Frieden finden … Eines Tages sehen wir uns dort wieder. Ich danke dir für alles!“

Sie öffnete die Augen, schielte zu ihrem Geliebten hinüber und lächelte leicht. Solange er bei ihr war, konnte sie gar nicht verlieren. Entschlossen gab sie das Zeichen zum Angriff. Der Assassine und der Krieger stürmten auf Varesh zu, verwickelten sie in einen Nahkampf, wobei sie sehr vorsichtig sein mussten, dass sie nicht von ihrer Sense getroffen wurden. Zur selben Zeit konzentrierten sich Shikon No Yosei, General Morgahn und Melonni auf die Dämonen, welche hier im Schuld der Qual auffallend stärker waren, als anderswo. Dennoch gaben die Sonnenspeere und ganz besonders die Elementarmagierin nicht auf. Sie führte die Hände vor ihrer Brust zusammen, sammelte ihre magischen Kräfte. Die folgende Feuersbrunst richtete sich gegen die finsteren Dämonen. Shikon No Yosei´s Verbündete spürten lediglich eine warme Brise. Doch auch Varesh Ossa entging dem Zauber. Allerdings nicht für lange – Shikon No Yosei zauberte einen heftigen Windschlag, der ihr eine unfreundliche Bekanntschaft mit dem Boden bereitete. Noch bevor Varesh sich wieder vollständig aufrichten konnte, ragten Ohtah Ryutaiyo´s Dolch aus ihrem Herzen und mehrere Giftpfeile aus anderen Stellen ihres Körpers – leblos fiel ihr Körper erneut zu Boden und die Sonnenspeere brachen in Jubelschreie aus, welche ihnen jedoch im Halse stecken blieben, als die Erde zu beben begann. Der Leichnam von Varesh Ossa war verschwunden, stattdessen kam eine Gestalt auf sie zu, die einen Kapuzenmantel und einen Speer trug. Ihr Körper war der eines Margoniters und wies zudem drei Augenpaare auf. Die Kriegsherrin war zur wahren Dienerin Abaddon´s geworden!

„Narren!“, schrie sie inbrünstig, „Die Macht meines Gottes ist unendlich! Er hat mir ein neues Leben geschenkt! Ich bin Abaddon´s Schwert und das Zeichen seiner Stärke! Erkennt ihn an, kniet vor ihm nieder!“

Dies bedeutete im Klartext, der Kampf war noch nicht zu Ende. Es gab eine zweite Runde, die, nach Meinung der Sonnenspeere, nicht anders ausgehen würde als die erste.

Shikon No Yosei erhob ihre Stimme: „Diese Macht ist nichts im Vergleich zu dem, was uns Kraft gibt … Mut, Hoffnung, Freundschaft und Liebe!“

„Varesh Ossa, du warst einst eine große Kriegsherrin …“, begann Dunkoro.

Morgahn stand ein paar Schritte von ihnen entfernt und fuhr fort: „Doch dann hat Abaddon dich berührt und du bist ihm verfallen.“

„Du hast unserer Heimat großes Leid zugefügt und die Ehre der Fünf Götter beschmutzt!“, rief Tahlkora sichtlich von ihren Gefühlen geleitet.

Ebenso wütend fügte Melonni hinzu: „Der Mut der Menschen wird nicht von der Welt verschwinden, nur weil ihr die Finsternis über uns herein brechen lasst!“

„Denn die Welt wird nicht in Qual versinken, solange die Hoffnung auf das Gute noch existiert.“, meinte Koss und funkelte sie böse an.

Ohtah legte seinen Arm um Shikon No Yosei´s Taille und sagte: „Du hast vergessen, was Liebe und Freundschaft bedeuten.“

Traurigkeit lag im Blick der Elementarmagierin, als sie erklärte: „Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, was es heißt unter seinem Einfluss zu stehen. Ich konnte mich befreien … Aber du bist bereits zum Dämon geworden. Das einzige, was ich jetzt noch tun kann, ist, dich von deinem Dasein zu erlösen. Leb´ wohl … Mögen die Fünf Götter dir Gnade gewähren!“

Während sie die letzten Worte aussprach, öffnete sie langsam die rechte Hand. Varesh Ossa beobachtete aufmerksam die kleine Flamme in ihrer Hand und ging ein paar Sekunden später in Flammen auf.
 

Das Reich der Qual

Von Varesh Ossa blieb lediglich ein kleiner Haufen Asche übrig. Niemand konnte diesem Zauber von Shikon No Yosei entkommen … An der Stelle, an der Abaddon´s größte Dienerin gefallen war, entstand einer der Qualen-Risse. Sein Sog war stark – viel stärker, als die Sonnenspeere es bisher gewohnt gewesen waren. Und zu stark, um sich ihm zu entziehen. Jeder einzelne von ihnen wurde von ihm verschlungen. Als sie die Augen wieder öffneten, befanden sie sich offenscheinlich nicht mehr auf Elona … Der Boden unter ihnen schimmerte grünlich. Um sie herum standen verschiedene lilafarbene Türme mit schwarzer Zierde und der Himmel schien nicht mehr vorhanden zu sein, es waren nur graue Nebelschwaden erkennbar.

Auf einmal schrie Dunkoro auf und erklärte angsterfüllt: „Das … das ist … das Reich der Qual! Eine Welt erschaffen von Abaddon´s dunkler Energie, mit dem einzigen Sinn die Seelen der Verstorbenen auf ewig zu quälen. Es ist der Ursprung allen Übels, das sich über Elona verbreitet hat. Wir sind in seiner Finsternis gefangen …“

„Ihr seid doch Sonnenspeere, nicht wahr? Kormir hatte wohl recht, was euch betrifft …“, sprach eine der gepeinigten Seelen sie an, „Eure Anführerin traf vor einiger Zeit hier ein. Sie bat mich euch zu ihr zu schicken, sobald ihr diese Welt betretet. Sie erwartet euch in Jahai in Finsternis … Folgt einfach dem Weg unter euren Füßen.“

Schwerfällig stand Dunkoro auf und sagte: „Wenn Kormir hier ist, müssen wir sofort zu ihr!“

Die Sonnenspeere waren nicht lange unterwegs gewesen, als sie Kormir vor einem Monument für Palawa Joko entdeckten, welches dem in Elona sehr ähnelte.

Dunkoro sprach sie als Erster an: „Kormir … warum seid Ihr hier?“

„Dieses Gebiet ist eine dunkle Kopie unserer Jahai-Klippen, in denen ich gefangen genommen wurde. Es ist eine Welt ganz nach Abaddon´s Vorstellungen … Ich habe zwar mein Augenlicht verloren, doch ich spüre die Qual dafür umso deutlicher. Wenn wir Abaddon nicht aufhalten, macht er aus ganz Elona sein Reich …“, erklärte die Speermarschall traurig.

Shikon No Yosei starrte sie entsetzt an und fragte: „Wie sollen wir uns einem Gott in seinem eigenen Reich entgegen stellen? Bisher ging es nur darum seine Befreiung zu verhindern … aber jetzt … Wie stellt Ihr Euch das vor?“

„Es gibt nur eine Möglichkeit … Wir müssen zum Platz der Sechs Götter und dort um Hilfe bitten!“, antwortete Kormir ohne zu zögern und leitete den Aufbruch ein.

Ohtah Ryutaiyo und Shikon No Yosei fielen etwas zurück, während die Gruppe der Speermarschall folgte.

„Ist das wirklich in Ordnung für dich?“, flüsterte der Assassine so leise wie möglich, „Ich meine, kaum haben wir Kormir gefunden, übernimmt sie gleich wieder die Führung … Dabei warst du diejenige, die uns bis hierher gebracht hat. Du hast den Orden der Sonnenspeere am Leben erhalten, uns durch das Ödland geführt und Varesh getötet!“

Die Elementarmagierin lächelte dankbar und erwiderte: „Keine Sorge, Ohtah. Ich war nur die Vertretung für Kormir. Sie ist die wahre Speermarschall … Außerdem … sollten wir den Kampf gegen Abaddon überleben … kehren wir ohnehin nach Cantha zurück. Und ich hoffe, dass dieser Tag bald kommt. Ich vermisse unsere Heimat …“

„Wir werden Shing Jea wiedersehen, versprochen.“, versicherte er mit einem Handkuss, dann verdüsterte sich seine Miene plötzlich, „Warum hast du mich zur Seite gestoßen, als Varesh die dunkle Energie auf mich geschleudert hat?“

Vollkommen perplex blinzelte sie ein paar Mal, bevor sie antworten konnte: „Um dich zu retten natürlich! Ich konnte nicht zulassen, dass du noch einmal der Dunkelheit verfällst und dir wieder solche Vorwürfe machen würdest … Ach, Ohtah, im Ernst, glaubst du wirklich, ich hätte lange darüber nachgedacht? Ich habe einfach gehandelt.“

„Es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen!“, entgegnete er schroff, „Du hättest sterben können, verdammt nochmal!“

Shikon No Yosei stützte die Hände in die Hüften und meinte: „Genauso wie du.“

„Wenn du stirbst, sterbe ich sowieso …“, hauchte er und lächelte traurig.

Sie raufte die Hände, versuchte sich zu beherrschen ihn nicht anzuschreien: „Manchmal denke ich wirklich, du nimmst mich nicht ernst … Ohne dich könnte ich auch nicht weiterleben, Ohtah, begreif´ das endlich! Du hast schon so oft dein Leben für mich riskiert, aber wenn … wenn du wirklich bei dem Versuch, mich zu beschützen, sterben würdest … Ich schwöre dir, ich würde meine gesamte magische Energie dafür verwenden, mich umzubringen!“

„Genau davor habe ich die meiste Angst.“, gab er geknickt zurück.

Im nächsten Moment zog er sie an sich und küsste sie voller Leidenschaft, legte all seine Hingabe und Dankbarkeit hinein. Und der Streit, wenn man es überhaupt so nennen konnte, war vergessen.

Je tiefer die Sonnenspeere in das Reich der Qual vordrangen, desto zahlreicher wurden die Dämonen und die Margoniter. Die Kämpfe wurden immer intensiver, schienen kein Ende zu nehmen.

Shikon No Yosei hatte das Gefühl ein ganzer Tagesmarsch läge bereits hinter ihnen und konfrontierte Kormir mit ihrer Vermutung: „In dieser Dimension herrscht ein anderes Zeitverhältnis, oder?“

„Es ist Euch also aufgefallen … Ja, in unserer Welt wäre bereits mehr als ein Tag vergangen. Hier ist das anders. In dieser Welt gibt es die Zeit nicht ... Und dennoch haben wir nicht genug davon. Mit jeder weiteren Sekunde, die in Elona verstreicht, gewinnt Abaddon weiter an Macht.“, antwortete Kormir ruhig, „Seht dort … Wir haben es geschafft.“

Die Paragon zeigte auf eine Ansammlung von Gebetstempeln. Die Abbildungen dort waren dieselben wie jene, die sie in Gandara bei ihrem ersten Kampf gegen Varesh Ossa, gesehen hatten – Kormir hatte es ja bereits erwähnt, hier wurden die Sechs Götter verehrt.

Die Speermarschall seufzte: „Dieser Tempel stammt aus der Zeit vor Abaddon´s Sturz. Früher stand er an der Küste des Kristallmeeres ... Als Abaddon fiel, zog er ihn mit sich in die Qual. Hier werden wir die Fünf Götter anrufen.“

„Ich werde zum Schrein der Lyss gehen … Sie schützt seit jeher meine Heimat.“, bestimmte Tahlkora.

Dunkoro nickte zustimmend und meinte: „Dann werde werde ich mit Dwayna sprechen.“

„Nur ein wahrer Krieger wird von Balthasar erhört werden!“, rief Koss sehr von sich überzeugt.

Melonni legte ihre Sense ab und murmelte: „Melandru ist Teil der Natur. Genau wie mein Dorf …“

Ohtah Ryutaiyo sah zu Shikon No Yosei und sprach: „Ich bin ein Assassine. Der Tod ist mir so vertraut, wie sonst kaum jemandem … Möge Grenth derselben Ansicht sein!“

Die fünf Sonnenspeere gingen zu den kleinen Schreinen und knieten davor nieder. Shikon No Yosei, Kormir und General Morgahn blieben in der Mitte des Platzes stehen. Nach und nach leuchteten die Abbildungen auf, bildeten einen gleißenden Energiestrahl. Orange für Balthasar´s Champion, blau wie Dwayna´s Avatar, Grenth´s Stimme trat aus dem weißen Licht, für Melandru´s Beobachter gab natürlich ganz naturgetreu grün und aus dem violettfarbenen Licht kam Lyssa´s Genius. Dies waren die Gestalten, die die Götter auf Erden annahmen.

Die Speermarschall verbeugte sich und flehte: „Götter, wir bitten Euch, erhört uns …“

„Wir haben einen weiten Weg zurückgelegt und schreckliche Kämpfe bestritten. Jetzt sind wir im Herz der Qual. Wir müssen Abaddon aufhalten, aber allein sind wir zu schwach.“, berichtete Shikon No Yosei verzweifelt.

Lyssas Genius war es, die antwortete: „Ihr seid nicht allein … Die Götter sehen immer zu.“

Kormir antwortete empört: „Wir sind nur Sterbliche – er ist ein Gott … Wir brauchen Eure Hilfe!“

Wieder ergriff Lyssas Genius das Wort: „Es gab eine Zeit, da die Götter auf Erden wandelten. Jede Errungenschaft war ein Geschenk der Götter. Doch jetzt sind unsere Geschenke in euch … Dwayna lebt in eurem Mitgefühlt, Balthasar in eurer Stärke. Melandru in eurer Harmonie, Grenth in eurer Gerechtigkeit. Und in eurer Inspiration ist Lyssa. Die Göttlichkeit liegt in euch! So geben wir euch unseren Segen, das sollte für diese Aufgabe genügen. Es ist eure Welt – eure Entscheidung … Trefft eine Wahl, die nur ein Sterblicher treffen kann.“

Mit diesem Worten lösten sie die Götter auf und das Licht der Abbildung verschwand.

Fassungslos klagte Kormir: „Unsere Welt, unsere Entscheidung? Ein paar aufmunternde Worte … und wir sollen gegen einen Gott kämpfen?“

„Es muss eine Möglichkeit geben …“, murmelte die Elementarmagierin und dachte an Teinai „Aber was meinte Lyssa bloß mit >eine Wahl, die nur ein Sterblicher treffen kann<?“
 

Shikon No Yosei stand einsam auf einem Hügel, weit abseits des Lagers der Sonnenspeere. Ihr Blick schweifte über das Land. Hier gab es kein Licht, keine Hoffnung … nur Finsternis. Sie bemerkte nicht, wie sich Ohtah Ryutaiyo zu ihr gesellte. Erst als er ihr eine Hand auf die Schulter legte, zuckte sie zusammen.

„Was machst du hier, Shiko?“, wollte er sanft wissen.

Mit einem Seufzen lehnte sie sich an ihn und flüsterte: „Ich habe zwar gesagt, dass es eine Möglichkeit für uns geben muss, gegen Abaddon zu gewinnen … Doch ich sehe keine. Ich denke immer wieder über die Worte der Götter nach. Es hilfst nichts. Ohtah, ich … ich habe Angst.“

„Wovor fürchtest du dich?“, hakte er nach, während er den Arm um sie legte.

Energisch befreite sie sich wieder aus seinem Griff und erklärte: „Ich habe Angst zu versagen! Shiro, der Untote Licht, selbst Varesh … Alle unsere bisherigen Gegner waren sterblich. Jetzt stehen wir einem Gott gegenüber! Verstehst du nicht, Ohtah? Ich habe seine Macht am eigenen Leib zu spüren bekommen. Er ist zu stark! Und … was ist, wenn ich erneut von ihm berührt werde? Ich halte das nicht noch einmal aus … Zum ersten Mal habe ich tatsächlich den Glauben an unseren Sieg verloren.“

Zitternd ließ sich die hübsche Elementarmagierin zu Boden gleiten. Sie fühlte sich einfach nur noch kraft- und mutlos. Die Qual war kurz davor sie zu brechen.

„Erinnerst du dich noch daran, was ich zu dir gesagt habe, als du unter seiner Kontrolle standest? >Du bist das Licht, das mich aus der Finsternis geholt hat …<“, wiederholte Ohtah Ryutaiyo seine Worte und hielt seiner Geliebten seine Hand hin, „Nimm meine Hand, Shiko, und ich werde diesmal derjenige sein, der dich von der Dunkelheit befreit! Bitte, Shiko … steh´ wieder auf!“

Sie schüttelte den Kopf. Tränen liefen über ihre Wangen.

„Was ist nur aus meiner geliebten Shiko geworden? Meine Shiko hätte sich niemals so unterkriegen lassen. Ich verstehe dich nicht … Als Seiketsu nach Tyria gegangen ist, hast du weitergemacht. Nach dem Tod von Meister Togo, hast du nicht aufgegeben. In der Zeit, in der wir getrennt waren, hast du gekämpft. Nach Kormir´s Entführung, hast du das Kommando über die Sonnenspeere übernommen. Du verkörperst unsere Hoffnungen! Du bist unser aller Licht in dieser Finsternis! Doch du hast dein eigenes Licht zum Erloschen gebracht … Lass´ dies nicht das Ende sein, Shiko. Steh´ auf und kämpfe! Wir brauchen dich!“, versuchte er auf sie einzureden.

Die Worte von Ohtah Ryutaiyo erinnerten Shikon No Yosei an das Gespräch, welches sie nach dem Tod von Meister Togo mit ihrer Seelen-Schwester Seiketsu No Akari geführt hatte. Die junge Mönchin hatte auch von dem Licht in ihrem Innern gesprochen.

„Fürchte dich nicht länger vor Abaddon´s Einfluss. Hier in seinem Reich sind wir ständig seiner dunklen Energie ausgesetzt. Ich werde einen Weg finden, dich vor ihm zu beschützen … Vertrau´ mir!“, flehte der Assassine sie an, „Wir müssen seine Herrschaft über Elona verhindern! Aber ohne dich, sind wir alle verloren. Du bist diejenige, die uns Kraft gibt! Bitte, Shiko …“

Ihr Blick blieb an der Hand hängen, welche er ihr immer noch auffordernd entgegen hielt. Hatten sie wirklich eine Chance Elona von der Qual zu bewahren? Hatte sie selbst die Kraft diesen Kampf zu bestreiten? Entschlossen zog sich an ihm hoch. Wie konnte sie das Wichtigste in ihrem Leben bloß vergessen? Den Mann, der ihr in jeder noch so ausweglosen Situation neuen Mut gab, sie wieder aufrichtete, ihr Sicherheit und Geborgenheit schenke. Mit ihrem geliebten Ohtah Ryutaiyo an ihrer Seite konnte sie niemals unterliegen! Außerdem entsprach es wirklich nicht ihrer Art einfach aufzugeben und tatenlos zuzusehen. Selbst wenn sie eines Tages im Kampf sterben würde, dann mit einem Lächeln auf den Lippen!

Und mit genau solch einem Lächeln sagte Shikon No Yosei: „Ich danke dir, Ohtah … Du hast vollkommen recht. Wenn wir hier versagen, sind nicht nur wir und Elona dem Untergang geweiht, sondern auch Cantha und Tyria … das kann ich nicht zulassen!“

„Nein, das werden wir wirklich nicht zulassen.“, bestätigte Ohtah Ryutaiyo und zog sie in einen intensiven Kuss, der ihr seine Erleichterung und seine Liebe übermitteln sollte.

Leise flüsterte die Elementarmagierin an seinen Lippen: „Du hast mich nie enttäuscht. Du hast deinen Schwur immer gehalten. Verzeih´ mir, dass ich gezweifelt habe … Aber das ist jetzt endgültig vorbei! Dein Glaube an mich hat mir meine Hoffnung und mein Selbstvertrauen zurückgegeben. Es ist Zeit … Lass´ uns diesen Kampf beenden!“

Der Assassine nickte glücklich, bevor er sie erneut küsste.
 

Die Macht der Geheimnisse

Obwohl sich die Sonnenspeere dazu entschlossen hatten, sich dem dunklen Gott endlich gegenüber zustellen, schluckten sie schwer als dieser Moment schließlich kam. Abaddon war gewaltig. Und dass obwohl sie nur seinen Kopf und seine Arme sehen konnten. Ketten fesselten ihn an einen Abgrund. Sein Gefängnis war zwar schwach, aber immer noch vorhanden.

Schockiert hauchte Kormir: „Habt Ihr einen Plan, Shiko?“

„Ja, das habe ich.“, antwortete sie beinahe grinsend, wurde dann jedoch todernst, „Varesh hat es selbst gesagt – Abaddon hält sich für unbesiegbar … das werden wir uns zunutze machen. Er wird von seiner eigenen Qual verschlungen werden … Wenn wir sein Ego verletzten, wird er selbst angreifbar für die dunkle Energie in seinem Reich. Ich spreche aus Erfahrung … Mich hätte diese Welt auch beinahe zerstört. Doch im Gegensatz zu mir, ist Abaddon allein. Er wird sich nicht davon erholen können, dass Sterbliche über ihn gesiegt haben.“

Ohtah Ryutaiyo, Tahlkora, Koss, General Morgahn, Melonni, Dunkoro und Kormir nickten zustimmend. Sie waren überrascht, wie schnell die junge Elementarmagierin die Schwachstelle des Reichs der Qual und somit die von Abaddon herausgefunden hatte.

Wenige Meter vor Abaddon blieben die Sonnenspeere stehen. Der Gott wand sich in seinen Fesseln, konnte sich allerdings kaum bewegen. Die Frage war nur, wie lange das noch so sein würde. Es war eine unbestreitbare Tatsache, dass die Zeit gegen sie arbeitete.

„Vergesst nicht … dies ist unsere Aufgabe. Denkt daran, warum wir diese Entscheidung getroffen haben.“, sprach Shikon No Yosei entschlossen, „Für die Zukunft … Für die Zukunft unserer Welt!“

Melonni sprach als Nächste: „Für die Hoffnung, dass mein Dorf wieder in Frieden leben kann.“

„Für den Glauben, dass meine Stärke Elona retten kann.“, sagte Koss entschlossen.

Tahlkora schloss die Augen und murmelte: „Für den Mut, sich dem Unbekannten zu stellen.“

„Für das Wissen um die Geheimnisse Elona´s.“, fügte Dunkoro hinzu.

Kormir umklammerte ihren Speer, als sie flüsterte: „Für die Wahrheit, die ans Licht kommt.“

„Für die Ehre, die wiederhergestellt wird.“, meine General Morgahn seufzend.

Ohtah Ryutaiyo lächelte und erklärte: „Für die Freundschaften, die entstanden sind …“

„Und für die Liebe, die uns alle verbindet!“, endete Shikon No Yosei, ebenfalls lächelnd.

Licht umgab die acht Sonnenspeere. Es breitete sich aus, vertrieb die Finsternis und erreichte als letztes Abaddon, der aufgrund seines Gefängnisses nicht zurückweichen konnte. Das Licht hüllte ihn ein. Die Vorstellung Sterblichen zu unterliegen, trieb ihn, wie Shikon No Yosei es vorausgesagt hatte, in den Wahnsinn.

Doch plötzlich gab es eine gewaltige Erschütterung und der Assassine rief: „Abaddon! Er zerbirst!“

„Seine Seele wird in die Qual gezogen, sein Wissen bleiben zurück!“, erwiderte die Paragon erschrocken, „Ich spüre seine ungebändigte Macht. Sie wird uns vernichten, wenn wir sie nicht aufhalten!“

Kormir warf ihren Speer zu Boden und ging langsam auf die geballte Energie zu.

„Was tut Ihr da? Das dürft ihr nicht!“, schrie Dunkoro ihr hinter.

Lächelnd drehte sie sich noch einmal halb um und entgegnete: „Ich kann die Macht eindämmen … das ist das Geschenk der Götter an mich. Ich treffe die Wahl, die nur ein Sterblicher treffen kann!“

Und dann geschah ein Wunder … Kormir nahm die Energie in sich auf. Ihr Körper, ihr Geist, ihre Seele, alles veränderte sich.

Zaghaft machte Ohtah Ryutaiyo einen Schritt auf sie zu und fragte: „Kormir? Seid Ihr das?“

„Nein … Doch … Aber noch viel mehr.“, antwortete die leuchtende Gestalt geheimnisvoll, „Nicht Abaddon, nein. Seine Macht. Sein Wissen. Nicht er … Die Qual ist verschwunden. Es gibt einen neuen Tag. Ich bin die neue Göttin der Wahrheit und Hüterin der Geheimnisse. Ich habe nun viel zu tun … viel instand zu setzen. Ich werde Hilfe brauchen. Doch vorerst habt Ihr eure Welt zurück … Und denkt immer daran – Ihr kämpft nie allein!“

„Wir danken Euch … Kormir, Göttin der Wahrheit … Die Sonnenspeere werde Euch niemals vergessen!“, versicherte Shikon No Yosei ihr und verbeugte sich, „Es war mir eine Ehre an Eurer Seite zu kämpfen!“

„Ich danke Euch. Mir geht es nicht anders … Ich weiß, wir werden uns eines Tages wiedersehen.“, bestätigte die Göttin und hielt ihr eine kleine Flasche entgegen, „Nehmt dies mit Euch. Es ist jene Energie, die in Euren Körper gefahren ist … Sie ist von Eurer Magie durchdrungen. Abaddon konnte sie nicht mehr in sich aufnehmen. Ich bin sicher, sie wird Euch helfen, wenn Ihr sie am dringendsten benötigt … Jetzt wird es Zeit für Euch zurückzukehren.“

Mit einem Wink erschuf Kormir ein Portal, das ihre Verbündeten schweren Herzens durchschritten – als sie ihre Augen nur wenige Sekunden später wieder öffneten, standen sie vor Melonni´s Heimatdorf Ronjok.

Erleichtert streckte sich Shikon No Yosei und sagte: „Damit endet diese Schlacht! Doch eines wird sich wohl niemals ändern … Irgendwann kommt die Zeit des Abschieds.“

„Ihr wollt schon gehen?“, wollte Tahlkora traurig wissen, lächelte dann aber, „Ich möchte dir noch danken, Shiko. Du hast mir gezeigt, was wahrer Mut ist … Du warst uns wirklich eine sehr gute Anführerin. Sollte jemals wieder die Notwendigkeit dazu bestehen … werden dir erneut folgen!“

Ohtah Ryutaiyo lächelte und Shikon No Yosei erwiderte: „Wir werden uns wiedersehen. Einmal Sonnenspeer, immer Sonnenspeer. Ob wir in Elona, Tyria oder Cantha leben … wir kämpfen für dasselbe Ziel!“
 

Elona, Land der goldenen Sonne ... Ein Land der Schätze und Reichtümer. Ein Land der Helden. Ein Land, beschützt von seinen Hütern, dem Orden der Sonnenspeere. Einst bedrohte ein Schatten das Land. Der Schatten eines alten und vergessenen Feindes. Die Zeit der Fünf Götter endete. Die Finsternis kam ... und ging. Denn auf jede Nacht folgt der Morgen eines neuen Tages ...

Und eine Zeit für ein neues Abenteuer, welches bereits in ihrer Heimat auf Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo wartete, die Helden von Cantha, Tyria und Elona, die zu lebenden Legenden geworden waren!

Zwischenspiel 02: Eine legendäre Nacht

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Buch 04: Die Legenden leben fort

Erschütterungen unter Cantha

Aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben haben sich die Asura, ein kleines Volk von magiekundigen Wesen eine neue Existenz in der Befleckten Küste, südlich des Maguuma-Dschungels in Tyria, aufgebaut. Auf der Suche nach einem neuen Zuhause sind die Charr nach der völligen Zerstörung Ascalon´s ausgewandert und haben in einem grünen, weitläufigen Gebiet die Charr-Heimat gegründet. Verirrt oder versetzt leben vereinzelt Zwerge aus dem Volk der Deldrimor und der Steingipfel weit, weit oben im Norden, in den Fernen Zittergipfeln. Ein noch völlig unbekanntes Arsenal an Landschaften, Wesen und Überraschungen, die aber schon bald von mutigen Helden entdeckt werden sollen.

Und diese mutigen Helden verweilten auf Geheiß des Kaisers noch einige Tage in Kaineng. Doch die Ruhe endete jäh – die Erde unter Cantha, genauer gesagt unter der Hauptstadt, begann plötzlich zu beben! Shikon No Yosei klammerte sich an Ohtah Ryutaiyo, während die Wände des Palastes heftig wackelten. Sofort eilten sie zu ihrem Herrscher in den Thronsaal.

Kaum war das Erdbeben abgeklungen, stürmte bereits ein Diener herein und erklärte: „Mein Kaiser, es ist etwas furchtbares geschehen! Ein Loch! Ein Loch wurde in der Nähe Eures Palastes entdeckt. Das Himmelsministerium hat seltsame Schwingungen gemessen, die offenbar für die Beben verantwortlich sind. Sie wollen allerdings niemanden hinunter schicken, weil sie es für einfache Arbeiter als zu gefährlich erachten … Sie erwarten Euren Befehl.“

Der Blick des Kaisers wanderte zu Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo.

„Ich kann nicht verlangen, dass Ihr beide Euch nach einer solch langen und schweren Reise erneut in eine solche Mission stürzt.“, sagte er mit gedämpfter Stimme.

Der Assassine lächelte selbstsicher und erwiderte: „Ich glaube, es gäbe kaum etwas, dass uns größere Freude bereiten würde, als Cantha einen erneuten Dienst zu erweisen. Wenn unserem Land Gefahr droht, dann ist es unsere Aufgabe als Verteidiger dagegen anzukämpfen.“

„Du bist ja heute so motiviert, Ohtah …“, lachte seine Geliebte leise, bevor sie sich an den Herrscher wandte, „Egal was dort unten auf uns wartet … Wir werden es aufhalten!“

„Dann tut, was Ihr tun müsst, um Cantha zu beschützen. Möge der große Drache über Euch wachen.“, meinte Kaiser Kisu anerkennend.
 

Shikon No Yosei spähte über den Rand des Abgrunds. Sie konnte das Ende nicht erkennen. Nur schwarze Dunkelheit. Ohtah Ryutaiyo nahm ihre Hand und drückte sie beruhigend. Sie nickten sich entschlossen zu. Dann sprangen sie gemeinsam hinunter. Die beiden Helden fielen und fielen, fielen mehrere hunderte Meter tief, hörten gar nicht mehr auf zu fallen. Schwindel und Bewusstlosigkeit waren die Folge. Als sie schlussendlich wieder erwachten, sahen sie sich um. Die Elementarmagierin entdeckte einen schmalen Pfad, der durch die unterirdische Höhle führte. Sie konnte Licht sehen und verschiedene Geräusche hören. Gemeinsam gingen sie der Sache auf den Grund. Der Weg brachte sie in einen Raum, in dem viele kleine Wesen hektisch hin und her liefen – es waren Zwerge, Deldrimor-Zerge um genau zu sein.

Der vermeintliche Wortführer rief: „Und findet Vekk! Er muss uns das Portal hier raus öffnen!“

„Was ist hier los?“, wollte Shikon No Yosei mit lauter Stimme wissen, „Seid ihr für die Beben verantwortlich? Über uns liegt eine Stadt!“

Der Zwerg nahm sie in Augenschein, doch jemand anderes erregte seine Aufmerksamkeit: „Vekk! Da bist du ja!“

Ein weiteres Wesen, das nicht sehr menschlich aussah, rannte auf sie zu und berichtete: „Es gibt Ärger, Odgen. Die Zerstörer haben die Zentrale Transferkammer schon überrannt.“

Wütend ballte Odgen seine Hände zu Fäusten, während er erwiderte: „Verdammt! Ohne die Kammer gibt es keinen Weg zurück …“

Vekk überlegte einen Augenblick, dann erklärte er: „Nicht weit von hier ist noch ein Portal. Aber die Zerstörer sind dicht hinter mir gewesen. Wir müssen uns beeilen!“

Odgen sah zu Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo und sagte: „Ihr kommt am besten mit uns. Die Zerstörer unterscheiden nicht zwischen dem, den sie jagen und dem, der sich ihnen in den Weg stellt.“

Bevor sie sich auch nur annähernd äußern konnte, ergriff Vekk erneut das Wort: „Wir haben jetzt keine Zeit für lange Erklärungen! Folgt mir!“

Kaum hatte er zu Ende gesprochen, rannte er watschelnd davon, dicht gefolgt von Odgen und den restlichen Zwergen. Ein markerschütternder Laut trieb Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo dazu, ihnen ebenfalls zu folgen. Gerade rechtzeitig, denn als sie durch weitere Gänge der unterirdischen Höhle rannten, nahmen diese Zerstörer die Verfolgung auf. Die Elementarmagierin traute ihren Augen kaum. Bei ihrem Anblick kam ihr ein einziges Wort in den Sinn … »Lava«. Doch aus keinem einfachen Magma, sondern aus lebendiger Lava.

Eine kreisrunde Öffnung kam in Sichtweite und Vekk schrie über die Schulter hinweg: „Das ist das Portal! Springt einfach hindurch!“

Er selbst wagte den ersten Sprung. Die anderen folgten ihm und sie landeten in einer fremden Gegend.

„Vekk, sperr´ das Portal!“, gab Odgen Befehle, „Alle andern sichern das Gelände!“

Die Elementarmagierin ging ein paar Schritte auf den Zwerg zu und fragte: „Wo sind wir hier?“

In diesem Moment gab es einen gewaltigen Knall und etwas krachte zusammen.

Vekk rieb sich die Hände und antwortete an Odgens Stelle: „In den Fernen Zittergipfeln … Vor allem weit weg von den Zerstörern.“

„Hier gibt es kaum Zwerge, höchstens Späher oder einsame Exilanten.“, stellte Odgen fest.

Sein Blick schweifte umher. Plötzlich verengten sich seine Augen. In einer Entfernung stand eine Gestalt, deren Körpergröße die eines Menschen weit überragte.

Ohtah Ryutaiyo, der seine Reaktion bemerkt hatte, wollte leise wissen: „Wer … oder was ist das?“

„Man nennt sie die Norn … Groß, stark und äußerst übellaunig. Wir müssen uns den Weg vielleicht freikämpfen.“, erwiderte er daraufhin.

„Euer Freund hat teils recht. Hierher kommen nicht viele Zwerge … oder Menschen.“, mischte sich die kriegerisch wirkende Frau in das Gespräch ein, während sie langsam näher kam, „Ich bin Jora aus dem Volk der Norn … Sucht Ihr die euren?“

Shikon No Yosei nickte und sagte freundlich: „Ja. Könnt Ihr uns sagen, wo wir sie finden, Jora?“

„Die Menschen leben nicht weit von hier in einer Siedlung. Der Nordwind wird Euch führen …“, antwortete die Norn geheimnisvoll.
 

Die Vierergruppe erreichte ein gewaltiges, glänzendes Bauwerk, das nicht von Menschenhand erbaut zu sein schien. Mehrere Adlerköpfe dienten als Verzierung. Als sie darauf zugehen wollten, wurden sie allerdings plötzlich angegriffen.

Eine Mesmer erschien mit einer Eskorte und verlangte: „Keine Bewegung! Was wollt ihr hier?“

„Wir suchen eine sichere Zuflucht.“, antwortete Shikon No Yosei prompt.

Die junge Frau musterte sie und meinte: „Davon gibt es im Norden nicht viele. Das ist das Auge des Nordens; die Ebon-Vorhut schützt es. Aber viele Kameraden sind unterwegs. Ihr könnt hier bleiben, wenn ihr wollt … Ich bin Hauptmann Langmar´s Stellvertreterin. Mein Name ist Gwen.“

„Ich danke Euch.“, erwiderte Canthanerin mit einer leichten Verbeugung, „Wenn ich Euch meine Begleiter vorstellen darf … Der Zwerg Odgen, der Asura Vekk, der Assassine Ohtah Ryutaiyo und ich bin Shikon No Yosei, Elementarmagierin.“

Gwen führte die Besucher in einen weiten, verspiegelten Saal, in dessen Mitte eine Versenkung mit Wasser eingebaut war.

„Sieht aus wie ein Spähbecken.“, bemerkte Vekk fasziniert.

Die Mesmer nickte und erzählte: „Ja, es ist magisch … Wir können es jedoch nicht aktivieren.“

Ohtah Ryutaiyo legte seiner Geliebten eine Hand auf die Schulter, sah sie auffordern an.

Mit einem leisen Seufzer willigte sie ein: „In Ordnung. Ich versuche es …“

Shikon No Yosei kniete vor dem Becken nieder und murmelte: „Im Namen der vier Elemente … höre meinen Ruf, offenbare dein Geheimnis … und gib dich mir preis …“

Die Wasseroberfläche begann zu leuchten und zeigte das Bild eines wütenden Zerstörers.

„Was … was ist das?“, rief Gwen geschockt.

Der Assassine blickte finster drein, als er erklärte: „Ein Zerstörer. Wir sind ihnen nur knapp entkommen.“

„Und jetzt sind sie auf dem Weg hierher?“, fragte sie verwirrt zurück.

Odgen gab einen knurrenden Laut von sich und sagte: „Die Zerstörer kommen aus den Tiefen von Tyria … Wir brauchen mehr Verbündete! Helft mir, die Norn für diesen Kampf zu gewinnen!“

„Nein, nein.“, widersprach Vekk, während er wild den Kopf schüttelte, „Erstens wissen wir nicht, wie viel vom Portalnetz schon verloren ist. Und zweitens könnte uns das Wissen meines Volkes von Nutzen sein. Wir sollten Verbindung mit ihnen aufnehmen.“

„Beides falsch. Die Ebon-Vorhut braucht dringender Hilfe.“, unterbrach Gwen die aufkommende Diskussion, „Eine große Gruppe unter Hauptmann Langmar unternahm einen Ausfall ins Charr-Gebiet … Sie sind seit Wochen nicht zurück. Und ich befürchte schon das schlimmste. Ich … ich habe das Gefühl Euch vertrauen zu können, Shikon No Yosei. Deshalb bitte … bitte, helft mir meine Kameraden zu finden! Dann wird die Ebon-Vorhut Euch ebenfalls unterstützen.“

„Entscheidet Ihr.“, bestimmte Vekk und sah die Elementarmagierin entschlossen an.

Hilflos wandte sie sich an Ohtah Ryutaiyo, doch der entgegnete: „Du weißt, ich folge überallhin.“

„Gut … ich habe entschieden. Die Zerstörer müssen um jeden Preis aufgehalten werden … und so wie es aussieht, wurde wohl uns diese Aufgabe zuteil. Wenn wir der Ebon-Vorhut helfen, stehen uns am Ende mehr Verbündete zur Verfügung.“, sagte Shikon No Yosei entschlossen, „Gwen, führt uns ins Charr-Gebiet … Lasst uns hoffen, dass es nicht so enden wird wie in Ascalon.“

„Ascalon? Ihr kennt meine Heimat?“, platzte es Gwen überrascht heraus.

Die Elementarmagierin sah sie ebenso perplex an und sagte: „Ein alter Freund hat mir einmal davon erzählt. Ich werde Euch auf dem Weg alles erzählen …“
 

Die Suche nach der Ebon-Vorhut

Vekk kannte praktischerweise ein Portal, das in die Nähe der Charr-Heimat führte. Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Gwen, Odgen und Vekk schwärmten aus, untersuchten die Gegend. Der kleine Asura fand mit seiner feinen Nase schließlich die Spur vieler Menschen, welche zu einem verkohlten Schlachtfeld führte. Der Gestank der verbrannten Leichen raubte der Elementarmagierin den Atem, Übelkeit stieg in ihr auf.

Gwen stiegen die Tränen in die Augen, sie kniete neben einem eisernen Helm nieder und schluchzte: „Das ist Hauptmann Langmar´s Helm. Die Ebon-Vorhut fiel hier … Diese verdammten Wilden! Sie haben mir wirklich alles genommen … Meine Eltern, meine Heimat, meine Freiheit. Und nun auch noch die Ebon-Vorhut … meine Kameraden, meine Freunde.“

„>Genommen< könnte richtig sein.“, bemerkte Vekk spitzfindig, „Es gibt nicht genug Leichen.“

Shikon No Yosei sah sich um und bestätigte: „Stimmt, Vekk. Das sind nur eine handvoll Leichen. Wie viele Leute hatte Hauptmann Langmar dabei?“

Die Mesmer drehte sich zu ihnen um und meinte: „Etwa vierzig Männer und Frauen. Lieber tot als von den Charr gefangen! Das sollen diese Tiere büßen! Wir müssen ihnen hinterher!“

„Ihr habt Glück.“, erwiderte der Assassine und fuhr mit den Fingern über den Boden, „Auch wenn ich mich mit diesen Charr nicht auskenne … hier wurden Gefangene entlang geschleift.“
 

Auf dem Pfad durch die grüne Landschaft begegneten sie einzelnen Spähern, die sie geradewegs zum schwer befestigten Lager der Charr führten.

Shikon No Yosei sondierte das Kampfgebiet und flüsterte: „Ohtah, wir haben gegen diese Überzahl keine Chance. Es gibt nur eine Möglichkeit … Du musst sie mithilfe deiner Schattenverschmelzung in kleinen Gruppen herauslocken. Gwen, Vekk, Odgen und ich verstecken uns hinter einem der Hügel und greifen aus dem Hinterhalt heraus an.“

Gesagt, getan. Doch die Unsichtbarkeit, die Ohtah Ryutaiyo durch die Schattenverschmelzung erlangte, endete viel früher als gewöhnlich. Die Charr nahmen ihn prompt ins Visier. Jeder noch verbliebene Gegner ging zum Angriff über. Die Elementarmagierin spürte im ersten Moment nur die lähmende Angst um ihren Liebsten. Im zweiten Moment unbändige Wut auf die Charr. Sie sprang hinter dem Hügel hervor und stellte sich schützend vor den Assassinen.

„Verschwinde, Shiko! Sonst werden sie auch dich töten!“, schrie Ohtah Ryutaiyo sie an – in seiner Stimme konnte man ebenso große Furcht wahrnahmen.

Aber wie nicht anders zu erwarten gewesen war, ging Shikon No Yosei nicht auf seine Forderung ein, sondern entgegnete: „Nein. Wenn wir sterben … dann sterben wir gemeinsam. Ich lass´ dich nicht alleine gehen, niemals!“

Der ehemalige Am Fah stockte, starrte mit leeren Augen vor sich hin. Ihre Worte versetzten ihn nach Elona zurück, als Shikon No Yosei unter dem Einfluss Abaddon´s gestanden hatte. Wenn er darüber nachdachte, dass dieser Augenblick, in dem er bereit gewesen war, sie umzubringen und ihr zu folgen, erst wenige Wochen zurücklag, lief es ihm eiskalt den Rücken runter …

Derweil konzentrierte besagte junge Frau ihre Magie. Nicht wie gewöhnlich ihre übliche Kraft; sie griff nach ihrer wahren Macht. Das Licht strömte aus ihrem Körper, drang in die der Charr ein und löschte ihre Existenz vollständig aus. Erschöpft schwankte Shikon No Yosei zur Seite, was Ohtah Ryutaiyo aus seiner Erinnerung riss und er sie so rechtzeitig festhalten konnte, bevor sie Bekanntschaft mit dem Boden machte.

Nachdem sich Shikon No Yosei wieder einigermaßen erholt hatte, durchsuchten sie das Lager. Doch keine Spur der Ebon-Vorhut. Gwen dagegen fand einen gefangenen Charr und schleuderte ihm ihre Mesmer-Energie entgegen.

Ohtah Ryutaiyo packte sie am Handgelenk und fragte: „Gwen, was tut Ihr da?“

„Meine Arbeit – ich töte Charr.“, antwortete sie gereizt.

Der Charr keuchte und murmelte: „Tapfere, kleine Maus … schließ´ die Tür auf, wenn du wirklich mutig seid.“

Der Assassine hielt sie weiterhin fest, während Shikon No Yosei sich an den Charr wandte: „Wer seid Ihr? Warum seid Ihr hier eingesperrt? Redet … oder ich lass´ sie die Sache beenden.“

„Tötet mich und ihr seht eure Freunde nie wieder.“, erklärte der Charr und richtete sich auf, „Ich bin Brandor Grimmflamm … Die toten Charr waren nicht meine Freunde. Sie haben meinen Trupp und eure Soldaten gefangen genommen. Beide sollen sterben.“

Die Elementarmagierin dachte an ihr Gespräch mit Bruder Mhenlo über die Charr Ascalon´s zurück und fragte: „Gehörten die Charr hier zur Schamanenkaste?“

„Da ist jemand gut informiert …“, erwiderte Brandor, „Mein Trupp widersprach den Schamanen, die uns zur Anbetung falscher Götter führen wollen. Dafür sollen sie gemeinsam mit euren Leuten geopfert werden … Ich brauche euch, um meine Leute zu retten. Ihr braucht mich, um eure zu finden.“

Mit durchdringendem Blick sah Shikon No Yosei ihn an und erklärte: „Ist gut. Ohtah, hol´ ihn da raus … Die Abmachung gilt, Charr, doch ich hab Euch im Auge.“

So führte Brandor Grimmflamm seine neuen Zwangsverbündeten zu einem großen Tor, das in nördlicher Richtung lag und zu einem unterirdischen Bau führte.

„Dies ist der Eingang zum Tempel der Verdammten … zur Kathedrale der Flammen.“, erklärte Brandor und erhob seine Stimme, „Gron! Bonwor! Zeigt eure räudigen Pelze!“

Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich zwei Charr vor ihnen auf und einer der Charr sagte teils ungläubig, teils erfreut: „Brandor, du solltest tot sein!“

„So wollte es der Hierophant … es gelang nicht!“, antwortete er und grinste breit.

Ohtah Ryutaiyo musterte die drei Charr und fragte: „Ist das Euer Trupp, Brandor?“

„Ich bin Gron Grimmklaue. Das ist Bronwor Grimmklinge.“, ergriff der fremde Charr wieder das Wort, „Sied, Mähn, Umber haben ebenfalls überlebt. Die Schamanen haben sie runter gebracht.“

„Wir müssen ihnen hinterher.“, entschied Brandor und wandte sich an die hübsche Elementarmagierin, „Vorerst müsst Ihr mir also noch vertrauen … Wir schaffen es nur gemeinsam!“
 

In der unterirdische Kathedrale der Flammen folgten sie der Spur eines Charr-Trupps und entdeckten einen gefangenen Charr. Brandor zufolge war es Sied Grimmwalt. Als die Wachen die Eindringlinge bemerkten, gingen sie direkt zum Angriff über. Jedoch nicht sehr erfolgreich. Ohtah Ryutaiyo entwendete dem Gefängniswächter via Schattenschritt blitzschnell den Schlüssel zur Zelle und tötete ihn mit einem einzigen präzisen Dolchstoß. Shikon No Yosei jubelte begeistert. Egal wie oft sie ihn auch kämpfen sah, er ließ ihr Herz immer wieder erneut schneller schlagen.

„Du bist sehr schnell … für einen Menschen.“, bemerkte Sied anerkennend, „Mähn und Umber werden weiter unten festgehalten, Brandor.“

Ein Portal brachte sie tiefer in die Kathedrale hinein und mit einem Mal wurde es kälter.

„Sagtet Ihr nicht, dies sei die Kathedrale der Flammen?“, maulte Gwen mürrisch.

Vekk deutete auf ein Gefängnis aus Eis und antwortete: „Sie haben Energie gefroren … Sehr beeindruckend, das muss selbst ich als Asura zugeben.“

Kaum ausgesprochen entdeckten sie noch einen von Brandor´s Brüdern, Mähn Grimmzunge. Und auch dieses Mal besorgte Ohtah Ryutaiyo den Schlüssel zur Freiheit des Charr. Doch da Mähn von auffallend mehr Gegnern bewacht wurde, unterstützten die anderen ihn tatkräftig. Selbst Brandor als Waldläufer und Sied als Ritualist schalteten sich in den Kampf ein.

Mähn bedankte sich und erklärte: „Sie wollten aus meiner Hinrichtung ein Spektakel machen. Das ist wahrscheinlich der einzige Grund, warum ich nicht schon längst tot bin. Die Wächter meinten, Umber sei bei den brennenden Bäumen.“

Nachdem sie ein weiteres Portal durchschritten hatten, waren sie von Bäumen umringt, deren Kronen wirklich in Flammen standen. Es war unerträglich heiß und die Sicht vor ihren Augen verschwommen. Ganz in der Nähe wurde ein Charr mit strahlend weißem Fell von mehreren bösartig wirkenden Charr umringt – Umber Grimmherz. Gemeinsam entschieden die Verbündeten diese Rettungsmission zügig hinter sich zu bringen und Brandor´s Trupp somit wieder zu vereinen.

Brandor stellte sich Shikon No Yosei gegenüber und sagte anerkennend: „Ihr habt meinen Trupp befreit … Die Abmachung gilt – ich halte sie ein.“

„Die Charr kennen also Ehre … Im Ernst, Brandor, ich habe nicht daran gezweifelt.“, erwiderte sie lächelnd, „Wo wird die Ebon-Vorhut gefangen gehalten?“

Der Charr sah sie ernst an und antwortete: „Im Süden … im Sacnoth-Tal. Dort liegt die Festung des Hierophanten. Das wird ein hartes Stück Arbeit. Selbst mit der Hilfe meiner Brüder.“

Mit diesem neuen Ziel vor Augen, verließen sie die Kathedrale der Flammen so schnell, wie nur irgendwie möglich. Es war wahrlich kein Ort, an dem sie länger als nötig verweilen wollten.
 

Die Verbündeten versammelten sich auf einer Klippe, von der aus man die Festung gut in Augenschein nehmen konnte.

„Das ist sie … die Festung des Hierophanten Brandseele. Er ist der amtierende Anführer der Schamanenkaste.“, erklärte Brandor grimmig, „Ganz im Westen stehen Wachtürme und sichern den Weg durch die Hintertür. Dann ist da noch das Haupttor – schwer befestigt, mit Wehr-Verschlingern davor. Eure Leute befinden sich mit Sicherheit im Zentrum der Festung.“

Ohtah Ryutaiyo sah auf die Festung hinab und wollte abschätzend wissen: „Wie kommen wir rein?“

„Haupttor.“, knurrte der Charr, „Die Wehr-Verschlinger sind gut um Leute abzuschrecken, schlecht für die Verteidigung. Mein Trupp wird sich um sie kümmern.“

Gwen entwich ein skeptischer Laut und sie fragte herausfordernd: „Und wer garantiert uns, dass Ihr uns nicht an diesen Hierophanten ausliefert?“

„Du verstehst uns wirklich nicht, was? Du weißt absolut nichts über mein Volk!“, antwortete Brandor.

Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen und zischte: „Ich verstehe genug … Ihr seid Tiere. Wilde Tiere. Ich werde auf Euren Gräbern tanzen!“

Mit einem letzten mörderischen Blick auf Brandor zog sich Gwen vom Hügel zurück. Sie hatte genug von seiner Anwesenheit.

„Furcht zersetzt ihr Herz.“, flüsterte er, „Sie war Gefangene der Charr. Doch jetzt halten ihre Ängste sie gefangen … Bis sie die überwindet, nutzt sie keinem von uns.“

Shikon No Yosei nickt leicht und rief dann wieder ernst: „Es ist Zeit! Retten wir die Ebon-Vorhut!“
 

Während sich Brandor´s Trupp um die Bedienung der Wehr-Verschlinger kümmerte, drangen Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Gwen, Vekk, Odgen und Brandor mit einem Sturmangriff in das Innere der Festung ein. Die gegnerischen Charr zogen sich in einer Linie zusammen. Die folgenden Ereignisse waren kein einfacher Kampf mehr, sondern ein einziges Gemetzel, an dem besonders die Mesmer, der Assassine und Brandor voranging beteiligt waren. Derweil entdeckte die Elementarmagierin, dass Gwen´s Leute wirklich im Zentrum, in einer Art Grube festgehalten wurden. Und als der Hierophant schließlich akzeptierte, dass seine Charr keine Chance gegen diese geballte Entschlossenheit hatten, ließ er eine handvoll Zerstörer auf sie los. Doch anstatt gegen Shikon No Yosei und die anderen zu kämpfen, wanden sie sich den Charr zu und schlachteten diese brutal ab.

„Das ist unsere Chance!“, schrie Shikon No Yosei.

Ein Frontalangriff auf die geringe Zahl der Zerstörern, führte der jungen Canthanerin vor Augen, mit was für einem Gegner sie es zu tun hatten. Die Zerstörer waren immun gegen ihre Feuerangriffe, was sie nicht wirklich überraschte. In Elona hatte der Meister der Gerüchte ihr vor dem Kampf gegen die Dürre erklärt, dass sie sich immer auf die Schwächen der einzelnen Wesen konzentrieren sollte. Und wie sich herausstellte, konnten die Zerstörer ihre Wassermagie ganz und gar nicht ausstehen. Trotzdem gehörten sie zu den stärksten Gegnern, mit denen sie es jemals zu tun gehabt hatte. Ohtah Ryutaiyo tötete den letzten Zerstörer und Gwen zerstörte das Tor, hinter dem ihre Kameraden gefangen waren. Erleichtert ließ Shikon No Yosei ihre magische Energie fallen.

Sie ging zu Brandor und sagte dankbar: „Ohne Euch und Euren Trupp hätten wir die Ebon-Vorhut nicht befreien können.“

„Mag sein …“, erwiderte Brandor und warf einen Blick zu seinen Brüdern, „Den Charr steht eine schwere Zeit bevor. Auch wenn ihr Anführer tot ist … Kampflos verschwinden die Schamanen nicht. Vielleicht kehre ich zurück, doch vorerst kämpfe ich weiter an deiner Seite.“

Lächelnd antwortete die Elementarmagierin: „Das freut mich. Das freut mich wirklich, Brandor … Wir können Eure Kraft und Euer Wissen sicher brauchen.“

Gwen unterbrach das Gespräch mit ihrem Auftauchen, das Brandor mit einer hochgezogenen Augenbraue kommentierte.

„Eine gute Tat kann Eurer Volk nicht retten, Mörder!“, fauchte sie wütend, „Eins sollt Ihr wissen … Ich mag Euch nicht. Ich verzeihe Euch nicht. Vor allem fürchte ich Euch nicht. Ich hasse Euch – das ist ein Unterschied!“
 

Nach ihrer Rückkehr ins Auge des Nordens setzte sich Odgen mit Hauptmann Langmar zusammen und besprach mit ihr die Vorgehensweise im Krieg gegen die Zerstörer. Die Ebon-Vorhut wollte sich nicht nur für die Hilfe bedanken, sondern auch ihre toten Kameraden rächen. Währenddessen hielten sich Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo in der verspiegelten Halle mit dem Spähbecken auf.

„Ich frage mich, ob sich Kaiser Kisu wohl um uns sorgt …“, fragte sie in die Stille hinein.

Der Assassine zog sie näher an sich und antwortete: „Ja, wir sind schließlich einfach verschwunden. Aber denk´ daran, was er zu uns vor unserer Abreise gesagt hat … >Dann tut, was Ihr tun müsst, um Cantha zu beschützen.<“

„Und für die Sicherheit Cantha´s müssen wir hier aktiv werden. Wenn wir warten, bis die Zerstörer unser Land angreifen, ist es zu spät.“, erwiderte die Elementarmagierin.

Er streichelte über ihren Arm und sagte: „Wir können die anderen auch nicht einfach im Stich lassen … So wie sie uns brauchen, brauchen wir sie. Es ist beinahe wie im Kampf gegen Shiro. Allein können wir nicht gegen diese Armee bestehen … In dieser Hinsicht sind sogar wir machtlos.“

„Mit der Unterstützung der Ebon-Vorhut haben eine solide Grundlage. Als nächstes stehen die Norn auf unserer Liste … und anschließend die Asura. Wir müssen es schaffen, sie alle von unserem Vorhaben zu überzeugen …“, meinte Shikon No Yosei und lachte prustend, „Anderseits haben wir es auch geschafft, dass Gwen weiterhin Brandor´s Gegenwart erträgt.“

Ohtah Ryutaiyo wandte seinen Blick ab und wollte leise wissen: „Du magst diesen Charr wohl sehr?“

„Während der Überfahrt nach Tyria habe ich mich lange mit Bruder Mhenlo über die Zerstörung seiner Heimat unterhalten. Er hat die Charr als blutrünstige Wesen beschrieben … Brandor ist anders. Er ist seinem Trupp ein guter Anführer. Dafür bewundere ich ihn … nicht mehr und nicht weniger.“, antwortete Shikon No Yosei ehrlich, „Wir können froh sein, dass er uns zur Seite steht.“

Lächelnd drehte sie sich zu ihrem Geliebten um und küsste ihn. Ohtah Ryutaiyo ließ alle Anspannung fallen, erwiderte den Kuss und legte seine Hände auf ihre Taille. Seine aufkeimende Eifersucht war vergessen.
 

Fluch und Ehre der Norn

Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Vekk, Odgen, Gwen und Brandor ließen das Augen des Nordens erneut hinter sich. Ihr Ziel war die große Nornfestung, die einige Stunden entfernt lag. Die Elementarmagierin fragte sich, ob sie Jora dort wiedersehen würden. Auf ihrem Weg wurden sie von einer scheußlichen Bestie angegriffen. Sie ähnelte einem großen Bären, hatte weißes Fell, stahlblaue Augen und spitze Eiszapfen im Rücken stecken. Doch bevor die Verbündeten angreifen konnten, floh sie.

„Ich grüße dich, Shikon No Yosei. Und euch, die ihr sie begleitet.“, sagte Jora und trat näher, „Ich muss mit euch sprechen. Über dieses Ungetüm … gegen das ihr gekämpft habt.“

Mit überraschtem Blick meinte Shikon No Yosei: „Wer oder was ist dieses Wesen, Jora? Ihr scheint einiges darüber zu wissen. Das sehe ich an Eurem Blick …“

„Du hast recht … Ich weiß nur zu viel, fürchte ich.“, antwortete die Norn seufzend, „Ich will euch meine Geschichte erzählen … Mein Bruder und ich waren beide Jäger. Eines Tages verfolgten wir Beute am Drakkar-See, den unser Volk sonst meidet. Dort fanden wir etwas … Etwas lag in der Luft. Etwas altes … sehr alt und mächtig. Ich weiß nicht, was uns damals berührte, aber seine Kraft verzerrte uns fast. Ich widerstand der Macht und wurde verflucht. Das Wilde entfloh mir – ich kann nicht mehr zur Bärin werden … Mein Bruder griff nach der Macht und zerbrach. Er wurde verwandelt. Gegen ihn … gegen den Nornbären … habt ihr gekämpft. Jetzt überfällt Svanir unsere Siedlungen. Er weicht mir aus, doch ich folge ihm … Ich wusste nicht mehr weiter und bat die Große Bärin um Rat. Sie will, dass ihr mir helft.“

„Wir sollen helfen, Euren Bruder zu finden?“, schaltete sich Ohtah Ryutaiyo in das Gespräch ein.

Doch Jora widersprach ihm: „Nein. Ihr sollt mir helfen, ihn zu töten!“

Nach ihrer Zustimmung erzählte Jora ihnen vom Schrein des Wolfsgeistes, zu dem sie die kleine Gruppe führte, um den Segen des Geistes der Wildnis zu erbitten.

Die Norn kniete davor nieder und sprach: „Großer Wolfsgeist … wir bitten dich um Hilfe. Wir müssen gegen den Nornbären kämpfen … Bitte, zeige uns, wo er sich befindet.“

Nach einer Weile stieg ein strahlendes, blaues Licht empor und wies Richtung Nordwesten. Jora erhob sich und gemeinsam folgten sie dem Licht.

„Zeige dich, Svanir! Stelle dich mir zum Kampf … Oder hast du Angst vor deiner eigenen Schwester?“, rief Jora lauthals.

Ein fürchterlicher Laut erfüllte die schneebedeckte Lichtung und wenige Meter vor ihnen erschien ihr Bruder in Gestalt des Nornbären. Er knurrte, seine stahlblauen Augen funkelten. Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo eilten an Jora´s Seite, um ihr beizustehen. Vekk, Odgen, Brandor und Gwen reagierten ebenfalls und eröffneten den Kampf. Jora zog ihr goldenes Schwert und wehrte damit die Prankenhiebe des Nornbären ab. Der Assassine ließ seine Dolche ausnahmsweise einmal in ihren Halftern und warf nur seine Pfeile, die mit einem lähmenden Gift ausgestattet waren – er war inzwischen ein wahrer Meister vom Mischen der verschiedenen Substanzen. Als das Gift dann zu wirken begann, sank der Nornbär kraftlos in sich zusammen. Knurrend kauerte er am Boden.

„Ich muss es beenden …“, entschied Jora und sah ihren Gegner durchdringend an, „Du bist immer noch mein Bruder, Svanir. Es ist meine Verantwortung … Verzeih´ mir!“

Mit einem lauten Kampfschrei rammte sie ihm das Schwert in die Brust und damit genau in sein Herz, das augenblicklich aufhörte zu schlagen.

Leise flüsterte Shikon No Yosei: „Jora … Ihr habt mein Mitgefühl.“

„Es konnte nur auf diese Weise enden.“, sagte die Norn, deren Körper von der geisterhaften Form eines Bären umgeben war, „Der Fluch ist gebrochen … für mich und Svanir, glaube ich. Ihr habt mir geholfen, ich werde euch helfen.“

Odgen nickte: „Wir müssen die Norn zum Kampf gegen die Zerstörer zusammenrufen!“

„Mein Wort habt wenig Gewicht, fürchte ich. Das Blut meines Bruders klebt an mir. Aber … Olaf, der Siebte aus Olaf´s Linie genießt viel Ansehen.“, erklärte Jora, „Ich jedoch muss Egil aufsuchen, der bei den Flammen erzählt, und den Namen meiner Sippe reinwaschen. Er war ein alter Freund meines Vaters … Er kann mir sagen, was ich tun muss, um meine Ehre wiederherzustellen.“

Shikon No Yosei berührte ihren Arm und entgegnete: „Ihr seid nicht allein. Wir helfen Euch mit Eurer Last. Wir stehen Euch zur Seite.“

„Ich danke dir … Ihr habt den Geist eines Norn, Shikon No Yosei. Unsere Freundschaft macht mich stolz.“, erwiderte Jora lächelnd.

Sie lächelte ebenfalls und meinte: „Meine Freunde nennen mich >Shiko<.“
 

Der Deldrimor war schlechter Laune, weil Shikon No Yosei entschieden hatte, zunächst zu Egil zu gehen, bevor sie mit Olaf sprachen. Jora ignorierte seine gemurmelten Wiederworte und führte ihre Verbündeten schweigsam nach Egils Heim.

„Egil … es freut mich, dich wiederzusehen.“, begrüßte sie ihren Bekannten und umarmte ihn, „Ich muss erneut mit der Großen Bärin in Kontakt treten … Der Fluch ist gebrochen. Ich will den Namen meiner Sippe reinwaschen. Hilfst du mir dabei?“

Der ältere Norn lächelte herzlich, dann antwortete er: „Natürlich, meine Kleine. Es tut mir Leid um deinen Bruder … Aber es ist schön, dich von diesem schrecklichen Fluch befreit zu sehen. Folgt mir zum Schrein.“

Der Norn lief voraus, während Shikon No Yosei zu Jora ging und fragte: „Jora, kannst du mir erklären, was es mit der Großen Bären, dem Wolfsgeist und dem Rabengeist auf sich hat?“

„Es freut mich, dass du dich für die Gebräuche meines Volkes interessiert. Anders als die Menschen beten wir nicht die Sechs Götter an, sondern die Geister der Wildnis. Die Große Bärin verleiht uns Stärke … Der Wolfsgeist steht für unsere Ausdauer … Der Rabengeist schenkt uns Weisheit …“, erklärte Jora, „Es gibt auch Norn, die sich einem von ihnen besonders verschrieben haben. Egil und ich gehören ebenfalls dazu – wir habe der Großen Bärin unsere ewige Treue geschworen. Ach, und Olaf fühlt sich am meisten mit dem Geist des Raben verbunden. Sein treuster Begleiter ist sogar ein Rabe.“

Die Elementarmagierin nickte interessiert und meinte: „Ich glaube, ich kann die Denkweisen der verschiedenen Völker inzwischen etwas nachvollziehen.“

„Das Gefühl habe ich auch.“, stimmte Jora lächelnd zu, während sie zügig vorankamen.

Der Schrein der Großen Bärin bestand aus einem kreisrunden Feld, das mit zahlreichen Ornamenten geschmückt war. Inmitten dieses Feldes brannte eine Flamme. Es war keine gewöhnliche Flamme, die Magie war deutlich spürbar. Die sieben Verbündeten und Egil knieten zeremoniell nieder.

Der Norn machte eine weit ausholende Handbewegung und sprach: „Ich bitte die Bärin um Segen. Ich bitte die Bärin um Mut. Ich bitte die Bärin um Stärke. Nenne der Bärin deinen Namen und dein Anliegen …“

„Ich bin Jora aus dem Geschlechte Björn´s.“, erwiderte Jora, „Mein Bruder Svanir irrte sich schwer. Ich will dein Namen meiner Sippe reinwaschen.“

Mit geschlossenen Augen erklärte Egil: „Der Name deiner Sippe gilt wieder, wenn du deren Heimstätte zurückgewinnst. Wasche deine Sünden rein … Blut wäscht Blut.“

„Blut wäscht Blut.“, bestätigte Jora nickend.

Er öffnete seine Augen wieder und riet ihr: „Geh´ auf der Spur der Großen Bärin … Nimm ihr Geschenk an … Du weißt, was du zu tun hast. Blut wäscht Blut.“

„Blut wäscht Blut.“, wiederholte Jora abermals, „Ich verstehe … Hab´ Dank, Egil.“

Ohtah Ryutaiyo sah verständnislos drein und fragte: „Ihr versteht? Könntet Ihr uns einweihen?“

„Blut wäscht Blut.“, sagte sie zum dritten Mal und zeigte zum Horizont, „Der Name meiner Sippe wird rein, wenn ich ihr Land zurückerobere … Dieses Land liegt im Osten und wurde von Charr eingenommen. Sie müssen sterben!“

„Charr töten? Wir sind dabei!“, rief Gwen sofort erfreut.
 

Das Land von Jora´s Familie war weitläufig, flach und strahlend weiß. Es wäre ein sehr idyllischer Ort gewesen, wären die Charr nicht gewesen. Erbarmungslos griffen Jora und ihre Freunde an. Der Schnee färbte sich rot, schmolz durch die Wärme des Blutes. Nun verstand Shikon No Yosei warum Egil dieses Ritual als »Blut wäscht Blut« bezeichnet hatte. Doch plötzlich schrie die schöne Elementarmagierin erschrocken auf. Ohtah Ryutaiyo wirbelte herum und sah mit Schrecken, wie seine Geliebte am Boden lag. Ein Charr hielt drohend seine Axt über ihren Körper. Via Schattenschritt rannte er zu ihr und stieß den Charr zur Seite, dabei warf er zusätzlich einen seiner tödlichen Giftpfeile, der mitten ins Herz des Feindes traf.

Erleichterte warf sich Shikon No Yosei in seine Arme und sagte: „Du hast mich gerettet, mein Held!“

„Und du hast meinem Leben einen Sinn gegeben …“, flüsterte der Assassine, bevor er ihr einen flüchtigen Kuss gab und in den Kampf zurückkehrte.

Nachdem die Schlacht beendet war, rief sogleich Gwen erfreut: „Das fühlte sich gut an!“

Der Schnee war inzwischen zu einem roten, kalten Fluss geworden, dessen Anblick Shikon No Yosei einen Schauer über den Rücken jagte. Sie tötete niemals leichtfertig oder gar mit Freude – jedes einzelne Leben, welches sie auslöschte, versetzte ihrem Herzen einen kleinen Stich und geschah einzig im Namen ihrer Mission als Verteidigerin von Cantha. Sie mochte die Mesmer, aber sie konnte ihre Begeisterung einfach nicht nachvollziehen.

Die schöne Shing Jea räusperte sich leise, ging zu Jora und wollte mitfühlend wissen: „Alles in Ordnung bei dir?“

„Ja.“, antwortete sie und legte eine Hand über ihr Herz, „Ich spüre es … Die Große Bärin ist zufrieden mit unserem Werk … Ich halte mein Wort.“

Odgen sah sie argwöhnisch an und fragte: „Und was ist mit den anderen Norn?“

„Das entscheidet jeder für sich selbst.“, meinte Jora nüchtern.

Er ballte die Hände zu Fäusten und rief beinahe wütend: „Versteht Ihr nicht? Wir haben nicht die Zeit, um eine Armee Norn für Norn aufzustellen!“

„Norn brauchen keine Armeen. Wir kämpfen allein, wie jeder wahre Krieger. Das Übereinkommen für diesen Kampf bestand nur auf Wunsch der Großen Bärin.“, erwiderte die Norn, „Ich rede mit meinen Landsleuten … Aber ob sie helfen, ist ihre Entscheidung … nicht meine. Norn sind einfach nicht wie Zwerge, Menschen oder gar Asura.“

Odgen ging davon, während er murmelte: „Der Große Zwerg steh´ mir bei!“

Shikon No Yosei sah ihm nach und erklärte: „Weißt du, er ist nur besorgt um sein Volk … Doch ich glaube, ich verstehe, was du meinst.“

„Und deswegen führst du, Shiko.“, stimmte Jora mit einem stolzen Lächeln zu.
 

Olafsheim lag in einem tief verschneiten Gebiet. Der wütende Schneesturm war daher nicht gerade förderlich für ein schnelles Weiterkommen. Selbst Shikon No Yosei konnte nicht viel ausrichten, da der beißende Wind und der kalte Schnee ihre Konzentration behinderten. Als der Sturm schließlich nachließ, fanden sie sich auf einer weiten Lichtung wieder. Ein gewaltiger, leicht bekleideter Norn mit einer Axt stellte sich ihnen in den Weg. Doch bevor sie sich ihm auch nur annähernd vorstellen konnten, wobei er Jora mit einem anerkennenden Nicken bedachte, wurde die Gruppe von einer Horde Zerstörer angegriffen. Durch die vereinten Kräfte gewannen sie den Kampf verhältnismäßig schnell. Sowohl Shikon No Yosei, als auch Ohtah Ryutaiyo war aufgefallen, dass ihre Anzahl wesentlich größer war, als sie es bisher gewohnt gewesen waren.

„Was waren das für Dinger?“, fragte der Norn mürrisch.

Jora, die direkt neben den Canthanern stand, flüsterte ihr zu: „Das ist Olaf Olafson.“

Die Elementarmagierin nickte leicht und antwortete Olaf: „Man nennt sie Zerstörer. Wegen ihnen kamen wir zu Euch, Olaf. Wir wollten Euch vor dieser Gefahr warnen.“

„Das ist der Norden. Gefahren gehören hier zum täglichen Leben.“, erwiderte er grimmig.

Vekk schüttelte resigniert den Kopf: „Ich fürchte, das ist mehr als eine schlichte Gefahr. Ihre Zahl lässt mich annehmen, dass irgendwo ein aktives Portal ist – eines, das zur Zentralen Transferkammer führt, die von den Zerstören erobert wurde.“

„Pah! Wenn sie vor meiner Tür erscheinen, begrüße ich sie mit der Axt!“, entgegnete Olaf lachend.

Jora räusperte sich und erklärte: „Meine Freunde wollten sagen, die Zerstörer würden eine harte Jagd liefern.“

„Warum sagen sie das nicht gleich? Dann kommt. Auf zum Kampf gegen sie!“, rief Olaf begeistert.

Und schon ließ Olaf drei seiner stärksten Nornkrieger antreten. Sogar ein junges Mädchen war unter ihnen.

„Das ist meine Tochter Olrun Olafsdottir.“, meinte er auf ihren fragenden Blick hin.

Vekk unterbrach die kleine Vorstellung und führte die Gruppe in ein verzweigtes Tunnellabyrinth, welches nur so von Zerstörern wimmelte. Die Norn, die Menschen, der Zwerg, der Asura und der Charr kämpften Seite an Seite. Es war, wenn man von den Gegnern einmal absah, ein wunderschönes Bild der Zusammenarbeit verschiedenster Völker. Der Kampf war erbittert, doch dann blieb Olaf auf einmal stehen und richtete seinen Blick auf ein Tor.

„Hinter diesem Tor liegt ein Schrein des Rabengeistes … Wir müssen ihm huldigen, bevor wir weitergehen. Vielleicht steht er uns dann auch bei der Jagd auf die Zerstörer bei.“, meinte er.

Ohtah Ryutaiyo begleitete ihn. Der Schrein strahlte ein ruhiges, weißes Licht aus, vor dem die beiden Männer niederknieten.

„Ich, Olaf Olafson, ermesse mich zu dir zu sprechen …“, hallte seine Stimme durch den Raum, „Oh großer Geist des Raben erhöre mich. Schenke meinen Begleitern und mir deine Weisheit, um diese Jagd zu bestehen und erfolgreich abzuschließen …“

Das Licht verstärkte sich, erfüllte plötzlich nicht nur den Raum mit dem Schrein, sondern auch die Gänge, in denen ihre Verbündeten gegen die Zerstörer kämpften. Der Segen des Rabengeistes umgab sie. Es war Zeit die Jagd zu beenden, wie die Norn so schön sagten. Olaf und Ohtah Ryutaiyo rannten im Eiltempo hinaus und mischten sich wieder in den Kampf ein, der sie langsam den Tunnel entlang führte. Am Ende des Weges leuchtete eine kreisrunde Öffnung, die nicht nur Odgen und Vekk bekannt vorkam – es war ein aktives Portal.

„Das ist das Portal zur Zentralen Transferkammer!“, sagte der Asura aufgeregt, „Wir müssen es verschließen, sonst wird der Strom an Zerstörern nie abreißen! Los jetzt! Beeilung, Beeilung!“

Der Assassine stellte sich schützend vor Shikon No Yosei. Sie schloss die Augen. Als sie ihre Arme ausbreitete, befreite sie die konzentrierte Energie. Mit einem Knall, der Vekk´s Sprengung am Anfang ihrer Reise bei weitem übertönte, krachte das Portal in sich zusammen und begrub ein paar letzte Zerstörer unter sich. Alles, was von ihm zurückblieb, war schwarze Leere. Vekk war sichtlich beeindruckt von Shikon No Yosei´s Fähigkeiten. Und es war nun wahrlich nicht leicht einen Asura zu beeindrucken.
 

Kampfvorbereitungen

Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo saßen mit ihren Verbündeten zusammen, denen sich auch Olaf und seine Norn angeschlossen hatten, um einen Plan zu entwickeln den Kampf – Pardon, die Jagd fortzuführen.

Odgen sah sie einen nach dem anderen an und sagte: „Hauptmann Langmar hat und die Unterstützung der besten Männer und Frauen der Ebon-Vorhut zugesichert. Aber-“

„Ich weiß, worauf Ihr hinaus wollt, Odgen.“, unterbrach ihn die Elementarmagierin, „Wir müssen uns erst einmal zum Portal durchkämpfen, das uns zur Zentralen Transferkammer führt … Ich bin davon überzeugt, dass es nicht gerade spärlich bewacht sein wird.“

Ihr Geliebter nickte zustimmend: „Das bedeutet, wir müssen uns in zwei Gruppen aufteilen. Der größere Trupp wird die Spezialeinheit eskortieren, welche sich einzig um die Zerstörer in der Kammern wird.“

„So ist es …“, stimmte sie ihm zu, „Ich werde diese Spezialeinheit selbst anführen. An meiner Seite wünsche ich mir dich, Ohtah … hinzukommend Odgen, Vekk, Gwen, Brandor und Jora. Die restlichen Norn unterstützen bitte die Ebon-Vorhut.“

„Meine Tochter und ich werden diese Jagd sicher genießen!“, behauptete Olaf lachend.

Jora lächelte wissend und meinte: „Egil wird uns ebenfalls helfen. Er möchte euch danken, dass ihr mich von dem Fluch befreit habt.“

Brandor räusperte sich und erklärte: „Mein Trupp wird sich uns ebenfalls anschließen.“

Ohtah Ryutaiyo faltete die Hände, sein Blick wanderte umher.

„Was ist mit dir?“, wollte Shikon No Yosei verwirrt von ihm wissen.

Er sah sich an und entgegnete: „Wir haben zwar jetzt eine gute Strategie … Ich bezweifle jedoch, dass diese Anzahl an Kämpfern gegen die Streitmacht der Zerstörer ausreichen wird. Wir wissen nicht, wie zahlreich die Armee der Zerstörer wirklich ist und … ob sie sich nicht noch vermehren.“

Odgen stimmte ihm zu: „Da gebe ich Euch recht.“

„Ich kenne deinen König, kleiner Zwerg.“, meinte Olaf plötzlich und zog damit die Aufmerksamkeit aller Anwesender auf sich, „Ich kann ihm Nachricht schicken … Genügt das?“

Der Zwerg starrte ihn fassungslos an, während er atemlos hauchte: „Ja. Ja, das genügt.“

„Danke, Olaf. Und während Jalis Eisenhammer mit den Deldrimor anrückt, gehen wir zu den Asura.“, entschied die Canthanerin und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Vekk, „Was meint Ihr, Vekk, wie wird Euer Volk gegen die Zerstörer vorgehen wollen?“

Vekk kratzte sich am Hinterkopf, bevor er antwortete: „So wie ich sie kenne, werden sie Golems bauen wollen … Dafür müssen wir Ratsführer Mamp in Rata Sum aufsuchen.“

„Dann werden Ohtah, Vekk, Odgen und ich nach Rata Sum gehen.“, erklärte Shikon No Yosei entschieden, „Gwen, du kümmerst dich um die Aufstellung der Ebon-Vorhut. Brandor, Ihr zieht Euren Trupp zusammen und bereitet Euch entsprechend vor. Jora, Ihr empfangt die Norn, die sich uns möglicherweise noch anschließen, und wartet auf die Ankunft von König Jalis. Alle einverstanden?“

Die Anwesenden nickten. Olaf pfiff zweimal zwischen den Zähnen hindurch und streckte seinen rechten Arm aus, auf dem auch bald ein pechschwarzer Rabe mit klaren Augen landete. Der Norn band einen kleinen Zettel an seinem Bein fest und ließ ihn wieder fliegen. Damit waren die Vorbereitungen zum Kampf gegen die Zerstörer abgeschlossen. Die Menschen, die Norn und die Charr waren bereit, die Zwerge verständigt und die Asura bereits fest eingeplant. Die Konfrontation würde also nicht mehr lange auf sich warten lassen.
 

Eigenheiten der Asura

Vekk führte Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Odgen durch ein Netz aus Portalen, das sie in seine Heimat brachte, die Grüne Kaskade. Als sie das letzte Portal verließen, platzen sie mitten in eine Versammlung der Asura, bei der lauthals und wild durcheinander diskutiert wurde.

„Typisch.“, flüsterte Vekk, „Bring´ drei Asura zusammen und ihr habt vier Meinungen.“

Ein alter Asura räusperte sich und erhob seine Stimme: „Hört her! Das reicht! Die dringendste Sorge sind die Zerstörer. Wir verbinden unsere Talente und versammeln die besten Köpfe … Oola ist am geschicktesten beim Bau einer mobilen Zauberplattform. Auch Gadd brauchen wir. Keiner von uns weiß mehr über die Speicherung mystischer Energie. Und, Vekk, Eure Arbeit mit Portalen prädestiniert Euch für die Ätherkuplungen.“

„Vergesst es, Mamp!“, entgegnete er störrisch, „Wenn Gadd mitmacht, dann ohne mich. Mit dem alten Kauz arbeite ich nicht! Nehmt eben Renk. Er ist fähig und hatte keine … Erlebnisse mit Gadd.“

Ratsführer Mamp seufzte, bevor er meinte: „In Ordnung. Wie Ihr wollt, Vekk. Wir brauchen Gadd, aber niemand weiß, wo er ist.“

„Ich weiß, wo er sich aufhält.“, erklang eine fremde, weibliche Stimme und eine schöne, junge Frau gesellte sich zu ihnen, „Mein Name ist Livia … Ich gehöre der Glänzenden Klinge an. Wir haben für ihn gearbeitet.“

Shikon No Yosei starrte sie im ersten Moment sprachlos an, dann riss sie sich jedoch zusammen und sagte: „Ihr seid von der Glänzenden Klinge? Wisst Ihr, wie es Evennia geht?“

„Es überrascht mich jemandem zu begegnen, der unsere Anführerin kennt … und der noch dazu nicht tyrianischen Blutes ist.“, antwortete die Nekromantin, „Es geht ihr den Umständen entsprechend. Auch ohne die Mursaat verschwindet der Weiße Mantel nicht.“

Die Elementarmagierin nickte und erwiderte: „Verstehe. Würdet Ihr uns bitte zu Gadd führen?“

Livia nickte ebenfalls. Shikon No Yosei lächelte und sah zu Ohtah Ryutaiyo, der sie allerdings gar nicht wahrzunehmen schien. Sein Blick klebe beinahe an der rot gekleideten Frau. Wütend drehte sie sich von ihm weg und verschränkte die Arme. Vekk bedachte das ganze mit einem fragenden Gesichtsausdruck.
 

„Gadd untersucht den einen ortsansässigen Blutstein. Wir haben ihm dabei geholfen, doch er ist noch nicht fertig. Die einzige Möglichkeit ihn für Euch zu gewinnen ist, Euch dieser Exkursion anzuschließen.“, erzählte Livia und führte sie zu seiner Forschungsstation.

Dort wurde sie sogleich von Gadd begrüßt: „Livia … es freut mich, dass Ihr zurück seid. Wie ich sehe, seit Ihr nicht allein. Wer sind diese Leute?“

„Meine Verstärkung. Sie werden uns bei der Suche nach dem Blutstein behilflich sein.“, antwortete Livia verführerisch, „Außerdem soll ich Euch eine Nachricht von Ratsführer Mamp überbringen. Er wünscht, dass Ihr Euch bei dem bevorstehenden Kampf beteiligt. Er braucht Euer Wissen.“

Gadd seufzte resigniert: „Gut, gut … wenn es denn sein muss. Aber zuvor will ich, dass meine Arbeit sauber erledigt wird. Und richtig. Und schnell. Ich sehr Euch an, Vekk … Hört Ihr zu? Ich will keine Missgeschicke. Und keine Wiederworte. Fragen? Nein … Dann los.“

„Hab´ ich es nicht gesagt? Er ist in richtiges Ekel.“, murrte Vekk leise.

Sie betraten eine unterirdische Höhle und Gadd erklärte ihnen, was zu tun war. Sie suchten nach drei gravierten Inschriften, die sie benötigten, um zum Blutstein zu gelangen. Sie kämpften sich tief in die unterirdische Höhle hinein. Der Blutstein, welcher viele hundert Meter unter der Erdoberfläche verborgen lag, wurde von widerlichen Monstern verteidigt, gegen die sie kämpfen mussten. Plötzlich wurden Livia und Shikon No Yosei aus dem Hinterhalt heraus angegriffen – und Ohtah Ryutaiyo war wie erstarrt. Er hatte die ganze Zeit über schon zwischen den beiden Frauen hin und her gesehen. Nun stand er wie angewurzelt da. Was sollte er tun? Dabei hatte er Shikon No Yosei doch verdammt nochmal geschworen, sie zu beschützen. Doch warum hatte er dann so ein eigenartiges Gefühl, seit Livia aufgetaucht war? Etwas stimmte nicht mit ihm. Wem sollte er zu Hilfe eilen? Über seine eigenen Gedankengänge erschrocken, schrie er qualvoll auf. Im selben Augenblick stieß Vekk Shikon No Yosei zur Seite und rettete sie damit vor dem tödlichen Keulenhieb des Monsters. Livia wurde derweil von Gadd im Kampf unterstützt. Der Assassine atmete schwer – für einen kurzen Moment hatte er geglaubt, sie zu verlieren … einzig wegen seiner Unfähigkeit.

„Alles in Ordnung bei Euch?“, wollte Vekk von ihr wissen.

Die Elementarmagierin nickte: „Ja. Ja … alles gut, Vekk. Geht … geht mit den anderen schon einmal vor. Ohtah und ich kommen gleich nach.“

Etwas verwirrt stimmte der Asura zu und beeilte sich Gadd und Livia zu folgen.

Shikon No Yosei´s trauriger Blick war für den Assassinen unerträglich, als sie ihn ansprach: „Sag´ mir die Wahrheit, Ohtah. Ich habe gesehen, wie du sie ansiehst … wie du eben gezögert hast. So kenne ich dich nicht – mit einem Schattenschritt wäre es dir ein leichtes gewesen einzugreifen. Und dein Schrei … Er sprach Bände. Sag´ mir, warum du so verzweifelt bist … Antworte mir! Hast … hast du Gefühle für Livia?“

„Ich … Ich … Ich weiß es nicht.“. stotterte Ohtah Ryutaiyo, unfähig wirklich zu begreifen.

Sie biss sich auf die Lippen und erwiderte mit schmerzverzerrter Stimme: „Dann … gebe ich dir die Chance es herauszufinden. Ohtah Ryutaiyo … hiermit entlasse ich, Shikon No Yosei, dich allen Versprechen, Schwüren und sonstigen Banden, die dich an mich binden. Gehe deinen eigenen, freien Weg … und finde dein Glück, auf welche Art und Weise auch immer …“

Bevor Ohtah Ryutaiyo den Mund öffnen konnte, um etwas zu antworten, drangen Gadd´s Worte zu ihnen: „Wo bleiben diese Nichtsnutze? Bin ich hier denn nur von Unfähigkeit umringt?“

Wortlos wandte sich Shikon No Yosei von ihm ab und folgte dem Weg. Dabei versuchte sie die Tränen wegzublinzeln, was ihr nicht ganz gelang. Niemals zuvor hatte sie an seinen Gefühlen zweifeln müssen … Nun stand mit einem Mal ihre ganze Welt auf dem Kopf. Trotzdem galt es eine Mission hinter such zu bringen – diese Lande durften nicht aufgrund eines gebrochenen Herzens untergehen!

Gemeinsam tötete die Gruppe die letzten Ungeheuer, die sich um den pulsierenden Blutstein versammelt hatten. Auf eben solch einem Stein hatte die Elementarmagierin gegen den Untoten Lich getötet … Diese Gesteinsart vermochte es, uralte Magie zu speichern. Gadd leckte sich bereits begierig über die Lippen.

Er rieb seine Hände aneinander und erklärte: „Ich muss die Essenz des Steins extrahieren … Vekk, bringt mir eine Kanope!“

Vekk nahm einen Kristall aus der Tasche, doch Gadd schrie: „Kanope! Nicht Kristall, Idiot!“

„Wenn wir ihn nicht bräuchten, würde ich ihn von einer Brücke stoßen …“, murmelte er daraufhin vor sich hin.

Livia hielt die Kanope in ihren Armen und sagte: „Wenn Ihr die Essenz des Blutsteins extrahiert, könnte mich das umbringen … Ein Kristall wäre sicherer.“

„Holt doch einen der anderen Menschen, wenn Ihr Angst habt! Nur haltet mich nicht auf!“, forderte der alte Asura gehässig, „Ätherkristalle gibt es nicht umsonst. Ein Mensch ist da billiger!“

Zornig stand die Nekromantin auf und entgegnete: „So denkt Ihr also über mein Volk? Es hat keinerlei Wert für Euch? Es gab schon … Zwischenfälle. Andere müssen für Eure Hast bezahlen. Das ist falsch … Ihr liegt falsch. Ich mache nicht mehr mit. Es tut mir leid …“

Sie schlenderte davon und Odgen folgte ihr. Wahrscheinlich wollte er nun auch noch die Glänzende Klinge rekrutieren. Ein Teil von Shikon No Yosei konnte sie verstehen … Wer wollte schon aus solch einem lächerlichen Grund sterben? Andererseits gefährdete das natürlich ihre Aufgabe – denn Gadd entschloss sich, die Kanope kurzerhand einfach selbst zu benutzen. Hastig schickte die Rothaarige einen Schwall ihrer Macht aus, um die Energieverbindung zu stabilisieren.

Vekk musterte sie erneut und sagte: „Eure Fähigkeiten sind ungewöhnlich für einen Menschen … Und eigentlich musstet Ihr das nur wegen seiner Arroganz tun. Schließt sich uns bestimmt auch nur an, weil wir ohne ihn sicher verloren wären.“

„Widerwillig oder nicht, Vekk – es stimmt, dass wir ihn brauchen. Und ich bin froh, wenn ich eine Magieexplosion eines solches Ausmaßes verhindern konnte … So hatte es wenigstens ein gutes, hier gewesen zu sein.“, meinte Shikon No Yosei an den kleinen Asura gewandt, „Jetzt bleiben noch Oola und Renk. Wir müssen uns beeilen.“

Vekk sah sie an und antwortete: „Ich schlage vor wir teilen uns auf. Renk übernehmen Ohtah und-“

„Odgen.“, unterbrach sie ihn mit einem Lächeln, „Sehr gute Idee, Vekk. Dann kümmern wir beide uns um Oola.“

Während sie sprach, ignorierte sie die erschrockenen Blicke des Assassinen. Sie wusste um sein schlechtes Gewissen, sie konnte es ihm ansehen … und dennoch ertrug sie seine Nähe im Augenblick nicht länger. Eifersucht war etwas neues für sie … Sonst war stets er derjenige gewesen, der überempfindlich reagiert hatte.

Seufzend gab sich Vekk geschlagen: „In Ordnung … Um Renk mache ich mir keinerlei Sorgen. Er ist aufgeweckt und hilfsbereit. Oola hingegen … Sie ist brillant auf ihrem Gebiet und ziemlich eigen. Deshalb lasst mich besser reden, Shikon No Yosei.“

„Lasst uns jetzt aufbrechen.“, sagte Odgen energisch, „Die Zeit drängt …“
 

Vekk öffnete das Portal, das ins Innere von Oola´s Labor führte, und übernahm sogleich die Führung. Vor ihnen lag ein Raum voller einsatzbereiter Golems. Der Asura aktivierte einen von ihnen durch einen kleinen Knopf. Es überraschte Shikon No Yosei, dass Vekk nicht nur ein einmaliges Talent im Umgang mit Portalen besaß, sondern er auch in anderen, asurischen Bereichen durchaus Kenntnissen besaß. Während sie diesen Gedanken nachging, aktivierten sich die anderen Golems von allein. Allerdings waren sie nun nicht länger freundlich gesonnen und griffen an. Durch die Unterstützung ihres Golems kämpften sich die beiden voran. Vekk war nicht zum ersten Mal in Oola´s Labor. Ihre Fallen waren für ihn nichts neues – zu ihrem großen Glück.

Vekk zeigte auf einen Ätherkristall und erklärte: „Nehmt ihn vom Schlüsselbord und bringt ihn zum anderen am Ende des Tunnels. Er deaktiviert die Fallen in diesem Bereich.“

Die Elementarmagierin tat wie geheißen. Der Asura sollte recht behalten. So konnten sie den Weg ungehindert zum nächsten Raum fortsetzen. Doch auch dieser Raum war nicht zu unterschätzen – aus den Wänden schossen Flammenpfeile, die kein geregeltes Muster erkennen ließen, sodass ein Ausweichen unmöglich war. Shikon No Yosei ließ ihren Blick sinken. Sie seufzte und wünschte sich, Ohtah Ryutaiyo wäre in diesem Moment an ihrer Seite … Er könnte sie sicher per Schattenschritt hindurch bringen. Sein Mantel würde sie vor den Geschossenen beschützen. Ihre Trennung tat weh … Wie hatte es nur soweit kommen können? Sie brauchte ihn doch … Er gab ihr Kraft, Mut und Hoffnung. Ohne ihn war sie nicht die Heldin, als die sie gefeiert wurde. Ohne ihn war sie nur eine halbwegs talentierte Magierin. Aber so durfte sie nicht denken! Ohtah Ryutaiyo war nicht bei ihr … und das aus einem bestimmten Grund. Diesmal hatte nicht Meister Togo darauf gedrängt … Gut, in Elona war der Vorschlag ebenfalls von ihr gekommen, allerdings um Kormir noch rechtzeitig zu Hilfe zu eilen. Sie hätte diesmal genauso gut mit ihm gehen können …

„Seht doch!“, rief Vekk plötzlich erfreut aus und machte sie auf einen gewaltigen Golem aufmerksam, der langsam auf sie zukam, „Das ist ein Verteidigungs-Golem. Sein Schutzschild wird uns schützen. Bleibt dicht bei mir, Shikon No Yosei, und verlasst auf keinen Fall den magischen Kreis!“

Mit einem Nicken bestätigte Shikon No Yosei ihm, dass sie verstanden hatte. So ließen die beiden eine weitere Etappe auf dem Weg zu Oola hinter sich. Und stellten sich mutig der nächsten entgegen, die bereits im letzten Raum auf sie wartete. Denn ein übergroßer, schwarz-goldener Golem versperrte ihnen den Weg.

„Ein unzerstörbarer Golem …“, meinte Vekk nachdenklich und sah sich beinahe hektisch um, dann richtete er leise das Wort an seine Begleiterin, „Ich lenke ihn ab. Mit normalen Zaubern oder Angriffen kommen wir hier nicht weiter. Sehr Ihr das leuchtende Gerät dort? Nehmt diese Flux-Matrix und ladet sie dort auf. Ihre Energie wird den Golem vernichten können.“

Er reichte ihr einen Gestand, durch den Magie floss. Wieder nickte die Elementarmagierin, was Vekk erwiderte und machte sich an ein provisorisches Ablenkungsmanöver. Währenddessen schlich sich Shikon No Yosei zum magischen Lager und legte die Flux-Matrix darauf. Ein Piepen deutete daraufhin, dass der Prozess beendet war. Sie nahm den Gegenstand wieder an sich und ließ ihn in der Nähe des Golems fallen. Mit jeder neuen Aufladung wurde der unzerstörbare Golem schwächer und schwächer.

„Jetzt werden wir Oola gegenübertreten. Und denkt daran, lasst mich mit ihr reden.“, mahnte Vekk sie und ging auf eine weibliche Asura zu, der an einem Golem herum schraubte, „Seid gegrüßt, weise und kunstfertige Oola, Herrin des magischen Antriebs.“

Oola wischte sich die Hände an der Hose ab und erwiderte: „Spart Euch die Mühe, Vekk. Was wollt Ihr von mir?“

„Ratsführer Mamp schickt mich zu Euch. Wir brauchen Euren Sachverstand für ein großes Projekt zum Wohle aller Asura.“, entgegnete Vekk überschwänglich.

Oola lachte auf: „Pah! Ich hab hier Zuflucht vor allen Asura gesucht!“

„Tja, Vekk, Ihr hattet wohl recht … Sie ist wirklich nicht geeignet.“, schaltete sich Shikon No Yosei ein und wandte sich an Oola, „Vekk erzählte, dass ältere Asura oft nachlassen, dass Eure Fähigkeiten gelitten haben könnten …“

Oola zog ein grimmiges Gesicht und meinte: „Was soll das heißen? Einen besseren Golemanten als mich gibt es nicht!“

„Gut möglich. Doch wenn Ihr fürchtet die Aufgabe sei zu groß …“, begann die Elementarmagierin.

Oola winkte ab und sagte entschlossen: „Ich fürchte keine Aufgabe! Lasst mich nur schnell zusammenpacken … Euch zeig´ ich es! >Gelitten<? Frechheit!“

„Gut gemacht.“, flüsterte Vekk anerkennend.

Shikon No Yosei lächelte zufrieden und ihre Gedanken schweiften erneut zu Ohtah Ryutaiyo. Ob er Renk inzwischen wohl schon nach Rata Sum gebracht hatte? Dachte er ebenso an sie, genau wie sie an ihn? Oder galten seine Gedanken Livia? Sie schüttelte leicht den Kopf. So schwer es auch war, das zu akzeptieren, die Zukunft ihrer Beziehung lag nicht in ihren Händen. Er allein konnte entscheiden, wem sein Herz gehörte. Und irgendwann musste sich Shikon No Yosei seiner Entscheidung stellen müssen …
 

Was du liebst, lass´ frei ...

Ohtah Ryutaiyo ballte seine Hände wütend zu Fäusten. Er hatte sich zurückgezogen, um in aller Ruhe seinen Frust auf sich selbst rauszulassen. Mit einem gezielten Schlag schlug er gegen den Stamm des Baumes, welcher ihm am nächsten stand. Auch wenn der Baum nichts für seine Dummheit, Feigheit oder wie er sein Verhalten sonst noch bezeichnen wollte, konnte. Es war nicht zu leugnen – er hatte einen Fehler gemacht. Einen riesigen und furchtbaren Fehler, den er einfach nicht nachvollziehen konnte. Wieder und wieder ging er alles gedanklich durch.

„Ich liebe Shiko doch … mehr alles andere auf der Welt, mehr als mein Leben. Und dennoch habe ich gezögert, als sie in Gefahr war. Ich habe meinen Schwur nicht gehalten … Hätte Vekk sie nicht zur Seite gestoßen, wäre … Nein, nicht Shiko. Was war nur los mit mir? War es wirklich wegen Livia? Ja … Nein … Ich weiß es einfach nicht! Sie hat meinen Blick bei ihrem ersten Erscheinen gefesselt. Dabei gehört mein Herz, mein ganzes Dasein gehören allein Shiko … Zum ersten Mal in meinem Leben … bin ich der Unsicherheit verfallen. Mein Körper war wie gelähmt. Ich habe noch nie zuvor gezögert … Nicht während meiner Arbeit als Am Fah, nicht auf unserer Reise gegen Shiro, dem Untoten Lich oder Abaddon. Dort unten in der Blutsteinhöhle war das anders. Meine Gedanken überschlugen sich förmlich … Alles in mir spielte verrückt. Genauso wie jetzt.“, flüsterte der Assassine vor sich hin, ehe ein entschlossener Ausdruck in sein Gesicht trat, „Es reicht! Es gibt nur eine einzige Person für mich … Shiko. Die Sechs Götter seien meine Zeugen – hiermit erhebe ich einen neuen Schwur, da ich aus jenem anderen entlassen wurde … Ich, Ohtah Ryutaiyo, schwöre am heutigen Tag bei meinem Leben, meiner Seele und meinem Geist, dass ich auf ewig Shikon No Yosei´s getreuer Schatten sein werde, der sie vor allem Schaden bewahren wird! Niemals wieder soll mein Herz von Zweifel ergriffen werden … Ich unterstelle mich ihr mit allem, was ich war, was ich bin, was ich sein werde!“
 

Renk und Gadd hatten bereits die Vorbereitungen zum Bau der Golems getroffen. Die Ätherkupplungen waren hergestellt, die Energie darin eingespeist. Als die beiden Asura eine letzte Kontrolle durchführten, öffnete sich das Portal in der Hauptstadt Rata Sum und drei Gestalten traten daraus hervor. Es waren Vekk, Oola und Shikon No Yosei … Ohtah Ryutaiyo atmete sichtlich erleichtert auf. Sie war unverletzt! Der Gedanke daran, wie sie in Elona durch einen Streifschuss der Kournier verwundert vor ihm gesessen hatte, versetzte seinem Herzen einen Stich. Am liebsten wäre er auf sie zugestürmt und hätte sie in seine Arme geschlossen … doch er wusste, dass er sie zutiefst verletzt hatte. Mit langsamen, aber beständigen Schritten näherte er sich der Elementarmagierin, welche zusammen mit Vekk von Ratsführer Mamp für ihren Erfolg beglückwünscht wurde. Dieses Zugeständnis wurde allerdings alsbald von einem genervten Gadd unterbrochen, der endlich die Arbeit hinter sich bringen wollte – darum verschwanden die Asura, die für das Projekt G.O.L.E.M – Geführter Operant Lebender Entfesselter Magie – zuständig waren.

In der Zwischenzeit war Ohtah Ryutaiyo nur noch wenige Schritte von seiner Geliebten entfernt und sprach sie mit brüchiger Stimme an: „Shiko, ich … bin froh, dass du unversehrt bist. Und … und ich … Es tut mir leid. Ich … habe an meinen Gefühlen für dich gezweifelt.“

Ruhig erwiderte Shikon No Yosei seinen flehenden Blick. Sie versteckte die Gefühle, die sein Auftauchen in ihr ausgelöst hatten und seine Worte in ihr entflammten, denn sie wollte hören, was er ihr zu sagen hatte.

Er schluckte schwer, bevor er erneut das Wort ergreifen konnte: „Ich kann mir selbst nicht vergeben. Aber ich bitte dich … glaub´mir, du bist das eichtigste für mich, Shiko! Du richtest mich jedes Mal wieder auf, gibst mir Mut und Kraft. Wann immer ich dich brauche, bist du bei mir … Shiko, ich liebe dich! Vom ersten Moment an bis zu meinem letztem Atemzug und selbst darüber hinaus … werde ich immer nur dich lieben.“

„Weißt du, Ohtah, es gibt ein Sprichwort in Tyria … >Was du liebst, lass´ frei … Kommt es zu dir zurück, gehört es dir – für immer.<“, antwortete die schöne Elementarmagierin leise und sah ihm dabei weiterhin in die Augen.

Der Assassine nahm ihre Hand, als er bestätigte: „Und das tue ich! Ich verspreche es dir, Shiko! Bitte … vertrau´ mir.“

Er konnte den festen, durchdringenden Blick seiner Gegenüber nicht mehr ertragen und wandte sich ab. Wieso sollte sie ihm glauben? Er hatte sie zu sehr verletzt … Es war endgültig vorbei. Derweil huschte ein liebevolles Lächeln über das Gesicht von Shikon No Yosei, welches Ohtah Ryutaiyo nicht sehen konnte. Als er schließlich den Blick doch wieder hob, um dem unvermeidlichen Ende entgegen zu sehen, das er befürchtete, legte sie die Arme um seinen Nacken und küsste ihn leidenschaftlich.
 

Von Golems, Zerstörern und Verlust

Oola arbeitete härter als jemals zuvor. Die Golems mussten gegen die Zerstörer bestehen können, das bedeutete zusätzliche Rüstung und Kraft. Keine leichte Aufgabe für die Golemantin, aber auch keine unmögliche, wie sie fand – zumindest nicht für sie. Was Livia betraf, sie war direkt nach dem Streit mit Gadd verschwunden – damit auch Odgen´s Vorstellung auf ein Heer krytanischer Soldaten. Und Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo, die in einer tiefen Umarmung versunken waren und etwas abseits von dem Getümmel des Bauplatzes saßen, konnten Vekk´s und Gadd´s laute Streitigkeiten deutlich hören, welche sie mit einem Seufzen und einem Kopfschütteln quittierten.

„Seht Euch meine Berechnungen an!“, forderte Vekk den kauzigen Asura auf.

Höhnisch erwiderte Gadd: „Ich brauche Eure Berechnung nicht! Ich weiß, es wird klappen!“

„Ich teile Eure Zuversicht nicht … und die anderen auch nicht!“, gab der Portal-Experte zurück.

Die Elementarmagierin löste sich widerstrebend von ihrem Liebsten und fragte genervt: „Worum geht es denn jetzt schon wieder?“

Gadd zeigte mit einer Kralle auf Vekk und meinte: „Der Kerl erzählt mir, ich wüsste nicht, wie man eine Kristallreihe formatiert.“

„Eine Kristall- … was?“, warf der Assassine dazwischen.

„Ich versuche zu sagen, dass eine serielle Anordnung viel gefährlicher ist, als eine parallele.“, entgegnete Vekk mit einem einem bösen Blick auf Gadd, „Ihr überlastet die Magiebegrenzer!“

Wütend unterbrach Shikon No Yosei ihn: „Seid still! Alle beide! Es reicht endgültig! Wenn wir etwas gegen die Zerstörer ausrichten wollen, müssen wir zusammenarbeiten! Also Schluss mit dem ewigen Gezanke – sagt mir lieber, wie weit Oola ist.“

„Fast fertig.“, antwortete Vekk kleinlaut, „Unser störrischer Freund hier muss noch mehr Energie in den Kristallen sammeln und sie anschließend in die Golems leiten.“

In diesem Moment, rannte ein Asura durch das Tor von Rata Sum und rief hektisch: „Die Zerstörer! Die Zerstörer kommen! Horden von ihnen!“

„Wir müssen sie aufhalten, bis die Golems fertig sind.“, entschied Ohtah Ryutaiyo und zog blank.

Shikon No Yosei nickte zustimmend: „Ja. Vekk, werdet Ihr uns begleiten?“

Der Asura sah Gadd fragend an, doch dieser murmelte bloß: „Geht schon, geht. Hier seid Ihr mir nur im Weg.“

„Denkt dran … parallel, nicht seriell.“, flüsterte er ebenso leise und schloss sich seinen Verbündeten an, die sich auf den Weg zu den Zerstörern machten.

Der Asura, der die Zerstörer entdeckt hatte, führte Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Odgen und Vekk zu deren Lager. Und obwohl die Zahl der Zerstörer noch gewaltiger war, als bei ihrem letzten Kampf, stellten sie sich ihnen mutig entgegen. Vereint hatte sie einen Chance. Die Zerstörer bemerkten die Eindringlinge schon sehr bald und bezogen Stellung. Ihr Angriff verlief diesmal wesentlich geordneter. Sonst hatten die einzelnen Zerstörer planlos und ohne Rücksicht auf ihre Mitstreiter gekämpft. Aber im Gegensatz zu ihren Gegnern waren sie noch nicht ganz aufeinander eingestellt und so behinderten sich die Zerstörer manchmal gegenseitig. Es flogen stetig Giftpfeile, Feuerbälle, Blitze und Lava umher. Keine Seite ließ nach. Dann wurde der Kampflärm auf einmal von einem anderen Geräusch überlagert. Es war das Zischen der Brennöfen. Die Golems waren fertiggestellt! Oola hatte die Befehle und Koordination für den Angriff auf die Zerstörer bereits eingegeben. Die Golems leisteten hervorragende Arbeit und als der letzte Zerstörer fiel, brachen sie in Jubel aus.

„Das war ein guter Kampf!“, rief Odgen erfreut.

Der Zwerg hatte zum ersten Mal wieder Hoffnung auf ein gutes Ende. Seine Arbeit, Verbündete um sich zu scharen, war doch noch erfolgreich gewesen. König Jalis würde sicher sehr stolz auf ihn sein, wenn er davon erfuhr.

Vekk nickte auf Odgen´s Bemerkung: „Ohne die Golems wäre er härter geworden.“

„Gadd und Oola haben das genau rechtzeitig hinbekommen.“, bestätigte Ohtah Ryutaiyo beeindruckt.

Sie lachten über ihren Erfolg, als Oola erschien und mit langsamen Schritten auf Vekk zuging.

Ihre Stimme schien bedrückt und schwer: „Vekk … hört mir zu, es geht um Gadd. Er … er wollte den letzten Golem noch stärker machen. Es gab eine Explosion. Er ist tot … Es tut mir leid.“

Alle Farbe wich aus dem Gesicht des kleinen Asura. Seine Augen erstarrten. Tiefes Schluchzen entrungen sich seiner Kehle, während er auf die Knie sank. Alle Kraft schien aus seinem Körper gewichen zu sein. Seine Tränen benetzten den Boden unter ihm.

Shikon No Yosei wechselte einen verständnislosen Blick mit Ohtah Ryutaiyo und meinte dann leise: „Ich verstehe nicht … Vekk, was ist mit Euch? Ich dachte … Ihr hasstet einander? Ihr habt doch ständig nur gestritten … Euch gegenseitig beleidigt …“

Oola sah sie mit einem gemischten Mienenspiel an und erwiderte: „Manchmal streiten Vater und Sohn … Das bedeutet nicht, dass sie sich hassen.“
 

Viele Asura, darunter auch Ratsführer Mamp, Oola, Renk und natürlich Vekk sowie Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Odgen versammelten sich zur Trauerfeier auf einer Hängebrücke, die vor einen Wasserfall gespannt war. Gadds Asche wurde in einer Urne verwahrt, welche sein Sohn in Händen hielt.

„Mein Vater glaubte an die Ewige Alchemie. Wir sind alle Teil einer großen Gleichung.“, sprach Vekk und, als er die Asche bedächtig ins Wasser schüttete, „Und so übergeben wir Gadd´s Hülle der großen Gleichung. Seine Asche kehrt ins Universum zurück … doch sein Wissen bleibt bei uns.“

Shikon No Yosei legte ihm eine Hand auf die Schulter, während sie murmelte: „Vekk, es tut uns allen leid … Wir sind für Euch da.“

„Er starb, wie er lebte … Sein Ziel im Kopf, die Folgen außer Acht.“, sagte Vekk schluchzend, „Ich habe versucht, ihn zu warnen … Er wollte einfach nicht hören, dieser alte Sturrkopf.“

Ohtah Ryutaiyo legte ihm eine Hand auf die andere Schulter und erwiderte: „Ich verstehe Euch sehr gut, Vekk … Jeder möchte diejenigen beschützen, die er liebt.“

„Denkt daran, wir verdanken ihm einen großen Sieg.“, erklärte Odgen stolz.

Vekk sah in das Wasser, das die Asche fortspülte, und flüsterte schwach: „Ich weiß nicht, wie viele solcher Siege ich verkrafte …“
 

Die kleine Gruppe verweilte noch drei weitere Tage in Rata Sum. Shikon No Yosei hatte sich deswegen lauthals mit Odgen gestritten. Er wies andauernd auf ihre knapp bemessene Zeit hin. Sie wollte Vekk die Zeit geben, sich in aller Stille von seinem Vater zu verabschieden. Sie war mit ihm sogar in seinem Labor gewesen. An dem Ort, an dem Vekk aufgewachsen war … Am Morgen des vierten Tages saß der Asura an einem Fluss außerhalb von Rata Sum und dachte nach. Auch wenn er es öfters behauptet hatte, in Wahrheit hatte er Gadd nie gehasst. Er war zwar nicht gerade ein »Vorzeige-Vater« gewesen, aber auf seine Art hatte er Vekk geliebt. So wie er ihn auch …

Er bemerkte Shikon No Yosei erst, als diese sich neben ihn setzte und ihn ansprach: „Vekk, ich … Ich weiß, dass Ihr noch immer um Euren Vater trauert. Wie könnte es auch anders sein … Ich … ich kenne das Gefühl eine geliebte Person im Kampf zu verlieren.“

„Wirklich?“, fragte er überrascht, „Wen?“

Ihr Blick richtete sich auf das ruhige Wasser und sie antwortete: „Meinen Meister … Ohne ihn wäre ich heute nicht die Elementarmagierin, die ich bin. Nur durch seine Führung konnte ich die Stärke entwickeln, die ich heute besitze. Er hat mich geführt … Der Gedanke an seine Lehren lässt mich weitermachen, egal wie ausweglos es manchmal auch scheinen mag. Und … na ja, für mich ist … war er mein Vater.“

„Was ist passiert?“, hakte der Asura nach, „Das heißt … wenn ich Euch diese Frage stellen darf.“

Ein kleines Lächeln legte sich auf ihre Züge, bevor sie erwiderte: „Ich habe gelernt mit dem Schmerz umzugehen … Sein Tod liegt inzwischen mehr als drei Jahre zurück. Wir haben damals für meine Heimat gekämpft. Unser Gegner war ein Geist aus den Nebeln … Um wieder unter den Sterblichen wandeln zu können, hat er meinen Meister getötet. Oder besser gesagt geopfert. Sein Tod ließ mich alle Hoffnung verlieren …“

„Und wie …“, begann Vekk, verstummte aber gleich wieder.

Shikon No Yosei schloss die Augen und erklärte: „Eine Person, der mir sehr am Herzen liegt, hat mich aus der Finsternis der Trauer gerettet … Sie hat mir neuen Mut geschenkt … mir mein Ziel und den Grund, aus dem ich kämpfe, wieder vor Augen geführt. Und so schwer es auch ist, Vekk … dasselbe müsst Ihr jetzt auch tun. Denkt an unsere Mission, an Euer Volk … und an alle anderen, denen wir helfen müssen. Wir kämpfen für das Ende der Zerstörer …“

„Wir kämpfen für das Ende der Zerstörer …“, wiederholte der Asura leise, „Mein Vater ist gestorben, damit wir eine starke Waffe im Kampf gegen sie haben. Dieser Einsatz darf nicht umsonst gewesen sein … Ich danke Euch … Shiko.“

Sie sah ihn überrascht an und lächelte dann.
 

Die Macht des Großen Zwerges

Auch wenn der größte Kampf noch vor ihnen lag, sahen Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Vekk und Odgen so aus, als hätten sie die Zerstörer bereits geschlagen. Stolz betraten sie zusammen mit Oola, die drei ihrer besten Golems mitgenommen hatte, das Augen des Nordens. Sofort fiel Gwen der Elementarmagierin um den Hals. Sie hatte sich wirklich Sorgen gemacht. Jora und Brandor hatten ebenfalls ungeduldig auf ihre Rückkehr gewartet.

„Da seid ihr ja.“, begrüßte der Charr sie, „Wir befürchteten schon, euch sei etwas zugestoßen.“

Der Assassine schaute zu Boden und meinte: „Es gab … eine kleine Verzögerung. Aber jetzt sind wir ja da. Ist alles bereit?“

„Die Einheiten sind formiert … Olaf, seine Tochter und Egil vertreten die Seite der Norn. Brandor´s Trupp hat das Gelände im Auge. Die Ebon-Vorhut ist gerüstet.“, erzählte Jora lächelnd, „Und Jalis Eisenhammer ist vor zwei Tagen mit seiner Armee eingetroffen.“

Shikon No Yosei konnte sich einen verdutzten Gesichtsausdruck nicht verkneifen. Wenn König Jalis wirklich mit all seinen Soldaten angerückt war, war dann auch Seiketsu No Akari unter ihnen? So schändlich es auch war, diese Möglichkeit hatte sie bisher noch gar nicht in Betracht gezogen. Ihr Herz begann freudig schneller zu schlagen.

„Shiko?“, riss Vekk sie aus ihren Gedanken.

Sie lächelte ihn an und nickte: „Oola, ich würde Euch bitten, in der Zwischenzeit die Golems umzuprogrammieren. Ohtah, Gwen, Vekk, Odgen, Jora, Brandor, wir sollten den König nicht länger warten lassen. Lasst uns gehen, meine Freunde!“

Ohtah Ryutaiyo fiel auf, dass seine Geliebte vor Tatendrang nur so sprühte. Ihr war sicher derselbe Gedanke wie ihm gekommen. Sie freute sich auf ein mögliches Wiedersehen … Und er glaubte, dass ihre Versöhnung ein weiterer Faktor für ihre gute Laune war. Schwäche war menschlich … auch für eine Heldin wie sie. Doch er liebste es, wenn Shikon No Yosei´s starke Seite ihre Taten bestimmte. Als sie den Blick bemerkte, mit dem er sie beobachtete, breitete sich ein glückliches Lächeln auf ihren Zügen aus. Sie konnte nicht sagen, wie froh sie war, ihn wiederzuhaben!

In der Nähe des Auges des Nordens hatten die Deldrimor-Zwerge ihren Stützpunkt errichtet. Es hatte den König schon sehr überrascht, Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo zusammen mit seinem getreuen Diener zu sehen.

Aber es erleichterte ihn ungemein und er bat freundlich: „Erhebt Euch … und berichtet mir.“

„Als ich hier ankam, habe ich sofort damit begonnen eine Armee auszuheben.“, erklärte Odgen und wies auf seine Verbündeten, „Das hier ist meine Armee, mein König! Gemeinsam haben wir viele Zerstörer getötet. Verzeiht, dass es nicht noch mehr Kämpfer sind …“

Der König jedoch schüttelte den Kopf: „Ich habe Euch nichts zu verzeihen, Odgen Steinheiler. Ich habe Euch zu danken, mehr als Ihr Euch denken könnt. Denn nicht auf die Größe einer Armee kommt es an, sondern auf die Stärke ihrer Herzen … Und Ihr habt die stärksten Krieger überhaupt versammelt … besonders meine alten Freunden.“

Perplex starrten die anderen die beiden Canthaner an, als Shikon No Yosei erwiderte: „Danke für das Kompliment, König Jalis … Es tut gut, Euch wohlbehalten wiederzusehen.“

Ein warmes Lächeln strahlte ihnen entgegen und er antwortete: „Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Ich hätte nicht gedacht, dass mir noch einmal die Ehre zuteil werden würde, an Eurer Seite zu kämpfen, Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo.“

Die hübsche Elementarmagierin schmunzelte verlegen und sagte etwas leiser: „Wenn Ihr mir die Frage gestattet, König … Ist Seiketsu mit Euch gekommen?“

„Also, jetzt mal ehrlich … Du hast dich wirklich kein bisschen geändert, Shiko. Aber dein Mut und deine Entschlossenheit erstaunen mich trotzdem immer wieder.“, erklang eine helle Stimme, gefolgt von einem erfreuten Kichern.

Shikon No Yosei blieb die Luft im Hals stecken. Sie hatte sich also wirklich Jalis´ Armee angeschlossen! Langsam drehte sich die Rothaarige um und schaute in das strahlende Gesicht von Seiketsu No Akari, welche mit ausgebreiteten Armen hinter ihr stand. Die Augen der beiden jungen Frauen füllten sich wieder mit Tränen, als sie sich fest umarmten.

Kaum hörbar schluchzte die Jüngere: „Du bist hier …“

„Natürlich … Oder glaubst du, ich würde mir die Chance entgehen lassen, mein kleines Schwesterchen in ihrem schwersten Kampf zu unterstützen?“, entgegnete die junge Mönchin und streichelte ihr beruhigend über das Haar, „Schlimm genug, dass ich dir in Elona nicht beistehen konnte. Was machst du aber auch immer für Sachen? Legst dich mit einem Gott an … Und dann noch in seinem eigenen Reich! Weißt du eigentlich, wie schockiert ich war, als Tyria die Nachricht erreichte, die überlebenden Sonnenspeere wären einfach so verschwunden? Ich hatte solche Angst um dich, Shiko …“

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie erklärte: „Ich bin so glücklich, Sei …“

„Und ich erst …“, murmelte Seiketsu No Akari und wandte sich dann mit kräftiger Stimme an König Jalis, „Mein König … ich habe eine Bitte an Euch, die mir sehr am Herzen liegt.“

„Was ist dein Anliegen, mein Kind?“, wollte der König freundlich wissen.

Seiketsu No Yosei löste sich von ihrer Seelen-Schwester, kniete vor ihm nieder und antwortete: „Es ist über drei Jahre her, seit ich mein Studium in den Reihen der Deldrimor aufgenommen habe. In dieser Zeit habe ich mehr gelernt, als ich jemals zu träumen gewagt hätte … In wenigen Wochen würde meine Abschlussprüfung stattfinden. Doch … ich möchte Euch bitten, diesen unseren Kampf gegen die Zerstörer als meine Abschlussprüfung anzuerkennen. Ich möchte mich nicht noch einmal von Shiko trennen müssen … Ich wünsche mir nach Shing Jea zurückzukehren!“

Ihr Blick war fest und entschlossen. Der des Königs nachdenklich und sogar etwas traurig.

„Nun, mein Kind, du weißt, wie gerne ich dich auch in Zukunft in unseren Reihen gesehen hätte … Aber ich habe längst aufgehört zu zählen, wie oft ich diesen Wunsch von dir vernommen habe. Nicht nur aus deinem Mund … deine Augen haben ihn mir vor allem anderen verraten.“, erwiderte Jalis Eisenhammer, „Du bist eine ausgezeichnete Mönchin geworden, hast uns mit deinem Liebreiz und deiner Warmherzigkeit verzaubert … Es fällt mir sehr schwer, dir deinem Anliegen nachzugeben …“

Er klatschte zweimal in die Hände und sofort erschien ein Deldrimor neben ihm, der ein rotes Kissen trug, auf dem ein blaugrünes Gewand lag. Verwundert stand Seiketsu No Akari auf.

„Jeder meiner Absolventen erhält am Ende seines Studiums ein magisches Ornat von mir.“, sprach der König weiter und überreichte ihr das Gewand, „Ich wusste, wenn wir diesen Kampf gewinnen würde, würde ich dich nicht länger halten können, mein Kind. Deshalb habe ich es mitbringen lassen … Es soll dir im Kampf die Kraft und Weisheit der Deldrimor schenken. Auf dass uns der Große Zwerg zum Sieg führen wird!“

Gerührt und sprachlos hielt Seiketsu No Akari die Kleidung in Händen, die ganz dem Stil und der Tradition der Deldrimor entsprach. Neue Tränen rollten über ihre Wangen, als sie entgegen jedem Protokoll oder Etikette Jalis Eisenhammer fest umarmte.

Ein Räuspern zog die Aufmerksamkeit aller auf Vekk, der ebenfalls etwas in Händen hielt und erklärte: „Im Namen der Asura darf ich dir, Shiko, auch etwas überreichen. Dieses Gewand wurde von den besten Zauberwebern und Technikern meines Volkes hergestellt. Die Runen darauf werden dir zusätzliche Magie verleihen … Außerdem schützt es gut vor Feuerattacken.“

Baff starrte Shikon No Yosei den kleinen Asura an. Ohtah Ryutaiyo grinste bei ihrem Anblick und gab ihr einen kleinen Schubser. Das Gewand war in rot und silber gehalten. Das Material kannte sie nicht. Aber die darin eingewobene Magie war deutlich spürbar. Shikon No Yosei und Seiketsu No Akari sahen sich an. Sie lachten. Dann zogen sie sich zurück, um ihre neue Kleidung anzulegen.
 

Die acht Verbündeten standen versammelt in der Halle mit dem Spähbecken. Wenn sie gegen den Kern der Zerstörer-Armee kämpfen wollten, mussten sie wissen, wo sie sich aufhielten. Die Zentrale Transferkammer war bisher nur eine vage Vermutung. Sie brauchten Gewissheit. Shikon No Yosei kniete mit geschlossenen Augen nieder und konzentrierte sich. Wie beim ersten Mal ließ sie sich von ihrer Frage durchströmen. Als sie die Augen öffnete, erschien ein Bild. Es war ein gewaltiges Wesen, das aus derselben Lava bestand wie die anderen Zerstörer. Nur dass dieser viel, viel größer war und auch wesentlich stärker, mächtiger zu sein schien. Das letzte, was sie sahen, war eine Art Statue, welche wohl einen Drachen darstellen sollte.

„Sie scheinen einen ziemlich hässlichen Anführer zu haben.“, vermutete Gwen.

Odgen biss sich schockiert auf die Lippe und flüsterte: „Wie ich befürchtet hatte … Das Ende kommt wahrhaftig!“

„Wie meint Ihr das, Odgen?“, wollte Shikon No Yosei daraufhin wissen.

Er blickte die Anwesenden ernst an und erklärte: „Dieses Wesen ist der >Große Zerstörer<. Laut Foliant des Rubikon, der heiligen Schrift der Deldrimor, tragen der Große Zwerg und der Große Zerstörer einen letzten Kampf aus … Und danach gibt es die Zwerge nicht mehr. Sieg oder Niederlage … die Zeit der Zwerge ist vorbei. Die Frage ist nur … ist dann auch Euer aller Ende gekommen?“

„Das ist schrecklich!“, rief Seiketsu No Akari aus, „Das darf nicht geschehen!“

Shikon No Yosei legte beruhigend einen Arm um ihre Schultern und sagte: „Hab´ keine Angst … Wir lassen nicht zu, dass diese Welt untergeht. Wir werden für unsere Zukunft kämpfen!“

„Ich weiß, wo sich der Große Zerstörer aufhält.“, meldete sich Vekk zu Wort.

Die Mönchin umarmte ihre Cousine und erwiderte: „Danke, Shiko … Ich vertraue deinem Wort.“

„Ich weiß, wo sich der Große Zerstörer aufhält.“, wiederholte Vekk.

Ohtah Ryutaiyo nickte und fügte hinzu: „Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wo sich der Große Zerstörer aufhält.“

„So hört mir doch endlich zu! Ich kenne diesen Ort!“, rief Vekk aufbrausend.

Perplex starrte die Elementarmagierin ihn an und fragte: „Ihr wisst es, Vekk? Woher?“

„Ich war an der Konstruktion der Zentralen Transferkammer beteiligt.“, antwortete der Asura, „An die Kammer grenzt eine Höhle. Die Höhle, die uns das Spähgerät gezeigt hat! Ich habe die Drachenstatue wiedererkannt. Sie verströmt eine besondere Art von Magie. Deshalb haben wir auch die Kammer dort gebaut … Ich habe mich seit meiner ersten Begegnung mit den Zerstörern gefragt, warum mir ihre Magiesignatur so bekannt vorkam. Die Zerstörer verströmen dieselbe Energie wie diese Statue!“

Seiketsu No Akari legte sich erschrocken ihre Hände auf den Mund, Ohtah Ryutaiyo zog überrascht die Augenbrauen nach oben und Shikon No Yosei entgegnete: „Das bedeutet … die Zerstörer wurden dort erschaffen. Erschaffen von ihrem Meister, dem Großen Zerstörer.“
 

Um den Lehren des Folianten zu entsprechen und um Tyria vor der Invasion der Zerstörer zu schützen, führte Jalis Eisenhammer mit seinen engsten Beratern und stärksten Zauberern ein Ritual durch, welches den Deldrimor die Macht des Großen Zwergs verlieh.

„Das Ritual ist fast beendet.“, bemerkte Shikon No Yosei leise, „Ist alles bereit?“

Oola zeigte hinter sich und sagte: „Ich habe die Matrixreihe der Golems umstrukturiert. Jetzt könnt sogar Ihr als Mensch sie benutzen.“

„Das ist … beruhigend.“, grinste Ohtah Ryutaiyo, bevor er sich an Odgen wandte, „Werdet Ihr den Ritus auch vollziehen?“

Der Zwerg schüttelte und meinte mit einem seltsamen Unterton in der Stimme: „Nein, ich nicht. Wer sich dem Ritus unterzieht, wird an Körper und Geist verändert … Ich möchte lieber ich selbst bleiben.“

Seiketsu No Akari starrte gebannt auf das Volk der Deldrimor. Ein weißer Nebel, der sich über sie gelegt hatte, verzog sich. Der König und seine Untertanen waren nicht wiederzuerkennen. Ihre Körper waren nicht länger aus Fleisch und Blut, sonst aus einem grünlichen Gestein.

„Der Große Zwerg ist mit uns!“, rief Jalis Eisenhammer euphorisch, „Die letzte Schlacht steht bevor … Großer Zerstörer gegen Großer Zwerg! Denn jetzt sind wir alle der Große Zwerg!“

Die Jubelschreie der Zwerge waren laut, hallten durch die weite Halle.

„Es ist soweit …“, kam es synchron von den drei Canthanern.

Kurz darauf öffnete Vekk ein Portal, dass die Streitmacht in die Nähe der Zentralen Transferkammer führte. Die Aufgabe, den Weg freizuräumen übernahm ab hier, ganz nach Shikon No Yosei´s Planung, die Hauptgruppe, bestehend aus der Ebon-Vorhut, den Golems und den Norn. Die Zwerge hatten es sich in den Kopf gesetzt, allein gegen die Zerstörer in der Kammer zu kämpfen. Sie wollten diesen Feiglingen, die sich vor ihnen versteckten, bestrafen. Die Spezialeinheit, Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Seiketsu No Akari, Vekk, Odgen, Gwen, Jora und Brandor sollte ihre Kräfte für den Großen Zerstörer aufsparen. Doch der Weg durch die Tiefen war gefährlich und sehr tückisch. Die Zerstörer hatten daraus ihr Territorium gemacht. Überall lagerten ihre Horden, verborgen sich Fallen und warteten neue Gefahren. Aber die strukturierte Streitmacht von Shikon No Yosei war vorbereitet – sie waren ihnen zahlenmäßig ebenbürtig und vor allem strategisch standen sie ihnen in nichts nach.

Als sie endlich in die Zentrale Transferkammer gelangten, erschrak die Gruppe. Es war noch viel schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatten. Die Zerstörer hätten die Kammer in ein gewaltiges Nest verwandelt. Bevor sich die drei Canthaner auch nur ansatzweise mit den anderen beraten konnten, stürmten die Deldrimor bereits los und entfesselten einen Kampf, der alles andere in den Schatten stellte. Zu mächtig war die Gegenwehr der Zerstörer, sodass sogar die Spezialeinheit an ihre Grenzen gehen musste. Die erschöpften Kämpfer der Haupttruppe konnten nichts mehr tun, nicht einmal die stolzen Norn waren mehr in der Lage, ihre Verbündeten zu unterstützen. Diese Schlacht sollte ihnen wahrlich alles abverlangen. Ein Sieg war praktisch unmöglich … Doch es wäre nicht das erste Mal, dass Shikon No Yosei etwas unmögliches möglich gemacht hätte. Seiketsu No Akari kümmerte sich einzig, um den Schutz der Elementarmagierin und des Assassinen, auch wenn es ihr schwerfiel, Jalis Eisenhammer und seine Leute zu ignorieren, wusste sie, dass sie keine andere Wahl hatte. Aber so sehr sich ihre Seite versuchte zu wehren, die Flut an Zerstörern riss nicht ab. Immer neue Gegner erschienen und kreisten sie schließlich ein. Die junge Mönchin zitterte. Die Übermacht war zu groß. Die Gegenwehr wurde schwächer. Bald würde ihre Linie fallen und alle würden sterben.

„Gib´ nicht auf, Sei!“, rief Shikon No Yosei, die ihre Reaktion bemerkt hatte, , „Noch ist es nicht vorbei … Und sollten wir wirklich unterliegen, habe ich keine Angst vor dem Tod. Nicht solange wir zusammen sind!“

Ja, sie durfte nicht aufgeben. Sie musste an die Stärke ihrer Verbündeten glauben. An die ihrer Verbündeten und an ihre eigene.

Langsam kniete Seiketsu No Akari inmitten des Kampffeldes nieder und flüsterte mit geschlossenen Augen: „Im Namen der Göttin Dwayna … im Namen Deldrimors … im Namen des Reichs der Drachen … ich rufe euch an, ihr Mächte der Erde und des Himmels ... kommt zu uns, verleiht uns eure Kräfte … helft uns in diesem Kampf, auf dass wir euer Reich auch in Zukunft verteidigen können!“

Es war wie ein Wunder. Im Körper von Seiketsu No Akari konzentrierte sich eine Unmenge an Energie verschiedenster Arten. Sie breitete die Arme aus und eine Welle positiver Energie fegte über ihre Verbündeten hinweg, heilte ihre Verletzungen und stärkte sie. Mit dieser neuen Kraft wagten sie einen Durchbruch.
 

„Wir haben sie zurückgedrängt!“, sagte Jalis Eisenhammer stolz.

Odgen sah ihn an und meinte: „Doch die Zerstörer formieren sich neu.“

„Das macht nichts! Wir sind Stein! Wir widerstehen all ihren Attacken!“, erwiderte der König standhaft und ging zu seinen Deldrimor-Zwergen.

Shikon No Yosei flüsterte leise, dass der Herrscher sie nicht hören konnte: „Nun sehe ich, was Ihr mit >an Körper und Geist verändert< meintet.“

„Ich erkenne König Jalis nicht mehr wieder.“, stimmte auch Seiketsu No Akari traurig zu, „Er hätte früher nie so rücksichtslos gehandelt … Er ist zu allem entschlossen. Für ihn gibt es jetzt nur noch Sieg … oder Tod.“

Seufzend rieb Odgen sich über die Augen und meinte: „Ja … aber die zahlreichen Zerstörer agieren inzwischen wie ein Wesen.“

„Das ist es!“, rief Gwen aus, „Was, wenn sie ein Wesen sind? Ich meine … die Macht des Großen Zwergs ist doch mit Jalis Eisenhammer und seinen Leuten verbunden. Was, wenn der Große Zerstörer auch mit seiner Armee verbunden ist?“

Shikon No Yosei starrte sie an und hauchte baff: „Das heißt, wenn der Große Zerstörer stirbt …“

„Bricht Chaos aus und die Deldrimor haben eine Chance!“, beendete die Braunhaarige den Satz.

Vekk überlegte kurz und gab zu Bedenken: „Das wird riskant … sehr riskant. Selbst mit der Macht ihres Großen Hokuspokus werden die Zwerge nicht lange durchhalten.“

„Dann lasst die Golems hier.“, schlug Ohtah Ryutaiyo vor.

Mit einem Nicken antwortete der Asura: „Klingt nach einen guten Plan. Die Höhle des Großen Zerstörers ist nicht weit. Eine kleine Gruppe könnte unbemerkt hinein gelangen ...“

„Worauf warten wir dann noch?“, fragte Seiketsu No Akari lächelnd.

Shikon No Yosei schaute einen nach dem anderen an und entgegnete entschlossen: „Dann ist es entschieden. Ohtah, Seiketsu, Vekk, Odgen, Gwen, Brandor, Jora … das wird unser letzter Kampf!“
 

Die lebenden Legenden

Vor ihnen erstreckte sich ein gigantisches Meer aus Lava, Flammen und Gestein. Das war die Höhle des Großen Zerstörers, der selbst im hintersten Ende auf einer Erhöhung thronte. Die Kampfgefährten konnten ihren Augen nicht trauen. Sein Körper glich der Größe von minndestens zehn Zerstörern zusammen, die jeweils Mannshoch waren. Von seiner Macht, welche deutlich spürbar war, einmal ganz abgesehen. Die komplette Zerstörer-Armee gehorchte seinem Willen. Es wäre gelogen gewesen, wenn sie in diesem Moment behauptet hätten, keine Angst zu haben. Das wusste auch Shikon No Yosei.

„Angst zu haben, ist keine Schande …“, flüsterte sie ihren Verbündeten zu, „Aber aufzugeben. Zusammen sind wir stark! Wir dürfen nur nicht vergessen, wofür wie kämpfen …“

Bevor die anderen ein zustimmendes Nicken geben konnten, erklang eine dunkle Stimme in ihren Köpfen: „Ihr habt also den Weg in meine Höhle gefunden … Ich bin beeindruckt von eurem Widerstand, den ihr meinen Truppen geleistet habt. Ich glaube, ich habe euch zu Anfang etwas unterschätzt … Mein Fehler. Doch das ist jetzt vorbei … denn nun steht ihr mir gegenüber!“

„Und du glaubst wirklich, dass uns das aufhalten wird, dich zu besiegen?“, ergriff Ohtah Ryutaiyo mutig das Wort, „Wir werden nicht aufgeben! Niemals! Egal wie gering unsere Chance auch ist … wir werden kämpfen!“

Überrascht sah seine Geliebte ihn an. Sie wusste zwar, dass er einen großen Kampfgeist hatte und auch immer alles gab, aber so vollkommen entschlossen, hatte sie ihn noch nie erlebt.

Der Große Zerstörer ließ sich davon allerdings nicht beeindrucken und sagte nachhallend: „Ihr habt es nicht anders gewollt … Ihr wisst nicht, wem ihr gegenüber steht. Ich werde keine Gnade kennen! Für keinen von euch!“

„Wir wissen nicht, wem wir gegenüber stehen? Weißt du es denn? Weißt du, gegen welche vereinte Kraft du kämpfen wirst?“, stellte Seiketsu No Akari die Gegenfrage, „Unsere Fähigkeit Gefühle zu zeigen, ist unsere Stärke und deine Schwäche! Du bist nichts weiter als tote Materie!“

Wut durchströmte die braunhaarige Mönchin. Noch nie hatte sie eine solche Wut verspürt. Sie legte diese Gefühlsreaktion in ihre Schutzgebete, die sie anschließend über ihre Freunde legte, um sie vor dem Feuer und der Hitze zu bewahren. Die Hand von Ohtah Ryutaiyo zitterte. Nicht weil er zögerte oder gar Angst um sein eigenes Leben hatte. Er fürchtete um das Mädchen, dem sein Herz gehörte – an diesem Tag würde sich alles entscheiden und es würde all ihre ganze zur Verfügung stehende Kraft benötigen. Shikon No Yosei griff nach ihrer wahrer Macht, der reinen Energie. Ihre Feuermagie würde gegen den Großen Zerstörer nicht funktionieren und die anderen Elemente waren gegen einen solchen Feind einfach zu schwach. Langsam machte sie den ersten Schritt auf ihn zu. Es war ihre Aufgabe als Anführerin den Kampf zu beginnen. Ein Grollen erfüllte die Höhle, ließ sie erzittern. Felsbrocken lösten sich, stürzten herab. Lava spritze umher.

Wieder sprach der Zerstörer Zerstörer zu ihnen: „Ich habe es euch gewarnt … Ihr habt keine Ahnung, wie groß meine Macht ist … Ein einziger Gedanke von mir kann euch alle auf der Stelle auslöschen! Aber … das würde mir nicht ausreichend Genugtuung verschaffen. Erst werde ich euch töten und danach werde ich die ganze Welt beherrschen! Niemand kann mich aufhalten … Meine Macht ist grenzenlos! Meine Macht ist unendlich!“

Die schöne Elementarmagierin stieß einen missbilligenden Laut aus. Bescheidenheit war wohl wahrlich keine Stärke der Zerstörer. Selbstvertrauen in allen Ehren, aber das ging zu weit. Jemand, der allein war, niemanden auf seiner Seite hatte, der besaß keine wahre Stärke, der war schwach. Zu schwach, um es sich einzugestehen.

Sie schloss die Augen und rief machtvoll: „Die Ebon-Vorhut glaubt daran, dass die Opfer der vergangenen Zeit nicht umsonst waren. Die Norn freuen sich, dass so starke Krieger aus dieser Schlacht hervorgegangen sind. Die Deldrimor und die Asura haben die Hoffnung, endlich wieder ungestört in ihrem Reich leben zu können. Wir, die wir hier vor dir stehen, haben einen Grund diesen Kampf auszufechten … Dieser Glaube, diese Freude, diese Hoffnung … all unsere Gründe und unsere Gefühle fließen in meinen Körper und verleihen mir Energie … Energie, die wahrhaft unendlich ist!“

Eine Aura aus Licht umhüllte Shikon No Yosei und wuchs immer mehr an, breitete sich aus.

Der Große Zerstörer zischte entgeistert: „Ich verstehe das nicht. Wie kann das sein? Vor einem Moment warst du nicht einmal annähernd so stark … Du warst nichts weiter, als ein schwacher Mensch!“

„Du wirst es auch nie verstehen … Du hast niemanden, der dein Herz berührt. Ich habe Familie, Freunde, Verbündete … Sie verlassen sich auf mich. Sie sind davon überzeugt, dass ich sie zum Sieg führe … Und ich habe nicht vor, sie zu enttäuschen!“, entgegnete sie erst an ihn gerichtet und wandte sie anschließend an ihren Geliebten, „Ohtah, erinnerst du dich noch an Kormir´s Worte? Was meinst du … ist jetzt der Zeitpunkt, an dem ich sie am dringendsten benötige?“

„Die Flasche mit Abaddon´s Energie …“, hauchte Ohtah Ryutaiyo geschockt und nickte dann, „Mir würde kein passenderer Zeitpunkt einfallen – zeig´ ihm deine ganze Kraft, Shiko!“

Sie zauberten ein kleines Fläschchen hervor. Die magische Essenz darin pulsierte. Shikon No Yosei konzentrierte sich darauf, verband sie mit der Energie, die durch ihren Körper strömte – die darauffolgende Druckwelle vergrößerte die Aura um sie herum, schleuderte ihre Verbündete von ihr.

„Deine Macht mag zwar unendlich sein … Doch nun besitze ich eine Energie, die jenseits der Unendlichkeit liegt!“, schrie die Elementarmagierin und befreite auf einen Schlag die ganze Energie aus ihrem Körper.
 

Gwen hatte recht. Mit dem Tod ihres Meisters verschwand die einigende Kraft der Zerstörer. Jalis Eisenhammer und seine Zwerge verfolgten sie in die Tiefen Tyria´s. Es war ein Tag der Wunder. Ein Tag für die Zukunft. Ein Tag der lebenden Legenden! Aber das Ende ihrer Reise warf auch einen Schatten auf ihren Erfolg. Shikon No Yosei hatte für diesen Sieg den Zugang zur Magie verloren … doch nach zahlreichen Untersuchungen waren sich die Asura sicher, dass dies nur ein vorübergehender Zustand sei – allerdings würde sie wahrscheinlich nie mehr auf ihr einstiges Level kommen. Und der Abschied von ihren neuen Freunden kam unaufhaltsam näher.

„Es wird Zeit.“, erklärte Shikon No Yosei mit gemischten Gefühlen, „Ohtah, Seiketsu und ich kehren in unsere Heimat zurück … Jetzt da ich die beiden wieder an meiner Seite habe, kann ich vielleicht endlich etwas Ruhe finden. Ich würde es mir zumindest wünschen …“

Vekk reichte ihr seine Hand und sagte: „Ich bin froh, Euch kennen gelernt zu haben, Shiko … Ich habe viel von Euch gelernt. Ihr seid von nun an eine Vertraute der Asura … Vergesst das nicht! Und zum Zeichen dafür, habe ich noch ein Geschenk für Euch.“

Er überreichte ihr einen Gegenstand, der wie ein einfacher Zylinder aus Metall aussah, und fügte hinzu: „Das ist ein tragbares Portal … Es ist einzigartig. Ich selbst habe es höchstpersönlich nur für Euch konstruiert. Wenn Ihr den Namen eines Ortes laut aussprecht, wird es Euch dorthin bringen. Und wenn Euch jemand begleiten möchte, muss derjenige Euch einfach nur berühren.“

Tränen stiegen Shikon No Yosei Tränen in die Augen. Sie kniete sich hin und umarmte Vekk.

Dann stand sie auf und meinte an die anderen gewandt: „Gwen, ich werde dich vermissen. Irgendwann sehen wir uns wieder … Ich möchte auch dir und deinem Volk danken, Jora. Wann immer du wieder unsere Hilfe braucht, ruf´ nach uns … Dasselbe gilt für Euch, Brandor. Wir schulden Euch so großen Dank … Und Euch habe ich ebenfalls zu danken, Odgen. Was habt Ihr jetzt vor? Jetzt da die Deldrimor verschwunden sind …“

„Ich werde Vekk in die Befleckte Küste begleiten.“, antwortete der Zwerg und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, „Ich wünsche Euch alles Gute, Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari. Lebt wohl … und habt Dank für Eure Unterstützung!“

Als letzter meldete sich auch Brandor zu Wort: „Du bist ein ziemlich ungewöhnlicher Mensch … und eine gute Anführerin. Halte dir das immer vor Augen – jedes unserer Völker respektiert und schätzt dich!“

Die Tränen ließen sich nicht länger zurückhalten. Wortlos hielt Ohtah Ryutaiyo sie fest, wofür sie sehr dankbar war. Sie hatte auf dieser Reise so vieles von den Zwergen, den Asura, den Menschen des Nordens und den Charr gelernt. Diese Erfahrungen konnte ihr niemand mehr nehmen.
 

Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari sind durch diesen Sieg wahrhaftig zu lebenden Legenden geworden. Überall in Tyria, in Elona und natürlich auch in Cantha verbreiten sich die Geschichten über sie. Nun können sie auch endlich ihre Aufgabe als Verteidiger von Cantha übernehmen. Doch würde diese Zeit des Friedens wirklich von Dauer sein?

Niemand kann sagen, was die Zukunft bringen wird oder wann das Ende kommt … Neue Gefahren, neue Gegner und neuen Herausforderung wird es immer geben. Solange es das Gute gibt, existiert auch das Böse. Ohne Schwäche gibt es keine Stärke. Ohne Hass, keine Liebe. Ohne gestern, kein heute und kein morgen … Und so leben die Legenden fort.

Zwischenspiel 03: Eine Legende zum Wintertag

Das Juwel der vier Seeles

Erst wenige Wochen waren unsere Helden von ihrer Schlacht zurückgekehrt, da neigte sich das Jahr des tyrianischen Kalenders bereits dem Ende entgegen und überall hielt Grenth´s eisiger Winter Einzug … Wirklich überall? Nein, denn in Cantha hatte es noch nie geschneit – nicht ohne Magie.

Und so blieb Shikon No Yosei´s Wunsch nach einer eisigen Schneelandschaft unerfüllt. Denn ihre magischen Kräfte hatten sich von dem gewaltigen Zauber gegen den Großen Zerstörer noch nicht wieder erholt und es blieb die quälende Frage, ob sie überhaupt zurückkehren würden … trotz der Diagnose der kundigen Asura.

„Shiko, wach´ auf! Wir müssen los.“, rüttelte Ohtah Ryutaiyo sie früh am Morgen aus dem Schlaf.

Die schöne Elementarmagierin rieb sich verschlafen über die Augen, doch ihre jahrelangen Abenteuer ließen sie dennoch aufhorchen. Doch anstelle einer Antwort, zog er ihr nur die Bettdecke vom Leib und ein Frösteln überlief Shikon No Yosei.

„Hier, zieh´ das an.“, verlangte er ungewohnt autoritär.

Der Braunhaarige hatte seiner Angebeteten dicke Winterkleidung hingelegt – allein dass er sich an ihren Kleiderschrank getraut hatte, verschlug ihr schon die Sprache. Innerlich zuckte Shikon No Yosei die Achseln; immerhin ging es hier um Ohtah Ryutaiyo – er hatte für alles einen Beweggrund.

„Aber ins Bad darf ich schon noch, oder?“, neckte sie ihn.

Er lächelte schief und hauchte nahe an ihren Lippen: „Wenn du dich beeilst …“

Zu nah. Er war ihr zu nahe, als dass sie es einfach ignorieren oder sich abwenden konnte – ihre Arme schlangen sich wie von selbst um seinen Nacken und zogen ihn zu einem leidenschaftlichen Kuss auf sie. Bei niemand anderen konnte sich Ohtah Ryutaiyo derart fallen lassen … für den Moment alles vergessen und es galt nur zu genießen. Aber heute schafften es nicht einmal die Lippen von Shikon No Yosei, ihn vollkommen die Fassung verlieren zu lassen und er entzog sich ihrem süßes Spiel.

„Bei den Göttern …“, gab er etwas atemlos von sich, „Ich warte draußen auf dich.“

Der geschickte Assassine verschwand im Schatten. Selbst in seinem jetzigen Leben war er manchmal für die harte Ausbildung und seine dadurch erlangte, eiserne Selbstbeherrschung unglaublich dankbar.

Knapp eine halbe Stunde später kam Shikon No Yosei in voller Montur zu ihm hinaus – sie trug eine dicke Strumpfhose, gefütterte Stiefel, ein Kleid aus Wolle und darüber noch einen Mantel; Schal, Mütze und Handschuhe hatte sie in eine kleine Umhängetasche gestopft. Nun bemerkte die junge Shing Jea, dass ihr Liebster ähnlich angezogen war und zu seinen Füßen stand ein voll gepackter Rucksack.

„Sagst du mir jetzt endlich, was eigentlich los ist?“, fragte Shikon No Yosei ungeduldig.

Ohtah Ryutaiyo griff in seine Jackentasche und holte einen silbernen Gegenstand heraus, der sich noch nicht allzu langem in ihrer beider Besitz befand – es war ein von Vekk geschaffenes, mobiles Portal, das einen überallhin bringen konnte, sofern man nur den Namen des Ortes aussprechen konnte. Der Asura hatte es der Rothaarigen als Zeichen der Ehrerbietung und Freundschaft vor deren Abreise geschenkt.

Aufgeregt ergriff sie Ohtah Ryutaiyo´s Arm und hörte, wie er leise sagte: „D´Alessio-Küste.“

Die Küste lag nahe Löwenstein im Herzen Kryta´s. Der große Fluss, der unterirdisch ins Meer von Orr floss, war komplett zugefroren. Shikon No Yosei staunte und bewunderte diesen einzigartig funkelnden Anblick. Beinahe zärtlich fing sie die kleinen Schneeflocken auf, die vom Himmel fielen und in ihrer warmen Hand sofort schmolzen.

Zögerlich trat der geschickte Assassine an ihre Seite und meinte: „Ich will dir alle deine Wünsche erfüllen … und für immer mit dir zusammen sein.“

„Damit erfüllst du mir meinen größten Wunsch!“, entgegnete sie lachend, während sie sich an seine Brust kuschelte.

Er drückte sie fest an sich. Es war ein Wunder, dass sie ihm die Geschichte mit Livia wirklich verziehen hatte, ihn auch weiterhin an seiner Seite haben wollte. Um die aufsteigende Melancholie zu verscheuchen, löste er sich von Shikon No Yosei und packte die eigentliche Überraschung aus seinem Rucksack aus – zwei Paar Schlittschuhe.

„Nein, wirklich? Du … Echt jetzt?“, bekam sie vor Freude kaum ein vernünftiges Wort heraus.

Seit langem schon wollte sie Schlittschuh laufen zu lernen – das Problem dabei war, dass es durch die milden Winter in Cantha im Grunde niemand konnte. Ohtah Ryutaiyo hielt eine solche Kleinigkeit natürlich nicht auf – kurzerhand war er per Portalnetz nach Löwenstein gedüst, hatte das mit Kufen versehene Schuhwerk gekauft und damit geübt. Stolz hielt er ihr das Schuhwerk mit den glänzenden Kufen hin und erklärte ihr, wie sie diese binden und zuschnallen musste. Wenige Minuten später stand Shikon No Yosei, noch etwas wacklig auf den Beinen und gestürzt von Ohtah Ryutaiyo, auf dem Eis. Zaghaft machte sie die ersten Schritte mit einem wohliges Glücksgefühl.

„Halte dich gerade, die Fußspitzen müssen leicht nach außen zeigen und immer abwechselnd abstoßen.“, meinte der geschickte Assassine lächelnd, „Stell´ dir vor, du würdest einfach dahinschweben …“

Selbst wenn sie es nicht in ihrem Namen tragen würde, für ihn war sie stets eine starke, anmutige und wunderschöne Fee, die ihn verzaubert hatte. Glanzvoller als jeder Engel … Er ließ ihre Hände los und entfernte sich ein Stück von ihr. Zuerst etwas panisch begann die junge Elementarmagierin zu schwanken, bis sie eine tiefe Ruhe empfing. Sie wusste, Ohtah Ryutaiyo würde sie niemals fallen lassen … es konnte ihr nichts geschehen. Er war ihr Beschützer, der sie über alle Maßen liebte und jede Herausforderung annahm – deshalb wollte sie ihn auf gar keinen Fall enttäuschen! Shikon No Yosei nahm Haltung an und plötzlich war es ganz einfach. Sie flog förmlich über das Eis. Ohtah Ryutaiyo staunte nicht schlecht – er hatte Stunden und Tage gebraucht, um mit den Schlittschuhen klarzukommen. Lachend fuhr er seiner Geliebten hinterher und gemeinsam drehten sie viele Runden auf der gefrorenen Oberfläche, bis ihr Magen schließlich lauthals protestierte – immerhin hatten sie noch kein Frühstück gehabt. Doch auch daran hatte der gewitzte Assassine natürlich gedacht und belegte Brote, Obst sowie Getränke eingepackt.

„Das ist ja ein kleiner Zauberrucksack! Und das hast du alles allein gemacht?“, staunte Shikon No Yosei über die Auswahl.

Etwas schuldbewusst schüttelte er den Kopf: „Seiketsu hat mir geholfen, bevor sie zum Kloster aufgebrochen ist.“

Seit der braunhaarige Mönchin nach Meister Togo´s Willen das Amt der Leiterin des Klosters von Shing Jea übertragen worden war, verbrachte sie dort fast vierundzwanzig Stunden.

„Wusstest du, dass die Zeit des Wintertages in Elona und Tyria ganz groß gefeiert wird?“, fragte Ohtah Ryutaiyo und zog ein Päckchen heraus, „Man beschenkt zum Beispiel auch seine Liebe …“

Shikon No Yosei schaute ihn überrascht an. Für gewöhnlich hängte er sich nicht an materielles – Ausflüge wie dieser Tag oder wenn dann Liebesbotschaften und Blumen. Zaghaft nahm sie dem Gegenstand entgegen und befreite ihn aus dem Papier. Es war ein Buch, auf dessen Einband eine violett schimmernde Kugel abgebildet war.

„Die Legende des Shikon No Tama …“, las sie ehrfürchtig den Titel.

Ihr Blick wanderte zu Ohtah Ryutaiyo, als dieser erklärte: „Es ist ein altes, canthanisches Märchen über ein Juwel, das durch den Kampf von Menschen und Dämonen entstanden ist. Deshalb kann es sowohl gute, als auch böse Energie ausstrahlen – je nach Eigenschaften seines Besitzers … Wird derjenige von Gier, Neid, Ignoranz und Hass getrieben, wird das Shikon No Tama unrein. Herrschen dagegen Mut, Freundschaft, Weisheit und Liebe im Herzen desjenigen, bleibt es rein.“

„Woher hast du das?“, hauchte Shikon No Yosei gerührt.

Ohtah Ryutaiyo atmete tief ein, bevor er antwortete: „Von Seiketsu. Sie hat es in der geheimen Bibliothek des Klosters gefunden … Es gehörte Meister Togo. Vielleicht ein weiterer Hinweis, dass deine Theorie der Wahrheit entspricht. Ich … ich hatte mich schon länger gefragt, was die vier Seelen sind.“

Shikon No Yosei nickte. Das hatte sie ebenfalls getan – doch niemand konnte ihr darauf antworten, nicht einmal ihre Tante Bishu. Und bei ihrem Meister war es ihr nie in den Sinn gekommen … Vor allem da Shiro ihn bereits getötet hatte, als er von ihren Blutsbanden gesprochen hatte.

„Ich danke dir, Ohtah … das bedeutet mir wirklich unglaublich viel!“, antwortete sie, nachdem sie Minuten lang geschwiegen hatte.
 

Den Abend verbrachten Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo mit leicht schmerzenden Beinen in Löwenstein – natürlich waren sie nach der Pause noch einmal auf das Eis zurückgekehrt. Überall sah man wunderbare Dekorationen zu Ehren des Wintertages – Zuckerstangen, Geschenke, Tannenbäume.

Als der Wind auffrischte begann der Assassine zu niesen und sie fragte ihn besorgt: „Hast du dich etwa erkältet?“

„Mir ist nur ein bisschen kalt. Erinnert mich an die Zeit in den Zittergipfeln.“, gab er mit beruhigender Stimme zurück.

Ohne darüber nachzudenken streckte Shikon No Yosei die Arme zu beiden Seiten ihres Körpers aus und schloss für einige Sekunden die Augen. Langsam erwärmte sich die Luft um sie herum.

„Shi-Shiko, du … du kannst wieder zaubern?“, stammelte der Braunhaarige geschockt.

Nicht minder überrascht realisierte die Shing Jea, was sie so eben getan hatte und starrte ihre Hände an. Ein kleiner Feuerball tanzte um ihre Finger, gefolgt von einem Wassertropfen und einem Kieselstein, die von einer Windböe davongeweht wurden. Tränen liefen über Shikon No Yosei´s Gesicht und sie sank auf die Knie. Die Magie der vier Elemente strömte durch ihre Adern!

„Shiko?“, sprach Ohtah Ryutaiyo sie vorsichtig an.

Ergriffen blickte sie zu ihm auf und fiel ihm vor Freude mit solcher Wucht um den Hals, dass beide im Schnee lachend landeten.
 

Ihre Strafe hat endlich ein Ende gefunden! Und auch wenn es eine furchtbare Qual gewesen ist, so würde Shikon No Yosei dennoch jedes Mal erneut dieselbe Entscheidung treffen … Obwohl ihr ein Leben vollkommen abgeschnitten von ihren magischen Kräften so sinnlos erschient.

Was ist schon eine Elementarmagierin, die nicht zaubern kann? Allein wäre sie sicher verrückt geworden … doch Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari werden ihr stets beistehen – es gibt schließlich nicht nur eine Art von Magie … Mut, Freundschaft, Weisheit und Liebe gehören ebenfalls dazu. Besonders wenn man nach dem Juwel der vier Seelen benannt wurde …

Zwischenspiel 04: Shiko und das Drachenfest

Alles nur Show?

„Ist das wirklich wahr?“, fragte Shikon No Yosei aufgeregt.

Sie, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari waren zu Kaiser Kisu bestellt worden, weil er sie um einen persönlichen Gefallen bitten wollte. Nicht nur die schöne Elementarmagierin war darüber begeistert, auch die junge Mönchin und der geschickte Assassine empfanden es als große Ehre.

Der Herrscher nickte lächelnd: „Ja, meine Liebe. In diesem Jahr werdet ihr, die größten Helden Cantha´s an den Showkämpfen zu Ehren unseres Landes und der Macht der Drachen teilnehmen. Gebt euer Bestes!“

Die Verteidiger von Cantha legten ihre Hände über ihre Herzen. Sie würden ihn nicht enttäuschen.
 

Die erste Aufgabe galt es in der Provinz Kinya zu bestehen. Shikon No Yosei und ihre beiden Gefährten sollten die Yetis besiegen, welche angeblich von einem fremden Monster aufgeschreckt worden waren, und anschließend die Kreatur vernichten.

„Wie gut, dass wir gemeinsam hierher gekommen sind.“, rezitierte Shikon No Yosei ihre vorgegebene Textpassage, „Sie sind verrückt geworden und greifen die Einheimischen an! Wir müssen uns beeilen und dem ein Ende bereiten, bevor es noch mehr Verluste gibt!“

Währenddessen belegte Seiketsu No Akari die Schaulustigen, die sich im Tal versammelt hatten, um der Instanziierung beizuwohnen, mit einem Schutzgebet – nur für den Fall, dass die Yeti wirklich auf die Zuschauer anstatt auf die Helden Cantha´s losgingen. Ohtah Ryutaiyo brachte sich via Schattenschritt in die richtige Position. Applaus folgte seinem Einsatz. Ein eigenartiges Gefühl breitete sich in ihm aus. Er war es nicht gewohnt, unbeteiligte Zuschauer bei seinen Kämpfen zu haben. Gemeinsam mit seiner Geliebten schaltete er alle Yetis in Sekundenschnelle aus.

Seiketsu No Akari nickte anerkennend über ihren Sieg: „Das war der letzte. Doch jetzt müssen wir die Höhle am Tormaat-Pass untersuchen. Irgendetwas treibt diese Viecher in den Wahnsinn und es wird langsam Zeit, dass wir diesem rätselhaften Rätsel auf den Grund gehen.“

Wie eh und je ging die Elementarmagierin als Anführerin voran. Vorsichtig schlichen sie voran, die Zuschauer folgten ihnen. In der Höhle entdeckten sie ein Wesen, welches nicht in Cantha beheimatet war.

„Ein Dämon!“, rief Shikon No Yosei aus und schluckte mit Mühe den Kloß hinunter, der in ihrem Hals aufgetaucht war – der Schrecken des Reichs der Qual saß einfach zu tief, um ihn zu vergessen.

Eine Feuerwalze brach aus ihrem Körper hervor, stärker als beabsichtigt, und verbrannte die Kreatur.

„Du hattest recht, Shiko … Es war ein Dämon. Keiner aus dem Reich der Qual, aber …“, meinte Ohtah Ryutaiyo, führte den Gedanken jedoch nicht zu Ende, „Wir müssen herausfinden, woher sie kommen … und was sie in Cantha wollen.“
 

Auf dem Rückweg gingen die drei lebenden Legenden durch die verschneiten Berge des Sunqua-Tals. Plötzlich blieb Seiketsu No Akari wie angewurzelt stehen. Kommentarlos rannte sie los. Am Schrein der Maat blieb sie schließlich stehen. Ein Priester ging dort auf und ab, auf und ab.

Er wiederholte ständig dieselben Worte wie ein Mantra: „Es kam aus der Finsternis … Warum ist nur mir die Flucht gelungen? Diese schrecklichen Bilder! Diese Bilder … Hilfe! Helft mir!“

„Er leidet unter einer Verhexung.“, erklärte die Mönchin ihren verwunderten Begleitern, „Sie zeigt ihm eine schreckliche Illusion von Tod und Qual.“

Ein entschlossener Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. Dafür war sie nach Tyria gegangen, aus diesem Grund hatte sie all die Jahre studiert. Sie konzentrierte ihre Kräfte und flüsterte die heilenden Worte, die ihn erretten konnten.

„Ihr habt mich befreit!“, sprach der Priester und verneigte sich respektvoll.

Seiketsu No Akari erwiderte die Geste. Es gab für sie kein schöneres Gefühl, als anderen zu helfen.
 

Als Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari unter Jubel ins Kloster zurückkehrten, erwartete sie bereits die nächste Katastrophe. Eine Gruppe Purperschädel-Söldner, welche auf Shing Jea ihr Unwesen trieben, waren aus ihrem Lager geflohen und suchten Schutz.

„Was ist geschehen?“, wollte die Elementarmagierin sofort wissen.

Die Kapitänin der Purpurschädel trat vor und erklärte: „Wir gingen dem … üblichen Treiben in unserem Lager nach, als es plötzlich stockfinster über uns wurde. Und … eine Bestie mitten unter uns erschien. Einfach so. Sie … tötete einige meiner Männer. Ich befahl zwar sofort den Rückzug, aber … viele ließen in dem Gewimmel ihr Leben. Deshalb sind wir hier. Wir können nicht nach Hause zurück, solange diese … Kreatur dort mordet.“

„Wieso sollten wir euch helfen?“, wollte der einstige Am Fah herausfordernd wissen.

Shikon No Yosei legte ihm eine Hand auf den Arm und sagte: „Bitte, Ohtah. Hier geht es nicht mehr um … Taschendiebstähle oder gestohlenes Vieh. Es geht um die Sicherheit von Shing Jea.“

Der Widerstand in Ohtah Ryutaiyo´s Gesicht erstarb. Er wusste nur zu gut, dass es keinen Sinn hatte diese Diskussion fortzuführen. Nicht, wenn es um Shing Jea ging.

„Gehen wir.“, murmelte er daher und wurde von einem Kuss seiner Liebsten dafür belohnt.
 

Es war genauso wie Shikon No Yosei es befürchtet hatte – das Wesen im Lager der Purpurschädel gehörte zur selben Spezies wie jenes in der Provinz Kinya. Und höchstwahrscheinlich ging auch der Angriff auf den Schrein der Maat auf ihr Konto. Sie schüttelte den Kopf. Was dachte sie da eigentlich? Sie hatte schon viel zu oft mit wirklichen Bedrohungen zu tun gehabt, dass sie sich davon in den Bann ziehen ließ. Das war alles doch nur Teil der Showeinlage für das Drachenfest.

„Shiko?“, sprach ihr Geliebter sie an und riss sie damit aus ihrer Erinnerung an den Kampf.

Inzwischen war ein weiterer »Hilferuf« eingetroffen. Diesmal von der Panjiang-Halbinsel, aus dem Dorf Kaitan. Das Dorf lag ganz in der Nähe ihres Schreins, den sie für Meister Togo errichtet und vor kurzem zu Ehren Teinai´s erweitert hatte. Eine ganze Legion Naga war aus der Raiyan-Höhle, ihrer Heimat und Geburtsstätte, ausgebrochen.

„Verteilt euch!“, rief Shikon No Yosei ihren Freunden zu, „Es sind zu viele, wir können sie nicht nacheinander besiegen. Das würde die Dorfbewohner in Gefahr bringen!“

Die beiden nickten und strömten aus. Doch die Naga schienen es genau auf den Schrein abgesehen zu haben. So stellte sich die Elementarmagierin schützend davor und wehrte mit ihrem Flammen-Schild jeden Versuch ab. So schafften sie es zu dritt, das ganze Dorf vor Schaden zu bewahren.

„Es muss einen Grund geben, warum diese … Viecher aus ihrer Höhle gekrochen sind.“, meinte Seiketsu No Akari angewidert, nachdem alle Naga besiegt waren.

Shikon No Yosei sah nachdenklich aus und stimmte zu: „Stimmt. Vielleicht finden wir so auch heraus, woher diese Monster kommen.“
 

Aus der Raiyan-Höhle strömte dunkle Energie. Die jungen Frauen erschauderten und ihnen knickten sogar die Beine weg. So gewaltig war der Einfluss der Finsternis auf ihre Körper. Es dauerte eine ganze Weile, bevor sie sich wieder bewegen konnten.

„Ich gehe alleine hinein.“, entschied Ohtah Ryutaiyo.

Die Elementarmagierin kämpfte sich hoch und sagte schwach: „Nein … ich lasse dich nicht im Stich. Sei, sprich ein Schutzgebet über uns.“

Ihre Seelen-Schwester konzentrierte das Licht ihrer Kräfte. Lautlos flüsterte sie die Worte und der Schutz des Zaubers legte sich über die drei Verteidiger. Im Innern der Höhle wimmelte es nur so vor dieser seltsamen, unbekannten Kreaturen. Und es wurden immer mehr.

„Es ist ein Portal!“, rief Shikon No Yosei und deutete auf einen Riss in der Luft, „Lenkt ihr sie ab! Ich … kümmere mich darum.“

Besorgt schaute Ohtah Ryutaiyo sie an, befolgte aber ihre Anweisung. Sie schloss die Augen und sammelte sich. Dank Vekk hatte sie bereits Erfahrungen mit Portalen, auch wenn ihre diese Art von Zauber immer noch etwas unheimlich, befremdlich war. Es war kein Feuer, kein Blitz, keine Erde und kein Wasser, was Shikon No Yosei in dieser Sekunde entfesselte. Es war reine Magie – der Zusammenschluss aller vier Elemente, aus der jede Art von Energie geboren wurde.
 

Am Abend stand der Höhepunkt des Drachenfestes auf dem Programm – der Besuch des Kaisers im Kloster von Shing Jea. Die Schüler, die Bewohner, die Großmeister und die drei Verteidiger hatten sich vor der weißen Treppe versammelt, um den Herrscher willkommen zu heißen. Gerade als der Kaiser die Stufen herabschritt und die Menge in Jubel ausbrach, kam Jamei keuchend angerannt und warf sich vor Kisu auf den Boden.

„Mein Herr, bitte vergebt mir!“, fehlte sie ihn an, „Es tut mir unendlich leid … aber die Showkämpfe konnten in diesem Jahr nicht stattfinden. Verzeiht mir … Ich habe es zu spät erfahren. Die Schausteller sind krank geworden.“

Mit verständnislosen Mienen traten die lebenden Legenden vor und Shikon No Yosei sagte: „Was redet Ihr da? Wir haben doch gegen die Monster gekämpft.“

Jetzt war es an Jamei verwirrt zu schauen. Da dämmerte es der Elementarmagierin langsam – deshalb hatten sich diese Kämpfe so echt angefühlt und ihr ganzes Können war gefragt gewesen.

„Dann … war das also nicht alles nur Show …“, hauchte sie ungläubig.

Kaiser Kisu, der die seltsame Szene verfolgt hatte, sprach: „Lasst uns dieses Missverständnis später bereinigen. Gehen wir für den Moment zum angenehmen Teil der Festlichkeiten über!“

Er erhob seine Stimme und breitete seine Arme aus: „Bürger! Die Geschichte unseres Landes birgt zahlreiche Katastrophen und viele wagemutige Helden, die ihr Leben dem Schutze Cantha´s verschrieben haben. Ebenso wie jene, die hier vor euch stehen! Gedenken wir nun ihnen und unserer Vorfahren … Denn vor zweihundert Jahren starrte Kaiser Hanjai auf ein zerbrochenes Cantha. Er flehte die Geister der Nebel um Rat an, einen Weg zu finden, der sein Volk wieder vereinen möge. Seine Gebete wurden in der Gestalt eines riesigen, himmlischen Drachens erhöht, der aus dem Himmel herniederstieß und ihm versicherte, Cantha würde wieder auferstehen. Mein Vorgänger fasste neuen Mut und führte Cantha in neue, ruhmreiche Zeiten! Zu Ehren des himmlischen Drachen begehen wir jedes Jahr dieses Fest und beten dafür, dass Cantha auch in Zukunft im Licht der Sterne erstrahlen möge! So bitte ich dich, oh himmlischer Drache, Wappentier unseres großen und geliebten Reiches, das über uns wacht, geleite und beschütze uns!“

Über ihren Köpfen begannen die Sterne heller zu leuchten. Sie formten die Konturen eines mächtigen Drachens. Für einen Moment sah es sogar so aus, als würde er nicken. Shikon No Yosei, welche im Arm von Ohtah Ryutaiyo lehnte, grinste. Ja, es gab einen Drachen, der über sie wachte – und sie hatte schon einmal gegen ihn kämpfen dürfen. Oder zumindest gegen den Avatar von Tahmu.
 

In den darauffolgenden Tagen stellte sich heraus, dass die Monster, gegen die Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari gekämpft hatte, wirklich echt gewesen waren. Es waren nicht wie sonst nur verkleidete Schauersteller oder dressierte Tiere gewesen. Und um ehrlich zu sein, überraschte es keinen der drei Verteidiger von Cantha und Shing Jea. Sie hatten schon immer gewusst, dass ihre Arbeit niemals enden würde …

Buch 05: Das Ende der Legenden?

Teinai´s Zeichen

Ohtah Ryutaiyo erwachte am frühen Morgen. Ein wohliger Schauer ließ ihn zusammenzucken, als er an die vergangene Nacht dachte.

„Shiko … ich liebe dich …“, flüsterte er, aber seine Hand fasste ins Leere, „ Shiko? Wo bist du?“

Der Assassine ging in die Küche, dort saß bereits Seiketsu No Akari am Frühstückstisch.

„Sie hat bereits vor Sonnenaufgang das Haus verlassen.“, erklang die Stimme der Mönchin beinahe monoton.

Verblüfft sah Ohtah Ryutaiyo sie an und fragte: „Weißt du, wo sie hingegangen ist?“

„Du weißt genauso gut wie ich, dass es nur einen Ort gibt, den Shiko so früh aufsuchen würde …“, antwortete Seiketsu No Akari melancholisch, „Ohtah, du solltest sie-“

Doch der einstige Am Fah hörte ihr nicht weiter zu und stürmte zur Tür hinaus.

„Ach, Ohtah … Du kannst sie nicht zwingen. Es ist viel geschehen zwischen euch … vielleicht zu viel.“, flüsterte sie vor sich hin und stand auf.

Ohtah Ryutaiyo lief über die Felder. Dann blieb er abrupt stehen, sah hoch zur Sonne.

„Ich war ein Idiot. Schlimmer noch … ein Vollidiot! Ich war viel zu oft und viel zu lang im Auftrag des Kaisers unterwegs. Dabei wollte ich Shiko nie mehr allein lassen! Ich habe sie verletzt … Aber das wird heute alles ein Ende haben. Heute ist es soweit!“, flüsterte er fest entschlossen.

Als er weiterging, entdeckte er sie auf Knien vor ihrem Schrein, den Shikon No Yosei nach Meister Togo´s Tod erbaut und nachdem Teinai´s Seele ihren Körper verlassen hatte, für ihre treue Freundin erweitert hatte.

„Meister Togo … ich wünschte, Ihr könntet mir raten. Teinai … ich brauche Kraft, um meine Entscheidung treffen zu können. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll … Ich liebe Ohtah! Ich liebe ihn mehr, als alles andere auf dieser Welt und darüber hinaus. Doch er lässt mich immer wieder allein … Er glaubt, ich wüsste nicht, was er tut. Aber ich sehe es tief in seinen Augen …“, bete Shikon No Yosei, „Ich bitte euch … schickt mir ein Zeichen! Helft mir …“

Die rotharrige Shing Jea wurde von gleißendem Licht eingehüllt und eine vertraute Stimme erklang über ihr: „Meine liebe Shiko, ich habe zwar deinen Körper verlassen und bin in die Nebel zurückgekehrt … aber ich werde immer bei dir sein! Und auch wenn du inzwischen sogar deine wahre Macht entdeckt hast … ist da irgendwo in deinem Innern noch das leicht naive Mädchen, das vor so langer Zeit zum Kampf gegen Shiro Tagachi aufgebrochen ist. Du hast mich um Hilfe, um Rat gebeten … dir ein Zeichen von mir gewünscht, auf dass du die richtige Entscheidung getroffen hast – du weißt im Grunde selbst, dass du sie bereits getroffen hast. Darum … solltest du dich umdrehen und deinen Gefühlen einfach freien Lauf lassen!“

Shikon No Yosei´s Augen füllten sich mit Tränen, als sie ihrer Anweisung folgte. Auf dem Feldhügel hinter ihr stand Ohtah Ryutaiyo und schaute ihr in die Augen. Er ging langsam auf sie zu, bis er schließlich wenige Zentimeter vor ihr stehenblieb.

„Du hast jedes Wort gehört, nicht wahr?“, fragte sie zaghaft.

Ohtah Ryutaiyo hielt ihr seine Hand hin und nickte. Sie nahm seine Hand und er kniete nieder.

„Shiko … bitte, hör´mich an.“, begann Ohtah Ryutaiyo etwas zaghaft, „Damals … als ich von deiner Ankunft in Kaineng erfuhr, habe ich mich sofort auf die Suche nach dir gemacht. Es hieß Meister Togo käme mit seiner persönlichen Schülerin in die Hauptstadt, weil uns etwas Schreckliches bevorstünde … Ich befürchtete, du könntest ins Visier der Am Fah geraten … Schließlich hatte dich Meister Togo auserwählt, um dieses bevorstehende Übel abzuwenden – Grund genug für meine ehemalige Gilde dich zu töten. Aber dann … dann habe ich dich auf dem Vizunahplatz gesehen … wie du Meister Togo mit deinem Leben beschützt hast. Und ich sah in dein Gesicht … Deine Augen hielten mich von ersten Moment an gefangen … Auch jetzt noch. Diese Augen, wie geschmolzene Schokolade … Von diesem Tag an gab es für mich nur noch einen einzigen Lebensinhalt … dich zu beschützen! Während unserer Reise durch Cantha wurden meine anfänglichen Empfindungen zu echten Gefühlen. Noch bevor wir uns bei der Feste Maatu trennten, war ich mir meiner Liebe zu dir bewusst … Zu dieser Zeit habe ich mir selbst geschworen, dir meine Gefühle zugestehen, wenn wir Shiro besiegt hätten.“

Die Hand von Shikon No yosei zitterte, während die Tränen stumm ihre Wangen hinabrannen.

„Und ich danke den Geistern der Nebel und den Sechs Göttern, dass du meine Liebe erwiderst. Doch … in den vergangen Monaten habe ich dich allein gelassen … Dafür möchte ich dich um Verzeihung bitten … Shiko … ich liebe dich! Nie könnte ich eine andere so lieben, wie dich liebe!“, erklärte Ohtah Ryutaiyo und hielt ihre Hand fester, „Shiko … Shikon No Yosei … Verteidigerin von Cantha und Shing Jea … Retterin von Tyria und Elona … Vernichterin der Zerstörer und Vertraute der Asura … ich, Ohtah Ryutaiyo, bitte dich … werde meine Frau!“

Die schöne Elementarmagierin sank langsam neben ihn auf die Erde, ihre Stirn berührte beinahe seine, als sie antwortete: „Noch vor wenigen Stunden hätte ich nicht gewusst, was ich dir auf diese Frage geantwortet hätte … Doch du hast Teinai´s Worte ebenso gehört wie ich. Es stimmt … ich habe meine Entscheidung vor langer Zeit getroffen. Ja! Ja, ich will! Ich will deine Frau werden und mein Leben mit dir verbringen, Ohtah!“

Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und flüsterte: „Ich lass´ dich nie wieder los, Shiko … Das verspreche ich dir! Nie wieder …“

So hielt Ohtah Ryutaiyo hielt sie fest in seinen Armen, während sie sich zärtlich küssten.

Kurz darauf scherzte der gewiefte Assassine: „Wir sollten gehen – sonst feiert Seiketsu noch ohne uns.“

Auf Shikon No Yosei´s Gesicht trat ein verwirrter Ausdruck und sie fragte: „Feiern? Seiketsu weiß doch nichts von unserer Verlobung. Oder?“

„Sag´ nicht du … Hast du es vergessen? Heute ist dein Geburtstag, Shiko!“, erwiderte er lächelnd.

Sie begann schallend zu lachen. Das habe ich wirklich vergessen! Ohtah Ryutaiyo legte Shikon No Yosei die Hände auf die Augen, kurz bevor das Dorf Tsumei in Sichtweite kam. Seiketsu No Akari wartete bereits. Und sie war nicht allein.

„Ich nehme jetzt die Hände runter, Shiko … Du darfst die Augen öffnen.“, flüsterte Ohtah Ryutaiyo.

Shikon No Yosei tat wie geheißen und wurde vom Sonnenlicht geblendet. Sie blinzelte ein paar mal, bevor sie klarsehen konnte. Doch was sie vor sich sah, kam ihr vor wie ein Traum und trieb ihr erneut Tränen in die Augen – außer ihrer Seelen-Schwester standen da noch ihre Tante Adeptin Bishu, Bruder Mhenlo, Tahlkora, Koss, Melonni, Gwen, Jora, Vekk und Odgen vor einem kleinen Pavillon.

„Wir wünschen dir alles Gute zum Geburtstag, Shiko!“, erklang es aus ihren Mündern.

Die Elementarmagierin stand ihnen sprachlos gegenüber und antwortete dann langsam: „Das … das ist ja unglaublich … Seid ihr alle wegen mir gekommen? Danke! Danke! Danke!“

„Ohtah und ich dachten, du würdest deine Freunde sicher gerne wiedersehen wollen. Deshalb hat er dein tragbares Portal … entwendet.“, erwiderte Seiketsu No Akari lächelnd.

Darüber lachte der tyrianische Mönch: „Ohtah würde eben alles tun, um Shiko glücklich zu machen.“

Tahlkora ging auf Shikon No Yosei zu und sagte: „Shiko, es ist so schön dich wiederzusehen. Elona ist wieder hergestellt, das haben wir dir zu verdanken! Alle Seelen der Menschen, Tiere und Pflanzen, die von Abaddon berührt wurden, sind geläutert. Und Dunkuro wurde zum neuen Speermarschall ernannt – Morgahn ist seine rechte Hand, deshalb konnten sie leider nicht mitkommen.“

„Ich freu´ mich so für euch.“, meinte Shikon No Yosei überglücklich.

Gwen kam als nächstes, nachdem sich Tahlkora zurückgezogen hatte und erzählte: „Ich weiß, das klingt jetzt seltsam, aber … ich soll dich von Brandor und seinem Trupp grüßen. Sie wünschen dir alles Gute. Auch die Ebon-Vorhut sendet durch mich ihre Grüße.“

Shikon No Yosei umarmte sie und entgegnete: „Ich bin froh, dass du hier bist, Gwen. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, nach allem was geschehen ist.“

„Ich weiß inzwischen, dass Brandor und viele andere Charr … anders sind. Aber die Anhänger der Schamanenkaste werden ihre gerechte Strafe erhalten!“, bemerkte die junge Mesmer entschlossen.

„Wenigstens ist der Krieg gegen die Zerstörer beendet.“, meldete sich Odgen zu Wort, „Jalis und seine Zwerge haben wohl ganze Arbeit geleistet.“

Vekk nickte zustimmend und fügte hinzu: „Die Asura haben das Portalnetzwerk wieder für sich. Na ja … wenn man Odgen nicht mitzählt. Die Asura werden Euch für immer dankbar sein, Shiko.“

„Auch ich bin euch zu Dank verpflichtet … euch allen.“, antwortete Shikon No Yosei und sprach nun lauter, „Ohne Unterstützung hätte Shiro den Kampf gewonnen und Cantha wäre ins Verderben gestürzt … Auch im Kampf gegen den Lich hatte ich Hilfe, ohne die ich unterlegen gewesen wäre. Und mit den richtigen Verbündeten wird alles möglich, sogar einen Gott zu stürzen. Der letzte Kampf war dennoch der schwerste von allen. Nur durch Energie, jenseits der Unendlichkeit, die mir durch Freundschaft und Liebe verliehen wurde, konnte der Kampf gewonnen werden … Ich werde all meine Kampfgefährten für immer in meinem Herzen behalten … Auch wenn wir weit von einander entfernt leben, wir bleiben verbunden! Ohne jene, die mich auch meinem Weg begleitet haben, wäre ich nicht die Shikon No Yosei geworden, die ich heute bin. Kein Wort könnte ausdrücken, wie sehr ich euch allen dafür danke!“

Ohtah Ryutaiyo legte ihr eine Hand auf die Schulter und widersprach lächelnd: „Du bist nicht die einzige, die zu danken hat … Ich glaube, ich spreche für jeden einzelnen, wenn ich dir sage … Du hast unser Leben geprägt, verändert und bereichert! Dafür lieben wir dich … Und wann immer du uns brauchst, werden wir an deiner Seite sein!“
 

Zurück in die Vergangenheit

Ohtah Ryutaiyo hatte ein ungutes Gefühl, als er die Küche am nächsten Morgen betrat. Shikon No Yosei und Seiketsu No Akari schliefen noch, die Feier hatte immerhin bis weit in die Nacht hinein gedauert. Aber etwas stimmte hier einfach nicht … Sein Blick schweifte umher. Seiner Kehle wäre beinahe ein Schrei entfahren, doch er hatte gelernt, sich zu beherrschen. In einem der Holzbalken steckte ein silberner Dolch, der eine Nachricht befestigte. Allein der Dolch selbst verriet ihm, von wem das Schreiben stammte. Sie hatten ihn also gefunden … Ein melancholischer Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. Einst war er der beste Assassine in der Geschichte der Am Fah gewesen, doch nun gab es anscheinend einen noch besseren. Wütend riss Ohtah Ryutaiyo das Schreiben von der Wand ab.

„Niemand ist geeigneter vor den Am Fah zu fliehen, als ein Am Fah …“, flüsterte er, wie einst vor so vielen Jahr, als er die Gilde verlassen hatte, und sah auf das Schreiben, „Aber … es ist wohl auch niemand fähiger einen Am Fah zu jagen, als die Am Fah.“

Er spürte die tobende Wut in sich und las leise für sich die Nachricht: „Sehr geehrte Shikon No Yosei, unserem Kenntnisstand nach lebt Ihr mit dem Verräter Ohtah Ryutaiyo zusammen im Dorf Tsumei, hier in diesem behaglichen, kleinen Haus … Eine Tatsache, die unsere hochgeschätzte Gilde natürlich keinesfalls dulden kann! Demnach werdet Ihr verstehen, dass Ihr zum Schutz Eurer restlichen Familie und auch zu Eurer eigenen Sicherheit diese Verbindung mit sofortiger Wirkung lösen müsst … Ihr werdet sicher einen tiefen Widerwillen gegen diese Forderung verspüren … aus Eurer Lage vielleicht sogar verständlich – aber wie bereits erwähnt, solltet Ihr auch an den Rest Eurer Familie denken. Wenn Ihr bereit seid uns von Eurer Trennung zu überzeugen, trefft uns in drei Tagen an den Docks von Kaineng. Allein. Um Punkt Mitternacht. Andernfalls … werden wir Eurem Dorf einen Besuch abstatten. Gezeichnet, Rien, Gildenmeister der Am Fah.“

Ohtah Ryutaiyo zerknitterte den Brief zwischen seinen Fingern. Er kannte die Methoden seiner ehemaligen Gilde. Psychologische Kriegsführung war nur eines ihrer Mittel. Doch das schlimmste an der ganzen Sache war, dass sie die Möglichkeit besaßen ihre Drohungen wahrzumachen. Der ausgezeichnete Assassine wusste auch, was sie wirklich beabsichtigten – sie wollten nicht Shikon No Yosei. Die Verteidigerin von Cantha und Shing Jea genoss ihren Ruf nicht grundlos. Nein, sie wollten etwas anderes … jemand anderen. Sie wollten ihn – ihn, Ohtah Ryutaiyo, der die Gilde verlassen und verraten hatte. Die Zeit des Weglaufens, des Versteckens war vorbei. Er musste gehen. Auch wenn er seinen Schwur damit erneut brechen würde …

„Nein, ich breche ihn nicht.“, flüsterte er bestimmt, „Ich habe geschworen Shiko vor allem Unheil zu bewahren … Nur wenn ich gehe, kann ich ihr Leben weiterhin schützen. Auch wenn ich ihr dafür das Herz brechen muss … Hauptsache sie ist am Leben. Das ist alles, was zählt! Verzeih´ mir, Shiko … Ich habe keine andere Wahl. Ich muss dich verlassen … für immer.“

Dieser Abschied würde ihr beider Herz zerreißen …
 

Die Sterne strahlten in einem seltsamen Licht in dieser Nacht. Ohtah Ryutaiyo´s Schritte wurden vom Geräusch der Wellen überlagert.

Er spürte die Anwesenheit mehrerer Personen und rief laut: „Ihr habt diesen Brief nur deshalb an Shiko geschrieben, weil Ihr mich wollt. Also, gut … Hier bin ich!“

Ein Lachen erklang und jemand sagte: „Man merkt, dass du von den besten unserer Gilde ausgebildet wurdest … Ohtah Ryutaiyo!“

„Ja. Pläne zu durchschauen war und ist noch heute mein tägliches Geschäft.“, antwortete der geschickte Assassine, „Euer Ziel ist erreicht … Ich werde mich fügen! Deshalb lasst meine Familie und meine Freunde in Ruhe! Sie haben nichts mit meinem Verrat zu tun.“

„Obwohl du unsere Gilde verlassen hast, bist du eine Legende unter den Am Fah … Sie verehren dich.“, erklärte ein Mann, der etwas jünger war als Ohtah Ryutaiyo und plötzlich vor ihm auftauchte, „Doch in Wahrheit bist du nur ein liebeskranker Trottel!“

Weitere Gestalten lösten sich aus den Schatten und umzingelten Ohtah Ryutaiyo. Er wehrte sich nicht gegen sie. Solange er sich fügte, wäre Shikon No Yosei in Sicherheit … Ihr Leben war weitaus ihm wichtiger, als seine Freiheit.
 

Seiketsu No Akari hielt Shikon No Yosei fest in ihren Armen. Ihre Seelen-Schwester konnte sich nicht länger aus eigener Kraft auf den Beinen halten. Sie presste den Brief zitternd an sich.

Immer und immer wieder wanderten ihre Augen über die wenigen Zeilen, die Ohtah Ryutaiyo ihr hinterlassen hatte: „An Shikon No Yosei, die Verteidigerin von Cantha und Shing Jea … Wenn du diese Zeilen liest, bin ich bereits nach Kaineng zurückgekehrt. Ich verlasse dich und kehre nie mehr zurück! Niemand kann ändern, was er wirklich ist. Ohtah Ryutaiyo, Assassine der Am Fah.“

„Ich bin für dich da, Shiko … Sei stark.“, flüsterte Seiketsu No Akari und streichelte ihr über das Haar, „Du musst ihn vergessen … Er hat seine Wahl getroffen und sich der Finsternis hingegeben.“

Shikon No Yosei schluchzte und erwiderte: „Wie kannst du nur so etwas sagen, Sei? Ich liebe Ohtah! Müsste ich mich zwischen ihm und Cantha entscheiden … Ich könnte ihn niemals verlassen. Ich kann und ich werde Ohtah nicht aufgeben, Seiketsu. Selbst wenn …“

Sie brach ab. Zu groß war der Schmerz, den sie in ihrem Herzen spürte. Sie konnte einfach nicht glauben, dass ihr Geliebter in seine Gilde zurückgekehrt war. Erneut richtete sie ihren Blick auf den Brief, sah auf die letzten Worte.

Leise fand sie ihre Stimme wieder: „Ohtah Ryutaiyo, Assassine der Am Fah … Aber … was ist das?! Sei, siehst du das? Die Tinte ist verlaufen. Wie von Wasser …“

„Lass´ mal sehen.“, entgegnete Seiketsu No Akari und betrachtete die Stelle genauer, „Du … du hast recht. Shiko … Weißt du, was das heißt? Ohtah hat geweint, als er den Brief geschrieben hat!“

Shikon No Yosei starrte gebannt auf die verlaufene Tinte und flüsterte: „Ohtah hat diesen Brief nicht aus freien Stücken geschrieben. Er muss einen Grund gehabt haben … Ich muss sofort nach Kaineng – ich werde Ohtah finden!“
 

Ohtah Ryutaiyo betrat das Versteck der Am Fah. Den Blick hielt er gesenkt. Er fühlte sich wie in die Vergangenheit zurückversetzt … Vor so vielen Jahren hatte er der Gilde, seinem Zuhause den Rücken gekehrt. Wieder hier zu sein, fühlte sich seltsam an. Wie der Verrat eines Verrates …

„Es freut mich, dich wiederzusehen.“, sagte eine Stimme gespielt freundlich, „Ich hatte gehofft, es nicht so weit kommen lassen zu müssen … Ich dachte, du hättest es inzwischen selbst verstanden. Niemand kann ändern, was er wirklich ist. Und du bist mein Sohn, ein Assassine ersten Ranges … einer unserer Generäle, ein wahrer Am Fah. Es ist deine Bestimmung!“

Der junge Mann erwiderte den Blick des Mannes ernst und meinte: „Ihr solltet daran denken, dass ich mich nicht grundlos hierher bringen ließ, Meister. Seit jenem Tag, an dem ich ein Teil dieser Gilde wurde, ist der Tod mein täglicher Begleiter gewesen. Er hat keinen Schrecken für mich …“

„Und was ist mit deiner Shikon No Yosei … dieser Verteidigerin von Cantha?“, erklärte er, „Sie mag ja mächtig sein … Aber hätte sie auch gegen unsere gesamte Gilde eine Chance?“

Er ballte wütend die Hände zu Fäusten und entgegnete: „In einem fairen Kampf würde sie Euch und Eure zweitklassigen Gildenanhänger vernichten … Sie ist die größte Elementarmagierin, die je in Cantha gelebt hat! Tötet mich, wenn Ihr wollt, aber lasst Shiko aus der Sache heraus!“

„Ja, ja … doch Fairness ist bekanntlich nicht gerade unsere Stärke, nicht wahr Deshalb lässt du dich lieber einsperren.“, bemerkte Rien listig, „Mein Sohn, ich bin sicher, du hast unsere … Taten auch weiterhin verfolgt. Du kennst unsere Macht. Bald schon werden wir den Kaiser stürzen … Und dafür brauchen wir dich! Es liegt an dir … Wenn du dich uns anschließt, verschone ich diese kleine Göre. Aber … wer würde sie beschützen, wenn du tot bist?“

Rien wollte ihn lebend … Es war von Anfang an sein Plan gewesen, ihn wieder in die Gilde zu locken. Ohtah Ryutaiyo schloss für einen Moment die Augen. War es wirklich sein Schicksal immer diejenigen verraten zu müssen, die er liebte? Wenn er Cantha gegenüber treu blieb, würden die Am Fah Shikon No Yosei erbarmungslos jagen … schloss er sich ihnen dagegen beim Putsch an, hätte sie eine Chance zu überleben. Lieber versank er in Schande, als sie in Gefahr zu bringen.

„In Ordnung …“, antwortete Ohtah Ryutaiyo nach einer gefühlten Ewigkeit, „Mein Leben gegen das von Shiko. Schwört mir, dass ihr niemand etwas antun wird! Dann … werde ich wieder in Eure Dienste treten … Vater.“

In diesem Augenblick wurde das Hauptquartier von einer gewaltigen Explosion erschüttert. Rien klammerte sich an seinem Thron fest, Ohtah Ryutaiyo ging in die Knie. Und aus dem entstandenen Qualm traten zwei Gestalten. Nach und nach erkannte man, dass es sich um zwei junge Frauen handelte. Der geschickte Assassine schnappte erschrocken nach Luft – er hätte allein ihre Silhouette unter Tausenden erkannt.

„Ich werde das nicht zulassen!“, erklang die Stimme der schönen Elementarmagierin, „Ohtah gehört nicht zu den Am Fah … Auch jemand, der die Schatten manipuliert und im Verborgenen kämpft, kann im Licht leben! Mein Name ist Shikon No Yosei. Ich bin die Verteidigerin von Cantha und Shing Jea! Und ich werde Ohtah ein für alle Mal aus euren Fängen befreien!“

Rien brach in schallendes Gelächter und er meinte prustend: „Das ist ja wunderbar! Um ihren Geliebten zu retten, begibt sich die große Heldin sogar in das Versteck unsrer geliebten Gilde!“

„Verschwinde von hier! Du störst eine wichtige Zeremonie!“, zischte Ohtah Ryutaiyo, wobei er versuchte die Furcht in seiner Stimme zu unterdrücken, „Meine Entscheidung ist endgültig!“

Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre Züge, während sie langsam auf ihn zu ging und zärtlich erwiderte: „Ich gebe dir einen Tipp – wenn du das nächste Mal einen Abschiedsbrief schreibst … achte, dass keine deiner Tränen darauf fällt. Dann wirkst du vielleicht überzeugend, Ohtah.“

„Shiko, ich …“, begann er leise, doch bevor er weitersprechen konnte, sah er etwas aufblitzen.

Der Assassine stieß Shikon No Yosei zur Seite, drehte sich um und blockte den Dolch mit seiner Waffe in Sekundenschnelle ab.

Sein Ziehvater knurrte wütend: „Damit hast du deine Entscheidung getroffen! Ich wollte dich wieder zur Vernunft bringen, aber anscheinend hat dich diese widerliche Gutmensch-Krankheit bereits vollkommen infiziert. So sei es … ich habe dich damals dein Leben gerettet … darum werde ich es jetzt auch beenden! Mach dich bereit, mein Sohn!“

Ein entsetzter Laut drang aus Shikon No Yosei´s Kehle und sie flehte ihren Geliebten an: „Bitte, tu das nicht! Lass´ uns einfach von hier verschwinden! Bitte, Ohtah!“

„Ich kann nicht Shiko … diesmal nicht.“, widersprach Ohtah Ryutaiyo und zog zur Untermalung seiner Worte blank, „Dies ist mein Kampf! Ich muss mich meiner Vergangenheit stellen und darf nicht länger vor ihr fliehen – sonst werde ich nie wirklich frei sein! Als ich dich traf, dachte ich, ich könnte sie hinter mir lassen. Aber … ich habe mich selbst belogen. Durch dich habe ich endlich den Mut gefunden, den ich brauche. Danke, Shiko …“

Ihre Tränen machten sich selbstständig. Tief in ihr drinnen fühlte es sich wie ein Abschied an. Zum ersten Mal seit sie Ohtah Ryutaiyo kannte, befürchtete sie, er würde nicht zurückkehren. Noch nie hatte Shikon No Yosei solch eine Angst verspürt. Ihr ganzer Körper zitterte. Seiketsu No Akari stand ihr tapfer zur Seite und stützte sie.

Ohtah Ryutaiyo eröffnete den Kampf mit einem Frontalangriff. Er sprang hoch in die Luft, zielte auf die Brust seines Gegners. Die Dolchpaare knallten mit Wut aufeinander. Das Klirren hallte von den Wänden wieder. Sie ließen sich keine Atempausen. Der Assassine führte schnelle, präzise Stöße. Sein Ziehvater parierte mit weit ausholenden Bewegungen und täuschte mehrmals an. Sie studierten die Bewegungen des Gegenüber. Doch Ohtah Ryutaiyo war der erste, der eine Schwachstelle fand – er schnellte mit rechts vor, daraufhin verkanteten sich die beiden Dolche miteinander, als sein Gegner den Schlag abwehren wollte. Der Jüngere lächelte nicht, obwohl sein Plan aufging. Rien hatte ihn in der Gosse aufgelesen, ihm ein Zuhause und einen Namen gegeben – er war sein Vater! Und dennoch konnte er ihn nicht gehen lassen … Früher oder später hatte es so enden müssen – nicht nur wegen ihm selbst … als Verteidiger war es seine Pflicht, Cantha zu schützen. Und die Am Fah stellten seit jeher eine Bedrohung für Kaineng dar.

„Als ich ein Kind war, habe ich dich und die Gilde geliebt.“, murmelte Ohtah Ryutaiyo kaum hörbar, „Finde Frieden in den Nebeln …“

Damit ließ er die Waffe seiner Zweihand fallen und nahm einen seiner Giftpfeile aus der Innenseite seines Mantels. Trauer lag in seinem Blick. Der kleine Pfeil traf mitten in Rien´s Herz und mit dem Tod ihres Anführers wurde auch das Ende der Am Fah eingeläutet. Im selben Moment stürmte nämlich die kaiserliche Armee das Versteck. Shikon No Yosei und Seiketsu No Akari lächelten erleichtert – Kaiser Kisu hatte ihre Nachricht erhalten.

Schwankend ging Ohtah Ryutaiyo auf seine Geliebte zu. Wenige Meter von ihr entfernt, brach er zusammen. Die Elementarmagierin rannte erschrocken zu ihm und hielt ihn in ihren Armen.

„Ich bin so froh, dass du gekommen bist … Shiko, ich liebe dich.“, flüsterte er schwach.

Sie streichelte ihm sanft über die Stirn. Der psychische Stress hatte ihm alle Kraft geraubt. Seiketsu No Akari räusperte sich leise und berührte anschließend seinen Körper mit ihren Handflächen, warmes Licht sprang auf ihn über. Die positive Energie schickte Ohtah Ryutaiyo in einen erholsamen Schlaf. Dankend lächelte Shikon No Yosei und gab ihrem Liebsten einen Kuss auf die Stirn. Sie konnte nicht sagen, wie froh sie war, ihn wiederzuhaben!

„Mach so etwas niemals wieder, Ohtah … Für mich gibt es keine größere Qual, als von dir getrennt zu sein. Ich stehe jede Gefahr mit dir gemeinsam durch … nur verlass´ mich nie wieder.“, raunte sie ihm zu, „Aus Vergangenheit wird Gegenwart … Aus Gegenwart wird Zukunft … Es ist mir egal, wer du warst. Oder was andere in dir sehen … Ich kenne dich besser, als jeder andere. Und ich wünsche mir jeden Tag und jede Nacht an deiner Seite zu verbringen.“
 

Ein Traum wird wahr

Seiketsu No Akari klatschte begeistert in die Hände und schwärmte: „Du siehst traumhaft aus, Shiko! Wenn du Pech hast, fällt Ohtah vor dem Schrein in Ohnmacht.“

Sie lachten ausgelassen. Shikon No Yosei atmete tief ein und schaute in den Spiegel. Eine junge Frau in einem weißen Kleid lächelte sie an. Heute war der Tag, auf den sie schon so lange gewartet hatte – der schönste Tag in ihrem Leben!

Die Mönchin seufzte gerührt und fragte: „Hast du alles bei dir, Schwesterchen?“

„>Alt, wie die Welt< … ist die Kette, die mir meine Mutter vor vielen Jahren geschenkt hat und die ich immer um den Hals trage. >Blau, wie die Treu´< … sind meine Ohrringe.“, zählte Shikon No Yosei auf und lächelte verlegen, „>Wie der Tag so neu< … sind mein Hochzeitskleid und der Schleier. Aber-“

Ihre Seelen-Schwester unterbrach sie mit einem Räuspern und nahm zwei goldene Armreifen aus einer Schatulle heraus, die sonst selbst immer trug.

Sie ging zurück zu Shikon No Yosei und sagte: „Mein größter Schatz … das einzige, was ich von meinem Vater besitze. Doch heute sollen sie >geborgt, wie das Leben< … für dich sein!“

„Sei, du … Das kann ich nicht annehmen.“, flüsterte die schöne Elementarmagierin gebannt.

Doch Seiketsu No Akari legte ihr die Armreifen an und antwortete sanft: „Heute ist der Tag, an dem meine kleine Schwester heiratet. Dies ist dein Tag! Und ich werde an deiner Seite sein … um dir alles Glück zu wünschen.“
 

Ohtah Ryutaiyo stand vor Bruder Mhenlo, der die Trauung vollziehen würde. Er zitterte leicht. Die Hochzeit fand auf einem Hügel in der Nähe des Dorfs Tsumei statt. Direkt vor Shikon No Yosei´s Schrein. An dem Ort, wo er um ihre Hand angehalten hatte … und wo Meister Togo sowie Teinai ebenfalls bei ihnen sein würden. Das Glockenspiel setzte ein und die Gäste verstummten augenblicklich. Der Assassine schluckte, langsam drehte er sich um und sah seine Braut, die von Kaiser Kisu höchstselbst über die grüne Wiese geführt wurde, während Seiketsu No Akari rote Blütenblätter vor sie auf den Weg streute. Sein Blick weitete sich, wurde beinahe verklärt, so berauscht war er allein von ihrem Anblick … Shikon No Yosei trug ein langes, weißes Kleid, das ihre Haut strahlen ließ. In ihrem Haar war wie üblich die Shing Jea-Seerose befestigt und ein weißer Schleier zierte sie. In Händen hielt sie einen Strauß roter Rosen – ihre Lieblingsblumen.

Der Herrscher deutete eine Verneigung vor ihm an und sagte: „Hiermit überreiche ich dir die Hand von Shikon No Yosei … der Schülerin meines geliebten Bruders, der Verteidigerin meines Reiches. Ich vertraue darauf, dass Ihr sie glücklich machen und beschützen werdet …“

„Und wenn ich mein Leben dafür geben müsste!“, erwiderte er und nahm ihre Hand in seine.

Das Glockenspiel verklang und Bruder Mhenlo erhob stolz seine Stimme: „Cantha sah nie zuvor ein Paar, wie jenes, das hier vor mir steht … Ein Paar, dem solch schwere Prüfungen auferlegt wurden und das sich so oft ihre Liebe bewiesen hat. Es erfüllt mich mit großer Freude diesen Tag, diese Zeremonie miterleben zu dürfen. Ich weiß, auch in den Nebeln wacht man über euch … Und so frage ich dich, Ohtah Ryutaiyo … möchtest du Shiko zu deiner Frau nehmen?“

Ohtah Ryutaiyo wendete ihr seinen Blick zu und sagte: „Meine über alles geliebte Shiko … ich kann mir nichts schöneres vorstellen, als die Gewissheit, dass du mich liebst … Die Liebe deines Herzens leuchtet heller, als jedes Licht. Ich verspreche dir, dieses Licht zu beschützen … auf dass es Cantha und ganz Tyria auch weiterhin erhellen wird! Meine Antwort lautet ja … Ja, ich will dich zu meiner Frau nehmen!“

Bruder Mhenlo lächelte zufrieden und fuhr fort: „Ich frage nun dich, Shikon No Yosei … möchtest du Ohtah zu deinem Mann nehmen?“

Shikon No Yosei schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und antwortete: „Ohtah, mein Held … seit vielen Jahren bist du an meiner Seite, seit vielen Jahren kämpfen wir gemeinsam, seit vielen Jahren setzt du dein Leben ein, um mich zu beschützen. Du bist derjenige, der mir Halt und Sicherheit gibt. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dir heute mein Jawort zu geben … Ja, ich will dich zum Mann nehmen!“

Der tyrianische Mönch erhob die Hände und sprach: „Wir alle sind Zeugen dieser einzigartigen Liebe geworden. Wir haben euch auf eurem Weg begleitet … haben mit euch gekämpft, gehofft und gelitten. Ihr habt jedes Hindernis überwunden und wahre Liebe bewiesen. Darum erkläre ich, Mhenlo, euch hiermit im Namen der Sechs Götter zu Mann und Frau! Ohtah, du darfst die Braut jetzt küssen …“

Das ließ sich der geschickte Assassine nicht zweimal sagen. Shikon No Yosei schloss die Augen und Ohtah Ryutaiyo küsste sie zärtlich. Von den Hochzeitsgästen erklang begeisterter Applaus, Seiketsu No Akari´s Augen füllten sich mit Tränen. Hastig wischte sie sich über das Gesicht. Es wurde Zeit für die ganz besondere Überraschung – sie zog eine Flöte aus der Tasche und entlockte ihr eine liebevolle Melodie.

Ohtah Ryutaiyo zwinkerte ihr verschwörerisch zu und begann zu singen: „Ich fühl´ wie du … Ja, es ist soweit. Für immer du … in alle Ewigkeit. Ich fühl´ wie du … Und will dich fühlen. Ich hör´ dir zu. Auch ohne Worte kann ich dich versteh´n. Du wirst seh´n. Denn bist du da, geht die Sonne auf. Und ich geh´ wie auf Wolken – und werd´ es immer tun. Ich fühl´ wie du … Ein Abenteuer. In mir brennt … ein neues Feuer. Ich gebe zu … Zärtlichkeit war vor dir nur ein Wort. Nicht mehr. Ich mag dich sehr. Und bist du nicht da, hört mein Herz auf zu schlagen – und wird es nie mehr tun!“

„Ich fühl´ wie du … Du bist mein Leben. Für immer du … es wird niemals anders sein. Ich hör´ dir zu. Auch ohne Worte kann ich dich versteh´n. Du wirst seh´n. Denn bist du nicht da, bricht der Himmel zusammen. Geht ein Sturm durch mein Blut. Steht die Erde in Flammen – und wird es immer tun!“, stimmte Shikon No Yosei in das Lied ein, was ihrem Ehemann ein erstauntes Gesicht verpasste, „Steht der Himmel in Flammen. Geht ein Sturm durch mein Blut. Steht die Erde in Flammen – und wird es immer tun!

Er hatte keine Ahnung gehabt, dass die junge Mönchin einen Teil mit ihr einstudiert hatte.
 

Die Legende von Shikon No Yosei

Als sich die Sonne dem Horizont entgegen neigte, spürte Shikon No Yosei plötzlich eine starke Aura auf sich zukommen und verbeugte sich tief vor Suun, dem Orakel der Nebel.

„Ihr braucht Euch nicht vor mir zu verneigen … Ich bin gekommen, weil es an der Zeit ist, Euch etwas sehr bedeutsames mitzuteilen.“, erklärte Suun und sah sie mit wachsamen Augen an, „Gehen wir zu Eurem Ehemann und Eurer Cousine. Ich will, dass sie es auch hören …“

Suun ging voraus, Shikon No Yosei folgte ihm. Seiketsu No Akari und Ohtah Ryutaiyo verbeugten sich ebenfalls vor ihm.

„Shiko …“, meinte er wieder an Shikon No Yosei gewandt, „Ihr wisst, dass man die Identität Eures Vaters vor Euch geheim hält … Aber den Grund dafür kennt Ihr nicht. Hört mir gut zu … dann werdet Ihr verstehen, warum manches so gekommen ist, wie es ist. >Ein Mädchen … geboren aus der Liebe zweier Adepten, dem Himmel geschworen. Eine Legende … gesprochen vom Orakel und den Nebeln. Ein Schrecken geboren aus der Vergangenheit, Tod den Menschen des falschen Glaubens, sodass in Qual versinkt die Welt und Feuer allem ein Ende bereitet. Ein Mädchen … geprüft durch unzählige Kämpfe, mit Verbündeten gestärkt. Eine Legende … erfüllt im Angesicht der Zukunft. Mit der Kraft der Elemente, die ihr zu eigen sind, wird sie den Mut, die Kraft und den Willen finden, um ihren eigenen Wegen zu gehen, den selbst ein Leben nicht beenden kann.

Shikon No Yosei starrte Suun an und flüsterte: „Das … das ist eine Legende, die Ihr über mein Leben vorausgesagt habt?“

„Ja, so ist es. Um es etwas verständlicher auszudrücken …“, antwortete er, „Ihr seid die Tochter zweier Himmels-Adepten, die sich liebten … Eure Eltern lernten sich kennen, während sie mir im Nahpuiviertel dienten … dort wurdet Ihr geboren. Nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte … nun, es entstand ein reges Interesse an der prophezeiten Heldin. Und manche Minister wollte Euch gerne … nach eigenem Ermessen formen, daher hat dein Vater mich angefleht, ihn und Kai nicht zu verraten … Er wollte dich ohne diesen Einfluss aufwachsen sehen – du solltest frei entscheiden, ob du dich Shiro Tagachi, den Untoten Lich, Abaddon und den Großen Zerstörer stellst … Eure Reisen mit Ohtah und Seiketsu haben Euch wichtige Dinge gelehrt … Durch Eure Erlebnisse und den Wesen, denen Ihr begegnet seid, konntet Ihr die wahre Kraft der vier Elemente in Eurem Innern erwecken … die reine Magie. Heute lüftet sich das Geheimnis um >die Legende von Shikon No Yosei< für Euch. Glaubt mir, Euer Weg ist noch lange nicht zu Ende … Ich sehe, dass Euch noch vieles bevorsteht. Und ich weiß, Ihr tragt alles notwendige bereits in Euch. Darum kann ich Euch nur dasselbe raten, wie bereits auf dem Göttlichen Pfad … >Vertraut auf Euch und auf jene, die Euch vertrauen.<“

Die drei lebenden Legenden waren sprachlos. Sie tauschten einen raschen Blickwechsel. Sie wussten nicht, was sie davon halten sollten. Suun´s Vertrauen in sie war zwar rührend, doch seine Worte bedeuten auch neue Herausforderungen.

Und eine Frage blieb offen: „Wer … wer ist mein Vater?“

„Ich glaube, Ihr kennt die Antwort bereits … Shiro hat darüber gesprochen, nicht wahr?“, entgegnete Sunn, „Ihr wolltet ihm damals schon glauben. Ändert es wirklich etwas, wenn ich Euch nun antworte?“

Die rothaarige Shing Jea schüttelte den Kopf. Für sie würde stets nur einer ihr Vater sein … Meister Togo.
 

Ein erster Schritt in die Zukunft

Shikon No Yosei lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Die Hand auf den rundlichen Bauch gelegt. Sie presste die Lippen aufeinander, unterdrückte ein Stöhnen.

„Ruhig. Ganz ruhig, Shiko … Du bist stark.“, flüsterte Seiketsu No Akari und legte ihr ein nasses Tuch auf die Stirn, „Du schaffst das!“

Kaum hatte sie ausgesprochen, bäumte sich Shikon No Yosei unter den Schmerzen auf und brachte mit Mühe hervor: „Wo ist … Ohtah? Ohtah … bitte …“

„Ich bin hier, meine geliebte Shiko, ich bin hier.“, antwortete er sofort und griff nach ihrer Hand.

Seiketsu No Akari legte ihrer Cousine die Hand auf den gewölbten Bauch und murmelte: „Es wird Zeit … Ich werde jetzt damit beginnen, die Geburt einzuleiten. Denk´ immer daran, wir lassen dich nicht allein, Shiko … Ohtah und ich sind bei dir!“

Sie nickte und schrie im nächsten Augenblick bereits wieder auf. Ihr Kopf wirbelte von einer Seite zur anderen, das Tuch fiel zu Boden. Der Griff um Ohtah Ryutaiyo´s Hand verstärkte sich. Er erschrak, als sich das weiße Laken, auf dem sie lag, langsam dunkelrot färbte. Der Blutfluss ließ ihn schlucken und zwang ihn den Blick wieder auf ihr Gesicht zu richten. Die junge Mönchin legte mit geschlossenen Augen eine Hand über Shikon No Yosei´s Herz, es schlug viel zu schnell. Es würde gefährlich für sie und ihre Kinder werden, wenn sie sich nicht beeilten … Der Körper der Elementarmagierin hatte sich die ganze Schwangerschaft über immer wieder dagegen gesträubt, so als wolle irgendeine Macht diese Geburt verhindern.

Entschlossen sprach Seiketsu No Akari: „Ich rufe die Kräfte der Heilung und des Schutzes an. Oh gütige Göttin des Lebens … Dwayna, erhöre mein Flehen … Schenke ihr Ruhe, auf dass die Kindern unter ihrem Herzen leben können … Gewähre ihnen das Licht dieser Welt erblicken zu dürfen …“

Shikon No Yosei wurde spürbar ruhiger. Ihre Augen blieben geschlossen. Ihre Hand, die sich an Ohtah Ryutaiyo klammerte, lockerte sich. Dennoch wurde ihre Haut mit jeder weiteren Sekunde blasser. Der Blutverlust war einfach zu groß.

„Teinai, ich spreche an Shiko´s Stelle zu dir … Bitte, steh´ ihr bei an diesem schweren Tag.“, flüsterte Ohtah Ryutaiyo kaum hörbar, „Ich liebe sie so sehr … Ich brauche sie! Ohne sie könnte ich nicht weiterleben. Bitte … hilf´ deinem Schützling. Lass´ sie noch kein Teil der Nebel werden!“
 

Viele Stunden später lag Shikon No Yosei noch immer bewusstlos auf dem Rücken. Doch die Zeit des Bangens war vorüber … Ihre Haut hatte wieder einen gesunden Farbton angenommen. Ihr Herz und ihr Atem waren ruhig. Anders als bei Ohtah Ryutaiyo – sein Gesicht war bleich vor Angst, gleichzeitig zierte aber auch ein stolzes Lächeln seine Lippen. In seinen Armen lag ein kleines, weißes Bündel, in das ein neugeborenes Mädchen eingewickelt war. Seine Tochter … Ein leises Stöhnen war zu hören und er wirbelte herum. Langsam erwachte Shikon No Yosei. Sie blinzelte einige Male, bevor sie Seiketsu No Akari und Ohtah Ryutaiyo klar erkennen konnte.

Versuchte vergeblich sich aufzurichten und hauchte: „Geht es … ihnen gut?“

Seiketsu No Akari hielt ebenfalls ein Lakenbündel im Arm und erklärte: „Ja … du hast zwei gesunde Kinder. Einen Jungen und ein Mädchen.“

„Ryukii No Mai, unsere Tochter …“, erklärte Ohtah Ryutaiyo und streichelte seiner Frau über die Stirn.

Shikon No Yosei lächelte schwach und flüsterte: „Unser Sohn, Yoso No Koshi …“
 

Ein weiterer Teil der »Legende von Shikon No Yosei« hat sich erfüllt! Sie besitzt nun nicht nur die tiefe Verbindung zu Seiketsu No Akari, die wie eine Schwester für sie ist, und die unendliche Liebe zu ihrem Ehemann Ohtah Ryutaiyo, sondern hat auch der nächsten Generation von Helden in Gestalt von Yoso No Koshi und Ryukii No Mai das Leben geschenkt.

Ihre Geschichte, ihr Leben, ihre Abenteuer werden weder in Cantha, noch in Tyria oder in Elona jemals vergessen werden. Denn eine wahre Legende endet nie … Nicht solange es Menschen gibt, die sich an sie erinnern! Und so gehen Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari der Zukunft der Legenden entgegen …

Zwischenspiel 05: Verantwortungen für Seiketsu

Von verstrichenen und genutzten Chancen

Seiketsu No Akari betrat den Linnok-Hof. Jamei hatte sie zu sich gerufen. Für gewöhnlich gingen sich die beiden Mönchinnen eigentlich eher aus dem Weg – es herrschte allgemein ein schwieriges Verhältnis zwischen Verteidigern und Leitung des Klosters. Darum fragte sich Seiketsu No Akari natürlich, was Jamei wohl ausgerechnet jetzt von ihr wollte.

Jamei stand vor dem gigantischen Tempelwächter, der die beiden wichtigsten spirituellen Orte Cantha´s symbolisch miteinander verband, und begrüßte sie: „Seid gegrüßt … Seiketsu.“

„Meisterin Jamei.“, erwiderte Seiketsu No Akari mit einem höflichen Nicken, „Was kann ich für Euch tun?“

Sie drehte sich zu ihr um, während sie antwortete: „Es geht nicht darum, was Ihr tun sollt … sondern um etwas, das ich tun muss … schon längst hätte tun müssen. Wie Ihr wisst, bin ich zum Tod von Meister Togo seine Assistentin gewesen … darum lag es nahe, dass ich seine Nachfolge antrat. Niemand hat sich darüber gewundert … nicht einmal Shikon No Yosei. Aber ich bin nicht diejenige, die er sich auf diesem Posten vorgestellt hat … Nein, es war sein Wunsch, dass Ihr, Seiketsu No Akari, sein Amt fortführt.“

„A-Aber … ich bin doch Verteidigerin!“, widersprach Seiketsu No Akari und schüttelte ungläubig den Kopf, „Endlich kann ich mit Shiko und Ohtah zusammen für unsere Heimat kämpfen! Ich bin so lange fort gewesen … Entschuldigt, Meisterin Jamei, darüber muss ich erst einmal nachdenken.“

Sie wandte sich um zum Gehen, doch Jamei hielt sie auf: „Nehmt Euch die Zeit, die Ihr braucht … Solltet Ihr irgendwann soweit sein, werde ich widerspruchslos zurücktreten.“

Tränen stiegen in Seiketsu No Akari´s Augen auf und sie rannte davon, aus dem Kloster hinaus ins Sunqua-Tal. Dort blieb sie atemlos gegen die Außenwand gelehnt stehen. Was sollte sie bloß denken? Natürlich fühlte sie sich geehrt, dass Meister Togo ihr diese große Verantwortung hatte übertragen wollen … auf der anderen Seite war sie nach Tyria gegangen, um mit Shikon No Yosei für Cantha kämpfen zu können. Sie wollte nicht, dass die Verteidiger auseinanderbrachen – so wie damals fast der Fall gewesen wäre, bevor Ohtah Ryutaiyo die Elementarmagierin um ihre Hand gebeten hatte. Die Mönchin sank auf die Wiese. Verzweiflung und Erschöpfung beherrschten ihre Gedanken. Shikon No Yosei würde sie sicher ermutigen das Amt zu übernehmen … Aber Seiketsu No Akari wusste einfach nicht, ob sie das überhaupt wollte – sie gehörte doch an die Seite der anderen beiden lebenden Legenden!

So in ihren Gedanken versunken bemerkte sie nicht, wie sich ihr ein Fremder näherte. Ein Tyrianer mit kurzem blonden Haar und stahlblauen Augen, der auf der Suche nach ihr gewesen war.

„Als ich das letzte Mal so gedankenverloren war, wurde ich entführt und habe ein von dir angeführtes Rettungskommando in eine ziemliche gefährliche Lage gebracht.“, sprach der Mönch Seiketsu No Akari an, deren Kopf sofort hochfuhr.

Ihre Augen weiteten sich, ihr Mund wurde trocken, sodass sie Mühe hatten seinen Namen auszusprechen: „Klerus …“

„Hallo, Seiketsu. Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, nicht wahr?“, erwiderte er und stellte sich ihr genau gegenüber, „König Jalis und du … ihr seid einfach so verschwunden, während Jabari und ich auf einem Auftrag waren. Wir haben nie wieder etwas von euch gehört … nur diese vage Nachricht und die verlassene Feste Donnerkopf. Später verbreitete sich in Tyria die Kunde, die Deldrimor seien in den Tiefen verschwunden. Ich … ich dachte so lange, du seist tot.“

Seiketsu No Akari schluckte schwer. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Nach dem Kampf gegen den Großen Zerstörer und seine Kinder war sie froh gewesen, wieder mit Shikon No Yosei vereint zu sein und in ihre Heimat zurückkehren zu können, dass sie Klerus und Jabari, die König Jalis nicht begleitet hatten, vollkommen vergessen hatte. Und mit der Zeit hatte sie es schändlicherweise immer mehr verdrängt …

Klerus, der ihre Gefühlsregung genau beobachtet hatte, fuhr indessen fort: „Bis ich vor ein paar Wochen auf einer großen Versammlung jemandem begegnet bin, der mir von drei lebenden Legenden erzählte … Helden von Cantha, die unglaubliches vollbracht hätten. Eine wunderschöne Elementarmagierin, ein überaus geschickte Assassine und … eine begabte Mönchin, die einst in Tyria studiert hatte. Ich dachte, ich träume, als Bruder Mhenlo mir deinen Namen nannte.“

„Und dann bist du extra hierher gekommen?“, flüsterte sie ungläubig.

Ein freudloses Lachen verließ seine Kehle und er meinte: „Du verstehst mich wirklich nicht, Seiketsu. Ich musste es selbst … mit eigenen Augen sehen, dass es dir gut geht. Ich konnte es einfach nicht glauben. Nach all den Jahren …“

Die Braunhaarige musste den Blick abwenden, sie konnte ihm nicht länger in die Augen sehen – während sie ihn restlos aus ihren Gedanken verbannt hatte, hatte er sich Sorgen um sie gemacht und getrauert. Seiketsu No Akari war aufgesprungen, bevor sie überhaupt wusste, was sie tun wollte. Sie gab einfach dem Impuls nach und rannte davon. Alles in ihr zog sich vor Schmerz zusammen, als Klerus ihr nachrief. Nein, nein, nein, sie durfte ihn nicht an sich heranlassen! Nicht noch mehr Entscheidungen, die sie treffen sollte, ohne es zu wollen. Sie war glücklich gewesen – als Verteidigerin von Cantha, ohne Leitung des Klosters und ohne Wiedersehen mit Klerus … zumindest bislang.
 

Shikon No Yosei hielt Seiketsu No Akari ganz fest. Sie war ins Dorf Tsumei gestürmt und hatte sich ihrer Seelen-Schwester in die Arme geworfen. Der Grund für ihre Tränen kannte die Elementarmagierin allerdings noch nicht. Sie war noch nicht in der Lage gewesen es ihr zu erzählen.

„So habe ich dich noch nie gesehen …“, meinte Shikon No Yosei leise, „Was ist denn nur passiert?“

Die Mönchin richtete sich halb auf, wischte sich über das Gesicht und antwortete schniefend: „Zu viel … Ach, Shiko, erst hat mir Jamei die Leitung des Klosters angeboten und dann-“

„Moment! Jamei hat – was bitte?“, unterbrach die Rothaarige sie, wobei ihr der Mund regelrecht offenstand.

Seiketsu No Akari holte noch einmal tief Luft, bevor sie ihr alles über Meister Togos Wunsch erzählte. Anschließend berichtete sie ihr von der bewegenden Begegnung mit Klerus.

„Klerus?“, wiederholte die Elementarmagierin und verstand endlich, „Du hast ihn damals abgewiesen, weil du zurück nach Shing Jea wolltest. Obwohl du mehr für ihn übrig hattest, als du dir eingestehen wolltest … Und, was hast du jetzt vor?“

Sie antwortete nicht. Wenn sie es nur wüsste … Die Ausgangssituation hatte sich schließlich nicht geändert – Shing Jea war das Wichtigste in ihrem Leben und sie konnte ihn doch nicht bitten hierzubleiben ohne Garantie, dass ihre Gefühle für ihn ausreichten …
 

Die nächsten zwei Tage verbrachte Seiketsu No Akari hinter verschlossener Tür in ihrem gemeinsamen Haus. Um nicht völlig wahnsinnig zu werden, kümmerte sie sich um Yoso No Koshi und Ryukii No Mai, während Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo einen Auftrag auf der Panjiang-Halbinsel erledigten. Ein seliges Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie den Zwillingen beim Schlafen zusah. Seit ihrer Geburt war das Dorf so voller Leben. Kinder waren einfach wundervoll! Und Kinder brauchten eine Zukunft … Sie wusste nur zu gut, wie viele Waisen das Kloster von Shing Jea beherbergte. Es war mehr als nur ein Ausbildungsort – es war vielmehr eine Zuflucht. Eine Zuflucht, über die jemand die Verantwortung übernehmen musste!

„Verantwortung …“, murmelte Seiketsu No Akari vor sich hin, „Ich darf vor der Verantwortung nicht immer wieder davonlaufen. Ich sollte mich ihr stellen … Ich muss es. Für Meister Togo´s Vertrauen. Für ihre Heimat Shing Jea. Und für all jene, denen das Kloster eine Hoffnung war!“

Sie sagte ihrer Mutter Bescheid, damit sie nach den Zwillingen sah. Denn Seiketsu No Akari hatte etwas zu erledigen!
 

Der Wind frischte auf. Das grüne Gras wiegte sich zum Rhythmus der Natur. Und mitten in dieser friedlichen Atmosphäre des Sunqua-Tals hörte Seiketsu No Akari auf ihrem Weg zum Kloster plötzlich ein Geräusch, das so gar nicht dazu passte – den Schrei eines Kleinkindes. Sofort ging sie darauf zu und entdeckte unter einem der Bäume ein weißes Bündel liegen. Die Mönchin schlug sich die Hände vor den Mund. Ein Säugling lag darin eingewickelt. Weinend und ganz allein.

Sie nahm das Kind auf den Arm, schaukelte es beruhigend und sagte zu ihm: „Hab´ keine Angst … Jetzt wird alles wieder gut.“

Das Weinen des Mädchens verstummte. Sie suchte mit den Augen nach ihr und lachte. Alle Trauer, aller Hunger war vergessen. Da waren nur noch die warme Aura und das freundliche Gesicht, die sie einhüllten. In Seiketsu No Akari erwachte beim Klang dieses Lachens etwas völlig Neues … Sie liebte die Zwillinge als Kinder von Shikon No Yosei, doch zum ersten Mal konnte sie sich vorstellen, selbst ein Kind zu haben … Es war nicht nur, dass dieses Baby offenbar niemanden hatte, der sich um sie kümmern konnte. Da war noch mehr – wahre Muttergefühle beschlagnahmten Seiketsu No Akari´s Herz und sie drückte das Mädchen an ihre Brust.

„Toki …“, kam es über Lippen, ohne dass sie groß darüber nachdachte, „Toki No Kibo.“

Plötzlich passte alles zusammen. Sie wollte Hoffnung und eine Zukunft schenken. Sie hatte keine Angst mehr – sie konnte sämtliche Verantwortungen schultern. Doch es gab außer der Leitung des Klosters noch eine Angelegenheit, um die sie sich kümmern musste … Und dieser jemand, der damit in Verbindung stand, trat zu genau diesem Zeitpunkt durch das Tor des Klosters und beobachtete, wie Seiketsu No Akari das Kind an sich drückte. Nun glaubte er zu begreifen, warum sie nie Kontakt nach Tyria aufgenommen hatte … Hier in Shing Jea führte sie ein glückliches Leben. Und er störte dabei nur. Doch wenigstens wollte er sich diesmal von ihr verabschieden.

Seiketsu No Akari, die sein Lebenslicht näherkommen spürte, hauchte: „Klerus … ich-“

„Ich weiß.“, meinte er und hob die Hand, um sie vom Weitersprechen anzuhalten, „Du hast ein Kind … Und wirst die Leiterin des Klosters sein. Ich kann dich nicht zwingen, meine Gefühle zu erwidern, ich will es auch gar nicht, niemals, weder damals noch heute. Ich wollte dich nur wiedersehen … wissen, dass es dir gut geht. Aber … weißt du, was ich mir dennoch wünsche? Dass wir uns irgendwann wieder begegnen, in den Nebeln oder gar in einem anderen Leben … und ich dann eine echte Chance bei dir bekomme. Es tut mir leid … vergiss´ einfach, was ich gesagt habe, Seiketsu. Leb´ wohl … und pass´ auf dich … auf euch auf.“

Damit wandte Klerus sich ab und es ward das letzte Mal, dass Seiketsu No Akari ihn sah. Würde man sie später einmal fragen, warum sie ihm nicht nachgerufen hatte, sie hätte keine Antwort darauf. Ob es an Toki No Kibo lag oder an der Verantwortung für das Kloster, wusste sie nicht. Nur eines … sie wollte ihn nicht noch einmal so verletzen. Vielleicht war dies sogar der Grund, warum sie geschwiegen hatte … Doch tief in ihrem Herzen wünschte sie sich dasselbe wie Klerus. Ob in den Nebeln oder einem anderen Leben, irgendwann würden sie sich wiedersehen und dann würden sie vielleicht doch noch gemeinsam glücklich werden!
 

Mit dieser Entschlossenheit tritt Seiketsu No Akari die Verantwortung als Leiterin des Klosters von Shing Jea an. Gleichzeitig bleibt sie ein Mitglied der Verteidiger von Cantha und der drei lebenden Legenden.

Was aus ihrem Wunsch wird, den sie mit Klerus teilt und selbst vor Shikon No Yosei verborgen hält, kann nur die Zukunft zeigen …

Buch 06: Die Zukunft der Legenden

Der Zukunft entgegen

Es war früh am Morgen. Shikon No Yosei und Seiketsu No Akari saßen auf einer Wiese vor dem Dorf Tsumei. Und dachten an einen ganz bestimmten Tag zurück.

„Es ist heute genau zwanzig Jahren her.“, meinte die Elementarmagierin nostalgisch, „Dieser Tag hat damals unser aller Leben verändert. Meister Togo hat mich zur Verteidigerin von Shing Jea gemacht und …“

„Und ich habe mich auf mein Studium vorbereitet, dass ich dank ihm absolvieren durfte.“, fuhr Seiketsu No Akari fort, „Manchmal glaube ich, jeder Schritt, den wir getan haben, seit Meister Togo zu uns kam, wurde vom Schicksal gelenkt … um uns dahin zu bringen, wo wir jetzt sind.“

Shikon No Yosei nickte zustimmend: „Ich weiß genau, was du meinst. Die Fähigkeiten, die du durch dein Studium erhalten hast, und deine Liebe zu Shing Jea haben dich schließlich zur Leiterin des Klosters bestimmt. Etwas, das du mehr als verdient hast, Seiketsu …“

„Danke, Shiko.“, erwiderte sie lächelnd, „Aber nicht nur bei mir war das Schicksal im Spiel. Bei dir war es doch genauso …“

Die Verteidigerin von Cantha sah sie verwirrte an und fragte: „Wie meinst du das?“

„Für Shing Jea hast du Cantha vor Shiro´s Verderben gerettet … Und im Verlauf dieses Kampfes hast du dich in Ohtah verliebt.“, erklärte Seiketsu No Akari lächelnd.

Nun lachte Shikon No Yosei: „Ja … ja, das habe ich, das habe ich wirklich. Und seine Liebe hat mir unzählige Male das Leben gerettet … Nicht nur im Kampf gegen Shiro. Auch im Kampf gegen den Untoten Lich, Abaddon und den Großen Zerstörer. Ohtah war immer an meiner Seite!“

„Je länger ich darüber nachdenke … Das Schicksal war uns wirklich gewogen.“, murmelte Seiketsu No Akari nachdenklich, „Und nun machen unsere Kinder ihren Abschluss.“

Shikon No Yosei schloss die Augen und flüsterte: „Eigentlich überrascht es mich gar nicht. Ryukii hat den Weg einer Assassine gewählt … Yoso hat sich dazu entschieden Elementarmagier zu werden …“

„Und Toki hat sich bereits als Mönchin bewiesen …“, fügte Seiketsu No Akari hinzu und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Ihre Seelen-Schwester legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte: „Sie ist zwar nicht deine leibliche Tochter ist … doch sie ist dir sehr ähnlich. Du hast ihr auch nicht grundlos den Namen >Toki No Kibo< gegeben.“

„Noch ein schicksalhafter Moment …“, schwelgte Seiketsu No Akari in Erinnerungen, „Wir haben wirklich unser Glück gefunden, Shiko …“

Shikon No Yosei erhob sich und bestätigte: „An jenem Tag begann unser Weg in die Zukunft … Jetzt sind unsere Kinder an der Reihe. Komm´ … sie warten sicher bereits auf uns.“
 

Im Hof des Klosters von Shing Jea wurde der Abschluss der diesjährigen Absolventen gefeiert – Großmeister, Schüler, Schaulustige, Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari versammelten sich.

„Ihr, meine ehrenwerten Absolventen, habt eure Ausbildung beendet, so wie viele Tausende vor euch. Doch eines dürft ihr nie vergessen … jeder von euch ist etwas besonderes! Ihr seid Kinder Cantha´s! Ihr seid die Zukunft unseres Landes! “, sprach die Leiterin des Klosters und lächelte stolz, „Eure Großmeistern werden euch nach und nach aufrufen. Die Urkunden, die ihr von ihnen erhaltet, befähigen euch für alle Zeit in eurer Klasse tätig zu sein!“

Großmeister Zhan rief die Krieger zu sich. Danach folgten die Waldläufer, die zu Großmeister Greico gingen. Die Nekromanten, die von Großmeisterin Kuju ausgebildet worden waren, kamen als drittes dran. Die Mesmer hängten sich an und gingen zu Großmeister Kaa.

Großmeisterin Amara, die als Mönchin tätig war, rief: „Toki No Kibo … ich gratuliere dir. Du bist eine qualifizierte Mönchin!“

Toki No Kibo verbeugte sich vor ihr und sie überreichte ihr die Auszeichnung. Danach wandte sie sich ihrer Ziehmutter zu, sie strahlte. Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo beobachteten derweil wie Großmeister Vhang vortrat.

Der Elementarmagier sagte lächelnd: „Yoso No Koshi … du bist ein wahrlich mächtiger Elementarmagier! Ich beglückwünsche dich.“

Yoso No Koshi ging zu ihm. Auch er nahm das Schreiben mit einer Verbeugung entgegen. Doch er musste sich nicht umdrehen, um in das Gesicht seiner Mutter zu blicken. Er konnte ihren Stolz und ihre Freude sichtlich spüren. Genauso wie die Anspannung von Ohtah Ryutaiyo, als die Großmeisterin der Assassinen Vhang ablöste.

Großmeisterin Lee schaute seine Tochter an und erklärte ausdrucksstark: „Du bist eine wahre Assassine! Ich bin stolz auf dich … Ryukii No Mai.“

Sie unternahm einen Schattenschritt und nahm gleichzeitig die Qualifikation an. Anschließend wirbelte sie herum und sah, wie ihr Vater Tränen in den Augen hatte – ein größeres Geschenk konnte er ihr nicht machen! Damit hatten es Toki No Kibo, Yoso No Koshi und Ryukii No Mai geschafft. Der erste Schritt auf dem Weg in ihre Zukunft war getan …
 

Meister und Schülerin

Ein halbes Jahr war vergangen seit dem Abschluss von Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo vergangen. Eine friedliche Zeit … die wieder einmal enden sollte. Seiketsu No Akari betrat das Kloster mit sehr ernstem Gesichtsausdruck.

„Seiketsu … was ist denn passiert?“, wollte Shikon No Yosei besorgt wissen.

Die Mönchin antwortete seufzend: „Ich war eben einige Schüler besuchen. Sie … sie sind erkrankt.“

„Wenn … wenn du sagst >erkrankt<, dann … dann meinst du doch nicht etwas …“, unterbrach Ohtah Ryutaiyo sie, schaffte es aber nicht weiterzusprechen.

Sie schüttelte den Kopf: „Nein. Zum Glück ist es nicht die Pest … aber es scheint trotzdem äußerst gefährlich zu sein. Sie haben hohes Fieber und sind nicht bei Bewusstsein. Das Schlimmste jedoch ist, dass sie bereits andere Dorfbewohner angesteckt haben. Wir müssen etwas unternehmen! Shing Jea darf keiner Epidemie zum Opfer fallen!“

„Wir müssen herausfinden, was vor sich geht!“, entschied Shikon No Yosei entschlossen.

Leise Schritten näherten sich den drei und eine weise Stimme erklang: „Ihr seid die einzige, die sich gegen diese Krankheit zur Wehr setzen kann … Shiko.“

Sie wirbelten herum. Vor ihnen stand Suun, das Orakel der Nebel. Das letzte Mal hatten sie ihn auf der Hochzeit von Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo gesehen. Seitdem hatte er noch zurückgezogener gelebt als zuvor.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht fuhr er fort: „Es erfüllt mich mit großer Freude, Euch wiederzusehen … Die Geister der Nebel haben mich nicht ohne Grund zu Euch zurückgeführt. Ich hatte eine Vision, die Euch und diese mysteriöse Krankheit betraf.“

„Ihr wisst, was diese Erkrankung ist?!“, hakte der Assassine überrascht nach.

Suun schloss die Augen und sprach: „>Aus Ruhe und Frieden wird erneuter Kampf … Die Schülerin folgt des Meister´s Tat. Und was einst gewesen war, wird neue Gegenwart. Wenn die Krankheit kehrt zurück zu beiden, treten sie aus dem geöffneten Tor … um zu Erfüllen ihren Schwur nach Jahren<!“

„Dann muss ich sofort zum Tahnnakai-Tempel.“, schlussfolgerte Shikon No Yosei leise.
 

Shikon No Yosei kniete vor dem Denkmal nieder, welches Kaiser Kisu einst für seinen Halbbruder hatte bauen lassen, und murmelte: „Ich bitte Euch, verlasst die Nebel und tretet in diese Welt über. Folgt meinem Ruf … bitte, Meister Togo, kommt zu mir!“

Langsam nahm der Geist Meister Togos vor ihr Gestalt an.

Tränen traten in die Augen der mächtigen Elementarmagier, als sie sagte: „Ich bin so froh, Euch zu sehen! Ich brauche dringend Eure Hilfe, Meister. Die Bewohner Shing Jea´s wurden von einer Krankheit befallen … Sie zeigt sich durch Fieber und Bewusstlosigkeit. Wir machen uns große Sorgen! Suun erzählte mir von einer seiner Visionen und schickte mich zu Euch …“

Seine ehemalige Schülerin rezitierte die Worte des Orakels der Nebel, während sich auf dem Gesicht des Ritualisten ein gequälter Ausdruck breitmachte.

„Ich verstehe. Leider …“, erwiderte er, nachdem sie geendet hatte, „Diese Symptome, von denen du berichtet hast … so hat es schon einmal begonnen. Das ist sehr lange her …“

Daraufhin wollte Shikon No Yosei verständnislos wissen: „Wovon sprecht Ihr?“

„Von der Zeit der Tengu-Kriege …“, antwortete Meister Togo mit trauriger Stimme, „Damals fielen die Canthaner vor allem einem Krankheitsbild zum Opfer, das man in der späteren Geschichtsschreibung nur noch die >Tengu-Krankheit< nannte. Denn sie waren davon zuerst infiziert und haben die Krankheit auf die Menschen übertragen. Es gab viele Wortführer, die die Tengu deshalb ausrotten wollten … Das war der Beginn der großen Tengu-Kriege. Ich selbst konnte schließlich das Friedensabkommen aushandeln. Denn nicht alle Tengu wollten mit Krieg antworten. Der Stamm der Angchu, die noch heute mit uns Frieden halten, waren bereit dem Abkommen unter bestimmten Bedingungen zuzustimmen. So darf auch heute noch kein Unbefugter ihr Land betreten … Anders ist es mit dem Stamm der Sensali, die am liebsten alle Menschen Cantha´s auslöschen würden.“

Seine Schülerin dachte einen Augenblick nach, bevor sie zusammenfasste: „Die Menschen und die Tengu haben also wegen einer Epidemie Krieg geführt … Und diese Krankheit, die damals für so viele Todesopfer gesorgt hat, ist jetzt wieder ausgebrochen?“

„So ist es.“, bestätigte der Ritualist, „Es gibt da allerdings noch etwas, das du wissen solltest … Die Anführer der Tengu, die gegen die Menschen gekämpft haben, wurde allesamt ermordet. Doch zuvor haben sie Rache geschworen … Eines Tages würden sie zurückzukommen und das Land von den Menschen befreien.“

Die Augen von Shikon No Yosei weiteten sich und sie erwiderte: „Suun´s Prophezeiung … Das bedeutet … die kriegerischen Tengu werden aus den Nebeln wiederkehren!“

„Ja … Wenn du Krankheit bei beiden Völkern wieder ausbricht.“, ergänzte er ihre Schlussfolgerung, „Du musst dich beeilen, Shiko … Shing Jea braucht dich erneut!“

Shikon No Yosei zögerte noch einen kurzen Moment. Jetzt da sie Meister Togo nach all den Jahren wieder gegeben über stehen konnte, brannte ihr eine Frage auf der Zunge … Doch er hatte recht – jede Sekunde war kostbar. So verbeugte sie sich tief vor ihm und verließ den Geist des Mannes, der höchstwahrscheinlich ihr Vater war …
 

Die Armee der Untoten

Die Elementarmagierin berichtete Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari von der Situation, in der sie sich befanden und bald befinden würden. Es war unklar, ob sie die Rückkehr der verstorbenen Tengu verhindern konnten. Darum mussten sie sich darauf vorbereiten zu kämpfen – Shikon No Yosei musste zu den Angchu, darum übernahm Ohtah Ryutaiyo die Kriegsvorbereitungen. Und Seiketsu No Akari suchte nach einem Heilmittel gegen die Krankheit. Wie zu erwarten gewesen war, wollten sich natürlich auch ihre Kinder nützlich machen – Yoso No Koshi und Ryukii No Mai halfen ihrem Vater, Toki No Kibo ging ihrer Ziehmutter zur Hand.
 

Als sich Shikon No Yosei dem Dorf Adlerhorst näherte, wurde sie von zwei ihrer Wächter aufgehalten.

„Wer seid Ihr? Was wollt Ihr hier?“, wollte einer von ihnen wissen.

Mit eiserner Entschlossenheit antwortete sie: „Mein Name ist Shikon No Yosei. Ich bin hier, um mit eurer Anführerin zu sprechen.“

„Was willst du von ihr?“, fragte der andere skeptisch nach.

Die Shing Jea blieb ernst und meinte: „Das werde ich nur mit ihr persönlich besprechen.“

„Mutig seid Ihr …“, bemerkte eine neue Stimme und die Wächter gingen in die Knie, „Ich erkenne Euch … Ihr seid Meister Togos Schülerin, die einst gegen Shiro Tagachi gekämpft und gesiegt hat. Damit habt Ihr auch uns Tengu gerettet.“

Soar Ehrenklaue gab ihr einen Wink ihr zu folgen: „Die Angelegenheit, die Euch zu mir führt, sollten wir in meiner Hütte vertiefen.“

Ein Lächeln breitete sich auf Shikon No Yoseis Gesicht aus. Der Anfang war gemacht. Wenn die Botschaft auch durchaus besser hätte sein können …

„Das darf nicht wahr sein!“, rief Soar Ehrenklaue erzürnt, nachdem Shikon No Yosei ihr alles erklärt hatte, „Jetzt verstehe ich. Mein Sohn … Er ist eines der ersten Opfer gewesen.“

Traurig entgegnete Shikon No Yosei: „Dann hat es bei den Tengu also auch begonnen … Suun hatte wirklich recht. Ich hätte es gern verhindert …“

„Ihr seid wahrhaftig eine Schülerin Meister Togo´s.“, lobte die Tengu sie, „Ich habe ihm vertraut, darum vertraue ich Euch ebenso. Die Tengu stehen Euch zur Seite. Vielleicht finden wir gemeinsam ein Gegenmittel für diese Krankheit.“

Shikon No Yosei nickte dankbar: „Meine Schwester ist bereits auf der Suche nach einem Heilmittel. Ich bete zu den Sechs Göttern, dass sie Erfolg hat …“

Ein Warnruf unterbrach das Gespräch der beiden unterschiedlichen Frauen. Soar Ehrenklaue stürmte als erste aus der Hütte, Shikon No Yosei folgte ihr. Was sie sahen, versetzte sie in Angst und Schrecken – in der Nähe des Adlerhorstes war ein dunkles Portal erschienen … Ein Portal aus der Unterwelt, dem Teil der Nebel, in den die bösen Seelen verbannt wurden. Doch das schreckliche war eben das, was aus dem Portal strömte – eine Armee untoter Tengu versammelte sich, bereit Shing Jea ein für alle Mal dem Erdboden gleichzumachen und die Menschheit auszulöschen!
 

Währenddessen reiste Ohtah Ryutaiyo mit Hilfe des tragbaren Portals quer durch die Lande. Er suchte all ihre früheren Verbündeten auf und brachte sie nach Shing Jea. Nur zu gern nahmen sie die Chance wahr, sich bei Shikon No Yosei zu revanchieren … Bruder Mhenlo war selbstverständlich als Vertreter Tyria´s mit seinen engsten Freunden erschienen. Aus Elona waren Tahlkora, Dunkoro, Koss und Melonni aufmarschiert. Natürlich hatten auch Vekk, Odgen, Jora, Gwen und Brandor ihre Heimat verlassen, um ihnen zu helfen und hatten sogar Freiwillige ihrer Völker mitgebracht. Genauso wie Danika und Argo, die neuen Oberhäupter der Kurzick und der Luxon. Selbst Kuunavang war dem Ruf gefolgt. Und der Kaiser hatte fünfzig seiner besten Männer und Frauen antreten lassen. Yoso No Koshi und Ryukii No Mai hatten von ihrem Vater den Auftrag erhalten, sich um die verbliebenen Klosterschüler zu kümmern, die nicht von der Krankheit befallen waren. Den Abschlussstudenten wurde gestattet, am Kampf teilzunehmen. Die übrigen wurden von den beiden in die Hauptstadt von Kaineng gebracht. In Shing Jea wären sie nirgends sicher gewesen. Als sie zurück waren, nahm Ohtah Ryutaiyo das Portal wieder an sich. Sorge durchzuckte seine Gedanken. Shikon No Yosei war schon viel zu lange fort … Selbst wenn die Verhandlungen mit den Tengu sich hingezogen hätten, so lange konnte es nicht dauern. Der Assassine befürchtete, dass etwas geschehen war. Er übertrug es seinen Kindern, ihre Freunde und Verbündeten in den Quartieren des Klosters unterzubringen. Er selbst würde zu seiner Geliebten eilen.
 

Soar´s Schwert beschrieb blitzende Bögen. Doch wann immer sie glaubte, einen Feind niedergestreckt zu haben, schlossen sich dessen Wunden und er stand erneut auf. Bei den anderen Tengu sah es nicht anders aus. Nur die Körper, die Shikon No Yosei zu Asche verbrannte, waren endgültig vernichtet. Doch der ständige Einsatz ihrer Magie hinterließ seine Spuren … normalerweise löste die Elementarmagierin ihren Zauber auf, sobald der Gegner besiegt oder getötet war. Durch die vollständige Verbrennung büßte sie das doppelte Maß an Energie ein.

Das Schwinden ihrer Kräfte blieb auch der Anführerin der Tengu nicht verborgen, sodass sie rief: „Zieht euch zurück!“

Erleichtert kamen ihre Krieger der Anweisung nach. Offenbar hatten sie bloß auf diese Erlösung gewartet. Shikon No Yosei und Soar Ehrenklaue blieben bis zum Schluss auf dem Schlachtfeld. Mit einem letzten Aufbäumen ihrer magischen Kräfte riss die Elementarmagierin eine Feuerwand hoch, welche die feindlichen Tengu am Näherkommen hinderte. Im selben Moment, da sie vor Erschöpfung zusammenbrach, tauchte Ohtah Ryutaiyo neben ihr auf. Er hatte sich gewünscht, an den Ort zu gelangen, an dem sich seine Geliebte aufhielt – so konnte er sie wieder einmal gerade noch rechtzeitig auffangen, bevor sie zu Boden fiel.

„Keine Zeit für Erklärungen!“, blaffte er, „Schnell! Alle sollen sich aneinander festhalten.“

Verwirrt blinzelte die Tengu, dann nickte sie. Augenblicklich kamen ihre Untertanen der Aufforderung nach und Soar berührte Ohtah Ryutaiyos Rücken. Der Assassine zögerte keine Sekunde. In einer schwarzen Wolke verschwanden sie und die Feuerwand brach in sich zusammen.
 

Ratsversammlung

Wenn es nach Ohtah Ryutaiyo gegangen wäre, hätte Shikon No Yosei für die nächsten drei Tage keinesfalls das Bett verlassen. Aber so viel Zeit blieb ihnen nicht. Stattdessen rief sie all ihre Freunde zu einer Ratsversammlung zusammen. Seiketsu No Akari, Bruder Mhenlo und Danika sowie Toki No Kibo, Yoso No Koshi und Ryuukii No Mai nahmen nicht daran teil. Sie mussten die Erkrankten versorgen. Dafür aber Soar Ehrenklaue.

„Ich danke euch, dass ihr alle gekommen seid. Ich weiß nicht, wie wir allein siegen könnten.“, begann Shikon No Yosei.

Tahlkora lächelte und meinte: „Ich habe dir doch gesagt, dass wir dir jederzeit wieder folgen würden, Shiko. Wobei … ich gehofft hatte, dass es nicht notwendig sein würde.“

„Ach was!“, rief Koss aus, „Einmal Sonnenspeer, immer Sonnenspeer!“

Melonni gab ihm Konter: „Nur dass wir euch diesmal helfen.“

„Danke, Freunde …“, erwiderte die Elementarmagierin und wurde schlagartig todernst, „Vor wenigen Stunden habe ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit unserem neuen Feind gemacht. Zusammen mit den Angchu-Tengu habe ich gegen sie gekämpft … Normale Waffen können nichts gegen sie ausrichten. Man muss ihre Körper vollständig zerstören.“

Ein Lachen hallte auf der freien Fläche wieder, auf der sie sich versammelt hatten: „Na, da ist unsere Feuermagie ja genau das richtige Mittel für diese Typen, meine liebste Shiko.“

Nur die Ernsthaftigkeit der Lage und der nahende Krieg ließen Ohtah Ryutaiyo ruhig genug bleiben, seine Wut hinunterschlucken. Argo war schon immer ein rotes Tuch für ihn gewesen. Das hatte sich in all den Jahren nicht geändert.

„Das stimmt, Argo.“, bestätigte Shikon No Yosei, „Allerdings befinden sich in unseren Reihen zu wenig Feuermagier, um sich allein auf diese Methode zu verlassen. Wir müssen überlegen, mit welchen Methoden man die Untoten noch austreiben könnte.“

Nun herrschte betretenes Schweigen. Jeder Einzelne von ihnen grübelte über die Informationen nach, die ihnen zur Verfügung standen, und suchte darin nach einer Lösung.

„Die heilige Kraft mancher Mönche vermag Untote auszutreiben.“, bemerkte Dunkoro nach einer Weile.

Vekk´s Blick verengte sich und er sagte: „Du sagtest, diese Viecher wären aus einem Portal gekommen … Vielleicht könnte ich ein Portal öffnen, das sie wieder zurückschickt.“

„Dann sollten wir uns aufteilen.“, schlug Odgen vor.

Jora zog ihr Schwert mit den Worten: „Wer mit einer Waffe umgehen kann, soll neben mir an vorderster Front kämpfen!“

„Meine Brüder und ich schließen uns dir an!“, stimmte Brandor begeistert zu.

Shikon No Yosei schwieg noch einen Moment, bevor sie erwiderte: „In Ordnung … Jora, ich übertrage dir die Befehlsgewalt über die Kampftruppe. Brandor, du unterstützt sie dabei. Egal, mit welchen Mitteln wir die Untoten auch vertreiben, ihr musst sie uns vom Leib halten! Und du, Vekk, kümmerst dich bitte mit deinen Asura um den Zugang eines Portals. Vergiss nicht, es muss in die Tiefen der Unterwelt führen. Odgen und Dunkoro, setzt euch bitte mit den Mönchen der Abschlussklasse des Klosters in Verbindung. Sucht nach Mönchen, die bereit sind, ihre Kräfte für den Kampf einzusetzen.“

„Die Ebon-Vorhut kümmert sich um die Verpflegung und Versorgung der Kämpfer.“, meldete sich Gwen zu Wort, „Ein Krieg kann einen bis an seine Grenzen treiben.“

Die uralte Drachin schlug mit den Flügeln und sprach: „So gut ihr euch auch vorbereitet, es wird ein harter Kampf werden. Ich sehe Shing Jea am Rand der Vernichtung stehen … Eine falsche Entscheidung könnte unser Ende sein.“

„Ich weiß …“, antwortete Shikon No Yosei zur Überraschung aller, „Die Begegnung mit ihnen, hat es mir deutlich gezeigt … Wir sind zahlenmäßig weit in der Unterzahl. Aber ich lasse meine Heimat nicht untergehen! Jeden einzelnen meiner Kämpfe habe ich zum Schutz Shing Jea´s bestritten … und jedes Mal hat mir der Gedanke daran Kraft gegeben. Ich werde auch diesmal nicht aufgeben! Gemeinsam können wir siegen! Daran glaube ich fest …“

Zustimmende Rufe erklangen. Shikon No Yosei´s Worte hatten sie wahrlich berührt.
 

Sorgen einer Anführerin

Im Westen Shing Jea´s hatte die Armee der untoten Tengu inzwischen vollzählig die Unterwelt verlassen. Was Soar Ehrenklaue und Shikon No Yosei gesehen hatten, war nur ein Bruchteil der Streitmacht gewesen. Die unterschiedlichen Stämme hatten sich fein säuberlich in Legionen aufgeteilt. Zweitausend Untote gegen nicht einmal zweihundert Kämpfer für Shing Jea. Einige der Zivilisten, einfache Bauern und Viehhirten hatten sich trotz Protestes von Shikon No Yosei ihrer Einheit angeschlossen. Aber schlussendlich hatte sie sich von dem herausragendsten aller Argumente breitschlagen lassen – sie durfte anderen nicht jenes Recht nehmen, welches für sie selbst immer die Antriebskraft gewesen war … der Wunsch ihre Heimat zu schützen, für Shing Jea zu kämpfen. Die übrigen Bewohner, vorrangig die Kinder, Frauen und Alten waren, wie die anderen Schüler des Klosters, nach Kaineng gebracht worden. So konnten sie weder den Tengu zum Opfer fallen, noch behinderten sie den Kampf.

Shikon No Yosei stand vor ihrem Schrein, den sie Meister Togo und Teinai gewidmet hatte. Doch sie bete nicht. Meister Togo hatte ihr im Tahnnakai-Tempel alles erzählt, was er wusste. Und Teinai konnte ihr nicht mehr raten, als das sie selbst bereits wusste. Die Kraft lag in ihr. Sie musste sich auf ihre Freunde und Verbündeten verlassen … Trotzdem hatte die Rothaarige Angst. Eine solch schreckliche Angst hatte sie noch nie zuvor verspürt. Nicht als Shiro Tagachi zurückgekehrt war … nicht als sie die Titanen befreit hatte … nicht im Reich der Qual … nicht im Kampf gegen die Zerstörer …

„Ich wusste, ich würde dich hier finden.“, sagte eine bekannte Stimme hinter ihr.

Sie drehte sich um und sah in das Gesicht ihres Mannes. Ohtah Ryutaiyo war längst nicht mehr der reumütige Assassine, dem sie in der Unterstadt begegnet war. Er war viel reifer geworden, markanter. Neben dem Mann, der er geworden war, erkannte sie gleichzeitig immer noch etwas von demjenigen in ihm, in den sie sich verliebt und der sie in jedem ihrer Kämpfe beschützt hatte. Selbst jetzt noch, nach all der langen Zeit konnte Shikon No Yosei kaum aussprechen, wie dankbar sie ihm war.

„Ich habe Angst …“, gab sie offen zu, „Dies ist unser erster offener Krieg. Es gibt keinen grausamen Anführer, den wir aufhalten müssen. Es keinen Shiro, der mir Befallene oder Shiro´ken entgegenschickt; keinen Lich, der mich gegen Mursaat oder Titanen kämpfen lässt; kein Abaddon, der von Dämonen oder Kourniern begleitet wird; keinen Großen Zerstörer, dessen Brut sich zusehends vermehrt. Diesmal ist jeder Gegner unser Feind, um den wir uns kümmern müssen. Wir stehen einer leibhaftigen Armee auf Augenhöhe gegenüber …“

Ohtah Ryutaiyo legte beruhigend den Arm um sie, bevor er entgegnete: „Wir haben zwar noch keinen offenen Krieg bestritten … aber wir haben bereits Armeen bezwungen. Oder glaubst du all die Befallenen, Dämonen und Zerstörer, die wir getötet haben, waren weniger zahlreich? Du bist nicht allein … Wir sind bei dir. Wir folgen dir.“

„Ja … und dennoch werde ich dieses Gefühl nicht los.“, antwortete Shikon No Yosei schwer besorgt, „Ich befürchtete, dieser Krieg wird schlimmer als alles, was wir je erlebt haben. Etwas tief in meinem Innern sagt mir, wir werden dieses Mal mehr, als nur unser Leben einsetzen müssen, wenn wir Shing Jea retten wollen.“

Der Assassine zwang sie ihn anzusehen und erklärte: „Ich bin zu allem bereit. Solange du nur an meiner Seite bist, Shiko … Selbst den Tod oder schlimmere Schicksale fürchte ich nicht!“

Er beugte sich leicht zu ihr herunter, um sie zu küssen. Noch während sie den Kuss erwiderte, fragte sie sich, was wohl geschehen würde, wenn sie irgendwann nicht mehr bei ihm sein könnte … Wenn dieser Kampf nicht ihn oder einen ihrer anderen Verbündeten forderte, sondern ihr Leben.
 

Provinz Kinya fällt

Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo hatten ihre Armee durch das Sunqua-Tal, über das Gelände der ehemaligen Menagerie von Minister Cho bis hin in die Provinz Kinya geführt, in welcher die untoten Tengu lagerten. Der Adlerhorst war nicht mehr wiederzuerkennen. Aus dem hellen Dorf war eine verbrannte, zerstörte Ruine geworden. Soar Ehrenklaue erschauderte, Wut flammte in ihr auf. Sie hatten es gewagt, ihre Heimat anzugreifen, das sollten sie ihr büßen! Auf Geheiß von Shikon No Yosei verteilten sich die einzelnen Trupps. Jora und Brandor verteilten ihre Männer und Frauen an vorderster Front – die Norn hielten sich links, die Charr rechts, die Tengu flankierten sie, in der Mitte mischten sich die Ebon-Vorhut, die kaiserlichen Wachen, die Kurzick, die Luxon und die Bewohner Shing Jea´s, samt der Klosterschüler. Hinter ihnen folgten die Pein-Mönche unter Dunkoro´s Aufsicht. Verstärkt wurden sie von den ausgewählten Magiern, welche das Feuer beherrschten. Yoso No Koshi war einer von ihnen. Vekk und seine Asura arbeitete unterdessen weiterhin an dem Portal. Doch um ehrlich zu sein, wussten sie bereits, dass sie es für diese Schlacht nicht rechtzeitig schaffen würden. Zu knifflig war die Berechnung des Zielortes in der Unterwelt, selbst nach asurischem Maßstab.

Auf einem erhöhten Hügel hinter der Armee standen Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo. Sie verschafften sich gerade einen Überblick über die Aufstellung. Soweit war alles bereit. Und das keine Sekunde zu spät. Denn die beiden lebenden Legenden konnten erkennen, dass die Linien der Feinde vom anderen Ende des Tals bereits auf sie zukamen. Sie tauschten einen langen, intensiven Blick. All ihre Liebe zueinander, die Erinnerung an ihre vergangenen Abenteuer und der Wunsch auch in Zukunft miteinander zu leben lagen darin. Dann nickte die Elementarmagierin und der Assassine unternahm einen Schattenschritt zur Front, direkt neben seine Tochter. Sie waren beide nicht davon abzubringen gewesen, in der ersten Reihe zu kämpfen. Ohtah Ryutaiyo atmete tief durch. Von dieser Position aus konnte er die Kraft der Feinde einschätzen und sie auf Abstand zu den Zauberern halten, um seine Geliebte am Besten beschützen zu können – das war das einzige, was für ihn zählte. Mit jedem Herzschlag, mit jedem Atemzug kamen die Feinde näher. Die Kämpfer Shing Jea´s waren angespannt. Ihre Gefühlen teilten sich in Furcht, Schrecken und freudige Erwartung.

„Für Shing Jea! Für Shiko!“, brüllte Ohtah Ryutaiyo regelrecht und stürmte als erster auf die gegnerischen Tengu zu.

Die anderen Kämpfer stimmten in seinen Kampfschrei mit ein und folgten ihm mit erhobenen Waffen. In einem ohrenbetäubenden Lärm krachten sie aufeinander. Schwerter wirbelten, Pfeile surrten, Äxte wurden geschwungen, Dolche platziert, Speeren geworfen. In den hinteren Reihen konzentrierten die Mönche und Elementarmagier ihre Energie. Sie fassten sich an den Händen, schlossen ihre Augen und murmelten lautlos die Worte, welche die magischen Kräfte bannten. Es dauerte eine Weile, bis ihre Zauber wirken. Doch plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Glühende Gesteinsbrocken regnete, weiße Blitze schlugen überall auf dem Feld ein. Die heilige und flammende Magie hatte sich vereinigt. Die Körper der Untoten wurden versengt. Asche war das Einzige, was von ihnen übrig blieb. Im ersten Moment schöpfte Shikon No Yosei Hoffnung, aber als sie ihren Blick schweifen ließ, schluckte sie. Die Lücken, welche die Gefallenen hinterlassen hatten, waren schon wieder geschlossen. Es nahmen noch nicht einmal alle Gegner an der Schlacht teil. Dagegen kämpften bereits alle ihre verfügbaren Einheiten. Bislang – zumindest soweit sie es einschätzen konnte – gab es noch keine Verluste. Die folgenden Minuten und Stunden waren pure Qual. Sowohl für die Kämpfer, welche an der Front ihr ganzes Können einsetzten, um die Untoten auf Distanz zu halten, als auch für die Zauberer, die im Hintergrund ihre Magie woben und auf ihre Feinde niederfahren ließen. Es gab keine Verschnaufpause, kein Ende war in Sicht. Die gegnerische Zahl schien nicht zu schrumpfen, auf der anderen Seite sah es diesbezüglich inzwischen wesentlich schlechter aus. Shikon No Yosei´s Befürchtung hatte sich bestätigt – sie waren schlichtweg zu wenige, um diese Schlacht für sich entscheiden zu können. Ohne Vekk´s Portal, welches die gegnerischen Tengu zurück in die Unterwelt verbannen würde, hatten sie keine Chance. Vor allem nicht in dem Zustand, in dem sie sich nun befanden. Ihre Reihen waren zu erschöpft. Also tat Shikon No Yosei als einzig Vernünftige, was sie als Anführerin tun konnte.

„Rückzug“, schrie sie mit durch Magie verstärkter Stimme, „Rückzug!“
 

Der letzte Stützpunkt

Die nächsten Wochen waren das schlimmste, was Shikon No Yosei jemals erlebt hatte. Tag für Tag hatten ihre Verbündeten gegen die Untoten gekämpft. Erfolglos … Sie wurden immer weiter zurückgedrängt. Bis sie sich ins Kloster als letzten Stützpunkt zurückziehen mussten. Das Gelände, das sie zurückließen, war – in einem Wort gesagt – zerstört. Kaum etwas erinnerte noch an die einstige Schönheit Shing Jea´s – die Schönheit, welche Shikon No Yosei und Seiketsu No Akari so sehr liebten und für die sie so oft gekämpft hatten. Auf Ohtah Ryutaiyo´s Bitte hin, hatte die Mönchin ihren Posten bei den erkrankten Schülern verlassen, um ihrer Seelen-Schwester beizustehen. Auf eine Art, wie er es niemals können würde. Sie nahm Shikon No Yosei in den Arm und beide weinten an der Schulter der anderen. Tränen wie die wunderbaren Qi-Wasserfälle ihrer Heimat.

„Shing Jea wird wieder aufleben!“, flüsterte Seiketsu No Akari beruhigend ihr ins Ohr, „Ihre Schönheit kommt von den Menschen, die hier leben. Solange wir noch am Leben sind, ist es auch diese Insel …“

Die Elementarmagierin nickte mit einem schwachen Lächeln. Das Kloster verschaffte ihnen ein bisschen Zeit. Es einzunehmen würde dauern. Die magischen Barrieren, welche es schützte, würden die Untoten erst einmal abschrecken. Damit bekamen die Asura die notwendige Zeit, weiter an dem Portal zu arbeiten. Und die übrigen Kämpfer konnten sich etwas ausruhen, neue Kräfte schöpfen.
 

Ein gewaltiges Beben riss Shikon No Yosei aus dem Schlaf. Durch die Veränderung der magischen Wellen in der Luft wusste sie sofort, was das Beben verursacht hatte – die Barrieren, welche das Kloster schützten, waren gelöst, gewaltsam. Ohtah Ryutaiyo, der neben ihr gelegen hatte, konnte an ihrem Gesichtsausdruck ablesen, was geschehen war. Ohne ein Wort verschwand er via Schattenschritt. Die Elementarmagierin eilte derweil ins Nachbarzimmer. Es war leer. Wieder eine Nacht, in der Seiketsu No Akari keine Ruhe gefunden hatte. Sie rannte weiter. Diesmal war die Krankenstation ihr Ziel. Dort fand sie die Mönchin … inmitten der Lager, auf denen sie erkranken Schüler ruhten. In den vergangenen Tagen waren immer mehr Schüler und Tengu der Krankheit zum Opfer gefallen, was ihre Reihen sichtlich gelichtet hatte.

„Sie kommen.“, stellte Seiketsu No Akri in die Stille hinein fest.

Als Leiterin des Klosters war sie gewesen, welche die Kontrolle über die Barrieren inne hatte. Gab es einen Angriff war sie die erste, die es wusste.

Shikon No Yosei nickte, obwohl es viel zu dunkel war, um gesehen zu werden, und antwortete: „Wir können uns nirgends mehr zurückziehen. Wenn das Kloster fällt, fällt Shing Jea. Hier entscheidet sich alles …“

„Warum bist du nicht ehrlich zu mir, Shiko?“, wollte ihre Cousine wissen.

Ihre Gegenüber senkte den Kopf, bevor sie erklärte: „Du hast recht. Wenigstens dir sollte ich es sagen … Wir können diesen Krieg so nicht gewinnen. Die untoten Tengu sind zu stark. Die Asura haben das Portal nicht fertig stellen können. Aber …“

„Aber?“, hakte sie nach, nachdem Shikon No Yosei verstummt war.

Sie lächelte leicht, als sie fortfuhr: „In den vielen Jahren, die vergangen sind, seit Meister Togo mich zur Verteidigerin von Shing Jea machte, war ich in vielen gefährlichen Situationen und habe schon häufig beinahe mein Leben verloren. Aber … wenn ich schon sterben muss, dann bin ich froh, dass ich gemeinsam mit meiner Heimat untergehe!“

„So sehe ich das auch.“, stimmte Seiketsu No Akari ihr zu.

Im selben Augenblick ertönte der Hall der Glocke des Klosters. Ohtah Ryutaiyo schlug Alarm. Die Zeit war um, Shikon No Yosei musste gehen.

„Wir sehen uns in den Nebeln!“, sprachen beide Frauen in einem Atemzug.
 

Schneller als gedacht, waren alle verfügbaren Kämpfer auf dem Hof des Klosters erschienen. Angst stand in ihren Gesichtern geschrieben. Eine Angst, welche Shikon No Yosei kannte und teilte. Nicht nur in diesem Moment, ihr war es in ihrem ersten, großen Kampf nicht anders gegangen. Damals wäre sie ohne Ohtah Ryutaiyo verloren gewesen. So wie jetzt.

„Bereit?“, fragte sie den Assassinen, der zuverlässig an ihrer Seite stand.

Er nahm ihre Hand und flüsterte: „Bereit, wenn du es bist!“

Im Stillen dankte sie ihm für seine Nähe, dann traten beide vor ihre Armee. Sie mussten die Worte nicht ausspreche. Jeder Einzelne von ihnen wusste, was ihnen bevorstand. Einige bissen sich auf die Lippen, um ihre Tränen zu unterdrücken, andere blicken ihr ernst entgegen. Selbst wenn sie es ihnen jetzt anbieten würde, keiner würde Shing Jea verlassen. Zu stark fühlten sie sich Shikon No Yosei gegenüber verbunden. Zu sehr war dieser Kampf zu ihrem Kampf geworden. Daher nickte die Elementarmagierin nur und die Tore zum Kloster von Shing Jea öffneten sie.

Während des Kampfes verlor Shikon No Yosei jedes Zeitgefühl. Einmal schien die Zeit zu rasen, danach wieder stillzustehen. Die sanften Sonnenstrahlen der Morgendämmerung waren nicht zu sehen. Eine Aura dunkler Energie, welche von den Untoten ausging, verhüllte den Himmel. Die grellen Laute rissen nicht ab. Kampfgebrüll mischte sich mit Schmerzensschreien. Shikon No Yosei schloss die Augen. Tränen rollten über ihre Wangen. Es gab nur eine Möglichkeit, Shing Jea zu retten … eine geringe, allerletzte Chance. Sie hatte es schon einmal getan. Damals im Kampf gegen den Großen Zerstörer hatte sie die Energie ihrer Familie, Freunde und Verbündeten in ihren Körper geleitet und als reine Magie freigesetzt. Diese Tat hatte ihre Magie für immer beschädigt. Sie wusste nicht, was diesmal mit ihr geschehen würde … Doch tief in ihrem Innern lag noch die Befürchtung, welche sie vor Beginn des Krieges hatte … dass es sie mehr kosten würde, als nur ihr Leben. Um sie herum war alles still. Sie hörte nicht mehr die gellenden Rufe, panischen Schreie oder den durchdringenden Kampflärm. Ihre Konzentration erfüllte ihren ganzen Körper. Sie sah nicht länger mit den Augen. Sie spürte jeden einzelnen mit ihrem Herzen, erkannte ihre Auren. Ihre Magie pulsierte. Die anderen bemerkten die Veränderung und hielten abrupt inne. Selbst die Untoten senkten ihre Waffen, sodass sich der Kampf einstellte. Shikon No Yosei breitete ihre Arme aus. Die Kraft der Kämpfer strömte in ihre Richtung, drang in sie ein. Als die Energie eines jeden bei ihr war, legte sie die Arme auf ihren Oberkörper. Sie kanalisierte die Macht nicht zu einem Angriff, wie sie es beim Großen Zerstörer im Norden getan hatte, stattdessen riss sie nach endlosen Sekunden die Arme wieder auseinander und schickte damit eine mächtige Welle aus reinster Energie aus. Diese Welle erfüllte zunächst das Kloster, bevor sie sich über ganz Shing Jea ausbreitete. Jeder untote Tengu, der mit der Energie in Berührung kam, erlosch … wurde vom Angesicht der Insel getilgt. Keiner konnte entkommen, keiner widerstehen. Doch damit nicht genug – die Menschen und Tengu, welche von der seltsamen Krankheit befallen waren, wurden durch die Energie geheilt! Und Shikon No Yosei fiel leblos auf den kalten, harten Steinboden.
 

An der Grenze zu den Nebeln

Als Shikon No Yosei die Augen nach einer gefühlten Ewigkeit wieder öffnete, blendete sie das weiße Licht, welches sie umgab. Sie blinzelte ein paar Mal, bevor sie sich umsah. Es war kein greifbarer Ort. Und mit Sicherheit nicht Cantha. Von einer Sekunde zur anderen stand plötzlich Meister Togo vor ihr.

„Sei gegrüßt, meine Schülerin.“, sprach er und machte eine weitreichende Handbewegung, „Du befindest dich hier an der Grenze zu den Nebeln. Dein letzter Zauber … Er war für deinen Körper und deine Seele einfach zu stark.“

Die Elementarmagierin schluckte, bevor sie beklommen fragte: „Heißt das, ich … ich bin tot?“

„Nicht ganz.“, widersprach er mit sanfter Stimme, „Die Gesandten geben dir die Wahl. Willst du die leichteste Möglichkeit gehen und Frieden finden? Oder … wählst du den harten Weg und kämpfst dich zurück in die Welt der Sterblichen?“

Verwirrt hakte sie nach: „Wie meint Ihr das, Meister? Soll … soll ich mich etwa entscheiden, ob ich leben oder sterben möchte?“

„So ist es, Shiko.“, antwortete der Ritualist, „Doch bevor du deine Entscheidung triffst, möchte ich dir noch etwas sagen … In der Geschichte von Cantha, Tyria und Elona gab es immer wieder Menschen, die den Kampf gegen das Böse zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben. Du bist eine dieser Helden … In der Welt der Menschen giltst du als lebende Legende. Nur … wenn du zurückkehrst, werden diese Zeiten endgültig hinter dir liegen.“

Die Elementarmagierin dachte an den Krieg gegen die Untoten und wollte zaghaft wissen: „Meister, könnt Ihr mir eine Frage beantworten? Ich … Bin ich der Auslöser für all die Kämpfe? Waren es meine Kräfte, die das Böse angezogen haben? Wurden meine Familie und meine Freunde etwa meinetwegen verletzt?“

Meister Togo lachte leise und erklärte: „Nein, du bist nicht die Ursache für ihr Erscheinen … Weißt du, Shiko, man kann das Böse bekämpfen, man kann es sogar besiegen … doch man kann es niemals auslöschen. Es ist ein Kampf, der nie wirklich gewonnen werden kann … und dennoch immer wieder ausgefochten werden muss. Bist du bereit, dieser Gefahr als einfacher Mensch gegenüber zu treten?“

Erst jetzt verstand Shikon No Yosei, was Meister Togo ihr vermitteln wollte. Die Erkenntnis versetzte ihr einen Schlag, sie sank in die Knie. Alles hatte sie erwartet – aber dass ihre Magie für immer erloschen sein sollte, das konnte sie nicht glauben! Sie wollte es nicht glauben … Sie war eine Elementarmagierin. Die Elemente waren ihr Leben. Das Feuer war ihre Stärke, die Erde ihr Schutz, die Luft ihre Entschlossenheit und das Wasser ihre Klarheit. Ohne die Elemente war sie nichts. Sie wäre nicht länger Shikon No Yosei, die Fee der vier Elemente …

„Ist … ist das wirklich unumgänglich?“, fragte sie gebrochen.

Meister Togo half ihr aufzustehen, während er antwortete: „Ich verstehe deine Trauer. Weißt du … alles hat seinen Preis.“

„Kurz gesagt, mit meiner Magie habe ich für die Rettung Shing Jea´s bezahlt …“, meinte Shikon No Yosei – unwissend, ob sie traurig oder wütend sein sollte.

Der Ritualist nickte: „Vergiss´ nicht, du hast Tausenden von Menschen, Tieren und anderen Wesen das Leben gerettet. Und das nicht nur einmal …“

„Ich verstehe.“, erwiderte sie knapp, bevor sie den Blick hob, „Ich habe mich entschieden. Ich weiß, was ich getan habe … und ich bin bereit den Preis für meine Taten zu bezahlen. Darum bitte ich Euch um Verzeihung, Meister … Ich kann Euch in den Nebeln noch keine Gesellschaft leisten. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als Ohtah, Seiketsu, Yoso, Ryukii und Toki wiederzusehen … Ich möchte helfen Shing Jea wiederaufzubauen. Selbst … selbst, wenn ich dies ohne Magie tun muss.“

Er lächelte und entgegnete stolz: „Du brauchst dich nicht zu erklären, mein Kind … Ich wusste, du würdest dich so entscheiden.“

„Was das angeht … bevor ich gehe muss ich Euch noch etwas fragen. Es geht um eine Aussage, die Shiro damals bei unserem letztem Kampf gemacht hat.“, meinte Shikon No Yosei und sah ihn fest an, „Er sagte, Ihr wärt … mein Vater. Ist das wirklich wahr?“

Meister Togo nickte sacht, dann erklärte er: „Ich habe dem Himmelsministerium nicht sehr lange gedient. Bei einem Routineauftrag wurde unser Team von der Jadebruderschaft überfallen … und Adept Tai, Seiketsu´s Vater … hat mir damals gerettet und ist dabei gestorben. Doch meine Zeit im Nahpuiviertel hat mir das größte Geschenk meines Lebens gemacht – ich habe nie eine andere Frau geliebt, als deine Mutter … Es stimmt, ich bin dein Vater, Shiko.“

Tränen sammelten sich in den Augen der schönen Shing Jea und sie fragte kaum hörbar: „Warum habt Ihr … Warum hast du es mir damals nicht gesagt?“

„Solange du Schülerin im Kloster warst, wollte ich es dir nicht sagen … Suun´s Prophezeiung war der Grund, warum ich dich überhaupt vor den Ministern versteckt habe … warum du bei Bishu aufgewachsen bist. Kai und ich wollten nicht, dass sie in dir eine … Waffe sehen.“, gestand Meister Togo mit einem Seufzen, „Danach … Aus demselben Grund hast du mir diese Frage nicht bereits im Tahnnakai-Tempel gestellt.“

Sie biss sich auf die Unterlippe, versuchte sich zu sammeln, bevor sie erwiderte: „Jetzt fällt es mir umso schwerer zurückzukehren. Aber ich habe deine Lehren nicht vergessen … >Der richtige Weg ist nun einmal nicht immer der einfachste Weg …< Nicht wahr?“

„So ist es … meine geliebte Tochter. Und eines Tages werden wir uns hier wiedersehen. Solange werde ich über dich wachen.“, versprach er ihr lächelnd.

Shikon No Yosei küsste ihn zum Abschied auf die Wange. Dann wandte sie sich von ihm ab, lief in die entgegengesetzte Richtung. Zurück ins Leben.
 

Gemeinsamer Wiederaufbau

Zuerst spürte Shikon No Yosei wieder das Gewicht ihres Körpers. Sie lag auf etwas weichem. Ein Bett. Als nächstes hörte sie Stimmen, die sie nicht erkannte.

„Was hat sie nur? Warum wacht sie nicht auf?“, wollte ein Mann besorgt wissen.

Eine sanfte Frauenstimme erwiderte: „Es … es sieht so aus, als stünde sie auf der Schwelle zwischen Leben und Tod. Du darfst nicht vergessen, dass es ein Zauber war, der sie in diesen Zustand versetzt hat, und keine Wunde … Aber was mit ihr geschehen wird, das weiß ich nicht.“

„Können wir irgendetwas tun?“, hakte er nach.

Die Frau zögerte, bevor sie antwortete: „Ich habe versucht sie mit Heil- und Schutzgebeten zu belegen, ohne Erfolg. Wir können nur warten …“

Jemand ergriff Shikon No Yosei´s Hand und der Mann flüsterte ihr zu: „Warum tust du mir das an? Wie oft muss ich noch um dein Leben bangen? Sag´ mir, warum können wir kein normales Leben führen, Shiko?“

Der Klang ihres Namens erweckte ihr Bewusstsein vollständig. Plötzlich fragte sie sich, warum sie beiden Stimmen nicht schon zuvor erkannt hatte – Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari.

„Weil das Schicksal uns zu Helden bestimmt hat, Ohtah …“, sagte Shikon No Yosei, während sie langsam die Augen öffnete.

Ohtah Ryutaiyo riss die Augen auf. Seiketsu No Akari kam in ihr Blickfeld. Shikon No Yosei lächelte. Hier gehörte sie hin. Zu ihrer Familie. In ihre Heimat. Ihre Zeit war noch nicht gekommen, ihre Reise in die Nebel musste noch warten.
 

In den folgenden Wochen, gar Monaten halfen alle Verbündeten beim Wiederaufbau der zerstörten Teile Shing Jea´s. Keiner von Shikon No Yosei´s alten Freunden wollte die Insel verlassen, ehe nicht alles erledigt war. Einzig Danika und Argo konnten ihre Fraktionen nicht länger alleinlassen, was ihnen ein ziemlich schlechtes Gewissen bereitete. Tahlkora lachte herzlich auf Shikon No Yosei´s Frage, ob sie nicht nach Hause zu ihren Fürstenpflichten zurück müsse, und meinte, es täte ihrem Vater sicher gut, wenn er mal wieder auf sie warten müsse. Koss und Melonni wussten, dass in Kourna gerade die Dürre herrschte, da war es ohnehin besser, wenn ihr Dorf weniger hungrige und vor allem durstige Mäuler zu versorgen hätte. Bei Dunkoro war es ähnlich, auch wenn die Trockenheit auf Istan nicht ganz so schlimm ausfiel, wie auf dem Festland. Mhenlo blieb ebenfalls mit seinen Freunden – es wäre ihm wie Verrat vorgekommen Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo im Stich zu lassen. Vekk, Brandor, Jora und Gwen konnten sich den anderen dieser Meinung nur anschließen – ihrem Mann Keiran Thackeray hatte sie von Anfang an gesagt, sie würde erst zurückkommen, wenn sie Angelegenheit vollständig aus der Welt geschafft wäre und als Soldat der Ebon-Vorhut wusste er, dass so etwas länger dauern konnte. Hier waren sie momentan nützlicher als in ihrer Heimat. Für Shikon No Yosei selbst wurde diese Zeit zu einer weiteren Prüfung. Immer wieder hob sie aus Reflex die Arme und wollte einen Zauber weben. Doch die Energie, die sonst stets gegenwärtig gewesen war, schwieg. Kein Fünkchen Magie floss mehr durch ihren Körper. Sie war wirklich nur noch ein ganz gewöhnlicher Mensch … Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten – Shikon No Yosei hatte sich durch den Verlust ihrer magischen Kräfte verändert. Zwar war da noch ihre ausgelassene Lebensfreude, aber gleichzeitig lag etwas trauriges in ihrem Blick. Viele Stunden des Tages verbrachte sie damit zu den Sechs Göttern, Meister Togo und Teinai zu beten. Was sie ihnen in diesen Zwiegesprächen mitteilte, behielt sie allerdings für sich …
 

Als der Sommer in Shing Jea einzog, hellte sich Shikon No Yoseis Miene mit jedem weiteren Tag wieder auf. Denn der sechzehnte Geburtstag von Yoso No Koshi und Ryukii No Mai stand an. Und zusammen mit Toki No Kibo hatten sie einen Entschluss gefasst, den sie ihren Eltern an diesem Tag unterbreiten wollten.

„Es gibt da etwas, das wir euch sagen müssen.“, begann Yoso No Koshi, „Dieser Krieg hat uns etwas wichtiges gezeigt …“

Ryukii No Mai löste ihren Bruder ab: „Wir wissen jetzt, dass wir nicht annähernd so stark sind, wie ihr es seid – geschweige denn bereit eine solche Verantwortung zu tragen. Darum wollen wir mehr lernen. Mehr … als wir es hier könnten.“

„Wir wurden unser ganzes Leben von euch beschützt. Dafür danken wir euch sehr … aber es ist an der Zeit, dass wir für uns selbst aktiv zu werden. Sonst werden wir nie wissen, ob wir würdig sind für Cantha zu kämpfen.“, fuhr Toki No Kibo ernst fort.

Die drei lebenden Legenden tauschten Blicke. Dann ein stummes Nicken, bevor sie wieder zu ihren Kindern sahen.

Shikon No Yosei ergriff schließlich das Wort: „Wenn wir euch richtig verstanden haben, möchtet ihr also Shing Jea verlassen, um eure Fähigkeiten zu verbessern.“

„So ist es, Mama …“, bestätigte ihr Sohn verlegen, „Ich … ich will stark genug werden, um diejenigen beschützen zu können, die ich liebe. Ein genauso mächtiger Elementarmagier wie du es gewesen bist … Darum möchte ich bei einem ebenso talentierten Magier lernen.“

Die Vergangenheitsform war ihr nicht entgangen, doch sie ignorierte es dezent und kombinierte stattdessen: „Du meinst Argo, nicht wahr?“

„Was?“, rief Ohtah Ryutaiyo aus, „Dieser … dieser eingebildete Emporkömmling soll meinen Sohn unterrichten?“

Seine Frau legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm und fragte scherzhaft: „Bist du etwa immer noch eifersüchtig auf ihn?“

Sie lachte und Seiketsu No Akari stimmte mit ein, bis Toki No Kibo sagte: „Und ich habe Gräfin Danika gebeten, mich im Bereich der Schutzgebete zu unterrichten.“

Die Mönchin musterte ihre Ziehtochter, bevor sie antwortete: „Ich kann es dir nicht verdenken … Immerhin habe auch ich Shing Jea verlassen, um zu studieren.“

„Und was ist mit dir, Ryukii?“, wollte der Assassine von seiner Tochter wissen.

Sie erwiderte seinen durchdringenden Blick, während sie erklärte: „Der Kaiser hat mir dasselbe Angebot gemacht, wie dir einst. Ich werde Teil seiner geheimen Spezialeinheit und als kaiserlicher Schattendiener für ihn arbeiten.“

„Ihr habt euch das anscheinend gründlich überlegt.“, bemerkte Shikon No Yosei und schloss für einen Moment die Augen, „Ich verstehe, warum ihr gehen wollt … Auf einer Reise lernt man mehr, als man sich vorstellen kann. Trotzdem … habe ich zwei Bedingungen.“

„Bedingungen?“, entfuhr es den drei verwundert.

Sie nickte mit ernstem Gesichtsausdruck: „Ryukii, du wirst im Auftrag des Kaisers häufig mit anderen zusammenarbeiten und anders als zu unserer Zeit existieren die berüchtigsten Straßengilde in der Geschichte von Kaineng nicht mehr … darum hast du meine Erlaubnis zu gehen. Bei Toki und dir, Yoso, sieht die Lage etwas anders aus. Der Echowald und das Jademeer sind sehr gefährlich … Ihr wärt zwar in der Obhut der Kurzick und der Luxon, aber ich möchte dennoch, dass ihr gemeinsam reist. Ich bin sicher, ihr könnt von beiden Fraktionen einiges lernen. Und nun zu meiner zweiten Bedingung … Ihr habt ein Jahr Zeit. Dann kehrt ihr nach Shing Jea zurück und wählt den Weg, den ihr für richtig erachtet … Glaubt mir, wenn es soweit ist, werdet ihr mich verstehen.“

Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo konnten kaum glauben, dass sie wirklich die Erlaubnis für ihr Vorhaben bekommen hatten. Sie nickten zum Zeichen, dass sie die Bedingungen verstanden hatten. Nun blieb ihnen also ein Jahr, um zu lernen, um stärker zu werden und um ihren eigenen Weg zu finden …
 

Schattendiener Ryukii

Während Ryukii No Mai durch die Nacht schlich, dachte sie zum wiederholten Mal daran, warum sie hier in Kaineng als Schattendiener arbeitete – der Krieg gegen die untoten Tengu hatte ihr, ihrem Bruder Yoso No Koshi und Toki No Kibo gezeigt, dass viel zu schwach waren und es ihnen an Erfahrungen fehlte, um als Kämpfer für Cantha einzustehen. Natürlich wünschten sich Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari, dass ihre Kinder das Amt der Verteidiger von Cantha übernahmen … Aber waren sie dieser Verantwortung auch gewachsen? Solange sie unter dem Schutz ihrer Eltern standen, konnten sie es einfach nicht herausfinden. Darum hatte Yoso No Koshi vor ins Jademeer zu gehen und von Argo zu lernen. Toki No Kibo wollte sich auf dem Gebiet der Schutzgebete von Gräfin Danika weiterbilden lassen. Und Ryukii No Mai hatte das Angebot von Kaiser Kisu angenommen. Inzwischen stand sie seit fast sechs Wochen in seinem Dienst und er erwartete regelmäßig ihren Bericht über die Aufträge, mit denen sie betraut war. So auch in dieser Nacht. Es war eine anstrengende Woche gewesen … wenigstens keine Attentate. Die Menschen lebten in Frieden; die Am Fah und die Jadebruderschaft waren zerschlagen, die Kurzick und die Luxon hatten ein dauerhaftes Bündnis geschmiedet. Und dennoch blieb die Herrschaft über Cantha ein hartes Geschäft. Sie hatte zwischendurch auch mal frei gehabt, um sich zu erholen – als Kaiser hatte man diesen Luxus nicht.

Plötzlich musste Ryukii No Mai schmunzeln. Eigentlich kam ja Yoso No Koshi eher nach ihrer Mutter, aber Shikon No Yosei hatte einmal gesagt, sie wolle Cantha nicht regieren, sondern es nur beschützen … In solchen Momenten war die Assassine besonders stolz die Tochter zweier Helden zu sein – obwohl andererseits von ihr erwartet wurde genauso glorreich zu handeln. Sie seufzte resigniert und sprang auf das untere Dach des Palastes. Es war fast Mitternacht. Und so wie die Nacht ihr Ende noch nicht gefunden hatte, stand auch ihre Entscheidung noch aus.

„Da bist du ja wieder.“, bemerkte eine Stimme, „Warst du bei meinem Vater?“

Ryukii No Mai´s Blick huschte umher. Wie hatte das nur passieren können? Sie befand sich vollkommen unverhüllt im Schein des Vollmondes. Da entdeckte sie auf einmal eine Silhouette, die aus einem geöffneten Fenster lehnte. Er wartete auf ihre Reaktion. Sie blieb still stehen, verharrte bewegungslos und von einer Sekunde zur anderen verschwamm ihre Gestalt. Zwar konnte die Assassine bei solcher Helligkeit nicht wirklich mit den Schatten verschmelzen – das hätte nicht einmal ihr Vater fertig gebracht –, doch so war sie wenigstens nicht mehr deutlich zu erkennen. Der junge Mann zog sich vom Fenster zurück. Offenbar hatte er aufgegeben. Ryukii No Mai hätte nun ganz leicht verschwinden können, aber etwas hielt sie zurück. Und so unternahm sie einen Schattenschritt und landete genau auf dem Fenstersims.

„Du bist also doch gekommen …“, flüsterte er überrascht.

Ein Lächeln huschte über Ryukii No Mais Gesicht und sie erwiderte: „Du hast mich entdeckt. Das ist noch nicht vielen gelungen.“

„Ich habe dich schon öfters gesehen. Aber ich wusste, mein Vater würde mir nichts über dich erzählen.“, gestand er.

Völlig überrumpelt hauchte Ryukii No Mai: „Du bist … der Sohn des Kaisers …“

Es war mehr Aussage als Frage gewesen. Sie kannte niemanden, der etwas über den Spross des Kaisergeschlechtes wusste – nicht einmal Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo.

Ihr Gegenüber wandte den Blick ab und meinte betrübt: „Ja. Und ich bin ein Gefangener. Du bist die erste Person von außerhalb des Palastes, mit der ich rede … Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name lautet Koichi.“

„Ryukii.“, antwortete die Assassine knapp, mehr traute sie sich nicht zu verraten.

Koichi´s Gesicht leuchtete derweil auf – er hatte eine Idee – und fragte: „Würdest du mir etwas über die Welt dort draußen erzählen? Nichts von dem ganzen Mist, den ich aus Büchern lernen soll. Ich will etwas über das wirkliche Leben wissen!“

Ryukii No Mai dachte eine Weile nach. Sie wollte ihm diesen kleinen Wunsch erfüllen … Darum begann sie die Geschichten über Shing Jea, Kaineng, den Echowald und das Jademeer zu erzählen, welche ihre Eltern ihr von Kindesbeinen an berichtet hatten. Zwar reichte eine Nacht für all die spannenden Abenteuer nicht aus – wobei sich Ryukii No Mai sorgfältig davor hütete die Namen Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo oder gar der ihrer Gegner auszusprechen –, trotzdem kehrte sie jede Nacht wieder und schon bald waren aus ihnen richtig gute Freunde geworden, wenn nicht sogar mehr als das …
 

Bis der Tag des Abschieds gekommen war … Nicht weil Kaiser Kisu von ihren Treffen erfahren und sie ihr verboten hatte – sie glaubte sogar, er wisse ganz genau in welcher Beziehung sie zu seinem Sohn stand. Nein, die Zeit war ihr Feind. Das Jahr war vorüber, ihre Entscheidung getroffen. Doch Ryukii No Mai hatte härter mit sich gerungen als sie jemals für möglich gehalten hätte. Wegen ihm. Als Schattendiener wäre es ihr möglich gewesen, weiterhin in Koichi´s Nähe zu sein. Im Amt der Verteidigerin von Cantha dagegen durfte sie ihn nicht mehr wiedersehen … Als Kaiser hatte er eine Stellung zu wahren – sie konnte dann nur noch eine einfache Untergebene für ihn sein. So oder so – sie konnten nie eine gemeinsame Zukunft haben.

An diesem Abend hatte das Gespräch mit Kaiser Kisu wesentlich länger gedauert, die Nacht neigte sich bereits dem Ende entgegen. Für den Herrscher war sie wahrlich die Tochter von Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo. In ihren eigenen Augen hatte sie sich noch immer nicht richtig bewährt – sie war noch lange nicht die Heldin, die sie sein wollte … Ein weiterer Grund, warum sie nach Shing Jea zurückkehren musste. Aber Ryukii No Mai kannte auch endlich die Sehnsucht nach Zuhause. Und den tiefen Wunsch dieses Zuhause zu beschützen – genauso wie ihr Vater ihn einst durch ihre Mutter gelernt hatte. Trotz voran geschrittener Stunde versetzte es ihr einen Stich, dass Koichi bereits schlief. Schon in der nächsten Sekunde dachte sie wieder anders – vielleicht war es besser, wenn sie einfach mit den letzten Schatten der Nacht flüchtete.

„Ich werde dich nie vergessen, Koichi …“, flüsterte sie und beugte sich tiefer zu ihm herunter, um mit ihren Lippen seine Wange zu streifen, „Hiermit versiegle ich die Gefühle für dich in meinem Herzen!“

Gerade als sie sich wieder dem Fenster zuwenden wollte, griff er nach ihrer Hand und hielt sie fest.

„Wolltest du wirklich einfach so verschwinden?“, fragte Koichi mit traurigem Unterton.

Ryukii No Mai befreite sich von ihm und meinte: „Ich gehe zurück nach Hause. Das Jahr als Schattendiener war sehr wichtig für mich … aber ich gehöre nicht hierher. Es gibt eine Aufgabe, die ich zu erfüllen habe. Genauso wie du … Du bist der Sohn des Kaiser.“

„Was sagt das schon darüber aus, wer wir wirklich sind?“, gab Koichi nachdrücklich zurück und lächelte dann, „Ich habe mich vom ersten Moment an in dich verliebt, Ryukii!“

Sie ballte die Hände zu Fäusten, während sie zwischen den Zähnen hervor presste: „Koichi, bitte … Glaubst du mir fällt das alles leicht? Ich reise morgen früh ab, Ende der Diskussion.“

„Dann haben wir aber immer noch heute Nacht, oder?“, meinte er schelmisch und hielt sie mit seinen warmen, grünen Augen gefangen.

In einer einzigen, fließenden Bewegung überbrückte er den Abstand zwischen ihnen. Seine Leidenschaft raubte ihr beinahe den Verstand. Sie hatte nie davon zu träumen gewagt, ihm jemals nahe sein zu können und gab sie dem Gefühl vollkommen hin. Selbst die dunkelste Nacht konnte ihr Herz nicht vor dem Strahlen der Sterne verschließen … Und für diese eine Nacht war Koichi nicht länger der Kaiser und Ryukii No Mai keine Kämpferin für Cantha mehr. Sie waren nur noch ein Mann und eine Frau, die sich liebten! Und wie sie sich liebten. Die Assassine hatte aufgehört zu zählen, wie oft er sie mit seinen zärtlichen Berührungen und Bewegungen an den Rand des Wahnsinns trieb. Wieder und wieder vereinten sie sich, bis die Morgendämmerung unaufhaltsam bevorstand. Koichi´s Kopf ruhte auf ihrer Brust und sie streichelte ihm durch das abstehende, tiefschwarze Haar.

Bevor er in den Schlaf dämmerte, murmelte er noch: „Ich bin der zukünftige Kaiser … Nur dir kann ich nichts befehlen. Aber ich bitte dich … komm´ irgendwann zu mir zurück. Glaub´ mir, Ryukii, ein Wort von dir … und ich lege meine Krone sofort nieder.“

Ryukii No Mai küsste ihn auf die Stirn. Tiefe Dankbarkeit durchströmte sie. Ja, nur ein Wort und sie könnte mit Koichi zusammen sein. Ohne Versteckspiel, für den Rest ihres Lebens glücklich vereint. So wie Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo.

Sie öffnete den Mund, wollte ihr Glück hinausschreien, aber es waren andere Worte, die ihn verließen: „Unser Reich braucht dich … Wer soll es führen, wenn nicht du? Du wirst ein wunderbarer Kaiser werden, Koichi. Alle werden dich verehren … und lieben. Genauso wie ich es tue.“

Jede Silbe schnitt ihr eine Wunde ins Herz – für das Wohle Cantha´s. Zum ersten Mal verstand Ryukii No Mai den Schmerz, den ihre Eltern unzählige Male durchlitten hatten. Es war nicht der Ruhm, der einen Helden ausmachte, viel mehr bedeutete es, sein eigenes Interesse zurückzustellen, um das richtige zu tun. Shikon No Yosei hatte einmal gesagt, jeder Mensch käme in seinem Leben irgendwann einmal an Punkte, an denen er sich entscheiden müsse und es keinen Mittelweg gab. So wie jetzt … Geräuschlos traten die Tränen über ihre Augenränder. Koichi war inzwischen fest eingeschlafen. Die Assassine stahl sich noch ein paar wenige Momente der Zweisamkeit, bevor sie vollkommen ungesehen durch sein Zimmerfenster hinaussprang – unwissend, dass sie von nun an einen Jungen kaiserlichen Geblüts unter dem Herzen tragen würde …
 

Von Stärke und Liebe

Ganz Gentleman-like hatte der Elementarmagier Toki No Kibo den Vortritt gelassen. Darum standen die beiden im Haus zu Heltzer vor dem Oberhaupt der Kurzick.

Gräfin Danika hieß sie in ihrer Mitte herzlich willkommen: „Es ist mir eine besondere Ehre und eine persönliche Freude die Kinder meiner lieben Freunde und größten Helden Cantha´s unterrichten zu dürfen! Toki und Yoso, ihr habt mein Wort, ich werde alles dafür tun, damit ihr euch im Echowald wie zu Hause fühlt.“

Toki No Kibo und Yoso No Koshi neigten die Köpfe. Sie schmunzelten. Shikon No Yosei hatte ihnen bereits von dem überschwänglichen Eifer Danika´s berichtet.

„Wir hätten eine Bitte an Euch …“, meinte der Elementarmagier darum plötzlich wieder ernst, „Es stimmt, wir sind die Kinder der drei lebenden Legenden … aber bitte behandelt uns deshalb nicht bevorzugt.“

Danika blinzelte überrascht, dann lächelte sie sanft und antwortete: „Ich verstehe. Ich kenne diesen Blick … So wie ihr habe ich mich früher auch mal gefühlt. Alle haben in mir nur die Tochter ihres Oberhaupts gesehen … In Ordnung, ich berücksichtige euer Anliegen.“

„Habt vielen Dank, Gräfin! Wir werden Eure Erwartungen sicher nicht enttäuschen und den Kurzick alle Ehre machen!“, bestätigte die Mönchin voller Eifer.
 

Dieser Eifer wurde in den folgenden Monaten allerdings auf eine harte Probe gestellt – Danika forderte sie, bis weit über ihre Grenzen hinauszugehen. Ungeahnte Kraftreserven brachen aus ihr hervor. Und Yoso No Koshi lernte mehr über die Kontrolle der Erde – damit kam er seinem Ziel, alle vier Elemente perfekt beherrschen zu können, einen großen Schritt näher. Schon bald konnte er das gesamte Arsenal des Echowaldes im Kampf zu seinem Vorteil nutzen, während Toki No Kibo ihm Rückendeckung gab. So wurde aus den beiden schnell ein eingespieltes Team. Kein Wunder also, dass die Gräfin am Ende des Halbjahres nicht nur Toki No Kibo prüfen wollte, sondern Yoso No Koshi sollte ebenfalls daran teilnehmen.

„Ich habe mit den Stammhaltern der fünf Häuser gesprochen … und sie zu einem Turnier eingeladen.“, erklärte Danika, „Ihr, Toki und Yoso, tretet als unabhängige Teilnehmer an. Geht ihr als Gewinner hervor, habt ihr bestanden.“

Toki No Kibo biss sich auf die Unterlippe, bevor sie fragte: „Und wenn wir durchfallen?“

„Ich glaube an euch. Ihr könnt gewinnen!“, entgegnete die Kurzick lächelnd, „Ich sehe in euch denselben Kampfgeist, den ich bereits von Shiko und Ohtah kenne … Wenn ihr euch genauso bedingungslos vertrauen könnt, werden die Vertreter der Häuser keine Chance haben! Ich meine natürlich, sie werden sich sehr anstrengen müssen. Ach ja … für das Haus zu Heltzer wird übrigens mein Sohn Darius antreten. Ich bin gespannt zu sehen, wie du dich gegen ihn schlagen wirst, Toki. Mögen die Sechs Götter uns wohl gesonnen sein!“
 

Sie standen vor dem Tor, das in die Kampfarena des Echowaldes führte. In wenigen Minuten würde das Turnier der Häuser und damit ihre Prüfung bei den Kurzick beginnen.

„Hast du Angst?“, wollte Yoso No Koshi von seiner Partnerin wissen.

Toki No Kibo griff nach seiner Hand, traute sich aber nicht ihn anzusehen, als sie erwiderte: „Nein, eigentlich nicht … Wir können es schaffen. Zusammen … Und danke, dass du mir so geholfen hast. Es war ja mein Wunsch hier zu lernen … und auch, wenn Shiko wollte, dass du mit kommst-“

„Ehrlich gesagt, wollte dich auch ohne ihren Wunsch begleiten.“, unterbrach der Elementarmagier sie und zwinkerte schelmisch, „Sonst hätte ich mich die ganze Zeit nur um dich gesorgt.“

Röte schoss ihr Gesicht und sie erwiderte etwas kleinlaut: „Und … was ist mit Ryukii? Machst du dir um sie keine Sorgen? Ich meine, sie doch deine Schwester … und stet dir näher, als sonst irgendjemand.“

Er drückte ihre Hand stärker und antwortete: „Es stimmt, Ryukii ist meine Schwester … und klar frage ich mich, ob sie allein in Kaineng zurechtkommt … aber das heißt nicht, dass sie die einzige ist, die mir etwas bedeutet.“

Bevor Toki No Kibo noch etwas anderes sagen oder tun konnte, ertönte das Signal zum Start des Turniers. Das Tor öffnete sich und gab den Blick auf ein kreisrundes Gelände frei. Ringsherum standen versteinerte Bäume, die nur vereinzeltes Zwielicht hindurch ließen. Ihr erster Gegner waren die Waldläufer aus dem Haus Lutgardis, die sich mit Melandru verbunden fühlten und wunderbare Musik komponierten, von der Natur selbst inspiriert. Yoso No Koshi lief hinaus ins Gelände. Die Waldläufer positionierten sich zwischen den Bäumen, manche kletterten sogar auf die Äste und bezogen dort Stellung. Von allen Seiten blitzen ihm schussbereite Pfeilspitzen entgegen. Da umgab ihn der kühle Hauch des Schutzgeistes. Yoso No Koshi lächelte leicht. Es wurde Zeit Toki No Kibo seine Stärke und Zuverlässigkeit zu beweisen. Er kanalisierte die Energie der Erde, zog die Kraft aus den uralten Bäumen – ein Trick, für dessen Entwicklung die Kurzick etliche Jahrzehnte benötigt hatten. Überall auf dem Platz schossen kleine Steine umher, sodass man sie mit bloßem Auge kaum noch erkennen konnte. Jedes Geschoss zog die Pfeile und Bögen der Waldläufer mehr in Mitleidenschaft. Bis sie schließlich in Holzspänen in ich zusammenfielen.

„Der Kampf ist beendet!“, rief der Schiedsrichter, ein Krieger aus der kaiserlichen Armee, der extra wegen des Wettkampfes in den Echowald gekommen war, damit es unter den Häusern keine Streitigkeiten gab, „Die Shing Jea-Kämpfer haben gewonnen!“

Toki No Kibo warf sich Yoso No Koshi an den Hals und umarmte ihn vor Freude. Er hielt sie einen Moment fest, bevor die Euphorie der beiden wieder etwas abebbte und sie sich verlegen ansahen.

Auch aus dem folgenden Kampf gegen die Durheim-Nekromanten gingen sie siegreich hervor. Die Mesmer von Brauer traten erst gar nicht an – Lyssa konnte man nur mit der Schönheit eines Erfolges ehren und den konnten sie diesmal nicht erringen. Mit den Kriegern aus dem Hause Vasburg hatten sie schon mehr Probleme, doch sie unterlagen letztendlich ebenfalls. Blieb nur noch das Haus zu Heltzer. Darius, Sohn Danika´s und bekanntester Mönch des Echowaldes, stand ihnen nun gegenüber.

Yoso No Koshi wollte das Finale eröffnen, doch Toki No Toki hielt ihn auf: „Warte, Yoso … Du hast bereits gezeigt, was du gelernt hast. Ich wollte meine Fähigkeiten im Echowald verbessern. Deshalb muss ich es diesmal allein schaffen … Darius ist mein Gegner!“

Dem Elementarmagier stand sprichwörtlich der Mund offen. Sie schritt an ihm vorbei und bezog in der Mitte der Kampffläche Stellung. In Gedanken betete sie zu Dwayna, der Göttin des Lebens und bat Seiketsu No Akari um Kraft. Sie wollte, dass ihre Ziehmutter stolz auf sie war. Entschlossen öffnete Toki No Kibo ihre Augen und Darius warf einen Speer aus Licht, der auf sie zuraste. Doch die junge Mönchin war vorbereitet – eine Aegis baute sich vor ihr auf, welche den Angriff abblockte. So ging es eine Weile hin und her. Peingebet prallte auf Schutzgebet. Darius und Toki No Kibo führten eine besondere Art von Kampf aus – derjenige mit dem schwächeren Willen würde verlieren! Der Kurzick spürte, wie seine Energie langsam zu schwinden begann, darum nutzte er seine gesamten verbliebenen Kraftreserven für einen letzten Zauber – den Strahl des Urteils. Der Schutzgeist war dem nicht gewachsen und Toki No Kibo brach unter der gewaltigen Säule aus Peinmagie in die Knie, als sich ein goldener Schein über sie legte. Mit jeder weiteren Sekunde wurde der Strahl des Urteils zunehmend schwächer. Beide Mönche kauerten am Boden, keiner verfügte mehr über ein Fünkchen Magie.

„Wage es nicht aufzugeben, Toki!“, schrie Yoso No Koshi, „Ich glaube an dich! Und Tante Seiketsu tut es auch!“

Darius versuchte verzweifelt sich hochzukämpfen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht.

Der Schiedsrichter betrachtete die Situation kritisch und meinte: „Da keiner der beiden Kontrahenten mehr aufzustehen kann, erkläre ich dieses Turnier mit einem Unentschieden für beendet.“

„Noch … nicht.“, hauchte Toki No Kibo erschöpft und stand – wie durch ein Wunder – aufrecht im Kampfring.
 

Durch diesen Kampf gegen Darius hatte Toki No Kibo erkannt, dass es für Mönche noch andere Möglichkeiten gab jemanden zu beschützen, als nur aus dem Hintergrund heraus zu heilen und zu unterstützen. Sie wollte lernen für sich und andere selbst einzustehen – mit Peingebeten. Anders als im vergangenen halben Jahr trainierten Yoso No Koshi und Toki No Kibo diesmal nicht gemeinsam, sie sahen sich allgemein nur noch selten. Argo´s Ziel war, dass der junge Elementarmagier die Verbindung von Feuer, Wasser, Erde, Luft und deren Verstärkung durch die arkane Energie beherrschen lernte. Das merkwürdigste hierbei waren allerdings seine Methoden – er band den jungen Elementarmagier in allerlei seltsame Aufgaben ein, wie die Zurückeroberung eines Schiffs von den Geächteten, Ausrottung von Naga, Kappas und Yetis. Es wirkte fast so, als wolle das Oberhaupt der Luxon ihn für die Arbeit seiner Fraktion ausnutzen, doch Yoso No Koshi glaubte an die Worte seiner Mutter, Argo hätte zwar eine etwas exzentrische Art, man könne sich jedoch vollkommen auf ihn verlassen. Viel schlimmer als unter seinen Missionen litt Yoso No Koshi unter der Trennung von Toki No Kibo, der es nicht anders ging. Sie standen beide jeden Abend an ihren Fenstern und träumten voneinander. Ohne die Gefühle und Gedanken des anderen zu kennen …
 

Yoso No Koshi stand auf einem Plateau, bereit Argo in einem Duell der Elementarmagier gegenüberzutreten. Doch er erschien nicht allein – Toki No Kibo begleitete den Luxon. Eine unbändige Wut stieg in ihm auf. Was hatte sie mit ihm zu schaffen? Ihm ging sie seit Monaten aus dem Weg, aber mit Argo verbrachte sie offensichtlich ihre Freizeit!

„Yoso.“, nickte Argo ihm zu, „Es ist Zeit, deine Fähigkeiten auf die Probe zu stellen …“

Der Jüngere erwiderte seinen Blick ernst. Toki No Kibo schwieg sich aus, suchte allerdings mit ihren Augen seine Aufmerksamkeit. Etwas lag in ihnen, das Yoso No Koshi noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Innerlich winkte er ab, er musste sich auf Argo konzentrieren und alles auspacken, was in ihm steckte. Flammen umhüllten seine rechte Hand, links bildeten sich Wassertropfen, Wind wehte um ihn herum und wirbelten Blätter mit sich. Der Luxon dagegen zeigte keine Anzeichen von Kanalisierung, was Yoso No Koshi nur noch wütender machte. Doch als er den ersten Zauber weben wollte, erzitterten die Jadewellen unter ihren Füßen und alle drei stürzten. Eine grässliche, gigantische Kreatur mit unzähligen Beinen und Fangarmen baute sich vor ihnen auf und nahm ausgerechnet Toki No Kibo ins Visier. Yoso No Koshi rappelte sich auf und warf sich gegen das Monstrum. Gesteinsbrocken schlugen auf ihn ein, Windböen drückten ihn gen Boden, Flammenzungen krochen seinen widerlichen Körper entlang, feiner Nebel blendete ihn – alle vier Elemente wirkten auf ihn ein und entfesselten reine Energie, die das ganze Plateau durchflutete.

Nachdem sich das Licht verzogen hatte, eilte er an Toki No Kibo´s Seite und half ihr auf, dann wandte sie sich bereits an Argo: „Gehörte das etwa auch zu deinem Plan?“

Der Luxon schüttelte den Kopf: „Das war ein … Leviathan. Glaub´ mir, ich hätte nie für möglich gehalten, dass ein Wesen aus der Tiefe an die Oberfläche gelangen kann.“

„Und was sollte das mit dem Plan?“, wollte Yoso No Koshi verständnislos wissen.

Ein beinahe melancholischer Ausdruck trat auf Argos Gesicht, als er erklärte: „Yoso, du ähnelst so sehr deiner Mutter … doch ich sehe auch deinen Vater in dir. Ich wusste, du würdest wütend werden, wenn ich zusammen mit Toki zu unserem Kampf auftauchen würde. Ohtah hat damals genauso reagiert … Ich wollte, dass du ohne Skrupel alles aus dir herausholst. Nun besteht keine Notwendigkeit mehr gegen dich zu kämpfen. Ich habe vor Jahren gegen Shiko verloren … Und du bist stärker, als sie es damals war. Vielleicht wirst du irgendwann sogar mächtiger sein, als sie es jemals gewesen ist. Deine Eltern können wirklich stolz auf dich sein! Allerdings solltest du nicht denselben Fehler machen, wie sie …“

Er sah zu Toki No Kibo und Yoso No Koshi verstand. Damit zog sich Argo zurück, seine Arbeit war getan. Die beiden Shing Jea setzten sich auf eine steinerne Welle. Anspannung lag elektrisierend in der Luft.

„Ich … habe dich vermisst, Yoso.“, gestand die Mönchin verlegen, „In den letzten Monaten … wollte ich zu einer Frau werden, die stark genug ist, um an deiner Seite stehen zu können.“

Überraschung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und er erwiderte ernst: „Du bist stark! Deine Herzlichkeit und deine Hilfsbereitschaft sind bewundernswert … Vielleicht hätte ich dir das einfach schon früher sagen sollen. Toki, ich will, dass du bei mir bleibst!“

Er griff nach ihrer Hand und legte sie auf seine Brust – genau auf die Stelle, wo sein Herz in einem schnellen Rhythmus schlug. Ein Schauer fuhr durch Toki No Kibo. Warum nur hatten sie die ganze Zeit aneinander vorbei geredet? Sie lächelte und nickte dann. Yoso No Koshi wartete keine Sekunde länger, sondern küsste sie einfach.
 

Die neuen Verteidiger von Cantha

So war das Jahr für Yoso No Koshi, Toki No Kibo und Ryukii No Mai wie im Flug vergangen … und genau wie prophezeit, ergab die Frist nun auch für sie einen Sinn. Dagegen hatten Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari regelrecht die Tage bis zu ihrer Rückkehr gezählt. Das Schiff aus Kaineng hatte bei Sonnenaufgang am Hafen von Seitung angelegt. Es war früh und ruhig, als drei Personen den großen Innenhof des Klosters von Shing Jea betraten. Sie wirkten reifer, fast schon erwachsen. Die naiven Züge waren aus ihren Gesichtern verschwunden. Zwölf ereignisreiche Monate lagen hinter ihnen. Während der Elementarmagier und die Mönchin das erste halbe Jahr von den Kurzick unterrichtet worden waren und anschließend unter den Luxon gelebt hatten, war aus der Assassine ein berüchtigter Schattendiener geworden.

Wie jeden Morgen machte Seiketsu No Akari in Begleitung von Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo ihren Rundgang über das Klostergelände. Die drei lebenden Legenden blieben wie erstarrt stehen, als sie ihre Kinder in der Mitte des Platzes erkannten. Freudentränen bildeten sich in den Augen aller Anwesenden. Ungestüm rannten sie aufeinander zu und schlossen sich herzergreifend in die Arme.

Viele Stunden lang berichteten Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo von ihrem Abenteuer in der Ferne. Sie prahlten sogar ein bisschen. Und natürlich war die Vertrautheit zwischen dem Elementarmagier und der Mönchin besonders Shikon No Yosei und Seiketsu No Akari aufgefallen. Als das Gespräch auf dieses Thema gekommen war, hatte sie sich deutliche Mühe geben müssen, sich nichts anmerken zu lassen – der Trennungsschmerz nagte an ihr.

Am späten Nachmittag, nachdem sich alle etwas ausgeruht hatten, wurde Shikon No Yosei sehr ernst: „Yoso, Ryukii, Toki … der Zeitpunkt ist gekommen. Ihr wisst, welche Frage ich euch stellen will … Welchen Weg wollt ihr gehen?“

Darüber hatten die drei während der Überfahrt bereits gesprochen – und eine einstimmige Entscheidung getroffen: „Wir werden unsere ganze Kraft und jedes Fünkchen Leben, das in uns steckt, einsetzen, um Cantha und Shing Jea zu beschützen!“

„Dann folgt uns.“, entgegneten die drei lebenden Legenden.
 

Shikon No Yosei führte ihre Tochter aus dem Dorf hinaus ins freie Feld. Vor ihrem Schrein blieb sie stehen und bedeutete Ryukii No Mai sich neben sie zu setzen.

„Du weißt sicher, wie viel mir dieser Ort bedeutet. Ich habe dir und Yoso erzählt, dieser Ort sei eine Gedenkstätte für meinen getöteten Meister …“, begann sie mit leiser Stimme ihre Erzählung, „Aber einige Jahre nachdem ich den Schrein angelegt hatte, habe ich ihn erweitert … Es gibt etwas, das ich euch in den all den Jahren verschwiegen habe. In meinem Körper lebte eine Zeit lang auch der Geist einer anderen Elementarmagierin. Ihr Name war Teinai … Sie hat ihr Leben dem Schutze Canthas gewidmet. Nach ihrem Tod wurde sie im Tahnnakai-Tempel beigesetzt. Dort bin ich ihr begegnet … Und sie gab mir ihren Segen. Teinai war es, die mir die Kraft gegeben hat meine wahre Stärke zu finden. Während des Kampf gegen Abaddon´s Dienerin Varesh hat Teinai meinen Körper verlassen. Doch sie ist immer bei mir … Und ich weiß, sie wird auch dich beschützen. Dich … und das Kind, das unter ihrem Herzen heranwächst.“

Ein warmer Lichtstrahl ergoss sich über die beiden Frauen. Ryukii No Mai hatte hörbar nach Luft geschnappt und sich beinahe panisch die Hand auf den Bauch gelegt. Keinerlei Wölbung war zu erkennen.

„Wenn du dich genügend konzentrierst, wirst du es ebenfalls spüren … Seiketsu und ich haben es von der ersten Sekunde unseres Wiedersehens an bemerkt. Ich frage nicht, was in Kaineng geschehen ist, das du uns nicht erzählt hast. Du bist meine Tochter … und ich freue mich schon jetzt auf mein Enkelkind.“, antwortete Shikon No Yosei auf ihre unausgesprochene Frage, „Aber ich habe dich nicht nur hierher gebracht, um dir das zu sagen. Ich werde nie vergessen, wie mich Meister Togo einst auf meinen Weg geführt … Doch mein Dasein als Verteidigerin endet am heutigen Tag. Denn Ohtah, Seiketsu und ich legen die Zukunft unserer Heimat nun in eure Hände. Ihr, unsere Kinder, seid die neuen Verteidiger von Cantha!“

Während der letzten Worte löste Shikon No Yosei die silberne Kette von ihrem Hals und legte sie Ryukii No Mai um. So wie sie den herzförmigen Anhänger als Säugling einst von ihrer Mutter bekommen hatte, gab sie ihn nun an ihre Tochter weiter, die sie nur sprachlos anstarren konnte.
 

Ohtah Ryutaiyo stand wortlos inmitten der Unterstadt. Genau an der Stelle, wo er Shikon No Yosei vor so vielen Jahren zum ersten Mal gegenüber getreten war. Yoso No Koshi hielt sich hinter ihm und wartete ebenso schweigsam.

„Hier habe ich deiner Mutter versprochen, sie auf ewig mit meinem Leben zu beschützen … Ich habe meinen Schwur gehalten.“, brach der Assassine die Stille, „Eigentlich hatte meine Schuld gegenüber Cantha wieder gut machen wollen … aber in Wahrheit habe ich nur für Shiko gekämpft. Weil sie ein Teil dieses Landes ist, habe ich alles riskiert … Bis Shing Jea dann wirklich zu meiner Heimat wurde. Deshalb wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass sie auch in Zukunft in Sicherheit ist … Ich vertraue dir, Yoso. Und ich weiß, du wirst Ryukii und Toki genauso beschützen, wie ich Shiko beschützt habe. Darum legen Shiko, Seiketsu und ich die Zukunft unserer Heimat nun in eure Hände. Ihr, unsere Kinder, seid die neuen Verteidiger von Cantha!“

Er legte ihm aufmunternd die Hand auf die Schulter. Ein stolzes Lächeln zierte sein Gesicht.
 

Seiketsu No Akari saß mit Toki No Kibo vor den Toren des Klosters von Shing Jea.

Die Leiterin des Klosters seufzte, bevor sie sagte: „Es gibt Nächte, in denen ich noch immer davon träume, wie ich dich hier gefunden habe, Toki … Du lagst in ein weißes Leinenbündel eingewickelt unter einem Baum. Es tut mir Leid, dass ich bis heute nicht herausgefunden habe, wer deine leiblichen Eltern sind … Aber glaub´ mir, ich habe dich vom ersten Moment an geliebt!“

Die junge Mönchin kuschelte sich enger an sie und antwortete: „Ich weiß, Mama, ich weiß. Und liebe dich auch! Du hast mich zwar nicht zur Welt gebracht … aber du hast mir mein Leben geschenkt! Zusammen mit Tante Shiko, Onkel Ohtah, Schwester Ryukii und … Yoso.“

„Du hast dich schon immer geweigert Yoso als deinen >Bruder< zu bezeichnen … Es freut mich, dass du glücklich bist und ihr zueinander gefunden habt.“, meinte Seiketsu No Akari mit einem Lächeln auf den Lippen, „Weißt du, obwohl ich so lange in Tyria studiert habe, kam für mich meine Liebe zu Shing Jea … und später natürlich zu dir stets an erster Stelle. Darum möchte ich dir einen Rat mitgeben, den du niemals vergessen darfst … Jede Entscheidungen zieht Konsequenzen mit sich. Und damit legen Shiko, Ohtah und ich die Zukunft unserer Heimat nun in eure Hände. Ihr, unsere Kinder, seid die neuen Verteidiger von Cantha!“

Sie streichelte Toki No Kibo sachte über die Wange und genossen gemeinsam den angenehmen Wind, der durch das Sunqua-Tal wehte.
 

Sie wussten, dass dieser Tag einst kommen würde … Dieser Tag, an dem eine neue Generation das Amt der Verteidiger von Cantha übernehmen würde. Umso stolzer waren die lebenden Legenden, ihre eigenen Kinder mit dieser Aufgabe betraut zu wissen. So geht das Leben von Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Seiketsu No Akari, Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo weiter den Weg durch die Zukunft … Eine Zukunft, die neue Legenden hervorbringen wird. Denn gleichsam mit dem Ende dieser Erzählung wird ein weiteres Kapitel in der Geschichte der Helden Cantha´s aufgeschlagen – die Kinder der Legenden!

Buch 07: Die Kinder der Legenden

In den Tiefen der Unterwelt

In den tiefsten Tiefen der Unterwelt, in den entlegensten Verliesen wurden die stärksten und bösartigsten Wesen aus der gesamten Geschichtsschreibung der drei Kontinente dieser Welt gefangen gehalten – Shiro Tagachi, der Untote Lich, Abaddon, der Große Zerstörer. Seit Jahrzehnten Gefangene ihrer eigenen abscheulichen Gedanken, sonnen sie auf Rache. Rache an der Person, welche für dieses ihr Schicksal verantwortlich war. Jene Elementarmagierin, die das unmögliche vollbracht und sie bezwungen hatte. Und wäre die Zeit nicht sogar ein Feind der Götter selbst, ihre Gefängnisse hätten für alle Ewigkeit bestanden. Doch so wie der Friede in Tyria einzog, ließ auch die Vorsicht der Sechs Götter nach. Diese Nachlässigkeit zusammen mit ihrer unbändigen Wut schwächte die Fesseln der Gefängnisse. Shiro Tagachi, der Untote Lich, Abaddon und der Große Zerstörer spürten die Veränderung und steigerten ihre Bemühungen auszubrechen. Stück für Stück zerschlugen sie die Banne, Schutzmauern und Gitterstäbe. Nichts hätte sie mehr aufhalten können zu fliehen. Sie waren frei, frei und entschlossener denn je wollten sie ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Und genauso wie sie es für vollkommen undenkbar gehalten hatten, dass ein kleines Menschlein sie besiegte, taten sie etwas ebenso Unvorstellbares – sie schlossen sich zusammen!

„Ich werde sie büßen lassen! Sie, die meine Regentschaft verhinderte und mich hierher verbannte!“, knurrte Shiro Tagachi und sah dabei ihr Antlitz vor seinem inneren Auge.

Der Untote Lich nickte zustimmend: „Ja … mein Vorhaben war so perfekt! Die angebliche Retterin, die für den Untergang der Welt verantwortlich ist und daran zerbricht!“

„Es ist dieser Junge an ihrer Seite, der ihr diese Kraft gibt.“, erklärte Abaddon mit nachhallender Stimme, während er daran dachte, wie er sie von seinem Einfluss befreit hatte.

Zischend entgegnete der Große Zerstörer: „Sie sind alle dem Tode geweiht! Die ganze widerliche, menschliche Brut!“

„Wir werden dich vernichten!“, schrien sie donnernd und schossen aus der Unterwelt hinaus, „Dich und deine Freunde! Fürchte unsere Rache, Shikon No Yosei!“
 

Besagte Shing Jea wurde in diesem Augenblick aus ihren Träumen gerissen. Angstschweiß stand auf ihrer Stirn. Ein starker, wallender Drang in ihrem Innern zwang sie zum Aufstehen. Leise schlich sie aus dem Raum, um ihren Mann nicht zu wecken. Sie verließ das Haus und nahm die Straße, welche aus dem Dorf hinausführte. Direkt zu ihrem Schrein.

„Shiko … hörst du mich? Shiko …“, erklang eine warme, vertraute Stimme wie aus weiter Ferne.

Shikon No Yosei riss die Augen auf und rief: „TEINAI! Ich bin hier! Wo bist du?“

„Ich kann meinen Geist nicht materialisieren … aber ich muss dich warnen, Shiko!“, erklärte die Elementarmagierin ernst, „Shiro Tagachi, der Untote Lich, Abaddon und der Große Zerstörer sind aus der Unterwelt ausgebrochen! Sie sind auf dem Weg nach Shing Jea … Ich weiß nicht, wann sie euch erreichen werden. Sie wollen dich vernichten!“

Von einer Sekunde zur anderen verschwand Teinai´s Aura wieder, die Verbindung mit den Nebeln war abgerissen. Shikon No Yosei schauderte, Schmerz griff nach ihrer Brust, Tränen traten in ihre Augen. All ihre besiegten Feinde waren aus ihren Gefängnissen geflohen?! Ihre Beine gaben nach, zitternd sank sie zu Boden. Obwohl Teinai so schwach gewesen war, hatte sie alles gegeben. Aber sie konnte nicht kämpfen … nicht mehr. Nicht seit dem Ende des zweiten Tengu-Krieges. Und das Amt der Verteidiger ruhte auf den Schultern ihrer Kinder – Yoso No Koshi, Ryukii No Mai, Toki No Kibo. Eine neue Woge der Angst überwältigte sie. Sie wusste, was es bedeutet diesen Gegnern gegenüberzustehen.
 

Elterliche Pflicht

Noch bevor Ohtah Ryutaiyo ihre Abwesenheit bemerkt hatte, war Shikon No Yosei zurück. Früher wäre ihm das nie passiert. Wenn sie unterwegs gewesen waren, hatte er selbst im Schlaf stets über sie gewacht. Kein Überraschungsangriff hatte ihn unvorbereitet getroffen.

„Was ist los?“, murmelte der Assassine verschlafen, als sie ihn weckte.

An jedem anderen Tag hätte Shikon No Yosei über seine Sorglosigkeit gelacht. Er hatte sich in der ganzen Zeit wirklich an das friedliche Leben eines einfachen Canthaners gewöhnt – wenn man vom Unterricht im Kloster einmal absah. Zu lange hatte es keinen Ernstfall mehr gegeben. Die fehlende Reaktion seiner Frau veranlasste Ohtah Ryutaiyo dazu sich kerzengerade aufzusetzen und sie aufmerksam zu mustern.

„Was ist los?“, fragte er noch einmal, diesmal hellwach.

Mit schwacher, brüchiger Stimme antwortete Shikon No Yosei: „Ruf´ alle zusammen. Ich habe euch etwas mitzuteilen …“

Sorge durchflutete seine Gedanken. Doch er wagte es nicht zu zögern. In der nächsten Sekunde war er bereits via Schattenschritt verschwunden.
 

Während Seiketsu No Akari schweigsam am Tisch saß, Ohtah Ryutaiyo rastlos auf und ab lief, sahen Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo sie erwartungsvoll an. Shikon No Yosei hatte beinahe eine Viertelstunde nur geschwiegen.

„Teinai hat heute Morgen zu mir gesprochen …“, sagte sie schließlich in die Stille hinein, „Shiro Tagachi, der Untote Lich, Abaddon und der Große Zerstörer sind auf dem Weg hierher.“

Ohtah Ryutaiyo verharrte mitten in der Bewegung. Seiketsu No Akari starrte sie entsetzt an. Die drei Verteidiger stießen einen erschrockenen Laut aus. Sie kannten alle Geschichten über die Kämpfe ihrer Eltern, den lebenden Legenden.

Der Assassine fand als erster seine Stimme wieder: „Das heißt, wir müssen uns vorbereiten … Dies wird unser schwerster Kampf!“

Shikon No Yosei schüttelte jedoch den Kopf und widersprach ihm: „Es ist nicht unser Kampf, Ohtah. Nicht wir haben die Aufgabe Cantha zu beschützen …“

„Sollen Yoso, Ryukii und Toki etwa allein kämpfen? Wir reden hier von unseren schlimmsten Feinden! Hast du vergessen, wie viel Kraft es uns gekostet hat, sie zu besiegen? Und wir hatten nur jeweils einen Gegner!“, fuhr er sie wütend an, „Was wird zum Beispiel aus Ryukichi, wenn ihnen etwas zustößt?“

Ryukichi – der Sohn von Ryukii No Mai und Kaiser Kisu´s Erben Koichi, den sie während ihres Aufenthalts in Kaineng als Schattendiener kennen- und lieben gelernt hatte … Und knapp neun Monate, nachdem sie die Nacht des Abschieds gemeinsam verbracht hatten, war ein kleiner Junge mit seinem rabenschwarzen Haar und ihren dunklen Augen zur Welt gekommen.

Sie ignorierte den Stich in ihrem Herzen, den sein Zorn in ihr auslöste, und antwortete: „Nein … weder habe ich auch nur einen unserer Kämpfe vergessen, noch werde ich einfach tatenlos zusehen. Ich werde alles tun, was mir möglich ist, um ihnen zu helfen! Ich glaube an sie … Ich vertraue ihnen. Mehr kann ich nicht tun. Diesmal nicht … Oder hast du vergessen, dass ich über keinerlei Magie verfüge? Glaub´ mir, wenn ich könnte … wenn ich könnte, würde ich mich ihnen selbst stellen. Ich würde mich ihnen sogar opfern, um ihre Rache zu stillen – denn ich bin diejenige, die sie wollen! Aber … sie werden sich damit nicht zufrieden geben. Wenn sie nicht aufgehalten werden, sind Cantha, Tyria und Elona für immer verloren!“

Einsetzen spiegelte sich auf den Gesichtern von Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo – Ohtah Ryutaiyo stand der Mund offen; er konnte nicht glauben, was sie ihm an den Kopf geworfen hatte.

Gerade als er widersprechen wollte, ergriff Seiketsu No Akari das Wort: „Ich bin derselben Ansicht, wie Shiko … Unsere Zeit ist vorbei. Außerdem … es ist die Pflicht der Eltern ihren Kindern zu vertrauen und an sie zu glauben!“

Wütend ballte der Assassine seine Hände zu Fäusten. Dann packte er Ryukii No Mai am Arm und zog sie hinter sich her nach draußen – zum Training.
 

Shikon No Yosei versuchte den Kontakt zu Teinai wiederherzustellen. Ohne Erfolg. Es war, als würde etwas den Zugang zu den Nebeln verhindern, blockieren. Sie hoffte, ihrer Freundin ging es gut … Ob ihr Geist durch die große Anstrengung Schaden genommen hatte?

Aber es gab außer ihr noch jemanden, der Rat suchte – Yoso No Koshi. Er setzte sich neben seine Mutter und holte tief Luft.

„Wie kann ich den bevorstehenden Kampf gewinnen?“, fragte er leise.

Ohne ihn anzusehen, erwiderte sie: „Du wirst eine Möglichkeit finden … zusammen mit Ryukii und Toki.“

„Aber ich weiß einfach nicht, was ich tun soll! Verstehst du nicht? Ich muss euch alle beschützen!“, rief er, „Sag´ mir, was soll ich tun? Bitte!“

Doch sie schüttelte betrübt den Kopf: „Das kann ich nicht … Selbst wenn ich es wollte. Ihr müsst euren eigenen Weg finden! Nichts geschieht zweimal auf dieselbe Weise.“

„Du hast sie schon einmal besiegt! Warum kannst du mich nicht trainieren, wie Vater Ryukii? Warum willst mir nicht helfen?“, schrie er beinahe.

Die Shing Jea gab sich ruhig und erklärte: „Ich verstehe deine Verzweiflung, Yoso … Mir erging es all die Jahre nicht anders. Ganz am Anfang meiner Reise habe ich mitangesehen, wie Meister Togo seinen besten Freund tötete … Ich habe es nicht verstanden. Durch die Pest war aus Minister Cho zwar ein Monster geworden, aber … Ich habe damals eine sehr wichtige Lektion gelernt, mein Sohn. Es gibt Dinge, die notwendig sind … Dinge, die wir nicht immer nachvollziehen können. Und für den Kampf, der euch bevorsteht, ist es notwendig, dass ihr selbst eine Möglichkeit findet. Ihr könnt es schaffen … gemeinsam!“

Yoso No Koshi´s Wut verrauchte. Plötzlich begriff er, worauf sie hinaus wollte und was seine Tante am Morgen gemeint hatte. Sie mussten nicht kämpfen. Sie vertrauten wirklich darauf, dass Toki No Kibo, Ryukii No Mai und er es schaffen würden. Sie glaubten von ganzem Herzen daran! Nur seinem Vater fehlte diese Überzeugung … Sein Training bewies, dass er der Meinung war, Ryukii No Mais Fähigkeiten würden noch nicht ausreichen, um den Kampf zu überstehen.

„Glaubst du … glaubst du, dass Vater das auch noch so sehen wird?“, wollte er etwas kleinlaut wissen – er schämte sie für die Vorwürfe, die er seiner Mutter gemacht hatte.

Die Heldin seufzte schwer und erklärte: „Ohtah war … und ist manchmal etwas halsstarrig. Wenn er sich in etwas verrannt hat, fällt es ihm oft schwer, einen anderen Blickwinkel einzunehmen … Aber ich glaube auch er wird bald erkennen, was Seiketsu und ich bereits wissen. Ihr drei seit schon längst keine Kinder mehr … Ihr seit genauso bereit und stark, wie wir es einst waren. Vielleicht seid ihr uns sogar überlegen …“

„Woher willst du das wissen?“, hakte Yoso No Koshi nach und plötzlich fiel ihm ein, dass Argo etwas ähnliches gesagt hatte, „Wie kannst du dir so sicher sein?“

Jetzt lachte Shikon No Yosei laut auf und antwortete: „Weil ich gesehen habe, wie sehr ihr dieses Land liebt … Und wie stark deine Gefühle zu Toki und Ryukii sind. Weißt du, der Wunsch etwas oder jemanden zu beschützen, den man liebt, verleiht einem unglaublich viel Kraft!“

Er nickte. Zum ersten Mal in seinem Leben glaubte er, die Botschaft ihrer Worte wirklich verstehen zu haben. Und gleichzeitig hatte er noch etwas viel wertvolleres von ihr bekommen – Selbstvertrauen.
 

Rache gegen Liebe: die Entscheidung

Jeden Tag betete Shikon No Yosei viele Stunden vor ihrem Schrein zu Teinai. Verzweifelt versuchte sie mit ihr in Kontakt zu treten. Irgendwann – es dämmerte gerade – spürte sie einen schwachen Ruf, eine sanfte Berührung ihrer Seele. Sie öffnete ihren Geist und ließ die leisen Worte in sich widerhallen. Im Stillen dankte sie ihrer Freundin. Allein hätte sie es nie geschafft, Teinai zu erreichen. Zwar hatte sie sich ein paar vereinzelte Ritualisten-Fertigkeiten ihres Vaters abgeschaut, aber diese waren ebenfalls mit dem Rest ihrer magischen Kräfte versiegt.

„Es ist soweit, nicht wahr?“, ertönte die Stimme von Ohtah Ryutaiyo hinter ihr.

Shikon No Yosei stand auf, ein sachtes Nicken ihres Kopfes genügte als Antwort. Gefolgt von einem erleichterten Seufzen, als sich die ihr wohl bekannten, starken Arme um ihre Schultern legten und an seine Brust zogen. Lächelnd nahm sie sein Friedensangebot an und entspannte sich. Lange, viel zu lange war er ihr nicht mehr so nah gewesen – weder körperlich, noch emotional.

„Ich liebe dich …“, hauchte er ihr ins Ohr, „Verzeih´ meine Sturheit. Du hattest Recht … Ich konnte Ryukii nicht ein einziges Mal besiegen. Sie ist viel stärker, als ich.“

Eine angenehme Wärme breitete sich in Körper aus. Sie beugte ihren Kopf leicht zur Seite, sodass sie in das Gesicht ihres Mannes sehen konnte.

„Sie weiß, wofür sie kämpft … Sie will ihren Vater nicht enttäuschen und gibt deshalb ihr bestes.“, flüsterte Shikon No Yosei, „Unsere Kinder haben mehr von dir, als man vermuten könnte …“

Ohtah Ryutaiyo´s Augen waren voller Zuneigung für sie, welche er in einen langen, sinnlichen Kuss legte.
 

Die Tiere hatten sich verzogen. Ein Mantel des Schweigens lag über dem Sunqua-Tal. Anspannung erfüllte die Luft – die berühmte Ruhe vor dem Sturm. Die drei Verteidiger standen auf der Anhöhe vor dem Eingang zum Kloster von Shing Jea. Hier auf dieser Insel war alles, was ihnen etwas bedeutete. Ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde. Ihr Blick war starr auf die Ebene vor ihnen gerichtet. Der Boden vibrierte. Ein lauter Knall. Ein helles Licht. Dann standen sie da – Shiro Tagachi, der Untote Lich, Abaddon und der Große Zerstörer. Trotz aller Geschichten erschraken Ryukii No Mai und Toki No Kibo sichtlich der Gefahr. Nur Yoso No Koshi blieb ruhig. Er wusste, seine Mutter war jedem einzelnen schon einmal gegenüber gestanden. Und hatte sie besiegt.

„Wo finden wir Shikon No Yosei?“, knurrte Shiro mit drohendem Unterton in der Stimme.

Der junge Elementarmagier trat entschieden einen Schritt vor und antwortete: „Nicht sie ist euer Gegner … wir sind es!“

„Lachhaft, Junge!“, höhnte Abaddon, dessen Stimme direkt in ihren Köpfen zu hören war, „Wieso sollten wir uns mit euch aufhalten?“

Yoso No Koshi blieb ernst, die Worte kamen klar über seine Lippen: „Weil ich ihr Sohn bin! Wir haben von ihr die Aufgabe übertragen bekommen, Cantha und Shing Jea zu beschützen!“

Shiro spukte aus. Daher war ihm dieser Junge so bekannt vorgekommen. Dieselben Augen, dasselbe Haar. Er war das Ebenbild der Frau, die ihn verschmäht hatte. Bittere Wut kochte in ihm hoch – wenn sie sich anders entschieden hätte, könnte er der Vater dieses Kindes sein. Doch stattdessen trug es die Gene dieses schwächlichen Am Fah-Abschaums in sich.

Das hemmungslose Lachen des Untoten Lich, Abaddon und des Großen Zerstörers riss Shiro aus seinen Gedanken. Er verstand sie nur zu gut, blieb aber trotzdem stumm. Es war eine lächerliche Vorstellung, ein anderer Sterblicher könne an Shikon No Yosei heranreichen, könne es ihr gleichtun und sie alle besiegen. Noch dazu gleichzeitig … Aber dieser Blick, mit der er sie ansah – genauso hatte Shikon No Yosei ihn bei ihrem letzten Angriff angesehen. Eine solche Entschlossenheit war gefährlich. Selbst für sie.

Der Untote Lich, der Shiro´s Besorgnis nicht mitbekommen hatte, sendete mit einem kräftigen Flügelschlag einen Energiestoß aus, welcher direkt auf Yoso No Koshi zuhielt. Die Wucht des Treffers schleuderte ihn zu Boden. Sie würden mühelos getötet werden, wenn er nicht sofort etwas unternahm. Fieberhaft suchte er nach einer Lösung. Es gab niemanden, der ihnen helfen konnte. Sie waren auf sich allein gestellt. Er dachte an seine Mutter. Wie oft war sie in einer so ausweglosen Situation gewesen? Unzählige Male … Dennoch hatte sie niemals aufgegeben. Und mit jedem Kampf war sie stärker geworden. Weil sie ihr Ziel nicht aus den Augen verloren hatte!

Es durchfuhr ihn wie ein Blitz. Plötzlich erinnerte er sich wieder an die Worte, die sie ihm mitgegeben hatte, als er beschlossen hatte, Elementarmagier zu werden.

„Wenn Erde, Feuer, Luft und Wasser sich vereinen, entsteht reine Magie. Aber … es gibt noch zwei weitere Elemente, die unsere Welt im Gleichgewicht halten … Licht und Dunkelheit. Aus ihnen erwächst eine viel gefährlichere Energie. Das Chaos …“, erklärte Shikon No Yosei ernst, „Als Elementarmagier kannst du diese Verbindung steuern. Du darfst es nie vergessen, mein Sohn … Kein Zauberwirker sollte seine Kräfte leichtfertig einsetzen. Wer über solche Macht verfügt, unterliegt auch der Pflicht diese mit Bedacht einzusetzen!“

Yoso No Koshi stand auf. Er wusste nun, was zu tun war.

„Du kommst also nicht nur nach deiner Mutter …“, flüsterte Shiro kaum hörbar, bevor seine Stimme erstarkte, „Sondern hast auch die Angewohnheit deines widerwärtigen Vaters nie zu wissen, wann man besser liegen bleiben sollte!“

Er nickte bestimmt: „Ich habe eben, genau wie er, einen Grund zu kämpfen. Um diejenigen zu beschützen, die ich liebe, setze ich mein Leben ein!“

„YOSO!“, riefen Ryukii No Mai und Toki No Kibo erschrocken.

Er sah sie durchdringend an, während er sagte: „Hört mir zu, es gibt nur eine Chance sie zu besiegen ... Wir müssen noch stärker werden, als es unsere Eltern waren!“

„A-Aber wie … wie soll das gehen?“, wollte die Mönchin wissen.

Entschlossen ergriff er ihre Hand und die seiner Schwester. Die Berührung reichte aus, um ihnen seinen Plan zu vermitteln. Es war ihre Verbindung, die sein Vorhaben zum Erfolg führen würde – genauso wie Shikon No Yosei gesagt hatte, nur gemeinsam konnten sie es schaffen! Mit geschlossenen Augen beschwor Yoso No Koshi die Elemente Erde, Feuer, Luft und Wasser, Ryukii No Mai bediente sich ihrer Verbindung zu den Schatten, um die Dunkelheit herbeizurufen und Toki No Kibo setzte ihr heilendes Licht frei. Alle sechs Mächte vereinten sich unter dem Willen des Elementarmagiers zu einer Kraft jenseits von Magie und Chaos. Ein Wirbel aus allen Farben des Regenbogens, gespickt von weiß und schwarz. Es kostete all seine Konzentration und Kanalisierungsfähigkeiten, um die gewaltige Energie so gut es ging unter Kontrolle zu halten. Und als er seine Gegner wieder ins Visier nahm, schoss sie ihnen so schnell entgegen, dass man nur noch die Explosion mitbekam. Eine Schockwelle schwappte über die Insel hinweg, streifte fast den ganzen Kontinent. Anders als beim letzten Mal wurden die Seelen von Shiro Tagachi, des Untote Lichs, Abaddon und des Großen Zerstörers – oder das, was von ihnen übrig war – nicht in die Unterwelt verbannt, sondern vollends ausgelöscht. Es blieb nichts – außer der bloßen Erinnerung an ihre einstige Existenz – von ihnen übrig. Niemals wieder würde eine Bedrohung von ihnen ausgehen ... weder für Cantha, noch für Tyria oder Elona! Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo hatten beendet, was ihre Eltern, die drei lebenden Legenden, begonnen hatten.
 

Von Vater und Sohn

Yoso No Koshi öffnete die Augen. Er brauchte einen Moment bis er wieder wusste, was geschehen war. Der Kampf gegen Shiro Tagachi, den Untoten Lich, Abaddon und den Großen Zerstörer … irgendwie hatten sie es geschafft. Nur … wo waren Toki No Kibo und Ryukii No Mai? Er setzte sich auf, ließ den Blick durch das Zimmer wandern. Jemand hatte ihn nach Hause, in sein eigenes Bett gebracht. Ein warmes Gefühl stieg in ihm auf. Im Kreis seiner Familie, hier im Dorf Tsumei fühlte er sich am wohlsten.

Auf einmal bemerkte er ein fremdes Gewicht auf seiner Decke – Shikon No Yosei lag auf den Armen und schlief. Sie war nicht von seiner Seite gewichen. Dankbar lächelte der Elementarmagier.

Vorsichtig stieg er aus dem Bett, doch seine Mutter bemerkte es dennoch: „Du bist wach … wie schön.“

„Ja, es kommt mir alles wie ein Traum vor …“, erwiderte er leicht verlegen, „Wie lange habe ich denn geschlafen?“

Shikon No Yosei stiegen die Tränen in die Augen, als sie antwortete: „Vier Tage. Seiketsu sagte, der Zauber hätte deine Magie erschöpft und wir sollten uns keine Sorgen machen. Ich bin so erleichtert, dass es dir gut geht, Yoso! Die Energie war so stark … Kaum jemand hätte sie gänzlich kontrollieren können. Na ja … gerade ich dürfte dir deswegen eigentlich keinen Vorwurf machen.“

Er umarmte seine Mutter herzlich. Sie war in den vergangenen Tagen wegen ihm »tausend Tode« gestorben.

„Ich habe das getan, was du auch getan hättest … Für Shing Jea. Für meine Familie.“, meinte er und zog die Schultern hoch, „Sind Toki und Ryukii auch wohlauf?“

Sie zögerte erst, dann erklärte sie: „Sie sind im Kloster bei Seiketsu.“

Yoso No Koshi wusste sofort, dass seine Mutter ihm etwas verschwieg, was ihn nur noch besorgter machte. Wenn Shikon No Yosei etwas nicht über die Lippen kam, musste es sehr schwerwiegend sein …
 

Yoso No Koshi lief den Pfad entlang, der vom Dorf Tsumei ins Kloster führte. Keuchend spurtete er die Treppen zum Linnok-Hof hinauf. Das lange Liegen forderte seinen Tribut. Toki No Kibo stand umringt von Seiketsu No Akari, Ryukii No Mai und Ohtah Ryutaiyo. Der dreijährige Ryukichi schaute sie aufgeregt an, tänzelte unruhig auf der Stelle – aufgeweckt und neugierig, das zeichnete das jüngste Mitglied der Familie aus, wie keinen zweiten.

„Kann mir endlich jemand erklären, was hier los ist?“, fragte Yoso No Koshi, als er in Begleitung von Shikon No Yosei das Ende der Stufen erreicht hatte.

Seiketsu No Akari ignorierte seine Forderung, sondern wandte sich stattdessen an ihre Seelen-Schwester: „Shiko, du spürst es doch sicher ebenfalls, nicht wahr?“

„Ja, es besteht kein Zweifel mehr.“, bestätigte die rothaarige Shing Jea, „Toki trägt eine zweite Lebensenergie in sich. Ein Mädchen … etwas älter als ein Monat, würde ich sagen.“

Scheu suchte Toki No Kibo den Blick von Yoso No Koshi. Er regte sich nicht, starrte sie nur sprachlos an.

Es war Ryukichi – was nicht sehr überraschend war –, der die Anspannung brach: „Ein Mädchen? Dann werde ich ihr Beschützer! Und wenn wir erwachsen sind, heiraten wir!“

Die Anwesenden sahen sich kurz an, bevor sie in schallendes Gelächter ausbrachen. Sogar die werdende Mutter, obwohl ihr Yoso No Koshis Reaktion – oder besser gesagt seine fehlende Reaktion – zu schaffen machte. Er blieb weiterhin stumm. Er bewunderte den Mut und das Verantwortungsbewusstsein seines Neffen. Gleichzeitig fragte er sich, warum ihn diese Begeisterung nicht erfasst hatte …
 

Yoso No Koshi wusste nicht, wohin er laufen sollte. Überall schien der falsche Ort zu sein, nirgends kam er zur Ruhe. Irgendwann landete er am Hafen von Seitung. Das Rauschen des Meeres zog ihn an und er setzte sich an den entlegensten Kai, wo ihn niemand beobachten konnte. Über dem canthanischen Meer hing stets eine undurchdringliche Nebelwand. So fühlte sich der Elementarmagier im Moment … Alles war wie verhüllt, unwirklich. Seine Gedanken kamen auf keinen Nenner, seine Gefühle waren wie betäubt. Toki No Kibo erwartete ein Kind von ihm … seine Tochter. Er wurde Vater! Und er bekam diese Information einfach nicht auf die Reihe.

„So etwas ist nicht einfach zu akzeptieren, oder?“, meinte Ohtah Ryutaiyo, der wie aus dem Nichts auf einmal neben ihm stand, „Hat ganz schön gedauert, bis ich dich gefunden habe.“

Sein Sohn antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen?

Der Assassine holte hörbar Luft, dann fuhr er fort: „Ich weiß, warum du dich zurückgezogen hast.“

„Ach ja?“, gab Yoso No Koshi äußerst patzig zurück.

Mit hochgezogener Augenbraue entgegnete Ohtah Ryutaiyo: „Schon vergessen? Ich habe schließlich auch zwei Kinder. Ich kenne die Ängste eines Vaters zu genüge … Als Shiko mir sagte, sie wäre schwanger, hatte ich das Gefühl allen Boden unter den Füßen zu verlieren.“

„Warum?“, wollte sein Sohn kleinlaut wissen – er ärgerte sich schon wieder über seinen Ausbruch.

Er setzte sich neben ihn, richtete den Blick ebenfalls zum Meer hinaus und schob seinen rechten Ärmel nach oben, sodass das Drachen-Tattoo aus seiner Zeit als Am Fah sichtbar wurde. Er hatte einst schreckliche Dinge getan … Und welches Kind wollte schon einen Mörder, einen Verräter zum Vater? Nur wegen Shikon No Yosei hatte er es geschafft – wegen ihrer Liebe konnte er sich vergeben, musste sich nicht mehr selbst hassen.

„>Deine Unsicherheit ist nichts, wofür du dich schämen müsstest. Es zeigt vielmehr, dass du die Situation, die Verantwortung ernst nimmst …<“, erklärte Ohtah Ryutaiyo und grinste, „Ich gebe es zu, diese Worte stammen von Shiko. Ich hatte mich fast eine Woche lang verkrochen, dann hat sie mir ordentlich den Kopf gewachsen – ich glaube, ihr Gebrüll hat ganz Shing Jea gehört.“

Yoso No Koshi schluckte, bevor er erwiderte: „Wolltest … wolltest du uns denn trotzdem? Trotz deiner … Angst?“

Der Assassine legte ihm eine Hand auf die Schulter und zog ihn näher an sich heran. Das genügte ihm als Antwort. Er war so dumm gewesen, die Liebe seines Vaters in Frage zu stellen. Es tat gut, mit ihm zu sprechen … meist hatte er sich ja eher um Ryukii No Mai gekümmert. Wobei … nein, ganz so stimmte das auch wieder nicht. Yoso No Koshi selbst war ihm viel zu oft aus dem Weg gegangen. Weil er befürchtet hatte, dass Ohtah Ryutaiyo seine Schwester mehr liebte, als ihn …
 

Yoso No Koshi klopfte an Toki No Kibo´s Zimmertür und öffnete sie einen Spalt breit. Seine Liebste saß auf dem Fensterbrett und sah ihn an. Etwas Trauriges lag in ihrem Blick. Zum ersten Mal hatte er sie wirklich verletzt.

„Toki …“, begann er unsicher, „Ich … Es tut mir leid. Ich hätte an deiner Seite bleiben müssen. Stattdessen habe ich nur an mich selbst gedacht …“

Die Mönchin stand auf, während sie entgegnete: „Ich wusste es schon länger. Ich habe von ihr … geträumt. Vielleicht bin ich ja diejenige, die einen Fehler gemacht hat.“

Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie, anschließend flüsterte er: „Ich liebe dich, Toki … Und ich liebe auch unser Kind … Wir gehören zusammen – für immer!“
 

Die Wahrheit kommt ans Licht

Toki No Kibo und Yoso No Koshi hatten ihrer Tochter den Namen »Chiyo« gegeben – als Zeichen ihrer ewigen Liebe. Ebenso unendlich war aber auch Ryukichi´s Beschützerinstinkt. Und als ihr erster Geburtstag kurz bevorstand, war fast das ganze Dorf wie aus dem Häuschen. Diese Aufregung nahm noch mehr Überhand, nachdem ein Bote aus Kaineng den Besuch des neuen Kaisers angekündigt hatte – wobei die meisten bis dato nicht einmal gewusst hatten, dass der abgedankte Kisu überhaupt einen Sohn hatte. Ryukii No Mai gehörte da zu den wenigen Ausnahmen … Es verging kein Tag, an dem sie nicht an Koichi dachte. Vor allem jetzt, da sie sich unweigerlich begegnen mussten. Das allein wäre schon schlimm genug gewesen … Aber dazu noch Ryukichi? Sein Kind … Sie konnte es ihm nicht länger verschweigen. Er hatte begonnen Fragen zu stellen, wollte etwas über seinen Vater erfahren …

Was sie und auch sonst niemand nicht ahnte – Koichi befand sich bereits auf der Insel! Er war am Morgen mit einem gewöhnlichen Schiff angenommen, um sich unerkannt auf Shing Jea bewegen zu können. Er wollte die Orte sehen, von denen er so viel gehört und gelesen hatte. Und so kam es, wie es kommen musste – Koichi wandte sich vom Kloster aus nach Westen, direkt in Richtung des Dorfs Tsumei.

„Wer bist du denn?“, fragte ihn dort ein kleiner Junge, der auf den Wiesen spielte.

Der Ritualist wollte gerade antworten, da rief jemand den Jungen: „Ryukichi, was machst du hier? Ich dachte, du wolltest auf Chiyo aufpassen.“

Eine schlanke, junge Frau mit rotem Haar und Dolchen in den Halftern kam auf sie zu. Schock spiegelte sich auf ihrem Gesicht, als sie Koichi erkannte. Wie betäubt flüsterte er ihren Namen. Klar hatte er sich gewünscht, sie zu treffen, aber dass es so bald passieren würde und derart zufällig … damit hatte er wirklich nicht gerechnet.

„Ach, du kennst meine Mama?“, fragte Ryukichi vergnügt und verbeugte sich, „Tut mir ja leid, ich muss jetzt los – bevor meine kleine Chiyo anfängt zu weinen, weil ich sie so lange allein lasse. Auf Wiedersehen!“

Der Junge rannte ins Dorf, wo er bereits von einer Toki No Kibo erwartet wurde. Ryukii No Mai´s Blick klebte dagegen regelrecht an ihrem Gegenüber. Mehrere Minuten herrschte Schweigen zwischen ihnen. Keiner regte sich, bewegte auch nur einen winzigen Muskel.

Dennoch war die Assassine, die als Erste wieder sprach: „Sein Name ist Ryukichi … Er wird dieses Jahr fünf.“

Fünf Jahre. Koichi blinzelte ein paar Mal – genauso lange war es her, dass sie ihn verlassen hatte und da begriff er.

„Ja … er ist dein Sohn.“, kommentierte sie seinen Gesichtsausdruck sehr nüchtern.

Es war, als würde er aus allen Wolken fallen. Nie, niemals hätte er damit gerechnet, dass sie in jener Nacht ein Kind vom ihm empfangen hatte.

„Bist du deshalb nicht zurückgekommen?“, wollte Koichi mit Schmerz in der Stimme wissen.

Sie nickte, dann schüttelte sie wiederum den Kopf und antwortete: „Teilweise, ja und nein. Ich habe dir doch damals gesagt, ich hätte eine Pflicht zu erfüllen … Mein voller Name lautet Ryukii No Mai, ich bin die Tochter der legendären Helden Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo. Und gehöre der zweiten Generation der Verteidigern von Cantha an.“

„Das ändert nichts daran, dass ich dich immer noch liebe!“, erwiderte er ernst, „Ich lass´ dich nicht noch einmal gehen, Ryukii … Diesmal werde ich um dich kämpfen! Um dich … und Ryukichi.“

Schneller, als dass Ryukii No Mai sich dagegen hätte wehren können, zog er sie an sich und presste seine Lippen auf ihre. Brennende Leidenschaft pumpte durch ihre Körper. Ihre Arme bewegten sich fast wie von allein, umfingen sie noch enger. Die Sekunden flogen nur so an ihnen vorbei, bis Koichi den Kuss irgendwann beendete und sie unentwegt anschaute.

Da riss ihn ein weiterer Neuankömmling aus dem Konzept.

„Ryukii, ich habe überall nach dir gesucht. Wir müssen die Ankunft des Kaisers vorbereiten!“, tadelte sie der Elementarmagier.

Ryukii No Mai räusperte sich leicht und wies auf ihren Gegenüber: „Was das betrifft … Darf ich vorstellen? Koichi, Sohn des Kisu. Und das ist mein Bruder – Yoso No Koshi, ebenfalls ein Verteidiger von Cantha.“

Dem Rothaarigen stand der Mund offen. Als er sich wieder besonnen hatte, musterte er seinen Gegenüber und staunte noch mehr. Koichi wusste, warum er sich so benahm und zog sich von ihnen zurück. Er musste erst einmal damit klar kommen, dass er von einer Sekunde zur anderen erstens Ryukii No Mai wiedergesehen und zweitens einen Sohn hatte.

„Er ist Ryukichi´s Vater.“, stellte Yoso No Koshi fest, nachdem er außer Hörweite war, „Ich kenne dich, Ryukii … Und ich habe Augen im Kopf. Er ist ihm beinahe wie aus dem Gesicht geschnitten!“

Ryukii No Mai nickte nur. Diese Begegnung hatte ihr alle Kraft geraubt.
 

Koichi hatte die Nacht im Kloster verbracht. Nun saß er auf der Wiese vor dem Dorf Tsumei, wo er seinem Sohn gestern zum ersten Mal begegnet war. Und wieder wollte das Schicksal sie zusammenführen. Diesmal wirkte er allerdings verändert.

„Ich habe eine Frage.“, sagte Ryukichi irgendwann nach langem Schweigen, „Warum kommst du erst jetzt? Du bist doch mein Papa! Mama hat es mir vorhin erzählt …“

Unsicher erwiderte Koichi seinen Blick. Er hatte absolut keine Antwort parat – er wollte Ryukii No Mai nicht die Schuld geben, schließlich war er ihr auch nie nach Shing Jea gefolgt, obwohl er so viele Male kurz davor gewesen war …

„Weißt du, Ryukichi, dein Vater ist sehr beschäftigt.“, erklärte Ryukii No Mai, die hinter einem Baum hervortrat, „Er kämpft genauso für ein friedliches Cantha, wie Yoso, Toki und ich.“

Ryukichi´s Augen wurden groß – er war hellauf begeistert – und erwiderte: „Oh toll! Wenn ich groß bin, werde ich auch ein Held! Aber vorher muss ich noch eine Ausbildung im Kloster machen … dabei bin ich so schon stark!“

Ein Lachen entfuhr Koichi und auch Ryukii No Mai lächelte, denn sie kannte die Wunsch-Klasse ihres Sohnes bereits – Ritualist. Genauso wie fast alle Mitglieder der kaiserlichen Familie …
 

Und wieder ward es Liebe

Es war kalt. Eiskalt und neblig. In der vergangenen Nacht war der erste Schnee gefallen. Für Chiyo war es bereits der elfte Winter, den sie erlebte. Nur dass er in diesem Jahr viel früher über die Insel hereingebrochen war, als zumeist üblich. Bald würde sie ihre Ausbildung beginnen. Ryukichi seufzte. Er fror leicht, doch er kümmerte sich nicht darum. Er hatte sich seinen Umhang übergeworfen und wanderte über das Klostergelände. Sein Ziel war der Linnok-Hof, dessen Stufen unter dem Schnee verschwunden waren. Alles wirkte so unberührt, in völliger Harmonie. Nur er widersprach diesem vollkommenen Bild. Er hatte einfach herkommen müssen. An diesen Ort … und obwohl er damals noch ein kleines Kind gewesen war, hatte sich dieser eine Tag regelrecht in sein Gedächtnis gebrannt – der Tag, an dem Toki No Kibo´s Schwangerschaft verkündet worden war. Er wollte alles für Chiyo sein, sie beschützen und lieben. Nur auf welche Art? Als Kind war ihm die Antwort ganz leicht gefallen … heute nicht mehr. Nicht seit seinem gestrigen Gespräch mit ihr …
 

Er war von einem Auftrag in Kaitan zurück. Ein paar Banditen hatten wieder einmal Ärger gemacht und weil alle drei Verteidiger auf Mission waren, hatte er sich darum gekümmert. Zum Glück hatte er seine Ritualisten-Befähigung bereits in der Tasche. Besonders da er davon konnte, dass Ryukii No Mai anschließend noch seinen Vater aufsuchen würde, der – was sein Sohn natürlich nicht wusste – stets das höchste Fenster des Palast offenließ und sich entgegen jedes Protokolls und Tradition weigerte, eine Frau oder Konkubine zu wählen. Denn sein Herz gehörte einem flüchtigen Schatten in der Nacht ...

„Tut mir leid, es hat etwas länger gedauert.“, entschuldigte er sich bei Chiyo, die in der Zwischenzeit gekocht hatte, „Dafür hab ich jetzt den Rest des Tages nur Zeit für dich. Auf welches Spiel hast du denn heute Lust?“

Sie ließ den Kochlöffel in den Topf fallen. Ein Zittern durchlief sie, Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Was ist los?“, wollte Ryukichi verständnislos wissen.

Chiyo wirbelte zu ihm herum und fuhr ihn an: „Du siehst mich immer nur als kleines Mädchen, was? Es ist dir vollkommen egal, wie ich mich dabei fühle! Du hast es immer noch nicht begriffen, oder, Kichi? Ich will nicht deine Schwester oder eine Freundin sein … Ich wünsche mir, dass du mich als Frau liebst!“

Natürlich liebte er sie … Sie bedeutete ihm unendlich viel. Aber in welcher Rolle?
 

Ryukichi schlug gegen das Treppengeländer. Um diese Frage beantworten zu können, musste er sich seinen Gefühlen mit allen Konsequenzen stellen. Warum jetzt? Hätte sie mit ihrem Geständnis nicht noch ein paar Jahre warten können? Er war wirklich feige! Dagegen war Chiyo unglaublich mutig gewesen … Wenn er sich weiterhin so anstellte, verdiente er ihre Liebe gar nicht.

„Es ist schon seltsam … Unsere Familie scheint immer wieder in dieselben Muster zu fallen. Wir alle scheinen irgendeinen besonderen Ort aufzusuchen, wenn wir Probleme haben …“, meinte Seiketsu No Akari leicht amüsiert, die auf den ersten Treppenabsatz getreten war, „Du hast dich mit Chiyo gestritten.“

Es war eine reine Feststellung gewesen. Sie war schon immer die Beobachterin der Familie gewesen. Und deshalb stand sie auch gleichzeitig als Kummerkasten zur Verfügung. Der Ritualist nickte. Es konnte nicht sicher schaden, wenn er seiner Großmutter davon erzählte.

„Ich verstehe.“, sagte sie, nachdem er geendet hatte, „Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich dir so früh offenbart, da gebe ich dir Recht … aber hast du mal darüber nachgedacht, warum sie es getan hat?“

Er musste den Blick abwenden, als er antwortete: „Sie hat mir vorgeworfen, ich würde sie wie ein kleines Kind behandeln. Ich weiß nicht … ja, vielleicht habe ich wirklich nicht richtig wahrgenommen, wie reif sie geworden ist. Sie ist das eertvollste in meinem Leben! Ich will doch nur … ich will, dass sie glücklich ist. Ich möchte für sie da sein, sie beschützen …“

„Endlich warst du ehrlich …“, schluchzte Chiyo, die alles mitangehört hatte.

Überrascht starrte Ryukichi sie an. Wieder standen Tränen in ihren Augen, doch diesmal vor Freude und sie warf sich ihm in die Arme.
 

Zur selben Zeit diskutierte der Rest der Familie ein ganz anderes Thema.

„Glaubst du nicht, es wird langsam Zeit, ihm die Wahrheit zu sagen?“, fragte Shikon No Yosei.

Ryukii No Mai wanderte bereits seit mehreren Minuten durch das Zimmer. Sie hatte einfach keine Ahnung, wie sie es ihrem Sohn beibringen sollte, dass sein Vater Cantha regierte.

„Ich werde es ihm sagen!“, entschied Koichi, „Er muss es erfahren … und entscheiden, ob er mein Erbe eines Tages weiterführen will.“

„Ist das deine einzige Sorge?“, gab die Assassine hitzig zurück.

Ein melancholischer Ausdruck trat in sein Gesicht, als er erwiderte: „Keinem anderem Thronfolger wurde jemals die Wahl gewährt. Sonst hätte ich niemals nach der Krone gegriffen … nicht nachdem ich dich kennengelernt hatte. Aber Ryukichi soll frei wählen, ohne Zwang!“

„Was soll ich wählen?“, wollte besagter Ritualist wissen.

Ohne Vorwarnung standen er, Chiyo und Seiketsu No Akari plötzlich ebenfalls im Raum.

„Das Leben, welches du führen willst …“, antwortete sein Vater, wieder gefasst, „Aber zuvor … hör´ mir zu, mein Sohn … ich bin nicht die Art von Kämpfer, wie du denkst. Meine Schlachten lassen sich nicht mit Schwert oder Stab austragen … Ich bin der vierunddreißigste Kaiser von Cantha!“

Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Keiner der Anwesenden tat auch nur einen Atemzug, jeder blickte gespannt zu Ryukichi und wartete auf seine Reaktion.

Doch er lächelte und erklärte: „Ich weiß … Es ist schon einige Zeit her, da wollte ich unbedingt sehen, was für ein Leben mein Papa führt, wenn er nicht bei uns sein kann. Darum bin ich dir nach Kaineng gefolgt, Mama.“

„Warum hast du nichts gesagt?“, hauchte Ryukii No Mai wie erschlagen.

Er zögerte kurz, dann wandte er sich an Koichi: „Ich wollte es aus deinem Mund hören, wenn … wenn ich wirklich würdig wäre, dein Sohn zu sein und du es überhaupt in Betracht ziehen würdest, ich könne irgendwann deinen Platz einnehmen …“

Der Kaiser ging auf ihn zu, drückte ihn an sich und flüsterte: „Als ich in deinem Alter war, hätte ich mir nicht vorstellen können, ein Kind zu haben … Vor allem keines, auf das ich so stolz sein könnte, wie auf dich, Ryukichi! Es stimmt, wir sind keine Vorzeige-Familie … aber ich bin unglaublich froh, dich als Sohn haben zu dürfen!“
 

Das Leben ist nicht perfekt … aber es ist schön. Mit all seinen Höhen und Tiefen, Wendungen, Änderungen und unvorhersehbaren Ereignissen. Und es geht immer weiter – denn das Leben endet niemals!

So werden Ryukichi als neuer Kaiser und Chiyo, seine Frau und Beraterin, das Reich des Drachens auf ihre ganz eigene Art prägen … Nicht zu vergessen, dass Koichi ohne die Bürde der Krone endlich frei für seine einzige Liebe sein wird. Und natürlich gibt es auch noch Aufgaben für Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari, die geschworen haben, ihr Dasein für immer in den Dienst Cantha´s zu stellen. Die Unterstützung von Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo ist ihnen dabei ebenfalls gewiss – denn einmal Verteidiger, immer Verteidiger!

Erzählung 3: Das Schicksal einer Kaiserin

Lang lebe die Kaiserin!

In Cantha herrschte Frieden … Nachdem es jahrelang unter den Befallenen, grausamen Straßengilden sowie dem Zwist zwischen den Kurzick und Luxon gelitten hatte. Die grauenhaften Wesen, welche durch die Pest verwandelt wurden, waren von den ersten Generation der Verteidiger des Reichs vernichtet worden. Auch die Am Fah wurden von ihnen zerschlagen – ohne diesen Feind konnten die kaiserlichen Truppen die Jadebruderschaft ebenfalls ausheben. Und durch ihre zunächst nur kurzfristige Verbindung im Kampf gegen den Verräter Shiro Tagachi – und einem kleinen Führungswechsel – beendeten selbst die verfeindeten Fraktionen ihre sinnlose Auseinandersetzung dauerhaft. Nichtsdestotrotz blieb es ein harter Job, Kaiser zu sein … Koteiro Ryukichi, Sohn von Koichi und Ryukii, Enkel von Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo, saß als dreiunddreißigster Herrscher auf dem Thron des Reichs des Drachens, an der Seite seine Frau Chiyo Yumecho, Tochter von Yoso No Koshi und Toki No Kibo, Enkelin von Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari. Eine solche Familie voller Helden konnte eine Bürde sein … jedoch genauso ein Ziel. So gab es für die junge Prinzessin Amaterasu Aiko nur einen einzigen Ort auf ganz Tyria, an dem sie sich würde ausbilden lassen – im Kloster von Shing Jea. Schon als kleines Mädchen hatte Amaterasu Aiko den Wachen des Palastes beziehungsweise den Anwärtern bei ihrem Training zugeschaut, besonders wenn sie ihrer Mutter wieder einmal entfliehen wollte. Später dann hatte sie es sogar gewagt – voranging wenn ihre Eltern in irgendwelchen Staatsangelegenheiten unterwegs waren –, sich hinunterzuschleichen und die Waffen selbst einmal die Hand zu nehmen. Obwohl ihre Eltern und der Großteil ihrer Familie zu den Zauberwirkern gehörte, spürte Amaterasu Aiko in sich nicht das Gefühl der lebendigen Magie … Stattdessen faszinierte sie die unglaubliche Vegetation der Natur, wie etwa auf Shing Jea. Und als ihre Großmutter Toki No Kibo ihr einmal erzählte, dass es auch unzählige Pflanzen mit Heilwirkungen gab, las Amaterasu Aiko in der kaiserlichen Bibliothek etliche Bücher über die verschiedenen Wirkungsweisen. Und da sie gleichzeitig ein gutes Geschick im Zielen zeigte, fiel ihr die Wahl ihres Weges sichtlich leicht. Im ersten Moment sah sich das Kaiserpaar verwundert an, bevor sie lächelten, als sie ihre Tochter mit Pfeil und Bogen erblickten. Wie alle Eltern standen sie im Innenhof und verfolgten, die Neulinge bei ihrem Eintrittsritual – von ein paar Ausnahmen ahnte niemand, dass sich die Herrscher unter ihnen befanden … dies war Amaterasu Aiko´s ausdrücklicher Wunsch gewesen. Ihr ganzes Leben hatte bislang nur aus dem Beobachten anderer und Bücher lesen bestanden … Wie sollte sie regieren und Entscheidungen zum Wohl von Cantha treffen, wenn sie gar nicht wusste, wie es in der Welt außerhalb des Palastes zuging? Ein Problem, welches ihr Großvater Koteiro Koichi nur zu gut gekannt hatte – bei ihrem Treffen war Ryukii No Mai die erste Person, die ich zum Hofstaat gehörte, mit der er sprach, und von der er sich wünschte, mehr über die Welt außerhalb des Raisu-Palastes zu erfahren.

„Deine Großmutter war eine hervorragende Spurenleserin … das hatte sie von ihrem Vater. Wir sind stolz auf dich, hörst du?“, schwelgte Koteiro Ryukichi später stolz.

Amaterasu Aiko´s Griff um ihre Waffe verstärkte sich, ehe sie erzählte: „Hier im Kloster kann ich ein ganz normales Mädchen sein. Ich … bin noch nicht bereit, Kaiserin zu sein.“

Chiyo Yumecho wollte etwas erwidern, doch ihr Mann kam ihr zu vor: „Meine Mutter und mein Vater sind sich eigentlich nur ganz zufällig begegnet … oder auch nicht, wer weiß das schon. Für ihn war der Palast beinahe ein … Gefängnis, eine solche Erfahrung wollten wir dir ersparen. Aber vielleicht hättest du noch mehr Freiraum gebraucht – Chiyo und ich sind schließlich auf Shing Jea aufgewachsen. Das Blut der hiesigen Helden fließt durch deine Adern! Ich bin sicher, es wird dich leiten … Vertrau´ deinem Gespür, kleine Kirschblüte.“

„Danke, Papa.“, antwortete Amaterasu Aiko gerührt, „Mama … verstehst du mich denn auch?“

Die Ritualistin unterdrückte ein Lachen: „Ryukichi hat schon recht – ich wollte aus dir eine perfekte Prinzessin … basteln. Dabei war das vollkommen unnötig. Aus dir wird einmal eine großartige Kaiserin werden, da bin ich ganz sicher … nicht wegen irgendeinem Protokoll, sondern wegen dem, was in dir steckt. Du bist unsere Tochter und wir lieben dich, genauso wie du bist!“

Die angehende Waldläuferin fiel ihren Eltern in die Arme und sie umarmten einander ganz fest.
 

Die Großmeister und Toki No Kibo´s Nachfolger, der Leiter des Klosters von Shing Jea wussten natürlich, wen sie da unterrichteten – vor den Schülern jedoch wurde ihre Identität auch in den Jahren ihrer Ausbildung geheimgehalten. Doch einen Aspekt hatte Amaterasu Aiko bei der Äußerung ihres Wunsches nicht bedacht – zwar konnte sie ihnen gegenüber über schon sie selbst sein, allerdings ja wiederum trotzdem nicht vollkommen ehrlich … daher konnte sie genauso wenig jemanden wirklich an sich heranlassen. Eine Freundschaft, die auf einer Lüge aufgebaut wurde, konnte nicht bestand haben … Was sie dagegen sehr genoss, war die Zeit mit ihrer Familie – ihren Urgroßeltern Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari, ihren Großeltern Yoso No Koshi, Toki No Kibo, Ryukii No Mai und Koteiro Koichi. Letzterer war ja bekanntlich vor ihrem Vater der Kaiser von Cantha gewesen …

Bei ihm suchte sie Rat: „Opa … warum durfte es bislang in unserem Reich keine Kaiserin geben? Ich meine, was ist so falsch daran, kein Mann zu sein?“

Koteiro Koichi schwieg einige Zeit, bevor er antwortete: „Warum wurden Generationen von Thronfolgern vor ihrer Krönung vor der Welt versteckt? Es tut mir leid, kleine Kirschblüte – ich weiß nicht aus welchen Gründen diese für uns so sinnlos erscheinenden Traditionen ins Leben gerufen worden sind. Andererseits hätte Shiro Tagachi geahnt, dass es mich gibt … hätte er es vielleicht ebenso sehr auf mein Leben abgesehen. Oder hätte Shiko´s Vater verschont … Irgendwann hielt irgendjemand diese Dinge richtig, für unser Land.“

Diese Antwort konnte Amaterasu Aiko sogar in gewissem Maße sogar nachvollziehen … Aber die Zeiten veränderten sich doch, oder nicht? Koteiro Ryukichi hatte sie nicht irgendwo eingesperrt … natürlich, es war ihr ebenfalls nicht gestattet gewesen, allein durch Kaineng zu wandern.

„Niemand kann die Erwartungen von allen erfüllen … Was ist mit dir? Wünschst du dir nicht auch etwas – vom Volk respektiert zu werden zum Beispiel?“, meldete sich auf einmal Shikon No Yosei zu Wort, die gerade eintrat, „Es geht nicht darum, was andere in dir sehen … du selbst musst entscheiden, wer du sein willst.“

Die angehende Waldläuferin umarmte die Älteste Shing Jea´s. Zu ihr hatte sie besondere Verbindung … Während bei ihren Eltern beispielsweise nur das braune Haar von Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari durch gekommen war, hatte Amaterasu Aiko wieder ihr Rot geerbt, was beide sehr stolz machte.

„Man hat immer die Wahl … und Respekt erwächst nur aus Taten. Habe ich dir schon mal vom Volk der Norn in den Fernen Zittergipfeln erzählt?“, fuhr die ehemalige Elementarmagierin fort.

Amaterasu Aiko liebte die Geschichten ihrer Familie, die Erzählungen ihrer Heldentaten … Drachen, Götter, fremde Wesen und einzigartige Orte, gefährliche und fantastische Abenteuer – sie schienen alles erlebt zu haben. Die Norn kannte sie bereits, weil sie schon vom Großen Zerstörer gehört hatte. Dennoch wollte die Rothaarige wissen, warum ihre Urgroßmutter gerade jetzt von ihnen sprach.

„Die Norn sind … Krieger. Und damit meine ich nicht die Klasse – für sie liegt Ehre im Kampf. Ihr Stolz geht ihnen über alles – egal ob Mann oder Frau. Sie glauben, sich den Geistern der Wildnis und ihren Ahnen als würdig erweisen zu müssen. Stärke bedeutet weit mehr, als nur körperliche Kraft oder magische Energie.“, berichtete sie in Gedanken bei ihrer Freundin Jora.

Wie lange hatte sich die Norn allein gequält, ehe sie Hilfe angenommen hatte? Und dann auch nur auf Geheiß der Großen Bärin … Die Schmach ihres Bruder hatte auf ihr gelastet – nur das Blut ihrer Feinde wusch ihr eigenes wieder rein, stellte den Namen ihrer Sippe wieder her. Die Norn mussten ihre Charakterstärke unter Beweis stellen … Dasselbe stand Amaterasu Aiko bevor, wenn sie als Kaiserin akzeptiert werden wollte – vielleicht, wahrscheinlich noch mehr als ein Sohn. Doch der Grundgedanke stimmte schon … Eigentlich war es vollkommen egal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte – einzig die Taten zählten. Mit diesem Elan setzte Aiko ihre Ausbildung fort und verdiente sich das Ansehen des Klosters.
 

Als vollwertige Waldläuferin, die ihre Klassenbefähigung samt Auszeichnung in Händen hielt, hatte sich eines jedoch immer noch nicht geändert – Amaterasu Aiko fürchtete sich davor, den Thron zu besteigen … aus Angst die an sie gerichteten Erwartungen nicht erfüllen zu können. Daher suchte sie erneut die Weisheit ihrer Urgroßmutter Shikon No Yosei.

„Mit dem Ende deiner Ausbildung hast du erst den ersten Schritt gemacht.“, meinte sie sanft, „Und glaube mir, ich hätte mir danach auch mehr Zeit gewünscht, um … mich auf meine Rolle vorzubereiten.“

Amaterasu Aiko nickte, hakte jedoch nach: „Trotzdem hast du dich deiner Aufgabe gestellt … Wie hast du das geschafft?“

„Mit gerade einmal fünfzehn Jahren dem Kloster entwachsen gewesen und schon war meine ganze Welt in Gefahr – tatsächlich gibt es auf deine Frage eine simple Antwort … Ich war niemals allein. Mein Meister … mein Vater war bei mir und kurz darauf bin ich ja deinem Urgroßvater begegnet. Er hat mir die notwendige Kraft gegeben und mich wieder aufgerichtet, wenn ich gezweifelt habe.“, antwortete Shikon No Yosei und schloss träumerisch die Augen beim Gedanken daran.

Gerührt, dennoch frustriert entgegnete ihre Urenkelin: „Aber ich werde allein auf dem Thron sitzen!“

„Physisch, ja. Das bedeutet allerdings nicht, dass du alleine sein wirst – Aiko, du brauchst Leute um dich, denen du vollkommen vertraust … die ehrlich zu dir sind, obwohl du der nächste Regent bist. Nichts auf der Welt ist wichtiger, als Menschen um sich zu haben, die einen um seiner selbst willen achten.“, erklärte die ehemalige Elementarmagierin, während sie einen kleinen, silbernen Gegenstand aus der Tasche zog, „Wie gesagt, du befindest dich noch ganz am Anfang und musst deinen Weg erst noch finden … Dieses tragbare Portal kann dir vielleicht dabei helfen – es bringt dich an jeden Ort, dessen Namen du aussprichst … Mein Rat wäre, geh´ in die Bjora-Sümpfe zu Svanja Eystinsdottir. Sie ist die Tochter meiner Gefährtin Jora und ich bin sicher, du kannst einiges von ihrem Volk lernen.“

Zunächst konnte die Waldläuferin ihre Urgroßmutter nur wortlos anstarren, dann fiel sie ihr um den Hals. Insgeheim hatte sich Amaterasu Aiko gewünscht, die Norn kennenzulernen, seit sie ihr zu Beginn ihrer Ausbildung von ihnen erzählt hatte. Nur wie hätte sie zu ihnen gelangen sollen? Eine Schiffsreise nach Löwenstein wäre ja noch gut vonstatten gegangen, vielleicht sogar noch bis zur Grenze der Nördlichen Zittergipfel. Doch ohne Führer hätte sich die junge Thronanwärterin niemals durch die eisige Tundra schlagen können und wäre darüber hinaus noch vor allem an ihrem Zielort angekommen. Dieses Geschenk dagegen änderte alles – man hätte diesen Stab zwar für ein einfaches Stück Metall halten können … nichts außergewöhnliches, vielleicht ein nicht verwendeter Dolchgriff oder etwas vergleichbares; jedoch weit gefehlt … In ganz Tyria gab es kaum etwas vergleichbareres – ein tragbares Portal, entwickelt von von einem grandiosen Asura namens Vekk, einem weiteren Verbündeten ihrer Urgroßeltern und seine Anerkennung an Shikon No Yosei für ihre außergewöhnliche Freundschaft. Jahrelang wurde es sicher von ihr verwahrt – nun hatte sie es an Amaterasu Aiko weitergegeben.

Bevor sie sich bedanken konnte, fügte die Älteste noch hinzu: „Mach´ dir wegen Ryukichi und Chiyo keine Gedanken – Ryukii hat bereits mit ihnen gesprochen. Jeder muss sich irgendwann aufmachen in die große, weite Welt … Eltern müssen nur lernen, dass das auch für ihre Kind gilt.“

Und es zeigte tatsächlich Wirkung, dass die Assassine ihrem Sohn ins Gedächtnis rief, dass sie sich nur als Schattendiener in den künftigen Kaiser hatte verlieben können … weil sie Shing Jea verlassen hatte, um eigene Erfahrungen zu sammeln. Ebenso wie die Eltern seiner Frau. Außerdem wurde Amaterasu Aiko ja auch nicht zu irgendwelchen Fremden geschickt oder gar in die Wildnis – die Fernen Zittergipfel mochten zwar kein entspannter Urlaubsort sein, aber ohne Zerstörer würde sie sich mit ihren klassengegebenen Fähigkeiten schon zu helfen wissen.
 

Schnee – wohin sie auch sah lag über allem eine weiße Decke. Ein Anblick, der ihr als gebürtige Canthanerin noch nicht untergekommen war. Falls es im Reich des Drachens überhaupt schneite, waren es nur wenige Flocken. Amaterasu Aiko richtete ihren Umhang, ehe sie an der Holzhütte klopfte, vor der sie gelandet war. Noch immer konnte ein Teil von ihr es nicht fassen, wirklich hier zu sein … Ihre Mutter hatte sich bemüht, dennoch waren einige Tränen über ihre Augenränder getreten. Etwas beherrschter war ihr Vater gewesen – er hatte sie angelächelt und ihr versichert, dass aus ihr einmal eine wundervolle Kaiserin werden würde. Die Tür wurde geöffnet, was sie zurück in die Gegenwart riss – vor ihr stand eine Frau mit langem, blonden Haar, die fast doppelt so groß war, wie Amaterasu Aiko selbst.

„Seid gegrüßt, Svenja Eystinsdottir. Ich bin Amaterasu Aiko. Habt vielen Dank, dass ich bei Euch unterkommen und von euch lernen darf.“, sagte die Rothaarige mit einer leichten Verbeugung.

Als kleines Mädchen hatte man ihr beibringen sollen, dass eine Hoheit oder Majestät sich nicht vor anderen zu verneigen hätte … daran gehalten hatte sie sich jedoch nie – wenn jemand ihren Respekt verdiente, wollte sie diesen auch bekunden!

Die Norn musterte sie eindringlich und wartete, bis die Waldläuferin sie wieder ansah, ehe sie deren rechten Unterarm zum Kriegergruß ergriff und sagte: „Unsere Vorfahren waren Freunde – wir werden diese Tradition weiterführen. Sei willkommen in meiner Heimstatt!“

Glücklich trat Amaterasu Aiko ein und schaute sich um. Ein großer Wohnbereich mit einem prasselnden Feuer, das gleichsam als Kochstelle diente, fiel ihr zuerst auf – es wirkte gemütlich mit den vielen Fellen. An den Wänden hingen Kohlezeichnungen.

Ihrem Blick folgend erklärte Svanja: „Die hat alle mein Sohn Joras gezeichnet. Er ist gerade noch unterwegs.“

Die beiden setzten sich an das Feuer und unterhielten sich; Svanja plante sie zusammen mit ihrem Sohn nach Nornweise zu trainieren – um ihr Selbstbewusstsein weiter zu stärken. Irgendwann ging die Tür erneut auf – ein junger Mann, ebenfalls blond, mit leichten Bartstoppeln trat ein. Im ersten Moment verwunderte ihn Amaterasu Aiko´s Anwesenheit, dann fiel ihm ein, was die Unbekannte hier zu suchen hatte …

„Willst du unseren Gast nicht begrüßen?“, brummte Svanja verärgert.

Joras zog die Schultern und entgegnete: „Das hast du sicher schon zu Genüge getan. Sie weiß sicher auch bereits meinen Namen. Also, was sollte ich da noch hinzufügen?“

Der Norn wartete eine mögliche Antwort seiner Mutter nicht ab, sondern begab sich durch den Flur in sein Zimmer. Sie seufzte resigniert – seit sein Vater sie verlassen hatte, hörte er einfach noch weniger auf ihre Worte …

„Er ist ein Hitzkopf …“, meinte die Blonde entschuldigend, „Er glaubt, er müsse sich gegen alles und jeden beweisen. Das ist ein Teil jedes Norn, aber … er leidet, weil er sich zu sehr mit anderen vergleicht – statt zu akzeptieren, was ihm gegeben ist, zermürbt ihn der Wunsch, anders sein zu wollen.“

Amaterasu Aiko schloss für einen Moment die Augen, ehe sie erwiderte: „Das verstehe ich wirklich sehr gut … Ich werde die erste weibliche Kaiserin in der Geschichte Cantha´s sein – als männlicher Nachkomme wäre vieles wohl leichter gewesen … Meine Urgroßmutter hat mich immer bestärkt, stolz darauf zu sein, was und besonders wer ich bin.“

„Meine Mutter hat oft von ihr gesprochen … als einzige menschliche Norn, die ihr je begegnet wäre. Andererseits verstand sie ebenso die Denkweise der Asura, Zwerge und selbst Charr.“, erzählte Svanja voller Bewunderung.

Keine von beiden hatte bemerkt, dass Joras sie bis zu diesem Zeitpunkt belauschte. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Ja, manches wäre sicher leichter, wenn man so sein könnte, wie man es sich wünschte … Zu oft war er dem Spott seiner Gleichaltrigen ausgesetzt, weil seine Körpergröße etwas unterdurchschnittlich war. Machte ihn das automatisch zu seinem schlechten Jäger, einem schwächlichen Norn? Es hatte ihm absolut nicht gepasst, einen Menschen bei sich aufzunehmen – nicht weil er selbst etwas gegen ihre Rasse oder gar gegen Amaterasu Aiko persönlich etwas hatte, sondern weil er den anderen nicht noch mehr Anlass geben wollte über ihn zu lachen … Nun saß in seinem Heim allerdings ein Mädchen, das denselben Schmerz kannte …
 

„Im Schießen muss ich dich jedenfalls nicht mehr trainieren … Du bist sehr gut ausgebildet. Aber was ist mit dem Überleben in der Wildnis? Wenn es nicht nur um dein eigenes Leben geht – wenn die Jäger nicht mit Beute zurückkehren, muss ihre Heimstatt Hunger leiden … Eine falsche oder fahrlässige Entscheidung kann weite Kreise ziehen.“, meinte Svanja ernst.

Selbiges galt für die Entscheidung eines Herrschers … bei einem Fehler musste das Volk leiden – daher wollte Amaterasu Aiko wissen: „Wie vermeidet ihr das?“

„Wir jagen im Rudel. Erfahrenere Jäger geben ihr Wissen an die nächste Generation weiter.“, antwortete die Norn und schoss ebenfalls einen Pfeil punktgenau ins Ziel, „Natürlich stellen wir uns besonderen Gegnern allein – wenn es um die Ehre geht. Aber keiner von uns käme jemals auf die Idee, das Überleben seiner Sippe leichtfertig zu riskieren.“

Auf ihre Situation bezogen bedeutete dies also – genau, wie Shikon No Yosei ihr geraten hatte – sie brauchte Berater mit speziellen Fachgebieten an ihrer Seite, denen sie vertraute … keine pathetischen Minister, die ihr eigenes Süppchen kochten und zuallererst an ihren eigenen Profit dachten. Ihr Großvater und ihr Vater hatten schon einiges im Himmelsministerium umgekrempelt – sie würde noch weiter gehen.

Entsprechend dieses Gesprächs war es Joras´ und Amaterasu Aiko´s nächste Aufgabe, auf Beutezug zu gehen – nichts großes und trotz Svanja´s Worte jeder für sich, um zu testen, wie beide auf sich allein gestellt klar kamen. In den letzten Wochen hatte keiner der anderen Jäger von irgendwelchen Wurmsichtungen oder sonst einer wirklichen Gefahr gesprochen, da konnte sie diese Entscheidung guten Gewissens verantworten. Joras und Amaterasu Aiko wandten sich in unterschiedliche Richtungen. Da es sie gleichzeitig verstärkt nach Spuren Ausschau halten musste, hatte sie sich für einen kürzeren Bogen mit kleinerer Reichweite entschieden und trug ein Jagdmesser am Gürtel. In dieser Gegend trugen die meisten Tiere ein weißes Fell für optimale Tarnung. Svanja hatte ihr geraten, besonders unter Bäumen oder Büschen nach kahl gefressen Stellen zu suchen. Amaterasu Aiko wurde recht schnell fündig, im feinen Schnee entdeckte sie sogar die passenden Pfotenabdrücke. Eine Gruppe von Wildkaninchen musste hier gewesen sein … Eilig folgte sie ihnen und gelangte direkt zu einem Hügel mit ihrem Bau. Auf diesen kletterte die Waldläuferin und stampfte mehrfach fest auf, was die Langohren herausscheuchte. Auf diese Art erlegte Amaterasu Aiko insgesamt sechs Kaninchen, anschließend schoss sie noch zwei große Wühlmäuse. Zufrieden machte sich die Rothaarige auf den Rückweg. Ein eigenartiger Laut ließ sie innehalten – er war nicht direkt bedrohlich gewesen … sondern eher schmerzerfüllt und eindeutig von einem Tier. Sie machte sich auf die Suche nach dem Ursprung. Vor einer Höhle blieb sie stehen. Noch einmal erklang das gequälte Knurren. Mit dem Bogen über der Schulter und dem Messer in der Hand ging Amaterasu Aiko hinein. Dort entdeckte sie einen verletzten, schwarzen Wolf. Für gewöhnlich lag sein Jagdgebiet weiter östlich, wo die Tundra einer grünen Landschaft wich – wahrscheinlich war er von seinem Rudel verstoßen oder getrennt worden und bei seinen hiesigen, weißen Verwandten nicht gut angekommen.

Amaterasu Aiko ging in die Hocke und flüsterte: „Es wird alles wieder gut, hörst du? Ich will dir helfen …“

Der Wolf hob die Lider und blickte sie aus rubinroten Augen an. Sie holte hörbar Luft. In ihnen lag unheimliche Intelligenz und Wärme … Vorsichtig kam sie näher, während sie eine Salbe und Verbandsmaterial aus der Tasche nahm. Um ihn von den Schmerzen abzulenken, legte sie ihm die Wühlmäuse und zwei Kaninchen zum Fressen hin, über die er sich sofort hermachte. Und Amaterasu Aiko machte sich ans Werk. Die Bisse waren nicht bis zu den Knochen durchgedrungen, doch ihre Vielzahl hatte ihn so geschwächt, dass er nicht mehr jagen konnte …

„Jetzt wird es dir bald besser gehen. Ich komme morgen wieder und bringe dir etwas zu fressen – ruh´ dich bis dahin aus.“, erklärte Amaterasu Aiko in dem festen Glauben, er würde jedes Wort verstehen.

So kehrte sie zu Jora´s Heimstatt zurück. Svanja und wenig überraschend Joras erwarteten sie bereits.

Letzterer zeigte triumphierend auf seine eigene Beute – einen Bison –, kaum dass er die vier verbliebenen Wildkaninchen sah und rief: „Ich wusste, ich würde gewinnen!“

Da traf ihn die Hand seiner Mutter im Gesicht, dass er taumelte, und sie blaffte: „Du bist vor allem ein Narr! Dein ganzes Leben lang bist du hier im Gelände unterwegs und findest dich daher natürlich besser zurecht – Aiko dagegen ist erst wenige Wochen bei uns und war dennoch erfolgreich … Die wichtigste Lektion hast du noch immer nicht gelernt. Es stimmt, ein Norn ist stark und stolz, wir kämpfen allein – aber nie nur für sich allein. Wir helfen einander, sonst würden selbst wir in dieser Gegend nicht überleben! Fang' endlich an Verantwortung zu tragen!“

Er starrte sie an, konnte ihr jedoch nicht widersprechen. Das Leben in den Fernen Zittergipfeln war kein Spiel … Bislang hatte er alles seiner Mutter überlassen – natürlich hatte er bereits mehrfach gejagt, allerdings nur zum Zeitvertreib. Sein Blick fiel auf Amaterasu Aiko, die ihn unverwandt ansah – es lag kein Mitleid darin … das hätte ihn fertiggemacht, auch kein Ärger … nur Verständnis. Klar, Svanja hatte ihr ja alles erzählt. Ohne eine Antwort verließ er die Hütte.
 

Beinahe zwei ganze Wochen vergingen, ehe sich Joras wieder blicken ließ. Tage, die Amaterasu Aiko damit verbrachte, den verwundeten Wolf zu versorgen. Täglich brachte sie ihm frisches Fleisch und täglich ging es ihm besser. An dem Tag, an dem Joras zurückkehren sollte, nahm die Waldläuferin die Verbände endgültig ab – der Rest würde ohne sie verheilen.

„Von nun an kommst du wieder ohne mich zurecht.“, erklärte sie ihm mit einer Spur Traurigkeit in der Stimme, „Pass´ gut auf dich auf und geh´ den Norn aus dem Weg!“

Amaterasu Aiko hatte den Höhleneingang noch nicht erreicht, da stupste der Wolf ihre Hand mit seiner Schnauze an. Als sich ihre Blicke daraufhin treffen, scheinen sich ihre Seele miteinander zu verbinden …

Gerührt davon, dass er sie als Alphatier gewählt hatte, streichelte Amaterasu Aiko ihn zwischen den Ohren und sagte: „Es freut mich, dich kennenzulernen, Susanoo.“

Zur Bestätigung heulte Susanoo auf, was sie zum Lachen brachte. Ebenfalls zum Lachen zumute war Svanja, als die beiden bei der Heimstatt ankamen.

„Der Wolfsgeist erfüllt dich, Aiko – sein Segen hat euch zusammen geführt.“, sprach sie und kniete vor Susanoo nieder.

Ein weiterer Neuankömmling trat zu ihnen und meinte mit hochgezogenen Augenbrauen: „Kaum drei Monde in den Fernen Zittergipfeln und schon fast eine echte Norn!“

„Joras!“, riefen die beiden Frauen wie aus einem Mund.

Joras ging zu seiner Mutter, reichte ihr die Hand und sie erhob sich. Stumm tauschten sie sich aus, schließlich schüttelte Svanja den Kopf und umarmte ihren Sohn. Anschließend zog sie sich in die Hütte zurück.

Vorsichtig fragte Amaterasu Aiko: „Wo … warst du die ganze Zeit?“

„Bei meinem Onkel in Gunnar´s Feste. Unter anderem deswegen …“, antwortete der Blonde und überreichte ihr ein verschnürtes Päckchen.

Darin befand sich eine Waldläufer-Rüstung aus weißem Wildleder und schwarzem Fellbesatz, verziert mit Ornamenten und Runen der Norn.

„Der Sommer ist vorbei. Von nun an wird es kälter – Segen hin oder her, dein Körper würde zu Grunde gehen.“, brummte er, um seine Verlegenheit zu überspielen, „Trage sie mit Stolz – die verwendeten Materialien stammen alle von Tieren, die ich selbst erlegt habe.“

Vollkommen überwältigt blinzelte sie einige Mal, bevor die Rothaarige euphorisch entgegnete: „Oh, ich danke dir, Joras, diese Rüstung ist fantastisch! Es ist mir eine sehr große Ehre!“

Seine Wangen brannten, jedoch nicht vor Kälte …
 

Ein Jahr verging, indem der Mond zwölf Zyklen absolvierte … eigentlich ein langer Zeitraum – allerdings nicht, wenn man diesen in einem fremden Land verbrachte, um neues zu lernen und zu sich selbst zu finden. So kam der Tag von Amaterasu Aiko´s Abschied von den Fernen Zittergipfeln, Svanja und Joras … Etwas, das ihr sehr schwer fiel. Genauso wie den beiden Norn.

Vor der Hütte hatte sie sich alle versammelt – Amaterasu Aiko berührte den Jadestein auf ihrer Stirn, das Symbol ihrer hohen Geburt und sagte: „Ich danke euch von Herzen – ich habe es endlich verstanden. Es geht nicht darum, mich zu beweisen, weil ich als Mädchen geboren wurde … ich muss mich um meiner selbst beweisen. Vielen, vielen Dank!“

„Du bist in unserer Heimstatt jederzeit willkommen, meine Schwester.“, entgegnete Svanja und statt einer typischen Verabschiedung umarmte sie die Waldläuferin, die daraufhin eine Träne verdrückte, „Und du passt gut auf sie auf, ja, Susanoo?“

Ein zustimmendes Heulen kam von ihn. Inzwischen ahnte Amaterasu Aiko, dass ihre Urgroßmutter eben auf einen solchen Ausgang gehofft hatte. Svanja sah die Welt auf eigene Weise – einerseits so wie alle Norn und andererseits wie es eben nur »Svanja Eystinsdottir« konnte … einzig von ihr hatte sie diese Lektion lernen können – egal ob Kaiser oder Kaiserin … es ging nur um den Menschen. Hinzu kam ihre beinahe schicksalhafte Begegnung mit Susanoo – Tier oder nicht, nie mehr würde sie sich einsam fühlen müssen. Ein Gefühl, vor dem sie sich bislang immer am meisten gefürchtet hatte … Apropos Gefühle – Joras sah betreten zu Boden. Wie nach seiner Rückkehr ließ Svanja die beiden allein, nachdem sie Amaterasu Aiko noch einmal angelächelt und den Wolf gekrault hatte.

„Ich werde unsere Wettstreite vermissen.“, meinte sie scherzend.

Er gluckste und bestätigte: „Du konntest es mit einem Norn aufnehmen – da schaffst du alles!“

Da beugte er sich plötzlich zu ihr herunter und küsste sie … und sie erwiderte seinen Kuss.

„Das musste ich tun … einmal wenigstens.“, hauchte er nahe ihren Lippen, ehe er diese erneut mit seinen berührte.

Kurz wünschte sich Amaterasu Aiko alles könnte anders sein – sie würde nicht Kaiserin werden, er wäre nicht als Norn geboren worden … aber dann hätte sie wohl nicht so für ihn empfunden. Und dennoch gab es für sie keine Zukunft, das wussten beide … Sie verharrte noch einen Moment länger in seinen Armen, dann trat die Rothaarige von ihm zurück. Selbst dass sie ihn jetzt verlassen musste, würde eines nicht mehr ändern, sich nie mehr ändern – Joras hatte sie einen Mensch als gleichwertig anerkannt! Ohne ein bewusstes Kommando rannte Susanoo an die Seite seiner Herrin und sie legte eine Hand auf seinen Rücken.

„Danke … Leb´ wohl!“, flüsterte Amaterasu Aiko gerührt, während sie den silbernen Stab aus der Tasche zog, der sie zu ihm gebracht hatte, „Stadt Kaineng.“

Ein Sog erfasste beide, ihnen wurde schwarz vor Augen. Nur Sekunden später drang bereits der lebhafte Trubel an ihre Ohren und sie standen am Springbrunnen inmitten des Handelsviertels der Hauptstadt. Es war merkwürdig in diese vollkommen andere Welt zurückzukehren – früher war ihr Kaineng sicher nicht zu eng vorgekommen. Klar, die Stadt war stets recht besiedelt und die Gebäudekomplexe ragten teilweise übereinander, aber das war der Charme der Hauptstadt. Nun dagegen sehnte sich Amaterasu Aiko sofort wieder nach der weiten, schneebedeckten Landschaft … unwillkürlich musste sie lächeln. Joras würde garantiert die Augenbrauen hochziehen und die Stirn kräuseln, würde sie ihm davon erzählen können. Dabei konnte sie ihm nicht einmal wirklich einen Brief schicken … Eine Welle von Melancholie überrollte die Waldläuferin. Da schubste sie Susanoo mit der Schnauze an und sie kraulte seine Ohren.

„Ja, das hier ist mein wahres Zuhause. Ich bin die Tochter des Kaisers … seine Nachfolgerin. Und ich bin glücklich, dass du mir zur Seite stehst!“, meinte sie ernst.

Seine rubinroten Augen funkelten, als ahnte er, was an anderer Stelle der Stadt vor sich ging … denn Koteiro Ryukichi saß mit seinen Ministern zusammen, die wild auf ihn einredeten. Sein Vater hatte bereits begonnen, Ordnung in die korrupten Ministerien zu bringen – er selbst hatte die vier Ministerien vollständig aufgelöst und neue Positionen geschaffen.

Einer der Berater erhob sich, was die anderen verstummen ließ, und sagte ernst: „Bislang war Prinzessin Aiko der einzig mögliche Thronfolger … daher hätten wir uns irgendwie damit abgefunden. Doch nun habt Ihr, Eure Majestät, einen männlichen Nachkommen!“

Während Amaterasu Aiko nämlich ein Jahr unter Norn gelebt hatte, war ihre Mutter überraschenderweise erneut in freudiger Erwartung gewesen … und diesmal hatte sie einem kleinen Prinzen das Leben geschenkt. Ein männlicher Nachkomme, dessen Existenz nun Amaterasu Aiko´s kompletten Anspruch auf die Erbfolge in Frage stellte …

Der Ritualist allerdings wurde darüber äußerst ungehalten: „Meine Tochter wird Kaiserin werden … Mein Vater, Kaiser Koichi empfand, mich als würdig, ihm nachzufolgen. Und ich sehe Aiko als nächste Herrscherin.“

„Das entspricht einfach nicht den Traditionen!“, begehrte ein anderer auf, „Sie ist eine Frau und-“

Endgültig vom Zorn gepackt, schlug Koteiro Ryukichi die flachen Hände auf den Tisch und blaffte regelrecht: „Ich möchte die Herren Minister höflichst daran erinnern, dass alle Bewohner Cantha´s es explizit einer Frau zu verdanken haben, überhaupt noch am Leben zu sein – unter Shiro Tagachi wäre unser Reich vernichtet worden! Für gewöhnlich bin ich dankbar für Ihrer aller Rat … doch dies ist ein Kaisertum und hier herrscht einzig meine Befehlsgewalt! Ich habe bei meiner Krönung geschworen, stets zum Wohl von Cantha zu handeln – und damit werde ich heute sicherlich nicht aufhören!“
 

Im Palast erwarteten Amaterasu Aiko demnach zwei schockierende Nachrichten – wobei die vollkommene Freude über ihren kleinen Bruder Tsukuyomi Toya alles andere in den Schatten stellte. Vom ersten Augenblick an liebte sie ihn von ganzem Herzen.

„Du wirst stolz auf deine große Schwester sein, das verspreche ich dir … Ich werde nicht klein beigeben.“, flüsterte sie, während er in ihren Armen schlief, „Aber dafür muss ich erneut fort … Es gibt nur ein einziges Wesen, das mir meine Frage beantworten kann.“

Ihr Vater war lautlos eingetreten und sagte verständnisvoll: „Ich bin glücklich … zu was für einer selbstbewussten, jungen Frau du herangewachsen bist. Sorge dich nicht – wenn ich meine Krone übergebe, dann nur an dich, kleine Kirschblüte.“

Dankbar umarmte sie Koteiro Ryukichi, wobei sie ihm vorsichtig Tsukuyomi Toya übergab.

„Ich lasse Susanoo bei euch. Er wird Toya beschützen.“, erklärte Amaterasu Aiko und hauchten beiden jeweils einen Kuss auf die Wange.

Einst hatten sich ihre Großeltern auf den Weg an jenen Ort gemacht … sich dafür einmal komplett durch den ganzen Echowald geschlagen, bis zur südlichsten Spitze des Jademeeres … Die Waldläuferin dagegen brauchte natürlich nur wenige Sekunden, in denen sie das tragbare Portal an den Fuß des Erntetempels in den Verschlafenen Gewässern brachte. Dies war einst ein hochheiliger Ort gewesen … Jedes Jahr hatte der amtierende Kaiser mit seinem Gefolge zu den Geistern der Nebeln gebetet, um für eine erfolgreiche Ernte zu bitten. Vor knapp dreihundert Jahren fand diese Tradition ein Ende … am Tag des »Jadewindes«, der das Antlitz Cantha´s für immer verändert hatte. Ihr Atem ging schneller, während sie die Stufen erklomm.

Im Herzstück des Tempels angekommen, kniete Amaterasu Aiko nieder und sprach ehrfürchtig: „Oh, weise Drachin … ich ersuche Euch um Rat. Wie kann ich all jene von mir überzeugen, die gegen mich als Kaiserin sind?“

Kuunavang sah prüfend auf sie herab, bevor sie entgegnete: „Ich wusste, Ihr würdet eines Tages mit dieser Frage zu mir kommen … Um einen Weg in die Zukunft zu finden, muss man sich erst mit der Vergangenheit auseinander setzen – Euren Urgroßeltern gelang es, Shiro Tagachi aufzuhalten und Eure Großeltern vernichteten ihn endgültig. Doch noch immer bleibt die Frage offen, warum all dies geschehen musste … Niemand außer Shiro Tagachi selbst weiß, weshalb der kaiserliche Leibwächter – des Kaisers getreuester Diener – sich gegen seinen Herrn wandte … Wollte er die bislang ununterbrochene kaiserliche Thronfolge durchtrennen und sich selbst zum Kaiser krönen? Wollte er sich dafür rächen, nicht in die Hauptfamilie geboren worden zu sein? Wollte er womöglich eine Art der Macht an sich reißen, die Historiker nicht mehr nachvollziehen können? Oder hatte es gar einen völlig anderen Grund? Hört mir zu, Amaterasu Aiko, Tochter des Koteiro Ryukichi, Nachfahrin der lebenden Legende Shikon No Yosei … in Euch fließt dasselbe Blut, wie in seinen Adern – deshalb kann ich Euch in jene Zeit zurückzuschicken, damit Ihr die Geschehnisse mit eigenen Augen erblicken könnt. Und vielleicht findet Ihr so auch die Antwort, nach der Ihr sucht … Doch seid gewarnt – Shiro Tagachi selbst darf Euch unter keinen Umständen sehen!“

Cantha hatte sich diesem Versprechen nie ganz erholt … das Reich verdiente zumindest die Wahrheit – daher erhob sie sich entschlossen und antwortete: „Ich werde alles dafür tun, um mein Versprechen an Toya zu halten!“

„Nun denn … Shiro Tagachi wuchs ursprünglich in ärmlich in den Gassen Kaineng´s auf, weil seine Blutlinie jedoch bis zu einer der Konkubinen des ersten Kaisers Kaineng Tah zurückreichten, gestatte man ihm eine Ausbildung im Kloster von Shing Jea. Nachdem er seine Assassinen-Befähigung in Händen hielt, schloss er sich der kaiserlichen Garde an und machte sich unter ihnen einen Namen, woraufhin er zum Leibwächter des sechsundzwanzigsten Herrschers von Cantha, Kaiser Angsiyan befördert wurde. Bis zu jenem schicksalhaften Tag galt er als loyal dem Kaiserreich gegenüber … Wandelt nun auf seinen Spuren und lasst Euch nicht vom Zorn blenden.“, erklärte Kuunavang und schlug mit ihren Flügeln, woraufhin sich ein magischer Kreis um Amaterasu Aiko bildete.

Sie fiel, gar minutenlang. Schließlich prallte sie auf dem kalten Boden auf. Ihre Finger streiften über den Untergrund, der ihr seltsam vertraut vorkam – sie war in einer kleinen Gasse der Hauptstadt gelandet! Sofort schossen ihr die Worte von Kuunavang in den Kopf – sie sprang auf die Füße, drückte sich gegen die Hauswand und verbarg ihr Gesicht hinter einer Maske. Nur wenige Wimpernschläge später passierte eine hochgewachsene Gestalt die Stelle, an der sich die Waldläuferin verbarg – als Assassine wäre es ihr wahrscheinlich noch besser gelungen, doch zum Glück gehörte Tarnung auch zur Ausbildung ihrer Klasse. Und der junge Shiro Tagachi, dessen Gesicht noch nicht von Narben überzogen war, schien von irgendetwas abgelenkt zu sein … Er sah sich mehrfach um, beobachtete die Bewohner bei ihrer Arbeit. Es lag eine gewisse Melancholie in seinem Blick ... Er griff in seine Tasche, holte einige Goldmünzen heraus und warf sie den Kindern zu, die sich regelrecht darauf stürzten – alle, bis auf ein Mädchen.

„Wie lautet dein Name, Kleine?“, wollte der Assassine von ihr wissen.

Ihre Augen wirkten kalt für ein Kind, genauso wie ihre Stimme: „Vizu.“

Verblüfft horchte Amaterasu Aiko auf. Laut der Legende war sie es gewesen, die es dem Kurzick Viktor und dem Luxon Archemorus ermöglicht hatte, den Verräter zur Strecke zu bringen …

„Ich bin Shiro Tagachi. Sage mir, Vizu … möchtest du mit mir kommen und von mir das kämpfen lernen?“, gab er unverwandt zurück.

Vizu wunderte sich über dieses Angebot nicht weniger, als die versteckte Prinzessin.

„Mir hat einmal eine Wahrsagerin prophezeit, ich würde irgendwann einem Kind begegnen, das mein Schicksal bestimmen würde …“, erklärte er freundlicher und reichte ihr eine Hand, „Und dass ich dieses Kind erkennen würde, sobald es mir begegnen würde. Ich bin wohl endlich fündig geworden.“

Wenn irgendetwas so überhaupt nicht in das Profil von »Shiro Tagachi, dem Verräter« passte, war es genau diese Situation – er nahm ein Kind von der Straße bei sich auf … nur wegen der haltlosen Prophezeiung einer Wahrsagerin? Natürlich hatte er danach nach etwas gesucht … vielleicht war es ihr Blick gewesen. So oder so konnte die Rothaarige kaum fassen, was sie mitangesehen hatte – noch völlig unwissend, wie wahr jene Worte jedoch werden würden …
 

Kaum dass Vizu sich von ihm hatte aufhelfen lassen, änderte sich die Szenerie um sie herum. Zwar waren sie noch immer Kaineng, doch etwas hatte sich verändert – beziehungsweise jemand oder besser gesagt beide. Vizu musste nun ungefähr im selben Alter sein, wie Amaterasu Aiko und vollführte gerade einen perfekten Schattenschritt, durch den sie einen ganzen Trupp Am Fah in Sekunden mit ihren Dolchen tötete. Richtig, sie war ja ebenfalls unter die Assassinen gegangen …

„Du könntest mich wirklich noch übertreffen … Durch deine Wendigkeit teilst du nicht meine Schwäche. Ich bin sehr stolz auf dich, meine Schülerin – nun gibt es nichts mehr, das ich dir noch beibringen könnte.“, lobte Shiro Tagachi sie, der nun exakt den Beschreibungen ihrer Familie entsprach.

Vizu grinste breit, doch widersprach sie ihm: „Meine Fähigkeiten verdanke ich allein Euch, Meister! Vom Kaiser einmal abgesehen, seid Ihr der einzige Mann, den ich respektiere und … verehre.“

Währenddessen trat sie näher an ihn heran und fuhr mit den Händen über seine Arme, bis hoch zu seinem Nacken.

Shiro Tagachi wandte den Blick von ihr ab und meinte gequält: „Mein Gesicht … Stößt es dich nicht ab?“

„Fragt Ihr mich das wirklich? Ihr seid der begnadeteste Assassine ganz Cantha´s und Leibwächter seiner Majestät – jede Eurer Narben ist eine Auszeichnung, ein Beweis Eures Mutes.“, antwortete Vizu vollkommen überzeugt und überwand den letzten Abstand zwischen ihnen.

Erst zögerte Shiro Tagachi noch, dann erwiderte er den Druck ihrer Lippen und drückte sie fest an sich. Eigentlich wäre es nun angebracht gewesen, wegzusehen – aber Amaterasu Aiko hatte nur diese eine Chance, um das Geheimnis zu lüften, da durfte sie nicht zufällig etwas verpassen. Und tatsächlich entdeckte sie plötzlich jemanden, der die beiden ebenso verborgen beobachtete …

„Davon darf niemand erfahren …“, flüsterte der Assassine, ohne die Umarmung zu lösen, „Geh´ jetzt und erstatte Bericht. Ich komme später nach in den Palast.“

Sie nickte, sah ihm jedoch weiterhin fest in die Augen. Auch Shiro Tagachi machte trotz seiner Worte keine Anstalten, sie gehen zu lassen … stattdessen küssten sie einander noch einmal, diesmal leidenschaftlicher. Nun musste die Waldläuferin doch für einen Moment die Augen schließen und gestattete sich, kurz an Joras zu denken. Hastig schüttelte sie den Kopf, konzentrierte sich wieder auf das Geschehen – Vizu war bereits verschwunden. Da trat die Frau aus ihrem Versteck, die die Szene ebenfalls verfolgt hatte.

„Sieht so aus, als hättet Ihr das Kind Eures Schicksals gefunden …“, sprach sie mit mysteriöser Stimme, „Mehr noch … Ihr habt Euch sogar in dieses Mädchen verliebt.“

Der Schwarzhaarige ballte die Hände zu Fäusten – offensichtlich ärgerte er sich über seine Unaufmerksamkeit – und knurrte: „Was wollt Ihr von mir?“

„Ich will gar nichts von Euch – doch das Schicksal hat seine Pläne mit Euch, Shiro Tagachi … Ihr seid zu großem bestimmt! In Euren Adern fließt kaiserliches Blut …“, sinnierte sie.

Für ihn und Amaterasu Aiko war dies keine neue Information – doch irgendwie erschien diese Wahrsagerin ihr unheimlich.

Ihre Augen funkelten wild, als sie weitersprach: „Ihr seid ein treuer Diener, nicht wahr? Aber der Kaiser weiß Eure Dienste nicht zu schätzen. Im Gegenteil – Ihr seid ihm lästig … Er ist eifersüchtig, wie beliebt Ihr beim Volk seid. Er plant Euren Tod! Hört meine Worte … noch ehe das Jahr verstrichen ist, wird der Kaiser auf Eurem Grab tanzen!“

„Schweigt, einfältiges Weib!“, schrie Shiro Tagachi sie an und zog seine Schwerter, die er wie Dolche führte.

„Hört meine Worte … noch ehe das Jahr verstrichen ist …“, murmelte sie, während sie sich rückwärts von ihm entfernte.

Am liebsten wäre Amaterasu Aiko der Fremden gefolgt, als der Ort erneut wechselte.
 

Ein Schaudern überlief Amaterasu Aiko … Sie wusste, was ihr nun bevorstand – eine prächtige Schar kaiserlicher Soldaten, Kurzick und Luxon mit präsentierten Schwertern hatte sich vor dem Tor des Erntetempels versammelt; an der Spitze der Prozession wandelte der Kaiser, gefolgt von Shiro Tagachi. Hinter ihm kamen die Ritualistinnen, welche die Zeremonie begleiteten, sowie etliche Bannerträger, die am Eingang verharrten. Während ihrer Ausbildung hatte sie einmal eingesperrte Feldhasen befreien sollen, ehe diese von den Kappas des Sunqua-Tals verschlungen wurden … Ähnlich kam ihr nun der Assassine vor – einerseits wie ein im Käfig gefangenes Tier, andererseits wie eine zutiefst ausgehungerte Bestie … Was er zuletzt noch als dummes Gerede abgetan hatte, trieb ihn nun allmählich in den Wahnsinn. Ein Aspekt, der sein Verbrecher zwar bei weitem nicht schmälerte … allerdings trug die merkwürdige Wahrsagerin mindestens genauso viel Schuld daran. Der Kaiser, die Ritualistinnen und Shiro Tagachi knieten sich im Innern des Tempels vor den Altar. Es kostete die Rothaarige jedes Quäntchen ihrer Selbstbeherrschung, um nicht aufzubegehren – Kuunavang hatte sie gewarnt … und all dies war bereits vor langer Zeit geschehen, nichts würde daran etwas ändern können, auch nicht ihr Eingreifen. Kaiser Angsiyan versank im Gebet an die Geister der Nebel … und Shiro Tagachi zog seine Klingen. In einer einzigen Sekunde tötete er damit seinen Herren, dessen Seele er entgegen er seinen klassengegebenen Fähigkeiten absorbierte.

„Ich verfluche Euch! Für alles, was Ihr den Bewohnern von Kaineng angetan habt!“, schrie Shiro Tagachi plötzlich wieder vollkommen klar, „Ihr habt Euch von ihnen abgewendet und sie ausgebeutet, wegen Euch steht die Stadt kurz vor dem Zerfall … Doch Euer Blut fließt auch durch meine Adern – deshalb werde ich der neue Kaiser!“

Seine Worte riefen den Wahn zurück auf den Plan – in einem Wirbel aus Hieben tötete er die Ritualistinnen. Nur eine von ihnen konnte fliehen, wenn auch nur kurzzeitig … Sie läutete die gewaltige Glocke als Alarmzeichen, da stand Shiro Tagachi bereits hinter ihr und rammte ihr die Schneiden in das Rückgrat; ihr lebloser Körper stürzte in die Tiefe … Doch ihre letzte Tat war nicht vergebens gewesen – Viktor und Archemorus stürmten mit ihren Kriegern das Heiligtum; man mochte sich gar nicht vorstellen, dass ihre Fraktionen einander zwei Jahrhunderte lang gegenseitig abgeschlachtet hatten, nur weil sie die Ehre für ihre Seite hatten beanspruchen wollen, anstatt wie ihre Ahnen Seite an Seite zu kämpfen. Schockiert darüber, was sich hier ereignet hatte, forderten sie den Schwarzhaarigen heraus. Keiner ihrer Leute war Shiro Tagachi gewachsen, alle fielen sie unter ihm … bis nur noch eben jene Anführer der beiden Fraktionen übrig waren. Gerade da er sich ihnen zuwenden wollte, blitzten zwei Dolche auf, die ihn entwaffneten und eine schlanke Frau mit violettem Haar landete nach ihrem präzisen Salto hinter ihm. Die Krankheit seines Geistes schien vergessen … pure Qual beherrschte ihn bei ihrem Anblick. Amaterasu Aiko stiegen Tränen in die Augen. Es war Vizu – seine Schülerin … seine Geliebte … die einzige Person, die seinen Schwachpunkt kannte, hatte das Land über ihr Herz gestellt … Aber in ihrem Gesicht spiegelte sich derselbe Schmerz.

„Ich werde unser Geheimnis mit ins Grab nehmen …“, hauchte Vizu kaum hörbar und eine Hand wanderte zu ihrem Bauch, der eine minimale Wölbung zeigte.

Es stimmte … ihre Nachfahrinnen leiteten noch heute eine der berühmtesten Assassinen-Gilden von Cantha – da erschien es nur naheliegend, dass Vizu ein Kind gehabt hatte … ein Kind von Shiro Tagachi! Viktor und Archemorus, die sie nicht gehört hatten, ergriffen seine Schwerter. Er selbst konnte den Blick einfach nicht von ihr abwenden … Die Angriffe des Kurzick und des Luxon trafen ihn. Wut entbrannt entfesselte er die Energie – das, was das Land eigentlich hätte erneuern sollen, verdarb nun das Reich …
 

Mit Shiro Tagachi´s Tod endete die Verbindung zu seinem Blut … damit auch Amaterasu Aiko´s Ausflug in die Vergangenheit. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen. Ja, es war nicht alles richtig gewesen … aber im Grund hatte er nur das Beste für die Bürger gewollt – deshalb auch die Goldmünzen. Nur vor geistigem Wahnsinn konnte sich niemand wappnen … Und der »Jadewind« kam nicht allein von Machtgier, wie überliefert worden war oder weil er sich als Assassine an der Seele des Kaisers vergangenen hatte … hinzu kam Vizu´s Verrat – selbst wenn sie ehrenvoll hatte handeln wollen und ihr Land schützen wollte.

Kuunavang schwebte über ihr und sagte: „Es war Sunn, der damals die Erschütterung im Gefüge der Welten spürte … Shiro Tagachi´s Seele konnte, durfte nicht in die Nebel eingehen – als Strafe für sein Vergehen überstellte das Orakel der Nebel ihn dem Gesandtenrat, damit er Cantha auf ewig diene …“

„Ja. Bis er seiner Aufgabe eines Tages nicht mehr nachkam und in die Welt der Sterblichen zurückkehren wollte … um Kaiser zu werden. Er wollte seine Aufgabe beenden … nur statt sich auf seine eigentliche Motivation zu berufen, überließ er sich endgültig dem Wahnsinn … Ich bin mit dieser Geschichte aufgewachsen – immer und immer wieder wollte ich von dem Kampf gegen ihn hören.“, fuhr die Waldläuferin fort und wischte sich über das Gesicht, „Habt Dank, oh große Drachin. Die Wahrheit ändert nicht, was geschehen ist … Dafür weiß ich nun, was zu tun ist - ich gelobe die Fehler meiner Vorfahren wiedergutzumachen!“

Das mythische Geschöpf wirkte zufrieden. Nachdem sie sich zum Abschied verneigt hatte, ergriff Amaterasu Aiko erneut das kleine Portal – ihr Ziel war allerdings noch nicht der Raisu-Palast. In den Weiten der Unterstadt verbarg sich der sagenumwobene Tahnnakai-Tempel, die Gedenkstätte von Cantha´s größten Helden … Hier versammelten jene ruhmreichen Geister, die noch etwas in dieser Welt festhielt. Shikon No Yosei hatte ihr von diesem Ort erzählt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war … Damals hatte sie sich wieder einmal gewünscht eine Geschichte von ihrer Urgroßmutter zu hören – ihr lauschte Amaterasu am liebsten, wenn sie von den unzähligen Abenteuern berichtete.
 

„Es gibt etwas, das du noch nicht über mich weißt, kleine Kirschblüte – einst lebte in meinem Körper noch der Geist einer anderen Elementarmagierin. Ihr Name war Teinai … Zu jener Zeit, da Shiro Tagachi die Nebel verlassen und wieder sterblich werden wollte, überfiel er den Tahnnakai-Tempel, die Ruhestätte vieler canthanischer Helden. Mein Vater, Bruder Mhenlo, Ohtah und ich hatten uns auf den Weg dorthin gemacht, um mit der Assassine Vizu zu sprechen – der Überlieferung nach war sie maßgeblich an Shiro´s Scheitern beteiligt gewesen. Als wir am unterirdischen Tempel ankamen, war Shiro bereits dort … und hatte von den meisten Geistern Besitz ergriffen. Mit ihnen wollte er seine Armee verstärken. Unter den in sogenannte Shiro´ken Verwandelte befand sie auch Teinai.“, schilderte die Älteste von Shing Jea und schwelgte in der Erinnerung, „Möchtest du hören, wodurch sie berühmt wurde?“

Die Augen von Amaterasu Aiko wurden groß und sie rief: „Oh ja! Bitte, erzähl´ weiter! Und wie sie in deinem Körper kam und was jetzt mit ihr ist und was aus eurer Mission wurde!“

Shikon No Yosei lächelte und fuhr fort: „Also gut … Teinai war ebenfalls Schülerin im Kloster von Shing Jea. Vor bald zweihundert Jahren suchte ein Dämon namens Mang die Insel heim … Jahrelang terrorisierte er das Land, trotz aller Anstrengungen der führenden Krieger und Magier Cantha´s. Eines Wintertages ging Teinai, damals eben noch eine junge Schülerin, zu ihrem Großmeister und legte ihm einen Plan vor. Bereits am nächsten Tag wurde Mang von Teinai selbst zum Ufer eines großen Sees gelockt, dessen Oberfläche fest gefroren war. Sie lief auf das Eis hinaus und Mang folgte ihr. Als sich der Dämon genau in der Mitte des Sees befand, hob Teinai ihre Hände gen Himmel – Feuer regnete auf ihn herab und brachte das Eis unter ihm zum Schmelzen. Er brach in den eiskalten See ein; sogleich ließ Teinai das Wasser wieder gefrieren und Mang war gefangen. Blitze und Felsblöcke beendeten daraufhin die Aufgabe, die einzig Teinai hatte bewältigen können. Nach einem langen und erfolgreichen Leben als Elementarmagierin wurde Teinai im Tahnnakai-Tempel beigesetzt … Doch die Angst um ihre geliebte Heimat fesselte ihren Geist an das Diesseits. So bin ich ihr begegnet … Es war mir eine Qual zu sehen, wie jemand, der mir derart ähnlich war, von dem Verräter Shiro Tagachi verdorben worden war. Damals wäre ich fast vor lauter Verzweiflung zusammengebrochen – dein Urgroßvater hat mich daran erinnert, warum ich überhaupt an jenen Ort gekommen war … um meine Heimat zu schützen, weil ich die >Verteidigerin von Shing Jea< war. Meine Magie konnte Teinai schließlich erlösen ... und sie vereinte sich mit meinem Körper. Zunächst bemerkte ich ihre Gegenwart gar nicht … Stattdessen befreiten wir die übrigen Geister und Vizu von seinem Einfluss. Eine lange Zeit half mir Teinai die schlummernden Kräfte in meinem Innern zu kontrollieren, bis … eine andere, eine dunkle Macht sie aus meinem Körper vertrieb. Aber wenigstens konnte sie endlich in die Nebel eingehen – Teinai war sich sicher, dass wir Cantha und besonders Shing Jea mit allen Mitteln beschützen würden.“

„Und das habt ihr!“, entgegnete die Prinzessin, die beinahe vor Stolz platze, „Du hast sogar deine magischen Kräfte geopfert! Und Oma Ryukii fast ihre Liebe zu Opa Koichi!“

Die lebende Legende nickte zustimmend: „Eines habe ich auf meinen Reisen gelernt, Aiko … Nichts geschieht ohne Grund – manchmal erkennen wir ihn nur nicht sofort.“
 

Da hatte Amaterasu Aiko also zum ersten Mal von Vizu gehört … Und in der letzten Kammer des Tahnnakai-Tempels kniete sie vor dem steinernen Abbild eben jener Assassine nieder … Dem Ruf folgend erschien vor ihr Vizu. Die künftige Kaiserin holte tief Luft und berichtete ihr von ihrem Einblick in Shiro Tagachi´s Erinnerungen.

Ein Schatten legte sich über das Antlitz von Vizu, als sie meinte: „Dann wisst Ihr um die ganze Tragweite meiner Sünde …“

„Ihr kennt meine Urgroßeltern … Während ihrer Mission in Elona wurde Shiko von einer dunklen Macht ergriffen und verwandelt – Ohtah wusste, es gäbe nur eine Möglichkeit … und wenn sie zu Tode kommen sollte, so nur durch seine eigene Hand. Letztendlich konnte sie befreit werden, unter anderem Dank Teinai, die ebenfalls früher hier ruhte. Ich mache Euch keinen Vorwurf, Vizu … es mag Sünde und Verrat an Eurer Liebe gewesen sein … trotzdem bedauere ich nur, dass Ihr überhaupt so etwas durchmachen musstet.“, entgegnete sie mitfühlend.

Vizu nickte und Trauer hallte in ihrer Stimme: „Es hat mir das Herz zerrissen … Und vielleicht habe ich durch mein Eingreifen noch mehr Leid verursacht.“

„Deshalb konntet Ihr nicht in die Nebel eingehen …“, schlussfolgerte die Rothaarige, „Diese Möglichkeit lässt sich nicht von der Hand weisen, doch es gibt etwas, von dem Ihr keine Ahnung habt …“

Die Assassine horchte auf – mit Schrecken lauschte sie ihrem Bericht über die eigentümliche Wahrsagerin und schließlich sagte Amaterasu Aiko: „Nicht vor Liebe gequält, verfiel er dem Wahnsinn … sondern aus Zweifel und Furcht. Shiro hat mit sich gerungen – aber diese Aussicht und das Elend der Bevölkerung, gegen das der Kaiser nichts unternommen hatte … sind verantwortlich für seine Tat.“

Eine Welle der Erleichterung überflutete Vizu – jahrhundertelang hatte sie sich Vorwürfe gemacht, sich selbst die Schuld am »Jadewind« gegeben. Ein Leuchten erfüllte ihre Gestalt und plötzlich löste sich die Assassine auf.

Ein Lächeln erschien auf Amaterasu Aiko´s Lippen, weil sie sofort wusste, was mit ihr geschah: „Ihr habt es verdient in die Nebel zu gehen …“

Leider würde sie sogar an diesem Ort ihrem Geliebten niemals mehr begegnen können … Einmal war es ihr vergönnt gewesen, ihn wiederzusehen – als er den Tahnnakai-Tempel angegriffen und von ihr hatte Besitz ergreifen wollen … Damals waren sie sich für einen kurzen Moment wieder nah gewesen. Ein Moment für die Ewigkeit …
 

Amaterasu Aiko fühlte sich erleichtert – diesmal hatte sie das Portal nicht benutzt, sondern war zu Fuß ins Zentrum von Kaineng zurückgekehrt. Unterwegs hatte sie mit den Bürgern gesprochen und eine harte Erkenntnis traf sie … die meisten von ihnen verbrachten ihr ganzes Leben in der Hauptstadt, ohne dem Kaiser jemals begegnet zu sein geschweige denn, dass ihre Probleme ihm berichtet wurden. Daher wuchs in ihr die Idee einer festen Audienzzeit einmal im Monat, damit die Bewohner von Kaineng und Shing Jea ihr ihre Anliegen vortragen konnten. Der ursprüngliche Wunsch von Shiro Tagachi war es einfach nur gewesen, die Lebensumstände der kleinen Leute zu verbessern – und genau dies wollte sich Amaterasu Aiko zur Aufgabe machen; dem Volk mehr Stimme zu geben, war dabei ein wichtiger Punkt. Zu lange war ihr Herrscher von ihnen abgeschottet gewesen … Dennoch waren viele voll des Lobes für ihren Vater und ihren Großvater – ihr Kampf gegen die korrupten Minister war sogar bis zum Volk durchgedrungen. Es bestätigte sie in ihrem Vorhaben, ihren Beraterstab auch für Bürgerliche zu öffnen. Von all diesen Eindrücken und Planen erzählte Amaterasu Aiko nach ihrer Rückkehr ihrem Vater. Koteiro Ryukichi hörte ihr aufmerksam zu und als sie geendet hatte, klatschte er einmal in die Hände, worauf sofort sein Obersthofmeister erschien.

„Eure Majestät, was kann ich für Euch tun?“, fragte der Diener höflich.

Unter dem verwirrten Blick seiner Tochter verkündete der Ritualist: „Trefft alle notwendigen Vorbereitungen für die Krönung meiner Nachfolgerin.“

Lächelnd verbeugte sich der Mann und eilte davon. Die Prinzessin war sprachlos, kein Wort kam ihr über die Lippen.

„Du bist bereit, Aiko! Du sprühst vor Begeisterung für dieses Amt und wirst uns in die Zukunft führen.“, meinte er unsagbar stolz.

Sie nickte nur. Zum ersten Mal fühlte sie sich so … vollkommen willig ihren Platz als Kaiserin von Cantha einzunehmen – das hatte sie jenen zu verdanken, die sie zu diesem Punkt geführt hatten …
 

Die Dienerschaft leistete unglaubliche Arbeit – binnen eines Mondes konnte die Feierlichkeit stattfinden. Es blieben lediglich ein paar Punkte auf der Gästeliste zu klären … Nur wen sollte Amaterasu Aiko um Rat bitten, wen konnte sie um Rat bitten? Im Grunde sollte sie Svanja zu diesem besonderen Tag einladen … und Joras. Auf der einen Seite wünschte sie sich natürlich, ihn wiederzusehen … auf der anderen Seite wäre es nur für eine solch kurze Zeit … und das Ergebnis blieb dasselbe – ein Norn und ein Mensch konnten nicht zusammen sein. Sie hatten sich voneinander verabschiedet … Jede weitere Begegnung würde beide nur unnötig verletzen. Als Kaiserin musste sie harte Entscheidungen treffen ... dies war ihre Feuerprobe …

Zu den schließlich geladenen Gästen gehörten – neben ihrer Familie – das Orakel der Nebel Suun, die Oberhäupter der Kurzick und Luxon, der Leiter und die Großmeister des Klosters von Shing Jea, Königin Salma von Kryta sowie der Speermarschall der Sonnenspeere. Und selbstredend Kuunavang … der Inbegriff des Reichs des Drachens. In ihr Krönungsgewand gehüllt, betrachtete sich Amaterasu Aiko im Spiegel. Seit ihrer Kindheit war sie darauf vorbereitet worden …

„Du bist wunderschön, kleine Kirschblüte …“, sagte Chiyo Yumecho und legte eine Hand um ihre Schulter, „Es tut mir leid – ich hätte von Anfang an darin vertrauen müssen, dass du deinen eigenen Weg gehst.“

Glücklich lehnte sie sich gegen ihre Mutter. Es gäbe nichts, was sie ihr verzeihen müsste … sie verdankte ihr so vieles.

„Es ist Zeit … Deine Zeit ist gekommen.“, erinnerte sie ihre Tochter.

Amaterasu Aiko folgte ihr in den Thronsaal, in dem sich alle versammelt hatten. Die Wachen standen mit gezogen Schwertern Spalier – genau wie damals am Erntetempel. Anders als sonst saß ihr Vater nicht auf dem leuchtend roten Thron mit dem goldenen Drachenkopf – er stand daneben und hielt ihr die Hand mit der Indigene der Macht entgegen. Chiyo Yumecho trat an seine Seite, um den Weg für sie freizugeben … Sie kam seiner Aufforderung nach – nahm den Platz ein, den er bislang inne hatte.

„Amaterasu Aiko … schwört Ihr am heutigen Tag Cantha mit all Eurer Kraft und Weisheit zu beschützen?“, stellte Koteiro Ryukichi die alles entscheidende Frage.

Nach einem tiefen Atemzug antwortete sie: „So wahr ich die Tochter zahlreicher, unglaublicher Helden bin … schwöre ich stets nur zu Cantha´s Wohl zu handeln!“

Unter tosendem Applaus zog der Ritualist den Siegelring vom Finger und steckte ihn seiner Tochter an. Kuunavang ließ ein ohrenbetäubendes Brüllen erklingen und Suun schloss die Augen zum Gebet an die Geister der Nebel. Entgegen jedes Protokolls erhoben sich Shikon No Yosei, Seiketsu No Akari, Ohtah Ryutaiyo, Ryukii No Mai, Toki No Kibo und Yoso No Koshi von ihren Stühlen und eilten – mehr oder weniger aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters – zu Amaterasu Aiko, um die neue Kaiserin zu umarmen.

„Und, Eure Majestät, habt Ihr schon Pläne, wer in Zukunft an Eurer Seite sein soll?“, flüsterte ihr Koteiro Ryukichi lachend zu.

Ihr Blick wanderte zum Rand des Podestes, dort stand eine goldene Wiege, vor der ein schwarzer Wolf ruhte.

„Da muss sich erst einmal jemand finden, der es mit Susanoo aufnehmen will.“, scherzte Amaterasu Aiko erst, dann wurde sie ernst, „Außerdem … kann mir Toya auf den Thron folgen.“
 

Männer allein haben kein Monopol auf Stärke … und Stärke bedeutet nicht reine Körperkraft - Mut, Freundlichkeit, Vergebung, Opferbereitschaft und Weitsicht zeugen weit mehr davon. Der Mut, sich auf eine Reise zu begeben … die Freundlichkeit anderer zu gewinnen und ihnen zu Teil werden zu lassen … trotz aller Vorurteile und hässlicher Gefühle Vergebung zu üben … selbst ihre Gefühle hinter der Pflicht anzustellen, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren … und dabei stets ihr Volk im Blick behalten zu wollen … all das hat Amaterasu Aiko unter Beweis gestellt – eine wahre Herrscherin, die Wort hält.

Zwischenspiel 06: Die neuen, legendären Gesandten

Ein Leben im Dienste Cantha´s

„Erzählt uns noch eine Geschichte! Bitte, bitte!“, rief eines der Kinder, „Erzählt uns, wie Ihr damals gegen Shiro Tagachi gekämpft habt!“

„Nein, erzählt uns lieber von den anderen Ländern, die Ihr bereist habt!“, widersprach ein anderes.

Die Älteste lachte. Es war jedes Mal dasselbe, wenn sie ins Kloster kam. Die Kinder wollten immer wieder Geschichten über ihre Kämpfe hören, die inzwischen schon so lange zurücklagen. Dabei verdankte sie den Umstand dieser neugierigen Kinder ihrer eigenen Familie zu verdanken. Toki No Kibo hatte den Plan ihrer Mutter von einem angeschlossenen Kinderheim umgesetzt. Denn trotz der friedlichen Zeit gab es weiterhin unzählige Waisenkinder auf Shing Jea. Hier fanden sie ein liebevolles Zuhause und neue Hoffnung.

„Mal sehen … wie wäre es denn, wenn ich euch erzähle, warum ich als junges Mädchen den Weg der Elementarmagierin beschritten habe?“, fragte Shikon No Yosei freundlich.

Die Kinder jubelten vor Begeisterung, setzten sich artig in einen Halbkreis und die Shing Jea entfachte ein kleines Feuer in Mitten ihrer trauten Runde. Es war keine Magie, die sie verwendete, sondern ein simpler Zaubertrick. Doch sie hatte keine andere Wahl – um den Kindern eine Freude zu machen, tat sie zumindest so, als hätte sie noch ein Fünkchen ihrer magischen Kräfte.

Sie räusperte sie und begann ihre Erzählung: „Es ist viele Jahre her, aber ich erinnere mich noch genau an diesen Tag … Ich war damals gerade einmal elf Jahre alt und stand kurz vor meinem Eintritt in das Kloster. Das Studium der Klassen braucht seine Zeit, das lernt man nicht von heute auf morgen, müsst ihr wissen. Doch ich hatte keine Ahnung, welchen Weg ich wählen sollte … Sollte ich als Waldläuferin mit dem Bogen schießen, mir einen Namen als Meisterin der Illusion machen oder wie der große Ritualist Togo mit der Geisterwelt in Verbindung treten?“

Shikon No Yosei machte eine Pause – was ihr Vater wohl davon gehalten hätte, wenn sie seinem Beispiel gefolgt wäre? – und ließ ihre Worte wirken, bevor sie weitersprach: „Ratlos lief ich aus dem Dorf Tsumei hinaus ins Sunqua-Tal. Ich wanderte viele Stunden umher … bis es schließlich Abend wurde und die Sonne unterging. Ich kam gerade an den südlichsten Punkt des Tals, zum Schrein der vier Elemente … Und als ich dort stand und über das Meer schaute, welches sich so stark von dem feuerroten Himmel abhob, frischte der Wind auf. Er verwehte den Sand, sodass er um mich zu tanzen schien … In diesem Moment wurde es mir bewusst. Diese Zusammenkunft von Feuer, Wasser, Luft und Erde brachte mich zu meiner Entscheidung Elementarmagierin zu werden. Und glaubt mir, ich habe meinen Entschluss nie bereut!“

Ein tosender Applaus und freudige Rufe brachen los. Die Kinder sprangen von ihren Plätzen auf, tanzten über den Platz.

„So, jetzt wird es aber Zeit nach Hause zu gehen.“, rief die einstige Elementarmagierin sie zur Ordnung.

Die Kleinen verabschiedeten sich widerwillig, leisteten aber wortlos Folge. Erschöpft streckte Shikon No Yosei ihre Glieder. Wenn sie daran dachte, wie viele Meilen dieser Körper auf ihren Reisen zurückgelegt hatte … jetzt schmerzte beinahe jede Bewegung. Sie war zu alt geworden, nächstes Jahr hätte sie ihr Jahrhundert vollendet. Dennoch war es ihr eine Freude zu sehen, wie Generation auf Generation heranwuchs. Sogar Chiyo und Ryukichi, ihre Enkel, hatten bereits eigene Enkel – und ihre Tochter Aiko war die erste Kaiserin gewesen, die den den Thron Cantha´s bestiegen hatte.

„Na, hast du wieder die Kinderherzen höher schlagen lassen?“, wollte eine ihr sehr vertraute Stimme wissen.

Shikon No Yosei wandte sich um und erwiderte lächelnd: „Bald ist mein Repertoire an Abenteuern endgültig aufgebraucht … Aber es ist schön zu sehen, wie unsere Geschichten auf diese Art lebendig bleiben. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dieses Wissen verloren ginge.“

„Dann sollte es dich freuen zu hören, dass Seiketsu fertig ist.“, erwiderte Ohtah Ryutaiyo prompt.

Die Shing Jea machte große Augen. Seiketsu No Akari hatte über Jahre hinweg die Erlebnisse der drei lebenden Legenden und ihrer Kinder aufgeschrieben. Es waren mehrere hundert Seiten geworden, eine Episode spannender als die andere. Natürlich hatten Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo, Yoso No Koshi, Ryukii No Mai und Toki No Kibo daran mitgewirkt – vor allem da die Mönchin nicht bei jedem Kampf dabei gewesen war. Und endlich war es soweit!
 

Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo trafen vor dem Eingang zum Kloster von Shing Jea auf Seiketsu No Akari. Es schien, als hätte sie die beiden bereits erwartet. Und keine Sekunde später, wussten sie auch, warum. Hinter ihr standen die vier Gesandten der Nebel, welche ihnen einst beim Kampf gegen Shiro Tagachi geholfen hatten.

„Seid gegrüßt … Wir wussten … wir würden uns eines Tages … wiedersehen.“, begrüßte sie Bote Vetaura mit seiner gewohnt langsamen Art zu sprechen.

Kurier Torivos war der Nächste, der sprach: „So ist es. Aber wie bei unserer ersten Begegnung haben wir auch diesmal eine Bitte an Euch.“

„Shikon No Yosei, Seiketsu No Akari, Ohtah Ryutaiyo … Ihr habt viele unglaubliche Dinge in dieser Welt verbracht und Euer ganzes Leben dem Schutze Cantha´s gewidmet.“, sprach Emissärin Heleyne.

Nun übernahm Herold Demrikov: „Aus diesem Grund möchte der Gesandten-Rat Euch aufnehmen.“

Die drei lebenden Legenden schnappten nach Luft. Seit Jahrhunderten hatte der Gesandten-Rat keine neuen Mitglieder angeworben. Geschweige denn jemals darum gebeten.

Die Elementarmagierin trat vor und antwortete: „Das ist eine überaus große Ehre. Und ich weiß, dass meine Zeit ohnehin abgelaufen ist … Für Cantha bin ich bereit alles zu geben!“

„Wo auch immer du hingehen wirst, ich werde an deiner Seite stehen.“, bestätigte ihr Mann und zwinkerte ihr zu.

Nur Seiketsu No Akari sah zögerlich zu Boden.

„Wie entscheidet Ihr Euch?“, wollte Kurier Torivos von ihr wissen.

Sie schloss die Augen, während sie antwortete: „Ich liebe das Leben als Mensch … und den Frieden. Doch meine Heimat liebe ich mehr! Deshalb ja, ich schließe mich meinen Gefährten an.“

„Dann erwarten wir eEuch hier bei Sonnenuntergang wieder.“, informierte sie Emissärin Heleyne.

Mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme fügte Herold Demrikov hinzu: „Bis dahin habt ihr Zeit, euch zu verabschieden …“

„Ein Geschenk … das normalerweise nicht vergönnt ist.“, meinte Bote Vetaura ehrfürchtig, bevor sie ins Geisterreich zurückkehrten.
 

„Das Buch über unsere Geschichte ist vollendet. Wir werden es in der geheimen Bibliothek des Klosters hinterlegen, die nur dem amtierenden Leiter zugänglich ist …“, erklärte Seiketsu No Akari im Kreise ihrer Familie, „Somit ist auch unsere letzte Aufgabe erfüllt.“

„Wovon redest du da?“, wollte Ryukii No Mai verständnislos wissen.

Shikon No Yosei legte ihrer Tochter eine Hand auf die Schulter und antwortete: „Niemand lebt ewig. Nicht einmal Legenden … Es ist unser Lebensinhalt für Cantha zu kämpfen. Aber … in diesem Leben können wir das nicht mehr.“

„Die Gesandten nehmen uns in ihre Reihen auf … So können wir unseren Dienst gegenüber Cantha wieder aufnehmen.“, fuhr Ohtah Ryutaiyo fort.

Yoso No Koshi verzog keine Miene, als er daraufhin feststellte: „Also wollt ihr uns verlassen.“

„Wir wollen mit euch gehen!“, meldete sich Toki No Kibo zu Wort.

Ihre Ziehmutter lächelte sanft, schüttelte jedoch den Kopf: „Eure Zeit ist noch ganz nicht gekommen. Ihr werdet hier gebraucht.“

„Und wir brauchen euch!“, gab die Assassine schnippisch zurück.

Damit war wieder einmal bewiesen, wie ähnlich sie ihrem Vater doch war, dachte Shikon No Yosei, bevor sie erwiderte: „Darum werden wir auch aus den Nebeln über euch wachen … Glaub´ mir, wir werden immer bei euch sein und eines Tages sehen wir uns dort wieder.“

Der Blick der Elementarmagierin wanderte zu ihrem Sohn, er nickte entschieden. Yoso No Koshi war stets vernünftiger gewesen, als seine Schwester. Er verstand seine Mutter. Und es war schließlich nichts neues, dass die drei lebenden Legenden jederzeit ihr Leben für Cantha geben würden. Genauso wie ihre Kinder. Und deren Kindeskinder. Dieses Erbe würde ihre Blutlinie für alle Zeit weitergeben …
 

„Ihr seid also bereit.“, bemerkte Emissärin Heleyne anerkennend.

Und so sprach Bote Vetaura wieder in seiner unverkennbaren Gemütlichkeit: „Um als Gesandte zu erwachen … müsst Ihr ruhelos nach dem Tod sein. Und natürlich … bedarf es unserem … Einverständnis.“

„Mit >ruhelos< meint Ihr, dass wir keines natürlichen Todes sterben dürfen, nicht wahr?“, hakte die weise Elementarmagierin nach.

Herold Demrikov lachte daraufhin höhnisch: „Ihr seid schlauer, als Ihr ausseht. So ist es, wie wir müsst ihr von jemanden getötet werden … oder euch selbst das Leben nehmen.“

Die drei lebenden Legenden sahen sich an. Besonders Ohtah Ryutaiyo schluckte schwer. Es hatte schon einmal die Situation gegeben, in der er sich dazu gezwungen fühlte, Shikon No Yosei töten zu müssen und ihr anschließend durch eigene Hand zu folgen … Damals war er sich so sicher gewesen – heute wusste er nicht, ob er es wirklich hätte tun können.

Seine Geliebte ahnte, woran er dachte und schüttelte den Kopf. Sie wollte ihm oder Seiketsu No Akari ebenso wenig etwas antun, wie er ihr. Lieber beendete sie ihr Dasein selbst. Auch die dritte der Ältesten war dieser Ansicht. Mord war etwas Abscheuliches, egal gegen wen er sich richtete – nur wenn es keine andere Möglichkeit gab, um zum Gesandten-Rat zu gehören, richtete sie diese Schuld lieber gegen ihr eigenes Leben.

Wie auf ein stummes Kommando, ging alles plötzlich blitzschnell. Ohtah Ryutaiyo zog einen seiner Dolche und schnitt sich die Kehle durch, Seiketsu No Akari unterbrach mit einer Handbewegung den Lebensfluss in ihrem Herzen und Shikon No Yosei befreite ihre gesamte magische Energie, leblos fielen ihre Körper ins Gras.

Nur wenige Augenblicke später erschienen drei Geister am Ort des Geschehens, die nur für diejenigen sichtbar waren, die selbst aus den Nebeln stammten oder die heilige Prüfung Weh No Su bestanden hatten – doch sie hatten nicht mehr die Gestalt, in der sie gestorben waren. Stattdessen standen sie in ihrem jugendlichen Aussehen als Verteidiger von Cantha dar.

„Als Gesandter nimmt eure Seele die Form an, die ihr in eurem Herzen tragt … Dies ist euer wahres Ich und wird euch fortan bis in alle Ewigkeit begleiten.“, erklärte Kurier Torivos.
 

So begann die Ära der Gesandten Späher Ohtah, Heilerin Seiketsu und Botschafterin Shiko, die von nun an viele unzählige Jahre im Dienste der Nebel stehen werden.

Was sie jedoch niemals erfahren würden, ist, dass ihre Kinder ihnen an jenem Tag ins Sunqua-Tal gefolgt waren und ihre sterblichen Überreste ins Kloster von Shing Jea gebracht hatten. Und dort werden sie wohl bis heute verehrt …

Buch 08: Die Rückkehr der Legenden

Die Wiedergeburt der Legenden

Unzählige Jahre lagen zurück, seit Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari Cantha, Tyria und Elona von den finsteren Bedrohungen durch Shiro Tagachi, den Untoten Lich, Abaddon und den Großen Zerstörer befreit und sie ihr Dasein als Gesandte in den Nebeln angetreten hatten. Doch die Welt, wie die lebenden Legenden sie gekannt hatten, hatte sich im Laufe der Zeit verändert – fünf der allmächtigen Alt-Drachen aus den Anfängen der Geschichtsschreibung Tyria´s waren erwacht, der erste von ihnen ja sogar noch zu ihren Lebzeiten, und hatten die Herrschaft über den gesamten Kontinent an sich gerissen. Die freien Völker waren von ihrer Macht unterworfen worden. Sie hatten die Kriege verloren und lebten seitdem in ständiger Angst, vertrieben aus ihrer einstigen Heimat. Selbst Elona und Cantha waren nicht verschont geblieben. Die untote Armee des stärksten Drachens kontrollierte den Zugang zur Meerenge von Malchor, damit war jeder Kontakt zwischen den Tyrianern und den Canthanern abgebrochen. Für die Elonier sah es nicht besser aus – dort lieferten sich die Auferstandenen einen Krieg gegen die Untergebenen des gefürchteten Palawa Joko, der die Bevölkerung nach und nach versklavt hatte. Es gab keine Rettung … Nirgends sah man ein Fünkchen Hoffnung. Dunkelheit beherrschte die Gedanken der Menschen, Norn, Asura, Charr und Sylvari, welche vor noch gar nicht so langer Zeit vom Blassen Baum in der Arborbucht geboren worden waren. Und Shikon No Yosei musste tatenlos zusehen, unfähig irgendetwas gegen die Alt-Drachen unternehmen zu können – zumindest solange sie in den Nebeln lebte. Also rief sie den Gesandten-Rat zusammen, zu dem auch Seira gehörte, Suun´s Nachfolgerin und neues Orakel.

„Ich habe eine Bitte vorzutragen …“, begann die Elementarmagierin entschieden, „Als die Drachen einer nach dem anderen erwachten, habe ich darauf vertraut, jemand würde sich erheben … die Kraft besitzen, sich ihnen entgegen zu stellen. Doch seit der letzte Widerstand zerschlagen wurde, scheint alles verloren zu sein. Ich habe es euch nie erzählt … aber als der erste Drache erschien, habe ich auf Shing Jea einen Hauch der Macht des Großen Zerstörers gespürt, dabei war er von unseren Kindern endgültig vernichtet worden. Ich hatte Angst … Ich habe versucht mir einzureden, ich hätte mich geirrt. Als die Drachenverderbnis der anderen Drachen aktiv wurde, gab es in meinen Augen keinen Zweifel mehr … Die Energie des Feuerdrachen ist fast identisch mit jener der Zerstörer, weil sie seine seine Brut waren!“

Teils erschrocken, teils verständnislos wollte Seira wissen: „Um was wollt Ihr uns nach dieser … Ausführung bitten, Shiko?“

„Ich habe gegen den Großen Zerstörer gekämpft … Shiro Tagachi, den Untoten Lich und sogar Abaddon in die Unterwelt verbannt. Es gibt niemanden mehr, der den Kampf gegen die Drachen aufnehmen will … deshalb werde ich es tun! Ich wünsche, dass meine Seele in Tyria wiedergeboren wird!“, antwortete die Gesandte entschlossener denn je.

Die Gesandten starrten sie sprachlos an, während die Norn entgegnete: „Ich kann Eure Gefühle gut nachvollziehen … Mein Volk ist schließlich ebenfalls von den Auswirkungen betroffen. Aber Ihr müsst verstehen, dass wir diesen Eingriff in die Geschicke der Welt nicht allein entscheiden können. Diese Entscheidung können nur die Sechs Götter allein treffen.“
 

Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari begleiteten Shikon No Yosei zum heiligen Tempel, in dem die Götter ihren Sitz hatten. Dort brachte sie ihr Anliegen erneut vor.

„Nicht nur Ihr, auch wir beobachten den Zustand unserer Welt mit Schrecken.“, ergriff Balthasar, der Gott des Kampfes und des Feuers, zuerst das Wort, „Ihre unendliche Tapferkeit wird die Menschen und die anderen Völker diesmal nicht retten.“

Dwayna stimmte ihrem Gefährten zu: „Alles Leben wird ausgelöscht werden, wenn die Drachen nicht aufgehalten werden … Aber wie? Sie sind so unglaublich stark. Selbst wir scheuen die Auseinandersetzung mit ihnen.“

Auch der eiskalte Gott des Todes wirkte traurig: „Die Unterwelt war noch nie so voller unschuldiger Seelen erfüllt …“

„Diese Aufgabe kann nur jemand übernehmen, der bereits große Schlachten geschlagen … und beinahe unmögliches vollbracht hat.“, meinte Lyssa wissend.

Melandru, die friedlichste Natur unter den Göttern, nickte zustimmend: „Und in ihr schlummert die Macht der vier Elemente. Bedenkt, dass sie es sind, welche Magie überhaupt erst ermöglichen!“

„Shiko … Shikon No Yosei, ich weiß um deine Taten, die du zu Lebzeiten geleistet hast. Aber dieses Mal wird der Kampf härter sein. Die Drachen sind so etwas wie das Urgestein Tyria´s. Sie sind weitaus mächtiger, als eine gefallene Gottheit …“, sprach Kormir, die Göttin der Wahrheit und Hüterin der Geheimnisse.

Die Gesandte erwiderte den Blick der Göttin unverwandt und antwortete: „Ja, Kormir … dessen bin ich mir bewusst. Trotzdem muss ich es wenigstens versuchen! Ich will nicht glauben, dass das Ende unserer Welt bevorsteht! Ich kann einfach nicht länger nur zuschauen. So gering meine Chance auch sein mag, ich werde kämpfen!“

„Mutig gesprochen … Du hast dich nicht verändert.“, bemerkte die einstige Sonnenspeer, „In Ordnung, so sei es! Du wirst wiedergeboren … Unter einer Bedingung.“

Neugierig wollte die Elementarmagierin wissen: „Welche, Kormir?“

„Ich werde dich begleiten.“, mischte sich Ohtah Ryutaiyo in das Gespräch ein.

Sie wirbelte zu ihrem Liebsten herum, Schrecken standen ihr ins Gesicht geschrieben – es war eine Sache ihr eigenes Leben erneut für Tyria einzusetzen, aber seines? Er hatte sich schon unzählige Male für sie in Gefahr begeben. Nicht in noch einem Leben …

Kormir, die ihre Gedanken erraten hatte, erklärte: „Er kann nicht anders, Shiko … Es ist seine Bestimmung an deiner Seite zu sein, sein Schwur an uns bindet ihn. Vergiss´ nicht, allein kannst du nicht bestehen … Du wirst seine Hilfe brauchen. Die Liebe wird euch stark machen.“

„Ein Sonnenspeer und ein Verteidiger kämpft eben nie allein.“, scherzte der Assassine.

Shikon No Yosei fiel ihm um den Hals. Es gefiel ihr zwar immer noch nicht, doch tief in ihrem Herzen war sie erleichtert. Mit ihm zusammen konnte sie nicht unterliegen.

Seiketsu No Akari, die bislang nur still am Rande gestanden hatte, fiel auf die Knie und sagte: „Ich möchte Shiko ebenfalls begleiten! Wir sind die drei lebenden Legenden, wir gehören zusammen!“

Die Elementarmagierin biss sich auf die Unterlippe. Bei Ohtah Ryutaiyo hätte sie es sich ja denken, aber jetzt auch noch Seiketsu No Akari? Innerlich schallte sie sich eine Närrin – würde sie nicht genau dasselbe tun, wenn die Mönchin diese Entscheidung getroffen hätte? Manchmal war sie so auf den Assassinen fixiert, dass sie ihre Seelen-Schwester beinahe außer Acht ließ. Hastig wischte sich Shikon No Yosei mit dem Arm über das Gesicht. Dann ging sie zu Seiketsu No Akari und reichte ihr die Hand, um sie wieder auf die Füße zu ziehen.

Ohtah Ryutaiyo griff nach ihrer anderen Hand und gemeinsam wandten sie sich an die Götter: „In Gedenken an die Nebel und im Namen der Sechs Götter … wir werden die Drachen besiegen!“
 

In den letzten beiden Jahrhunderten war Ascalon vollständig zur Heimat der Charr geworden, gebrandmarkt durch den Drachen Kralkatorrik zog sich eine gewaltige Schneise durch das Gebiet bis hin zur Kristallwüste. Die Norn, welche von Jormag aus dem hohen Norden vertrieben worden waren, hatten in den Südlichen Zittergipfeln neue Jagdreviere erschlossen; von den Zwergen fehlte seit den Tagen des Großen Zerstörers jede Spur. Die Befleckten Küste wurde nach wie vor von den Asura bevölkert; die Sylvari, das jüngste Volk Tyria´s, lebte dort mit ihnen in friedvoller Nachbarschaft. Die Menschen hatten sich aus allen Teilen der Welt in Kryta zusammengerottet, doch nichts war mehr wie einst – den Tempel der Zeitalter gab es nicht mehr, Löwenstein war großteils überflutet und die Königin regierte von der neuen Hauptstadt Götterfels aus, welche im Nordwesten des Landes an der Küste der Göttlichkeit lag. In diese Stadt wurden Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari in Gestalt eines Säuglings geschickt. Jeder von ihnen an einen anderen Platz, jeden erwartete ein anderes Leben … bis das Schicksal sie eines Tages wieder vereinen würde. So wurde Shikon No Yosei von Fürstin Gwynith aufgenommen, deren eigenes Kind nur wenige Tage zuvor verstorben war. Sie erhielt eine erstklassige Ausbildung zur Elementarmagierin und wuchs wie eine adlige Dame auf. Ihr bester Freund wurde Faren, der später den Fürstentitel seines Vaters erbte. Aber Lady Shikon wäre nicht die wiedergeborene Shikon No Yosei gewesen, wenn sie sich nicht auch in diesem Leben für jene eingesetzt hätte, die Hilfe brauchten – sei es gegen Banditen, wilde Tiere oder sonstigen Gefahren. Dafür wurde sie von den Bürgern der Stadt verehrt und geliebt; sogar die Seraphen-Wache brachte ihr ein großes Maß an Respekt gegenüber. Seiketsu No Akari dagegen lebte zehn Jahre lang als einfache Bauerntochter im Dorf Shaemoor, welches an Götterfels grenzte. Dort arbeitete sie auf den Feldern, half den Fischern und ging schließlich zu den Seraphen, wo sie als erste Schülerin von Hauptmann Logan Thackeray den Weg einer Wächterin beschritt. Für Ohtah Ryutaiyo wurde es zu einem wahrhaftigen Déjà-vu – ihn fanden zwielichtige Gestalten in den Schatten einer Gasse. Wie bereits im letzten Leben wurden die Dolche seine favorisierten Waffen, aber diesmal erlernte er zusätzlich noch den Umgang mit Pistolen und meisterte auch alle anderen Gesichtspunkte eines waschechten Diebes, wie das Stehlen und die Schattenschritte.
 

Von Bestimmung und Wahrheit

Fünfzehn Jahre nach der Wiedergeburt der drei einstigen Legenden stand Shikon Feenseele, wie sie sich selbst nannte, vor einer schweren Entscheidung … Sie hielt ein Foto in Händen, welches sie gemeinsam mit ihrer Mutter und Fürst Faren zeigte. Wenn sie es jetzt in den Beutel packte, gab es kein Zurück mehr … Nichts würde ihre Entscheidung mehr ändern können. Doch wollte sie das überhaupt? Ihr ganzes Leben lang hatte die Elementarmagierin Geschichten über die Alt-Drachen und deren Herrschaft gehört, wie sie die fünf großen Völker Tyria´s tyrannisierten und von der Hoffnungslosigkeit, die seit der Zerschlagung der »Klinge des Schicksals« herrschte, jener letzten Widerstandsgruppe bestehend aus dem Menschen Logan Thackeray, dem Charr Rytlock Brimstone, der Norn Eir Stegalkin mit ihrem treuen Wolfsgefährten Garm, der Sylvari Caithe und den beiden Asura Zojja und Snaff, letzterer im Kampf gestorben. Wie war Shikon Feenseele eigentlich auf die wahnwitzige Idee gekommen es diesen Helden gleichzutun? Nur wegen diesem Traum, den sie in der Nacht des ersten Tages ihrer Ausbildung gehabt hatte …
 

Sie schwebte in völliger Dunkelheit, konnte nicht vorwärts, nicht rückwärts, nicht nach oben, nicht nach unten. Sie war gefangen und konnte nichts dagegen tun.

„Shiko …“, sagte eine Stimme ihren Kosenamen, „Erinnerst du dich an mich?“

Erinnern? An wen sollte sie sich erinnern? Wem gehörte diese Stimme?

„Verstehe … Es hätte mich gewundert, wenn sie anders entschieden hätten.“, stellte die Stimme fest und warf damit nur noch mehr Fragen auf, „Aber ich muss trotzdem mit dir sprechen, Shiko … Du weißt, wer Tyria bedroht und alle Wesen in Angst leben lässt, nicht wahr?“

Sie antwortete ganz automatisch, ohne darüber nachzudenken: „Die Drachen.“

„Ich will dir zeigen, mit wem du es zu tun hast.“, erklärte sie und nacheinander erschienen fünf Bilder, „Primordus, der Feuerdrache … Jormag, der Luftdrache … Kralkatorrik, der Erddrache … Mélyten, der Wasserdrache … Und schließlich Zhaitan, der Drache des Todes.“

Bei jedem einzelnen lief es Shikon Feenseele eiskalt den Rücken herunter. Zwar hatte sie die Namen der Drachen schon früher des öfteren gehört oder gelesen, doch sie zu sehen war etwas völlig anderes …

„Nun verstehst du sicher, warum bisher jeder Versuch gescheitert ist.“, meinte die Stimme beinahe traurig, „Und genauso verstehe ich deine Angst … Hör´ mir zu, Shiko, es gibt einen Grund, warum ich sie ausgerechnet dir zeige – eines Tages wird es deine Bestimmung sein, den Kampf gegen die Drachen wiederaufzunehmen!“
 

Im letzten Traum war ihr die Stimme wieder erschienen … Der Zeitpunkt gegen die Alt-Drachen zu kämpfen war gekommen! Nur sie konnte das Ende von Tyria noch verhindern. Darum hatte Shikon Feenseele nicht anders gekonnt, als die für sie wertvollsten Dinge in einen Beutel zu packen und ihre Abreise vorzubereiten. Nur das Foto war noch übrig. Sollte sie sich wirklich von diesem Traum leiten lassen? Vielleicht war es ja nur eine Einbildung gewesen, geboren aus ihrer Trauer über das Leid der verschiedenen Völker … Das wäre immerhin logischer, als eine wildfremde Stimme, die des Nachts zu ihr sprach. Aber stimmte das überhaupt, war ihr diese Stimme wirklich fremd? Sie hatte Shikon Feenseele immerhin gefragt, ob sie sich an sie erinnerte. Und so verrückt es auch klang, sie konnte nicht leugnen, dass sie eine tiefe Vertrautheit gegenüber der Sprecherin empfand, so als würden sie sich schon ewig kennen … Entschlossen packte sie das Foto in ihren Beutel und zog ihn zu.

Ihre Mutter hielt sich zu dieser Tageszeit meist im Garten des Herrenhauses auf. Deshalb suchte Shikon Feenseele dort zuerst nach ihr. Fürstin Gwynith saß tatsächlich auf der Bank unter ihrem geliebten Apfelbaum und las in einem Buch. Als sie aufsah, bemerkte sie sofort das Bündel, welches ihre Tochter über der Schulter trug, und legte ihre Lektüre zur Seite.

„Mutter …“, begann die rothaarige Elementarmagierin und atmete noch einmal tief durch, „Ich werde Götterfels verlassen. Noch heute. Denn … es gibt etwas, das ich tun muss.“

Gwynith schaute weniger überrascht drein, als erwartet, und erwiderte: „Ich wusste, dieser Tag würde irgendwann kommen. Dieser Tag, an dem du die Wahrheit erfahren musst … und vor dem ich mich immer gefürchtet habe.“

„Wovon sprichst du?“, gab Shikon Feenseele verständnislos zurück.

Sie lächelte freudlos, bevor sie antwortete: „Das Kind, das ich unter dem Herzen getragen habe, wurde tot geboren. Nur wenige Tage später habe ich dich genau hier, unter den Wurzeln dieses Baumes gefunden … ganz allein. Ich habe dich vom ersten Moment an geliebt, auch wenn … wenn ich nicht deine leibliche Mutter bin.“

Der Schlag traf Shikon Feenseele völlig unvorbereitet. Sie hatte mit einem tränenreichen Abschied, vielleicht sogar mit Wut seitens ihrer Mutter gerechnet, aber nicht damit … Sie sank an Ort und Stelle in die Knie. Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. Doch sie mussten warten!

„Es tut mir so leid, Shiko …“, schluchzte Fürstin Gwynith, „Verzeih´ mir!“

Die Elementarmagierin zwang sich wieder aufzustehen, legte die Arme um ihre Mutter und erwiderte: „Nur weil ich nicht deine leibliche Tochter bin, ändert das nichts an der Tatsache, dass du meine Mutter bist! Du hast mich aufgezogen und mich auf meinen Weg geführt … Dafür bin ich dir unendlich dankbar!“
 

Die Torwächter warfen ihr einen überraschten Blick zu, besannen sich jedoch schnell wieder. Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Es war sicher sehr ungewöhnlich die Tochter einer Fürstin ohne adlige Kleidung, sondern mit einem Reisebündel und Magiergewand zu sehen.

Während sie hindurchschritt, flüsterte Shikon Feenseele so leise, dass sie niemand hören konnte: „Die Herrschaft der Drachen hat das Leben für die Völker Tyria´s verändert … Seit die Klinge des Schicksals aufgelöst wurde, hat es niemand mehr gewagt, sich ihnen entgegenzustellen. Aber wir dürfen nicht aufgeben! Wir müssen Widerstand leisten … Ich muss kämpfen – für diejenigen, die es selbst nicht können und die zu mir aufsehen. Es ist meine Verantwortung, meine Pflicht!“

Doch in dem kleinen Dorf Shaemoor, das am Fuße von Götterfels lag, wartete eine böse Überraschung auf die schöne Elementarmagierin. Dorfbewohner schrien durcheinander, Soldaten versuchten sie zu evakuieren. Wie durch Zufall bekam Shikon Feenseele mit, wie einer von ihnen der Kommandantin erzählte, der Hauptmann fordere Verstärkung für die Festung an. Ohne nachzudenken rannte los nach Nordosten. Das Szenario schockte Shikon Feenseele. Die Seraphen kämpften verbittert gegen eine ganze Armee Tamini-Zentauren, die sie regelrecht zu überrennen drohten. Ihre Starre wich allerdings sehr schnell der Konzentration und sie rief die vier Elemente an. Feuer regnete vom Himmel, Eis machte die Gegner bewegungsunfähig, Stürme schlugen Breschen in die Reihen der Feinde, Erdspalten taten sich auf. Ein Zentaur nach dem anderen fiel unter ihren Zaubern. So kämpfte sie sich bis zu Logan Thackeray durch, seines Zeichens treuester Diener Ihrer Majestät Königin Jennah. Während der ganzen Zeit behielt er den Überblick über seine Kameraden – ihm war Shikon Feenseele natürlich sofort sofort aufgefallen –, dementsprechend plante er den Gegenschlag. Sie war ihrerseits von ihm ebenso beeindruckt – genauso musste ein wahrer Anführer sein. Sie hatte in Götterfels zwar bereits unzählige Gerüchte gehört, besonders ihr Kindheitsfreund Fürst Faren war immer auf dem neuesten Stand, was Klatsch und Tratsch anging, und mit Seraphen zu tun gehabt, aber zum ersten Mal stand Shikon Feenseele ihm leibhaftig gegenüber. Von ihrer Schwärmerei für den Helden etwas zu sehr abgelenkt, bemerkte sie nicht, wie sich ihr zwei weitere Zentauren-Waldläufer von hinten näherten und bereits Pfeile an ihre Sehnen gelegt hatten. Auch von dem flüchtigen Schatten, der an ihr vorbeizog, bekam sie nichts mit. Erst das schmerzhafte Röcheln erregte Shikon Feenseele´s Aufmerksamkeit, gerade als die Halbwesen mit klaffenden Wunden an den Kehlen zusammenbrachen.

„Wir haben es geschafft! Der Angriff ist abgewehrt!“, verkündete der Wächter nur wenig später und ging auf sie zu, „Ich hörte, Ihr verfügt über große Kräfte … doch es zu erleben hat mich mehr als verblüfft, Lady Shikon. Nein, ich sollte Euch wohl eher die >Heldin von Shaemoor< nennen. Ich stehe in Eurer Schuld … Ohne Euer Eingreifen wäre das Dorf verloren gewesen. Und meine Seraphen dazu.“

Vor Freude über dieses Kompliment wurde Shikon Feenseele leicht rot um die Nasenspitze, während sie antwortete: „Wie ohne Euch, Hauptmann Thackeray. Es war mir eine Ehre an Eurer Seite zu kämpfen.“

„Hoffentlich nicht zum letzten Mal.“, entgegnete Logan lächelnd, „Kryta und die Königin können immer starke Verbündete gebrauchen.“

Sollte sie ihm von ihren Plänen erzählen? Schließlich war er ein Mitglied der Klinge des Schicksals gewesen … Nein, sie konnte es ihm nicht sagen. Sie wusste nicht, unter welchen Voraussetzungen sich die Gilde aufgelöst hatte. Schlimmstenfalls wollte er sie dann davon abhalten und das konnte sie nicht riskieren.

Darum erwiderte sie sein Lächeln und meinte: „Ich werde nie aufhören für meine Heimat zu kämpfen. Egal wohin mein Weg mich führen wird …“

„Das ist sehr nobel von Euch. Ich verstehe, warum die Bürger Euch verehren.“, sagte er anerkennend, „Aber nun muss ich Euch leider verlassen … Die Königin erwartet meinen Bericht. Heldin von Shaemoor, Ihr habt den aufrichtigen Dank aller Seraphen! Solltet Ihr jemals unsere Hilfe benötigen, werden wir Euch zur Seite stehen.“

Shikon Feenseele ahnte in diesem Moment noch nicht, dass sie irgendwann wirklich auf dieses Angebot würde zurückgreifen müssen …
 

Der Drachen Schatten und ein Licht der Hoffnung

Mit der Hilfe von Shikon Feenseele hatten die Seraphen den Angriff der Zentauren nicht nur abgewehrt, sondern die Gegner sogar zurückgedrängt. Doch die neue Sicherheit war trügerisch und Shikon Feenseele lief direkt in einen Hinterhalt; unzählige Zentauren umzingelten sie, kreisten sie immer enger ein.

„Ko-kommt mir nicht zu nahe!“, rief sie nervös, „Ich … ich bin die Heldin von Shaemoor!“

Ein besonders großer Zentaur trat vor und erwiderte höhnisch: „Nur dass du diesmal keine Seraphen oder den ach so tollen Hauptmann Thackeray an deiner Seite hast! Ich sehe hier nur ein kleines, hilfloses Mädchen!“

Als ob sie das in diesem Moment nicht selber wüsste … Angst lähmte ihre Konzentration, schwächte ihre Kontrolle über die vier Elemente. Es war das erste Mal, dass sie außerhalb der Stadtmauern allein einer ernsthaften Gefahr gegenüberstand. Was war sie nur für eine Närrin gewesen! Wenn sie bereits gegen eine Schar Zentauren verlor, wie sollte sie es dann erst mit den Drachen aufnehmen?

„Dilettanten.“, kam eine Stimme von irgendwoher.

Bevor sich auch nur ein Zentaur bewegen konnte, schallte ein Klirren über die Lichtung und der erste Gegner brach röchelnd zusammen. Shikon Feenseele schlug die Hände vor den Mund – die beiden Waldläufer in der Festung waren durch dieselbe Wunde gestorben. Der flüchtige Schatten brachte noch drei weiteren den Tod, dann rief der Anführer – jener, der Shikon Feenseele bedroht hatte – zum Rückzug. Voller Erleichterung atmete die schöne Elementarmagierin auf. Bis sich hinter ihr eine kühle Aura manifestierte. Irgendwoher kannte sie die Energie. Fast wie diese Stimme aus ihren Träumen … Die ganze Szene schien ihr beinahe wie ein längst vergessener Traum. Nur langsam drehte sich Shikon Feenseele um. Der junge Mann war ein Stück größer als sie, dunkle Haare hingen ihm in Fransen ins Gesicht, welches großteils von einer braunen Maske verdeckt wurde, passend zum Rest seiner Kleidung. Nur in seine Augen konnte sie ungehindert sehen …

„Sind … sind wir uns schon einmal … begegnet?“, hauchte Shikon Feenseele, ohne dass sie die Worte hatte aussprechen wollen.

Der Dieb deutete eine leichte Verbeugung an und antwortete: „Nein, nicht wirklich. Mein Name ist Ohtah … Ohtah Shadowdragon. Und ich biete Euch hiermit meine Dienste zum Schutze Eures Lebens an, Lady Shikon Feenseele.“

„Wo-woher kennst du mich?“, wollte sie von ihm wissen, „Und warum willst du mir helfen?“

Er zog seine Maske herunter, sodass ein Lächeln darunter sichtbar wurde, bevor er erwiderte: „Ihr solltet wissen, dass Ihr auf den Straßen von Götterfels keine Unbekanntheit seid … nicht nur bei den Bauern und Kaufleuten. Ich weiß, warum Ihr die Stadt verlassen habt … Ihr könnt diesen Kampf nicht allein bestreiten. Allerdings hätte ich auch nicht erwartet, dass eine adlige Dame, die wie Ihr eine solch gute Ausbildung erhalten hat, hier draußen so schnell in Bedrängnis geraten würde.“

Machte er sich gerade über sie lustig? Shikon Feenseele verstand nicht, was dieser Ohtah Shadowdragon eigentlich von ihr wollte.

„Wenn Ihr mich fragt, so habt Ihr auf dem Weg von Götterfels hierher etwas verloren.“, fuhr Ohtah Shadowdragon nach der Pause fort, „Ich habe schon früher Gerüchte über Euch gehört … wie Ihr einfachen Leuten das Leben gerettet habt. Seid Ihr nicht auch deshalb zu dieser Reise aufgebrochen – um denjenigen zu helfen, die von den Drachen unterdrückt werden? >Nur diejenigen, die mutig genug sind, sich dem Kampf überhaupt erst zu stellen, können ihn verlieren.<“

Sie riss ihre Augen auf, starrte ihn sprachlos an. Diese Wahrheit ließ sich nicht leugnen, sie war einfach nur feige gewesen und hatte ihr Ziel aus den Augen verloren. Wenn niemand etwas unternahm, würden auch noch künftige Generationen unter den Drachen leiden – nur weil sie es nicht einmal versucht hätte? Das durfte nicht sein. Sie wollte nicht mehr davonlaufen. Doch der Wunsch allein genügte nicht – sie musste sich der Herausforderung auch wirklich stellen. Mit allen Gefahren und Erfahrungen, die dazugehörten.

Shikon Feenseele richtete sich gerade auf und sprach entschlossen: „Nie wieder … Ich werde niemals wieder so schwach sein und mich unterkriegen lassen! Und … ich möchte dich bitten, mich zu begleiten, Ohtah.“

Ohtah Shadowdragon hatte ihr den Rücken gekehrt, darum konnte sie die Röte auf seinen Wangen nicht sehen. Zu mehr als einem stummen Nicken war er nicht im Stande. In Gedanken formte er das Versprechen nicht mehr von ihrer Seite zu weichen, solange sie ihn nicht von sich wies. Er würde sie beschützen! Seine Ehre allein unterschied ihn von dem Pack, das ansonsten durch die Gassen von Götterfeld streifte – durch nichts anderes konnte er sich beweisen. Einzig sein Wort zu halten, sich daran gebunden zu fühlen.

Überglücklich ergriff Shikon Feenseele seine Hand. Sie fühlte, dass sie nicht nur ihren Kampfgeist gefunden hatte – sondern vor allem einen Gefährten.
 

„Jemand folgt uns.“, stellte Ohtah Shadowdragon ruhig fest, gerade als die Dämmerung anbrach.

Sofort wollte sich Shikon Feenseele umdrehen, doch der flinke Dieb drückte ihre Hand und fesselte damit ihre Aufmerksamkeit.

Sie verstand und flüsterte zurück: „Weißt du, wer … oder was es ist?“

„Auf jeden Fall kein Zentaur, der noch nicht genug hat … Ich würde sagen, es ist ein Mensch.“, schätzte er, ließ ihre Hand jedoch nicht los.

Mit Mühe zwang sie ihre Verlegenheit nieder und antwortete: „Dann sollten wir wohl herausfinden, was unser Verfolger will.“

An einer geschützten Stelle in Salma´s Heide bauten Shikon Feenseele und Ohtah Shadowdragon ihr Nachtlager auf. Zum einen wollten sie die Berge nicht in der Nacht durchqueren, zum anderen würde entweder die Kälte den Fremden herauslocken oder die Dunkelheit ihn in Sicherheit wiegen, sodass er unvorsichtig wurde. Nachdem die beiden ihr Abendessen beendet hatten, breiteten sie schweigend ihre Decken aus und warteten. Es dauerte nicht lange, da näherte ich ihnen eine starke Aura. Schneller als für das sterbliche Auge sichtbar, verschwand der Dieb mit Hilfe eines Schattenschritts und tauchte nur wenige Sekunden später wieder auf, diesmal allerdings in Begleitung. Es war ein junges Mädchen – keinesfalls älter als Shikon Feenseele oder Ohtah Shadowdragon.

„Wer bist du?“, wollte er mit anklagender Stimme wissen.

Shikon Feenseele schritt sofort ein: „Warte, Ohtah! Siehst du nicht, was für eine Rüstung sie trägt? Sie ist eine Seraphine aus Götterfels.“

Die junge Wächterin nickte und erklärte: „So ist es, Lady Shikon. Mein Name ist Seiketsu Lichtsegen. Ich komme im Auftrag von Fürstin Gwynith. Sie befahl, einer der besten Gardisten solle Euch folgen, um Euch zu beschützen. Und so meldete ich mich freiwillig.“

Es überraschte die Adlige nicht im Geringsten, dass ihre Mutter eine solche Maßnahme eingeleitet hatte. Sie musterte Seiketsu Lichtsegen. Ihre Augen strahlten eine immense Wärme aus und sprachen von großer Tapferkeit.

„Es freut mich dich kennenzulernen, Seiketsu. Willkommen in unserer Gemeinschaft!“, begrüßte Shikon Feenseele sie und überraschte damit nicht nur die Wächterin, „Und bitte nenn´ mich einfach nur >Shiko<, das tun alle meine Freunde.“

Seiketsu Lichtsegen lächelte dankbar. Sie mochte die Elementarmagierin auf Anhieb. Allerdings bedurfte es ihrer größten Überredungskunst, bis sich die Wächterin endlich schlafen legen wollte, dafür aber augenblicklich einschlief – die Verfolgung hatte an ihren Kräften gezehrt. Shikon Feenseele setzte sich unterdessen neben Ohtah Shadowdragon ans Feuer, der die Neue sehr genau im Auge behielt.

„Warum bist du so feindselig gegenüber Seiketsu?“, fragte sie verständnislos.

Ohne sie anzusehen, stellte der Dieb mürrisch seine Gegenfrage: „Warum bist so vertrauensselig?“

„Ja, es stimmt … Ich weiß nicht warum, aber ich spüre eine tiefe Vertrautheit ihr gegenüber. So geht es mir übrigens auch bei dir …“, erwiderte die Elementarmagierin beinahe träumerisch, „Jetzt mal im Ernst – siehst du wirklich etwas Niederträchtiges in ihr?“

Darauf konnte er nicht anders, als sich geschlagen zu geben: „Nein. Aber damit eines klar ist – ich bin dein Beschützer!“

Shikon Feenseele lächelte in sich hinein. Dann küsste sie ihn auf die Wange.

„Danke, Ohtah …“, hauchte sie und zog sich ebenfalls zurück.

Ohtah Shadowdragon legte seine Hand auf die Stelle, an der ihre Lippen ihn berührt hatten, während auch auf seinem Gesicht ein Lächeln erschien.
 

Feuertaufe

Seit Seiketsu Lichtsegen zu Shikon Feenseele und Ohtah Shadowdragon gestoßen war, suchten sie überall nach neuen Informationen über die Aktivitäten der Drachen. Ihr Ziel war Löwenstein – die Hafenstadt war berühmt für ihren Klatsch über alle möglichen Ereignisse in Tyria. Um weiteren Auseinandersetzungen mit den Zentauren aus dem Weg zu gehen, wollten sie den Weg durch die Steinbohrungskammern zum Tal des Reisenden nehmen, welches genau zum Eingang von Löwenstein führte. Der geschickte Dieb führte die beiden Frauen durch die Tunnel immer tiefer unter die Erde. Shikon Feenseele folgte ihm bedenkenlos und Seiketsu Lichtsegen folgte ihr. Gerade als die schöne Elementarmagierin wieder einmal damit beschäftigt war, Ohtah Shadowdragon´s Vorgehensweise zu bewundern, begann die Erde zu beben. Der Boden und die Wände wackelten, Felsbrocken stürzten herunter. Shikon Feenseele stieß Seiketsu Lichtsegen zur Seite, da brach auch schon das Gestein unter ihr weg und noch bevor sie sich irgendwo hätte festhalten oder ihr irgendjemand hätte helfen können, stürzte sie ins Bodenlose.

„SHIKO!“, schrie Ohtah Shadowdragon, ohne sich bewusst zu sein, dass er sie zum ersten Mal so nannte.

Auch die junge Wächterin schrie entsetzt. Sie hasteten zum Rand des Abgrund, konnten jedoch kein Ende erkennen. In ihren Gesichtern spiegelte sich derselbe Ausdruck – sie hatten beide vollkommen in ihrer Aufgabe versagt!

Shikon Feenseele fiel und fiel, hörte gar nicht mehr auf zu fallen. Viele unzählige Meter tief. Hinab in die Tiefen Tyria´s. Mühsam konzentrierte sie ihre Magie, versuchte die Kontrolle über die Luft zu sich zu rufen. Im letzten Moment, bevor sie unten aufschlagen konnte, gelang es ihr eine Art Luftpolster zu errichten, das sie auffing, sodass sie zumindest halbwegs sanft landete. Ihr war schlecht, als sie sich aufrichtete und umsah. Lava schoss um sie herum in die Höhe, die Hitze war unbeschreiblich – Shikon Feenseele war buchstäblich in einem Flammeninferno gelandet. Wie gut, dass das Feuer ihr vertrautestes Element war und sie sich zu schützen wusste. Schnell wob sie einen Zauber, der sie abschirmte.

„Willkommen in meinem Reich.“, dröhnte eine tiefe Tiefe in ihren Gedanken, „Ich habe nicht oft Besuch … du wirst daher verstehen, dass ich erfahren möchte, was du hier zu suchen hast.“

Ihre Augen weiteten sich erschrocken. Was sie für eine harmlose Gesteinsformation gehalten hatte, war in Wahrheit ein lebendiges Wesen. Schlimmer noch – es war ein Alt-Drache! Genauer gesagt der Feuerdrache Primordus, der vor über zweihundertfünfzig Jahren als erster von ihnen erwacht war. Sprachlos starrte sie ihn an. Seine Macht loderte so gewaltig, dass ihr Körper ungewollt zitterte. Selbst jeder Nicht-Magier hätte die gewaltige Präsenz nicht ignorieren können. Niemals zuvor hatte die Elementarmagierin solche Angst verspürt. Diese uralte Magie, die sie drohte herauszufordern … Mit einem Mal begriff sie, warum jeder Widerstand gegen die Alt-Drachen gescheitert war.

„Es ist merkwürdig … Deine Aura ähnelt jenem Mädchen.“, meinte Primordus, nachdem Shikon Feenseele mehrere Minuten eisern geschwiegen hatte, „Und dennoch bist du so viel schwächer als sie … Bleibt noch die Frage zu klären, was mache ich jetzt mit dir?“

Am liebsten hätte Shikon Feenseele die Sechs Götter um Hilfe angefleht. Doch war es nicht so, dass sie sich von Tyria abgewendet hatten? Wenn selbst die Götter nichts gegen die Drachen unternehmen konnten, wie sollte dann jemand wie sie, ein gewöhnlicher Sterblicher den Kampf gegen diese Wesen aufnehmen?

„Ich denke, du hast Glück, Menschenkind.“, fuhr der Feuerdrache fort, „Im Gegensatz zu meinem Bruder Zhaitan hege ich kein Vergnügen gegenüber sinnlosem Töten … zumindest meistens. Dieses eine Mal sei dir unverdiente Gnade gewährt!“

Primordus breitete die Schwingen seiner Flügel aus. Ein Lufthauch streifte Shikon Feenseele und sie erschien wieder unversehrt in den Steinbohrung-Kammern, wo Ohtah Ryutaiyo sie gerade noch rechtzeitig auffangen konnte, bevor sie bewusstlos zu Boden sank.

Shikon Feenseele schien zu schweben. Dunkelheit umhüllte sie. Sie ahnte, was kommen würde.

„Shiko …“, erklang die gewohnt warme, weibliche Stimme, „Du bist Primordus begegnet … hast seine Macht gespürt. Aber deine eigene Kraft und die deiner Verbündeten scheinst du vollkommen zu übersehen. Willst du wirklich wieder zweifeln?“

In Shikon Feenseele kämpften tatsächlich Verzweiflung und Hoffnung gegeneinander. Sie hatte sich so fest vorgenommen nicht mehr zu schwanken, den Kampf um jeden Preis aufzunehmen …

„Tyria ist nicht verloren.“, sprach die Unbekannte sanft, „Du bist weit mehr, als du glaubst … Du trägst alles in dir, was du brauchst! Mehr Mut, als sonst jemand aufbringen könnte. Du darfst nur nicht vergessen, wofür du kämpfst … und wer treu an deiner Seite steht.“

Sie schloss für einen Moment ihre Augen, bevor sie erwiderte: „Ja, Ohtah und Seiketsu wollen mir beistehen … damit die Menschen und alle anderen Völker gerettet werden.“

„So ist es.“, stimmte sie ihr nachdrücklich zu, „Und auch Elona … und Cantha würden irgendwann noch mehr von Zerstörungswut der Drachen heimgesucht werden.“

Cantha. Der Name des südlichen Kaiserreiches löste etwas in ihr aus, hallte in ihr wieder. Da war eine gewisse Verbundenheit, dabei wusste sie nicht einmal viel über den entfernten Kontinent.

„Es gibt jemand, der dir helfen kann. Sie weiß, was du tun musst, um gegen die Drachen bestehen zu können.“, kam es nach einer Pause von der Stimme, „Nimmst du die Herausforderung an, bist du bereit deinen Weg weiterzugehen?“

Shikon Feenseele öffnete den Mund, schloss ihn jedoch sofort wieder. Sie war Primordus gegenüber gestanden, hatte seine lodernde Präsenz gespürt. Noch konnte sie sich aus der ganzen Geschichte zurückziehen, es einem anderen überlassen. Doch würde es überhaupt jemand geben, der ihren Platz einnahm? Vielleicht Ohtah Shadowdragon … Nein, allein konnte er nichts ausrichten. Sie wollte auch gar nicht, dass er sich allein in diese Gefahr begab.

„Nun … wie lautet deine Entscheidung?“, wollte sie von ihr wissen.

Die Elementarmagierin fokussierte ihren Blick, als sie sagte: „Keiner der drei Kontinente soll länger unter den Drachen leiden. Wohin muss ich gehen?“

„Finde den Geist von Glint in der Kristallwüste.“, erklärte ihr die Stimme voller Stolz.

Sie wollte Shikon Feenseele schon aus dem Traum entlassen, da hielt diese sie zurück: „Warte, bitte! Wer bist du? Sag´ es mir …“

„Irgendwann wirst du dich an meinen Namen erinnern.“, erwiderte sie geheimnisvoll und verschwand mit einem hellen Lachen.

Keine Sekunde später erwachte Shikon Feenseele aus ihrem Traum und sie setzte sich sofort ruckartig auf. Die Worte klangen ihr noch in den Ohren.

„Shiko? Wie geht es dir?“, riss Ohtah Shadowdragon sie aus ihren Gedanken.

Er saß neben ihr, hatte über ihren Schlaf gewacht. Ein kleines Lagerfeuer brannte und um sie herum standen einige Bäume; das bedeutete sie waren ganz in der Nähe von Löwenstein. Ohtah Shadowdragon musste sie den ganzen Weg hierher getragen haben. Seiketsu Lichtsegen konnte sie nirgends entdecken.

„Wo ist Seiketsu?“, wollte sie wissen.

Er sah sie besorgt an und antwortete: „Sie ist vorausgegangen, um sich mit den Wachen von Löwenstein zu treffen. Aber ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“

Die Elementarmagierin nickte kaum merklich, dann erklärte sie: „Wir müssen zur Prophetin Glint.“

„Glint?“, wiederholte er vollkommen verständnislos, „Und dein Absturz? Was ist passiert?“

Ohne ihn anzusehen erwiderte sie: „Ich kann mich an nichts mehr erinnern … Ich weiß nicht, wie ich wieder an die Oberfläche gekommen bin.“

Es tat ihr weh ihn so anzulügen, doch die Wahrheit wollte ihr einfach nicht über die Lippen kommen. Sie konnte ihm nicht sagen, wie schwach sie sich gefühlt und dass sie beinahe erneut gezögert hatte. Er sollte nicht schlecht von ihr denken. Daher wandte sie sich schnell an die Erzählung von ihrem Traum – beinahe erwartete sie, er würde sie auslachen, aber der Dieb schaute noch ernster drein als sonst.

„Das könnte unsere Chance sein … Es ist vielleicht die einzige Möglichkeit herauszufinden, was wir gegen die Drachen unternehmen können. Wir sollten den Versuch wagen – die Sagen um Glint reichen beinahe genauso lang zurück, wie jene der Drachen. Auch wenn es ziemlich schwierig werden wird dorthin zu kommen …“, meinte er nachdenklich.

Überrascht fragte Shikon Feenseele: „Dann bleibst du bei mir?“

„Shiko …“, hauchte er ihren Namen, während er ihre linke Wange berührte, „Bei den Sechs, ich schwöre, ich beschütze dich mit meinem Leben! Für immer … Ich werde dich niemals verlassen, hörst du? Wohin du auch gehst.“

Die Rothaarige fiel ihm um den Hals und Ohtah Shadowdragon drückte sie fest an sich.
 

Portalistin Ganda

Auch wenn ihr genaues Ziel nun feststand, ergab sich eine große Schwierigkeit – die Kristallwüste wurde von einem der Alt-Drachen besetzt. Das bedeutete, sie konnten nicht einfach dort einmarschieren – blieb nur der Weg durch ein Portal. Und dafür benötigten sie einen Führer.

„Warum willst du mich nicht mitnehmen?“, wollte Shikon Feenseele beinahe beleidigt wissen.

Ohtah Shadowdragon zwang sich zur Ruhe und wiederholte seine Erklärung: „Weil wir keine gewöhnliche Reise buchen. Ich muss jemand aus dem Untergrund ausfindig machen – das ist kein Ort für eine adlige Dame wie dich. Außerdem musst du hier auf Seiketsu warten. Und schonen solltest du dich auch noch etwas …“

Die schöne Elementarmagierin wurde rot um die Nase. Er machte sich Sorgen um sie …

„Aber pass´ bitte auf, ja? Ich … schaffe das nicht ohne dich.“, bat sie, während ihr Blick zu Boden gerichtet war.

Er hob sanft ihr Kinn an und sagte: „Und wenn es das letzte ist, was ich tue … Ich komme zu dir zurück, versprochen!“
 

Im Untermarkt von Löwenstein wurden alle Geschäfte abgewickelt, die nicht an die Öffentlichkeit dringen sollten. Dies war das Zuhause von Piraten, Schmugglern, Obdachlosen und sonstigem Gesindel. Also war Ohtah Shadowdragon hier genau richtig. Es war auch nicht sein erster Besuch auf dem Schwarzmarkt; er hatte bereits früher illegale Güter von hier nach Götterfels gebracht. Er ging an die Bar, bestellte sich ein Bier und lauschte den Gesprächen der anderen Besuchern.

„Wisst ihr etwas über einen Portalführer?“, fragte er niemand bestimmten.

Der Barkeeper sah ihn überrascht an und hakte sofort nach: „Wollt Ihr etwa eine Reise unternehmen, Fremder?“

„Ja … aber das Ziel … nun sagen wir, es bedarf einem großen Maß an Mut. Ich kann keinen feigen Geschäftsmann gebrauchen, der nur Urlaubsorte ansteuert.“, antwortete er lachend.

Sein Gegenüber trocknete weiter Gläser ab, dann zeigte er plötzlich auf einen Tisch in eine Ecke, an dem ein kleines Wesen saß, und erklärte: „Das ist Ganda. Sie ist eine Asura … Glaubt mir, Ihr findet hier unten keine geschicktere Portalistin. Ganda ist etwas ganz besonderes … Sie kennt das Portalnetz besser, als jeder andere Führer und bringt Euch überallhin, wo Ihr wollt.“

„Klingt perfekt.“, bestätigte der geschickte Dieb, bevor er dem Barkeeper zwei zusätzliche Goldstücke zuwarf.

Keine Sekunde später verschwand er in den Schatten und tauchte direkt neben der Asura wieder auf.

„Wer seid Ihr?“, wollte sie mit einer piepsigen Stimme von ihm wissen.

Ohtah Shadowdragon zog seine Maske vom Gesicht und erwiderte: „Jemand, der eine Mission zu erfüllen hat.“

„Und wohin soll ich Euch bringen, damit Ihr diese … Mission erfüllen kannst?“, fragte sie weiter.

Sein Blick wurde ernst, als er antwortete: „Meine beiden Begleiterinnen und ich müssen unbemerkt in die Kristallwüste gelangen. Ihr wisst sicher, wer dieses Gebiet kontrolliert … Darum sagt es mir besser gleich, ob Ihr Euch diesen Auftrag zutraut.“

Ganda begann haltlos zu lachen. Es traten ihr schon Tränen in die Augen und ihr Bauch tat weh, als sie sich nach einer Weile langsam wieder beruhigte.

„Man hat es Euch doch sicher gesagt … sonst hättet Ihr mich gar nicht erst angesprochen.“, meinte sie belustigt, „Es gibt keinen Ort in Tyria, an den ich Euch nicht bringen könnte. Allerdings-“

Nun war es an Ohtah Shadowdragon zu lachen und auf ihren fragenden Blick hin erklärte er: „Wenn die Bezahlung ein Problem wäre, hätte ich Euch wohl gar nicht erst aufgesucht. Ich weiß, was ich verlange … Haltet Ihr mich wirklich für so bescheuert?“

„Nein. Es hätte mich tatsächlich sehr überrascht, wenn Ihr zu der Sorte hirnloser Dummköpfe gehören würdest, die hier sonst so herumlaufen. Natürlich seid Ihr bei weitem nicht so schlau wie eine Asura, aber das wäre ja auch zu viel verlangt.“, berichtete Ganda und erhob sich von ihrem Platz, „Ich habe noch einige Dinge vorzubereiten. Wir treffen uns nach Einbruch der Nacht auf dem Marktplatz.“
 

Kurz vor Beginn der Dämmerung brachen Ohtah Shadowdragon, Shikon Feenseele und Seiketsu Lichtsegen aus ihrem Versteck auf. Der Weg nach Löwenstein war zwar nicht weit, dafür standen beinahe überall Wachen der Löwengarde – darum hatte die junge Wächterin den ganzen Tag über ihre Patrouillenwege ausspioniert – und kontrollierten jeden, der die Stadt betreten wollte. Doch Ohtah Shadowdragon wäre kein richtiger Dieb, wenn er nicht an ihnen vorbeigekommen wäre.

„Haltet euch gut an mir fest.“, flüsterte er und sah Shikon Feenseele an, „Vertrau´ mir …“

Er verschmolz mit den Schatten und zog sie mit sich. Die beiden Frauen spürten einen kalten Hauch, danach umfing sie völlige Dunkelheit. Nur wenige Sekunden später war alles vorbei und sie standen mitten auf einem großen Platz.

„Das wäre geschafft. Ich kann einfach nicht glauben, dass die Wachen immer noch keinen Schutz gegen Schattenschritte haben.“, meinte der Dieb mit einer Spur Selbstzufriedenheit in der Stimme.

Shikon Feenseele lachte amüsiert und entgegnete: „Du bist eben mein Held.“

Hätte Ohtah Shadowdragon nicht wie gewöhnlich seine Maske getragen und wäre es nicht so dunkel gewesen, hätte die schöne Elementarmagierin sicher die Röte auf seinen Wangen gesehen.

„Ihr seid also gekommen.“, stellte ein kleines Wesen fest, das einen Kapuzenmantel trug.

Der Dieb nickte und wies auf seine Begleiterinnen: „Das sind Shikon Feenseele und Seiketsu Lichtsegen. Darf ich euch unsere Führerin vorstellen? Portalistin Ganda.“

Shikon Feenseele lächelte sie freundlich an und verbeugte sich leicht vor ihr. Die Asura schaute sie überrascht an, offenbar war solch eine Behandlung nicht gewohnt.

Seiketsu Lichtsegen räusperte sich leicht, bevor sie sagte: „Wir müssen uns beeilen. Um Mitternacht kommt eine Patrouille an den Portalen vorbei. Bis dahin müssen wir verschwunden sein.“

„Ihr habt recht.“, stimmte Ganda ihr zu und ging voraus.

Vorsichtig schlichen die drei Verbündeten hinter ihr her. Weg von dem belebteren Teil der Stadt, am Hafen vorbei zum anderen Ende. Dort befanden sich die Portalstationen Löwenstein´s, die über Nacht nicht in Betrieb waren. Zumindest schien es so.

„Einer der Zuständigen gehört zu Bort´s Piraten. Er stellt das letzte Portal immer so ein, dass es sich erst kurz vor Mitternacht vollständig abschaltet, so bekommen die Wachen nichts mit und der Schwarzmarkt floriert.“, erklärte Ganda leise.

Sie drückte einen der unzähligen Knöpfe und das Portal erwachte zum Leben. Anschließend gab sie die neuen Koordinaten ein.

„Die Verbindung ist hergestellt. Wir können starten.“, meinte sie und wandte um, „Ich gehe voraus, ihr folgt mir im Abstand von genau drei Sekunden.“

Die Asura trat durch das Portal, Shikon Feenseele zählte die drei Sekunden runter und gemeinsam schritten sie hindurch. Als sie die Augen wieder öffneten, war der Boden mit Sand bedeckt, überall lagen Felsbrocken und zerbrochene Kristalle herum. Und hinter ihnen erstreckte sich das Ende einer gewaltigen Schneise, die viele tausend Kilometer betrug – der Drachenbrand. Am oberen Ende der Flammenkamm-Steppe beginnend durchzog sie ganz Ascalon bis zum Rand der Kristallwüste. Und Schuld daran trug Kralkatorrik, der Erddrache. Sein Drachenodem hatte dieses Gebiet verflucht …

Mit Mühe riss sich Shikon Feenseele von dem bizarren Anblick los und wandte sich lächelnd an Ganda: „Danke, dass du uns hierher gebracht hast. Du bist wirklich eine ausgezeichnete Portalführerin. Kannst du hier bitte auf uns warten?“

Die kleine Asura nickte zustimmend. Sie mochte die Elementarmagierin irgendwie. Und noch mehr mochte sie es, gelobt zu werden. Besonders von jemanden, von dem ein solche Energie ausging.

Der Weg durch die eingestürzten Deckensteine, gebrochenen Säulen und zerbröckelten Felsen war trostlos. Nichts erinnerte mehr an die einst prachtvolle Drachenhöhle, von der in alten Büchern geschrieben stand. Mit dem Tod ihrer Herrin hatte dieser Ort seine Magie verloren.

„Wir müssen weiter rein.“, meinte die Elementarmagierin, „Ich spüre eine schwache Aktivität.“

Vorsichtig arbeiteten sie sich durch das gefährliche Labyrinth von Steinen, Felsen und sonstigen Hindernissen – Shikon Feenseele´s Macht über die vier Elemente zahlte sich wieder einmal aus, das musste Ohtah Shadowdragon neidlos zugeben. Trotzdem dauerte es mehreren Stunden, bis sie endlich das innere Heiligtum erreichten, welches als einziges verschont geblieben war. Ein sanftes Licht ging von dem kristallklaren Boden aus und ließ alles verwaschen aussehen.

„Ihr seid gekommen … Ich habe Euch erwartet, Shikon Feenseele, Seiketsu Lichtsegen und Ohtah Shadowdragon.“, erklang eine machtvolle Stimme und vor ihnen erschien der Kopf eines Drachens, eingehüllt von etwas, das einem magischen Zirkel ähnelte.

Zum Zeichen ihres Respekts senkten die drei Kämpfer ihre Häupter.

„Wir dürfen uns nicht mit Höflichkeiten aufhalten, junge Freunde. Mein ehemaliger Meister könnte jederzeit meine Anwesenheit spüren.“, fuhr sie fort, „Ich weiß, warum Ihr hier seid. Doch zunächst – kennt Ihr die Geschichte der >Klinge des Schicksals<?“

Seiketsu Lichtsegen nickte – ihr Lehrmeister Logan hatte ihr alles erzählt – und berichtete: „Die Klinge des Schicksals war eine Gilde, welche den Kampf gegen die Drachen aufnehmen wollte. Ihre Mitglieder bestanden aus den großen Völkern Tyria´s – Menschen, Asura, Norn, Charr und Sylvari. Aber eines Tages brach die Gemeinschaft auseinander, weil Hauptmann Thackeray die Gruppe verließ, um seiner Königin zu Hilfe zu eilen … In Folge dessen wurde Snaff, einer der beiden Asura getötet.“

„So ist es.“, sprach Glint, „Ich wollte sie gegen Kralkatorrik unterstützen … doch mein Schöpfer hat mich mit seinen Klauen zerfetzt, bevor ich ihnen die nötigen Informationen weitergeben konnte.“

Ohtah Shadowdragon starrte die Drachin entsetzt an und wiederholte: „Euer Schöpfer?“

„Ja … mein Kristallkörper wurde einst von Kralkatorrik erschaffen.“, erklärte sie und kehrte anschließend zum eigentlichen Thema zurück, „Es gibt einen Grund, warum ich die Klinge des Schicksals ausgewählt habe …“

Doch Shikon Feenseele unterbrach sie: „Wegen der Verbrüderung der verschiedenen Völker.“

„Korrekt.“, stimmte sie der Elementarmagierin anerkennend zu, „Ein einzelnes Volk hat keine Chance gegen die überwältigende Kraft der Drachen … Aber gemeinsam können sie einen Weg finden, sich zu behaupten. Shikon Feenseele, Seiketsu Lichtsegen und Ohtah Ryutaiyo, es ist Eure Aufgabe, den Kampf wiederaufzunehmen und dafür braucht auch Ihr Verbündete aus den anderen Völkern!“

Sie nickten entschlossen. Endlich hatte ihre Reise eine genaue Richtung bekommen.

„Es gibt noch etwas, das Ihr tun müsst …“, meinte Glint und richtete ihre Augen genau auf Shikon Feenseele, „Zhaitan, der Drache des Todes kann nur durch die Energie bezwungen werden, aus der alles Leben und alle Magie entspringt – die vier Elemente Feuer, Luft, Erde, Wasser … Ich weiß, was Ihr nun denken mögt, junge Elementarmagierin, doch Eure Macht über die Elemente wird dafür nicht ausreichen.“

Wie auf Stichwort erschien eine Truhe vor Shikon Feenseele. In der Truhe lagen vier durchsichtige Eier aus Kristall, welche ungefähr die Größe einer menschlichen Faust hatten.

„Das ist alles, was von meinem Dasein übriggeblieben ist … Sie sind leer, kein Leben ist mehr in ihnen. Sie werden die Seelen von Primordus, Jormag, Kralkatorrik und Mélyten extrahieren und zu Elementarjuwelen werden.“, informierte Glint sie und plötzlich konnte nur noch Shikon Feenseele ihre Stimme hören, „Eines solltet Ihr allerdings noch wissen … Die Juwelen nur zu besitzen genügt nicht – wenn Ihr Zhaitan besiegen wollt, müsst Ihr Eure eigene Schwäche überwinden!“

Das Abbild Glint´s verschwand. Und mit ihr auch der letzte Funken der hiesigen Magie.

„Ihr habt bereits das erste Mitglied Eurer Gemeinschaft gefunden.“, sagte eine piepsige Stimme in die Leere hinein.

Die Elementarmagierin, die Wächterin und der Dieb wirbelten herum. Vor ihnen stand Ganda.
 

Im Norden

Die kleine Asura bleib eisern bei ihrem Entschluss. Sehr zur Freude ihrer drei Verbündeten; nicht nur weil sie Ganda mochten, ihre Fertigkeiten waren mehr als nützlich – schließlich mussten sie quer durch ganz Tyria reisen.

„Wohin sollen wir als nächstes gehen?“, fragte Ohtah Shadowdragon, nachdem sie wieder sicher in Löwenstein waren.

Shikon Feenseele richtete ihren Blick in die Ferne und antwortete langsam: „Die Charr sind ein sehr schwieriges Volk. Und über die Sylvari weiß ich so gut wie nichts. Suchen wir zuerst die Norn auf.“

Sie nickten zustimmend und Ganda meinte: „Dann auf nach Hoelbrak!“
 

Das erste, was sie spürte, war die Kälte. Schnee wirbelte um sie herum. Alles erschien wie ein einziger Traum aus Eis. Shikon Feenseele fühlte sich sofort verzaubert. Es gab so viele wundervolle Orte auf der Welt. Orte, die sie nie zuvor gesehen hatte. Orte, die es zu beschützen galt.

„Ähm … Shiko, würdest du vie-vielleicht … deine Magie ei-einsetzen?“, schlotterte Seiketsu Lichtsegen und der Elementarmagierin wurde schlagartig wieder bewusst, dass ihre Gefährten von der Kälte beeinträchtigt wurden.

Schnell wob sie einen Zauber, welcher die Luft um sie herum erwärmte. Damit würde der Schnee unter ihren Füßen nicht schmelzen und sie würden trotzdem nicht erfrieren. Nun hatten auch die anderen Gelegenheit sich umzusehen. Es war erstaunlich, wie bunt gemischt die Wesen auf den Straßen herumliefen. Da waren nicht nur die hünenhaften Norn, sondern auch Charr, Menschen und sogar Asura. Selbst vereinzelte Sylvari. Anscheinend verstanden sich die Völker untereinander besser, als bislang angenommen.

„Ihr seid doch sicher auch wegen des Turniers hier!“, sprach sie einer der Norn an, „Natürlich seid ihr das! Willkommen in Hoelbrak, der Hochburg unserer Gesellschaft! Geht nur, geht, das große Spektakel beginnt gleich!“

Er wies auf eine Arena, welche in der Nähe des zugefrorenen Sees lag. Unzählige Schaulustige waren darum versammelt.

In genau dem Moment, als Shikon Feenseele und ihre Freunde dort eintrafen, verkündete ein Sprecher: „Es ist soweit! Möge der stärkste Norn siegreich vom Platz gehen und gemeinsam mit den Geistern der Wildnis die Schergen des Drachens zurückschlagen!“

Sofort horchten sie auf. Während die Regeln erklärt wurden, verstanden sie vollends. Die Norn hatten dieses Turnier anberaumt, um herauszufinden, welcher Norn die Kraft hatte, sich Jormag und seinen Dienern entgegenzustellen. Der Gewinner sollte die Ehre erhalten gemeinsam mit den vier Geistern der Wildnis, den Gottheiten der Norn auf die Jagd zu gehen. Schon nach den ersten paar Runden kristallisierte sich ein Favorit ganz klar heraus – Ric Bärenklaue. Er gehörte von seinem Körperbau her zwar nicht zu den massigen Norn, bewies dafür aber Köpfchen. Und Kraft hatte er wahrlich genug; seinen letzten Gegner besiegte er mit einem einzigen Faustschlag. Der Jubel der Zuschauer war überwältigend. Sie verehrten ihn und glaubten, er hätte eine reelle Chance sie von Jormag zu befreien. Shikon Feenseele wurde traurig … Kein Kämpfer, egal wie stark er sein mochte, konnte allein etwas gegen die Alt-Drachen ausrichten. Nur gemeinsam konnten sie etwasc gegen ihre Übermacht ausrichten! Unter den ermutigenden Rufen seiner Fans schritt Ric Bärenklaue aus der Arena. Vor dem Zelt des Siegers, indem Bier und köstliche Speisen auf ihn warteten, stand bereits Ohtah Shadowdragon; Shikon Feenseele, Seiketsu Lichtsegen und Ganda schnitten ihm den Rückweg ab. Er war regelrecht von ihnen umzingelt.

„Was wollt ihr von mir?“, brummte er drohend.

Es war die Elementarmagierin, die antwortete: „Wir möchten, dass du dich uns anschließt – uns und unserem Kampf gegen die fünf Drachen.“

„Pah! Ich trete gegen Jormag an. Und zwar allein, wie alle wahren Norn!“, erwiderte Ric Bärenklaue und machte Anstalten den Dieb zur Seite zur stoßen.

Doch Shikon Feenseele´s Stimme hielt ihn zurück: „Diese Statue am See … Sie zeigt eine weibliche Norn und auf einem darunter Schild steht geschrieben >Blut wäscht Blut< – Jora, die sich zu Lebzeiten mit großen Helden zusammengeschlossen hat, um ihren verfluchten Bruder aufzuhalten, nicht wahr?“

„Woher kennt ein Mensch unsere Legenden?“, gab der Norn teils wütend, teils neugierig zurück.

Die junge Adlige ging einige Schritte auf ihn zu, während sie erklärte: „Ich habe in Götterfels viel über die verschiedenen Völker gelesen. Weil ich wissen wollte, wer da draußen in der Welt noch alles unter den Drachen zu leiden hat. Darum habe ich meine Heimat verlassen, aber wir brauchen deine Hilfe, wenn wir-“

„Warte, Shiko. Ich glaube nicht, dass du ihn mit Worten von unserer Sache überzeugen kannst.“, unterbrach Ohtah Shadowdragon sie und wandte sich an den Krieger, „Ric Bärenklaue, ich fordere dich zum Zweikampf! Wir machen eine kleine Wette daraus – wenn ich gewinne, schließt du dich uns an; wenn du gewinnst …“

„Bekomme ich einen Jahresvorrat an Bier!“, beendete er den Satz seines Gegenübers siegessicher.
 

„Hat er überhaupt eine Chance?“, flüsterte Seiketsu Lichtsegen, die zusammen mit den anderen am Rand des Kampfplatzes stand.

Shikon Feenseele lächelte, als sie erwiderte: „Wenn es einer schafft, dann Ohtah.“

Ohtah Shadowdragon wich gekonnt jedem Schlag und jeder Finte aus. Es war nicht so, dass er sich der Kraft der Schatten bediente. Ganz im Gegenteil – er wusste, er konnte Ric Bärenklaue nur überzeugen, wenn er einen ehrenvollen Kampf bestritt. Darum hatte er seine beiden Dolche als Waffe gegen den mächtigen Zweihänder gewählt und seine Pistolen abgelegt. Schuld an seinen geschickten Ausweichmanövern trug das Turnier – er hatte jeden Kampf des Norn gesehen und kannte dessen Vorgehensweisen. Ric Bärenklaue holte zum erneuten Angriff aus. Diesmal bewegte er sich anders. Offenbar hatte er seinen Schwachpunkt erkannt und seine Taktik geändert. Dieser Umstand bewies, dass wirklich nicht nur Muskeln in ihm steckten. Ohtah Shadowdragon blockte den Hieb mit seinen gekreuzten Dolchen, doch das Gewicht zwang ihn hinunter in eine geduckte Haltung. Unfähig diese Position zu lösen, schaute er für den Bruchteil einer Sekunde zu seinen Verbündeten. Seiketsu Lichtsegen´s und Ganda´s Blick war bittend; sie hatten Angst, er könnte verlieren. Shikon Feenseele dagegen wirkte vollkommen ruhig und lächelte weiterhin; sie glaubte von ganzem Herzen an ihn. Er würde sie sicher nicht enttäuschen! Der Dieb schloss die Augen, sammelte seine Kraftreserven. In einer einzigen, fließenden Bewegung sprang er vom Boden ab – die Wucht riss Ric Bärenklaue das Schwert aus der Hand. Damit stand der Sieger fest.
 

In seinem Zelt lauschte Ric Bärenklaue der Erzählung von Shikon Feenseele über ihren Auszug aus Götterfeld – wobei sie ihre Träume für sich behielt –, wie sie Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu Lichtsegen begegnet war. Und anschließend von Glint und Ganda´s Entscheidung, sich ihnen anzuschließen.

Nachdem sie fertig war, sagte er: „Ich kenne eine Charr … Sie gehört zur Aschen-Legion. Wir haben vor einiger Zeit zusammen gekämpft. Als unsere Völker ein … Friedensabkommen getroffen haben, auch wenn das nach euren Maßstäben vielleicht etwas anderes ist. Wir töten uns immerhin nicht mehr grundlos. Ich bin sicher, sie wäre interessiert.“

„Trotzdem können wir nicht einfach in ihrer Hauptstadt auftauchen.“, mahnte die Elementarmagierin, „Damit würden wir nur ihren Zorn auf uns ziehen.“

Der Norn überlegte einen Moment, bevor er erklärte: „Der Weg durch den Wanderer Hügel ist unmöglich – die Berge sind nicht zu erklimmen. Ansonsten würde es Wochen dauern, sich durch die Südlichen Zittergipfel nach Ascalon durchzuschlagen.“

„Blödsinn!“, schaltete sich Ganda empört ein, „Was glaubt Ihr eigentlich, warum ich den Titel der >Portalistin< trage?! Ich kann nicht nur durch das Portalnetz führen oder Koordinaten eingeben – ich kann auch vorübergehende Portale erschaffen! Zumindest wenn ich den Ort kenne. Und in Ascalon war ich schon unzählige Male.“

Staunen breitete sich in der Gruppe aus. Bislang hatte keiner von ihnen wirklich mit den Asura zu tun gehabt und wusste daher kaum etwas über deren Fertigkeiten. Da musste selbst Shikon Feenseele passen; es existierten fast mehr Bücher über die Sylvari, als über die kleinen Intelligenzbestien aus der Befleckten Küste.

„Während die kleine Asura ihre Vorbereitungen trifft, werde ich mich von meinen Leuten verabschieden.“, meinte der Norn mit einem seltsamen Unterton in der Stimme, „Seid bis dahin meine Gäste!“

Shikon Feenseele, Ohtah Shadowdragon und Seiketsu Lichtsegen nahmen die Einladung dankend an. Nur Ganda machte sich sofort an die Arbeit – und deshalb konnten die Gruppe nur zwei Tage später zu der atemberaubenden Hauptstadt der Charr aufbrechen, wo sie Ric Bärenklaue direkt zum großen Eingangstor lotste. Dort wurden sie auch gleich mal von einer Handvoll Wachen kontrolliert.

„Ich bin Ric Bärenklaue und will eine alte Kampfgefährtin besuchen. Meine Freunde begleiten mich.“, antwortete der Krieger auf ihre Fragen.

Seltsam genug, dass ein Norn mit Menschen reiste – von der Asura einmal ganz abgesehen –, aber sie auch noch als Freunde zu bezeichnen, auffälliger ging es kaum.

„Wie lautet der Name deiner … Kampfgefährtin?“, hakte der Charr nach, wobei er ihnen das letzte Wort beinahe entgegenspuckte.

Ein Knurren mischte sich in Ric Bärenklaue´s Stimme: „Gwen Grimmpfote.“

Mit einem Mal schlug die Stimmung der Wache um: „Seid willkommen in der Schwarzen Zitadelle! Ihr findet das Zelt der Legionär im Heldenbezirk, im Lager der Aschen-Legion. Nicht zu verfehlen.“

Offenbar hatte sich Gwen Grimmpfote seit ihrer letzten Begegnung einen Namen unter den ihren gemacht, dachte Ric Bärenklaue anerkennend.
 

Wie der Phönix aus der Asche

Vor einem großen Zelt entdeckte Ric Bärenklaue ein bekanntes Gesicht und rief freudig: „Sporn, alter Junge! Du bist wirklich noch am Leben!“

Ein Charr mit orangebraunem Fell und einer Augenklappe umfasste seinen rechten Arm zum Kriegergruß: „Bei allen Hoch-Legionen, was treibt dich denn nach Ascalon, Ric?“

„Gwen.“, gab er ernst zurück, „Ich bringe ihr jemanden, der unbedingt mit ihr sprechen muss.“

Der Norn wies auf Shikon Feenseele, die interessiert von Klauensporn – wie der Charr richtig hieß – gemustert wurde. Dann drehte er sich um und führte sie ins Innere des Zelts. Auf ihren fragenden Blick hin, erklärte er, Gwen müsse jeden Moment zurückkommen.

„Ah, der Liebling des Tribun kehrt zurück!“, scherzte er, als sie die Zeltwand nur Minuten später erneut zur Seite geschlagen wurde, „Was wollte Brimstone denn diesmal von dir? Übrigens Ric ist mit ein paar Freunden zu Besuch.“

Natürlich hatte die Nekromantin die ungeladenen Gäste sofort bemerkt: „Nun, Kamerad, wenn du hier so plötzlich auftauchst, hat das sicher einen guten Grund.“

„Dein Scharfsinn hat nicht im Geringsten nachgelassen, Kätzchen.“, entgegnete er mit einem kurzen Grinsen, „Es geht um die Drachen.“

Damit war ihm die Aufmerksamkeit von Gwen Grimmpfote und Klauensporn gewiss. Doch anstatt mehr dazuzusagen, überließ er es Shikon Feenseele ihr Anliegen vorzutragen.

„Verstehe … Glint also.“, sagte die Legionär, nachdem eine Weile lang Stille geherrscht hatte, „Ich wünschte, ich könnte euch helfen diese miesen Drecksviecher ordentlich zu verprügeln … Aber mein Tribun hat mir einen neuen Auftrag zugeteilt.“

Shikon Feenseele sprang auf und erklärte entschlossen: „Dann helfen wir Euch damit! Und anschließend könntet Ihr doch mit uns kommen.“

Es dauerte einige Zeit bis Gwen Grimmpfote sich geschlagen gab und ihnen von ihrem Erzeuger erzählte – einem Gladium, ein Charr ohne Trupp. Er war vor Jahren verschwunden und nun wieder in Ascalon gesichtet worden. Ihre Aufgabe war es, ihn ausfindig zu machen und zur Schwarzen Zitadelle zu bringen, damit ihm der Prozess gemacht wurde – die Anklage lautete Verrat an den Hoch-Legionen.

„Ohtah, ich vertraue darauf, dass du Shiko beschützen wirst.“, kam es von Seiketsu Lichtsegen, welche die Arme vor der Brust verschränkt hielt, „Es gibt noch etwas, das ich hier erledigen muss.“

Die Elementarmagierin schaute sie überrascht an, doch sie erwiderte ihren Blick nicht.

Ganda wechselte schnell das Thema: „Ich kümmere mich derweil um unsere Weiterreise. In den Hain, nicht wahr? Und Ihr, Ric, werdet gefälligst nicht von meiner Seite weichen! Diese Horde Charr ist mir nicht ganz geheuer – nichts für ungut.“

Die Nekromantin ignorierte diesen Kommentar und gab Klauensporn unterdessen eine Reihe von Befehlen.
 

Ohtah Shadowdragon und Gwen Grimmpfote schienen beinahe darum wettzueifern, wer die Spur von Vallus Grimmmähne besser aufnehmen konnte. Sie sprachen mit den Zeugen, die ihn gesehen hatten, alten Bekannten und sogar mit seiner früheren Vorgesetzten, die ihn für seinen Verrat einfach nur noch tot sehen wollte.

Die Adlige hasste Wesen, die ohne weiteres ein Todesurteil fällten, darum versuchte sie sich abzulenken: „Könnt Ihr uns mehr über Euren Vater erzählen, Gwen?“

„Dazu müsst ihr wissen, dass unsere Jungen nicht bei ihren Eltern aufwachsen, sondern im Fahrar erzogen worden, einer Art … Schule, so nennt ihr Menschen es doch.“, meinte die Charr und schnüffelte ein paar Mal, „Ich habe mein ganzes Leben lang nur Gerüchte über Vallus gehört. Und bei weitem keine guten. Für einen Charr ist es die größte Schande seinen Trupp zu verlassen oder verstoßen zu werden. Aber was Vallus getan hat, ist um ein vielfaches schlimmer … Er hat mit der Flammen-Legion gemeinsame Sache gemacht und damit uns alle verkauft!“

In Shikon Feenseele keimte eine schreckliche Vorstellung: „Werdet Ihr … werdet Ihr auch ein Gladium, wenn Ihr mit uns kommt?“

Gwen Grimmpfote schüttelte leicht den Kopf: „Nicht wenn der Tribun, dem ich unterstellt bin, es genehmigt. Früher diente ich unter einem Tribun der Aschen-Legion, heute ist es-“

„Rytlock Brimstone, ehemaliges Mitglied der Klinge des Schicksals.“, schlussfolgerte Ohtah Shadowdragon und warf der Elementarmagierin einen bedeutsamen Blick zu, „Deshalb meinte Euer Freund, Ihr wärt sein Liebling.“

Sie winkte nur ab: „Klaue übertreibt, wie immer. Aber es stimmt, Tribun Brimstone hat mich für sich beansprucht. Manchmal kommt es zwischen den Legionen zu solchen Handeln.“
 

Zur selben Zeit bekam eben jener Charr ungebetenen Besuch in seiner Kammer – eine junge Frau in silberner Rüstung und mit ernstem Gesichtsausdruck.

„Raus hier! Ich dulde keine Menschen in meiner Nähe!“, bellte er verärgert.

Sein Gehabe beeindruckte sie jedoch nicht im Geringsten: „Mein Name ist Seiketsu Lichtsegen. Ich wurde von Logan Thackeray ausgebildet.“

„Und jetzt schickt dich der Feigling zu mir?“, höhnte der Charr, „Verschwinde! Ich habe weder ihm noch dir etwas zu sagen!“

Die Wächterin bewegte sich keinen Millimeter vom Fleck und entgegnete: „Das mag sein. Dafür habe ich Euch einiges zu sagen! Stellt Euch vor, es wäre jemals die Situation aufgekommen, in der Ihr Euch hättet entscheiden müssen … zwischen Logan und und einem anderen Mitglied der Klinge des Schicksals – wen hättet Ihr gerettet, Rytlock Brimstone? Und wenn Ihr mir jetzt erzählen wollt, Ihr hättet nicht alles für ihn getan, kann Logan mir nur leidtun! Denn als er mir von euch berichtete, sagte er, er würde Euch trotz aller Differenzen noch immer wie einen Bruder lieben!“

Es blieb einen Moment vollkommen still, bevor Seiketsu Lichtsegen hinzufügte: „Ich würde meiner Freundin Shiko bis ans Ende der Welt folgen und mit ihr durch die Hölle gehen, wenn es sein müsste! Sie könnte mir nicht näher stehen, würde dasselbe Blut durch unsere Adern fließen. Denkt darüber nach, Rytlock Brimstone, ob Logan´s Entscheidung wirklich so falsch war, wie Ihr ihm vorwerft … Im Übrigen wollen wir, dass Eure Legionär Gwen Grimmpfote uns beim Kampf gegen die Drachen unterstützt, also wagt es nicht, dem zu widersprechen – denn im Gegensatz zu Eurer Gilde wird unser Team nicht scheitern!“

Mit diesen Worten ließ sie ihn einfach stehen und rauschte aus dem Zimmer.
 

Die Spur von Vallus führte die kleine Gruppe ins Diessa-Plateau, zu einer Felsspalte. Ohtah Shadowdragon, der diesmal im Vorteil war, verschmolz mit den Schatten und spähte das Lager aus – der Mesmer war allein und es gab nur einen Zugang; eine natürliche Falle. Gwen Grimmpfote ging voraus, der Dieb und die Elementarmagierin hielten sich im Hintergrund; dies war nicht ihre Mission.

„Vallus Grimmmähne, nach dem Gesetz der Hoch-Legionen verhafte ich dich wegen Desertion und Verrat. Leiste bei der Überstellung in die Schwarze Zitadelle keinen Widerstand.“, verkündete die Nekromantin ungerührt.

Ihr Vater lachte überheblich: „Mein eigener Nachwuchs kommt, um mich gefangen zu nehmen? Das ist die Handschrift dieses elenden Brimstone! Na schön, dann zeig´ mal, was du in diesem Fahrar gelernt habt!“

Kämpfe zwischen Norn waren hart, unerbittlich. Doch gegen jene der Charr war das nichts. Sie schlugen wild mit ihren Klauen aufeinander ein, bissen zu, traten nacheinander, knurrten sich gegenseitig an. Hier ging es nicht um Ehre oder Tapferkeit, sondern um reine Stärke. Niemand hätte vermutet, dass sich hier Vater und Tochter gegenüber standen. Irgendwann gelang es Gwen Grimmpfote ihn zu Boden zu ringen und ihm ihre todbringenden Krallen an die Kehle zu halten.

„Ich werde dich nicht töten. Der Tribun wünscht, dich lebend in die Klauen zu bekommen …“, erklärte sie und stand auf, „Aber ich kann nicht zulassen, dass du mir entkommst.“

Mit einem Zauber schickte sie ihn in einen tiefen Schlaf.

„Wollt Ihr es wirklich so enden lassen?“, fragte Shikon Feenseele traurig.

Gwen Grimmpfote kniff die Augen zusammen, dann hakte sie nach: „Wie meinst du das, Mensch?“

„Ihr sagtet, Ihr hättet Euer ganzes Leben lang nur Gerüchte über Euren Vater gehört. Jetzt hättet Ihr die Chance die Wahrheit zu erfahren.“, antwortete sie und biss sich auf die Unterlippe.

Ohtah Shadowdragon zog sie an sich heran. Er wusste, was sie beschäftigte – Fürstin Gwynith war nicht ihre leibliche Mutter. Irgendjemand hatte sie nicht haben wollen, genauso wie ihn und Seiketsu Lichtsegen. Zumindest hatten sie es so erlebt – wie hätten die drei wiedergeborenen Legenden auch ahnen sollen, was in Wirklichkeit geschehen war?

Die Charr schwieg sich derweil eisern aus, konnte die Schuldgefühle jedoch nicht gänzlich abschütteln.
 

Die Soldaten der Schwarzen Zitadelle sperrten Vallus in eine Zelle. Dabei schrie er unentwegt nach seiner Tochter. Die Nekromantin versuchte verzweifelt wegzuhören, was ihr jedoch einfach nicht gelingen wollte. Nicht nachdem, was Shikon Feenseele ihr an den Kopf geworfen hatte – bei allen drei Hoch-Legionen, sie hatte ja recht! Sie wusste genau, welche Strafe Vallus erwartete. … Wenn sie jetzt nicht zu ihm ging, würde sie die einzige Gelegenheit verstreichen lassen. Darum belegte Gwen Grimmpfote die Wachse mit demselben Schlafzauber wie am Tag zuvor ihren Vater und schlich sich ins Verlies.

„Du wirst mir jetzt die Wahrheit sagen, Vallus, die ganze Wahrheit! Oder ich sorge dafür, dass dein Prozess doch noch ins Wasser fällt.“, knurrte sie und blickte in seine Auge, die ihren so unglaublich ähnlich waren.

Der Mesmer zog die Lefzen hoch und begann zu erzählen: „Vor einigen Jahren wurde ein Mitglied unseres Trupps von der Flammen-Legion verschleppt. Sein Name ist Sesric … Nachdem ich vergebens versucht hatte, unsere Anführerin dazu zu bringen eine Rettungsmission durchzuführen, bin ich desertiert und habe mich bei unseren Feinden eingeschlichen. Ich konnte ihn nicht im Stich lassen! Ich weiß inzwischen, wo sie ihn gefangen halten – Sesric ist noch am Leben! Deshalb bin ich zurückgekommen.“

In Gwen Grimmpfote herrschte ein Kampf. Sie wusste nicht, ob sie Vallus trauen konnte.

„Wenn das Tribunal morgen zusammentritt und sein Urteilt fällt, wird der >Fluch< mein Grab werden.“, fuhr Vallus fort und umklammerte die Gitterstäbe mit seinen Klauen, „Es wäre mir egal, ob ich in Schande sterben müsste … Aber nicht so lange noch Hoffnung für Sesric besteht!“

Der Fluch … die Kampfarena der Schwarzen Zitadelle. Dorthin wurde ein Verurteilter ohne eine einzige Waffe gebracht – je nach schwere seines Verbrechens musste er für eine bestimmte Dauer gegen die bewaffnete Gladiatoren in ihren Rüstungen kämpfen. Wenn er die Zeit überstand, war er frei … Allerdings gelang dies vielleicht einer Handvoll, denen nur eine kurze Frist gesetzt war. Bei Hochverrat würde seine Zeitspanne einen ganzen Tag und die folgende Nacht dauern – das würde Vallus sicher nicht überleben.

Mit Mühe brachte sie die Worte zwischen ihren zusammengepressten Zähnen heraus: „Erwartest du wirklich von mir, dass ich Tribun Brimstone und die gesamte Schwarze Zitadelle hintergehe, indem ich dich laufen lasse?“

„Du bist mir ähnlicher, als du glaubst.“, meinte Vallus, „Ich habe keine Beweise für mein Vorhaben. Du kannst mir trauen … oder nicht. Es ist deine Entscheidung.“

Gwen Grimmpfote dachte an Klauensporn und den Rest ihres Trupps, dann sagte sie: „Ich tue das nicht, weil du mein Vater bist … sondern weil ich genauso handeln würde. Flieh´, Vallus, und rette deinen Freund!“

Sie öffnete das Zellenschloss.

„Ich werde nie vergessen, was du heute getan hast. Ich bin nicht gut im Abschiednehmen, darum mache ich es kurz.“, erklärte Vallus und salutierte vor ihr, „Ich bin wahrhaft stolz darauf, dich als Tochter zu haben.“

Die Nekromantin nahm seinen Unterarm zum Kriegergruß: „Du solltest jetzt verschwinden, bevor wir irgendwelche Aufmerksamkeit auf uns lenken. Auf Wiedersehen … Vater.“
 

Gwen Grimmpfote betrat das Bluttribun-Quartier und sagte mit gesenktem Haupt: „Tribun, ich will mich stellen. Ich verhalf dem Gefangenen Vallus Grimmmähne zur Flucht.“

„Du musst wahrlich noch viel lernen, Legionär.“, gab Rytlock Brimstone zurück, „Ich weiß genau, was du getan hast. Im Verlies gibt es ein Sprachrohr, das direkt hierher führt. Sag´ mir … was macht einen wahren Anführer aus?“

Sie verstand nicht, worauf er hinauswollte, und schwieg.

„Ein wahrer Anführer hat den Mut das richtige zu tun. Egal wie seine Befehle lauten.“, erklärte der Charr, „Du weißt es nicht, aber dieser Charr, von dem Vallus gesprochen hat … ist dein Onkel, Sesric Grimmauge. Ich hatte früher auch so etwas wie einen Bruder, für den ich fast alles getan hätte.“

Nun wagte sie es ihn anzusehen und meinte: „Darf … darf ich eine Frage stellen, Tribun?“

„Nein. Du erhältst mit sofortiger Wirkung deinen neuen Auftrag.“, entgegnete das ehemalige Mitglied der Klinge des Schicksals, „Zenturio, ich übertrage dir hiermit die Aufgabe im Namen jedes einzelnen Charr in ganz Tyria gegen die fünf Drachen zu kämpfen! Und mach´ mir bloß keine Schande, nur weil ein Mensch den Trupp anführt. Wegtreten!“

Gwen Grimmpfote wusste im ersten Moment kaum, was sie sagen sollte, und erwiderte dann mit einem schelmischen Lächeln: „Verstand, Tribun! Lieber sterbe ich, als dich zu enttäuschen!“
 

(K)ein Team mit Ull

Die Gruppe um Shikon Feenseele wusste nicht, worüber sie sich mehr wundern sollten – dass Gwen Grimmpfote ihren Vater aus dem Gefängnis befreit hatte oder eher Rytlock Brimstone´s Reaktion darauf. Seiketsu Lichtsegen lächelte darüber; sie hatte den anderen nichts über ihren Besuch bei dem Tribun erzählt, aber sie hoffte, dass er irgendwann über seinen Schatten springen und sich wieder mit Logan Thackeray versöhnen würde.

„Was ist los, Seiketsu?“, riss die schöne Elementarmagierin sie aus ihren Gedanken, „Wir wollen aufbrechen. Ist alles in Ordnung mit dir?“

Seiketsu Lichtsegen nickte hastig. Es hatte keinen Sinn länger über Logan nachzudenken. Als Mitglied der Seraphen-Wache und als Freundin war es ihre Pflicht, Shikon Feenseele zu beschützen!

Im Caledon-Wald öffneten sie wieder ihre Augen. Shikon Feenseele hatte von der Welt der Sylvari gelesen, in der selbst Lampen, Gebäude und alles andere aus lebendigen Pflanzen bestanden. Es war eine faszinierende Art von Magie, ein Wunder des Lebens und damit das genaue Gegenteil der Drachen … Eine Blume fiel ihr besonders auf. Fünf große Blütenblätter in leuchtendem Gelb und Orange lockten sie näher heran. Shikon Feenseele beugte sich weiter herunter und schnupperte an der auffälligen Blume. Sofort durchfuhr sie ein eigenartiger Ruck. Hitze pumpte durch ihren Körper und ihre Beine knickten unter ihrem Gewicht zusammen, so als hätte sie alle Kraft verlassen.

„SHIKO!“, schrie Ohtah Shadowdragon erschrocken und eilte via Schattenschritt an ihre Seite.

Angst durchflutete ihn. Shikon Feenseele hatte bereits das Bewusstsein verloren, er spürte das hohe Fieber. Da hallte plötzlich ein Heulen durch den Wald und aus dem Unterholz sprang ein Wesen, das aussah wie ein Wolf aus Pflanzen.

„Ein Waldhund.“, erklärte Ganda ungerührt, „Ein treuer Begleiter der Sylvari.“

Der Waldhund trottete auf Shikon Feenseele zu und schnupperte an ihr. Ein Knurren entfuhr seiner Kehle, gefolgt von einem erneuten Geheul. Nur wenige Sekunden später trat eine weibliche Sylvari zwischen den Bäumen hervor. Bläuliche Blätter wuchsen aus ihrem dunkelgrünen Rankenkörper – doch am auffälligsten waren die zwei Bögen über ihren Schultern.

„Sie hat die Sporen der Sonnenuntergangsblume eingeatmet.“, stellte die Waldläuferin fest, „Ihr solltet keine Zeit verlieren – das Gift wird sie binnen eines Tages töten. Legt sie sofort auf Tear´s Rücken.“

Ohtah Shadowdragon, den sie damit angesprochen hatte, zögerte erst.

„Und ich dachte, so wie Ihr schaut, bedeute sie Euch etwas.“, spottete sie, woraufhin er tat wie geheißen, „Die Charr sollte in der Lage sein unserer Fährte zu folgen. Los, Tear!“

Genauso schnell wie sie aufgetaucht waren, waren sie auch wieder verschwunden – und Shikon Feenseele mit ihnen die derweil von schrecklich Alpträumen geplagt wurde. So sehr sie sich zu konzentrieren versuchte, die Magie wollte ihr einfach nicht gehorchen. Sie rief nach Ohtah Shadowdragon, Seiketsu Lichtsegen und ihren anderen Freunden. Doch niemand half ihr. Nicht einmal die Stimme aus ihren Träumen sprach zu ihr … Sie wusste nicht, wie lange sie schon in dieser unendlichen Leere gefangen war, hier gab es weder Zeit noch Raum. Irgendwann fühlte Shikon Feenseele endlich wieder die Präsenz der vier Elemente. Das Feuer erfüllte sie mit neuer Kraft, das Wasser schenkte ihr Ruhe, durch die Luft klärten sich ihre Gedanken, von der Erde erhielt sie ihren Lebensmut zurück. Und die arkane Energie, die daraus entstand, ließ sie die Augen öffnen. Über ihr spannte sich ein grünes Blätterdach und sie lag auf etwas Weichem, einem Bett.

„Ihr weilt wirklich noch unter den Lebenden – beeindruckend.“, lobte sie eine Stimme, die sie nicht kannte.

Ein Gesicht erschien in ihrem Blickfeld, es war eine Sylvari.

„Man nennt mich Ull Rosenknospe und dies ist mein Haus. Ihr wurdet durch eine Blume vergiftet, jetzt seid Ihr wieder gesund.“, erklärte sie.

Shikon Feenseele versuchte sich ächzend aufzusetzen und fragte dabei: „Hast du mir geholfen?“

„Die Schriften von Ventari lehren uns, dass jedes Leben wertvoll ist … Zumindest wenn man diese widerlichen Drachen und ihre Brut nicht mitzählt.“, antwortete sie und ein seltsamer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, „Aber das Gegenmittel allein hätte nicht ausgereicht. Ihr tragt den Willen zu leben in Euch.“

Die schöne Elementarmagierin schaffte es endlich ihren Körper wieder unter Kontrolle zu bringen und sagte ernst: „Die Drachen … Meine Freunde und ich wollen ihre Herrschaft beenden. Willst du dich uns nicht anschließt, wenn du sie ebenso hasst? Vielleicht bekomme ich dann auch die Chance mich bei dir zu revanchieren.“

Ein Leuchten ging von der Sylvari aus. In diesem Moment stürmten die anderen herein und umringten Shikon Feenseele freudig.
 

Nachdem Shikon Feenseele etwas gegessen hatte, machten sich die Verbündeten im Wald auf die Suche nach einem Sylvari, der sie begleiten wollte. Wobei die Elementarmagierin weiterhin am liebsten Ull Rosenknospe in ihren Reihen gehabt hätte, die jedoch abgelehnt hatte. Plötzlich hörten sie Schreie von Sylvari und Waldhunden. Ohne lange darüber nachzudenken, rannte die Gruppe zum Ort des Geschehens. »Krieg« war das Wort, welches Shikon Feenseele bei diesem Anblick zuerst in den Sinn kam. Die Sylvari führten Krieg gegeneinander … Auf der einen Seite kämpften jene, die sie aus dem Hain und dessen Umgebung kannten. Auf der anderen waren alle in rot und schwarz gehüllt.

Die Anhänger des Blassen Baums schrien: „Tod dem Alptraum!“

„Nieder mit Ventari!“, hielten die Alptraumhöflinge dagegen.

Da fiel der Elementarmagierin eine Gruppe Feinde auf, die Waldhunde verschiedenen Alters gefangen genommen hatten. Einer von ihnen schaute sie mit großen Augen an.

„Das ist Tear!“, rief Shikon Feenseele aus, „Wir müssen sie retten!“

Keiner wagte es, ihr zu widersprechen, auch wenn sie es für unwahrscheinlich hielten, dass es sich wirklich um Ull Rosenknospe´s Gefährtin handelte. Shikon Feenseele, Seiketsu Lichtsegen und Ohtah Shadowdragon nahmen die Entführer ins Visier, während ihre Freunde den Rest der Gegner angriff. Der Dieb preschte vor, in seiner rechten Hand hielt er einen seiner blitzenden Dolche, mit links feuerte er Pistolenkugeln ab. Die Elementarmagierin vereinte ihre zerstörerische Flamme mit dem reinigenden Feuer der Wächterin und gaben ihm damit Rückendeckung. Die Waldhunde wimmerten; sie fürchteten das heiße Element genauso wie die Sylvari. Doch die beiden wären nicht Shikon Feenseele und Seiketsu Lichtsegen gewesen, hätten sie zugelassen, dass Unschuldige von ihrem Zauber verletzt werden würden – nicht einmal das Gras oder die anderen Pflanzen nahmen Schaden.

„Rückzug!“, brüllte ein Adliger des Alptraumhofs, der den Angriff angeführt hatte.

Die feindlichen Sylvari flüchteten. Es war ihnen nicht gelungen, auch nur einen Gefangen mitzunehmen. Shikon Feenseele und Seiketsu Lichtsegen sahen nach den Waldhunden und befreiten sie von ihren Fesseln. Tear stupste die Retterinnen sanft mit der Schnauze an, um sich bei ihnen zu bedanken.

„Die Drachen sind nicht das einzige, was Tyria bedroht …“, flüsterte Shikon Feenseele kaum hörbar, „Die Banditen, die Inquestur, die Söhne Svannir´s, die Flammen-Legion, der Alptraumhof – dies war nur ein kurzer Auszug des Schreckens. Tyria benötigt mehr Kämpfer, die sich erheben! Wir müssen allen zeigen, dass es nicht unmöglich ist, sich zu wehren!“
 

Die Sonne ging unter, die Nacht brach herein. Über ihnen blinkten die ersten Sterne. Sie hatten ihr Lager weit weg vom Kampfplatz aufgebaut – ein Kampf gegen den Alptraumhof pro Tag reichte.

Ohtah Shadowdragon schlug mit der Faust auf den Boden und brummte: „Und wieder verstreicht ein Tag, ohne dass wir die fünf Völker versammelt haben!“

„Ihr solltet lieber noch einmal nachzählen.“, widersprach eine Stimme aus dem Geäst.

Shikon Feenseele sah in die Baumwipfel und entdeckte eine Sylvari mit ihrem Tiergefährten auf einem der Äste. Sie trug zwei verschieden große Bögen; einen über jeder Schulter, der Köcher hing an ihrer Hüfte – das Markenzeichen von Ull Rosenknospe.

„Ventari sagt auch >Handle weise, doch handle.<.“, erläuterte die Waldläuferin bedeutungsvoll, „Ich kann meiner Wylden Jagd nicht länger entfliehen. Der Traum offenbarte mir, ich würde eines Tages gegen die Drachen kämpfen. Und … ohne uns hättet Ihr sowieso nicht die geringste Chance!“

Unzählige Blicke flogen im Sekundentakt umher. Dann brach ein lautes Gebrüll los.

„Da fällt mir ein … Meine Schwester Caithe hat die Gilde der Klinge des Schicksals mitbegründet.“, meinte Ull Rosenknospe abschätzend, „Habt Ihr auch einen Namen?“

Shikon Feenseele wollte verneinen, doch die anderen grinsten sich an und riefen: „Team Shiko!“
 

Das erste Juwel

Shikon Feenseele, Seiketsu Lichtsegen und Ohtah Shadowdragon hatten Glint´s Vorgabe erfüllt – alle großen Völker waren in einem Team vereint. Blieb nur noch die Frage zu klären, welchen Alt-Drachen sie sich zuerst vornehmen sollten, Zhaitan einmal außen vor gelassen. Ric Bärenklaue stimmte natürlich für Jormag, der seine Leute aus ihrer Heimat vertrieben hatte. Gwen Grimmpfote war für Kralkatorrik.

„Shiko ist unsere Anführerin.“, bemerkte Ganda, „Ihr sollt entscheiden.“

Zustimmendes Gemurmel und Nicken folgten, was Shikon Feenseele ganz verlegen machte.

Sie schloss für einen kurzen Moment ihre Augen, bevor sie ihre Entscheidung traf: „Ich habe noch ein paar offene Rechnungen zu begleichen … Zuerst ist Primordus fällig. Und dann ist Kralkatorrik dran.“

„Wieso mit Primordus?“, wollte der geschickte Dieb wissen – Kralkatorrik konnte er ja verstehen, sie wollte Rache für Glint.

Die schöne Elementarmagierin wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war … und sie erzählte ihnen alles über ihre Begegnung mit dem Feuerdrachen.

„Warum?“, fragte Ohtah Shadowdragon und ballte die Hände zu Fäusten, „Warum hast du mir nicht gleich gesagt, was passiert ist?“

Der Schmerz in seiner Stimme verletzte Shikon Feenseele und sie antwortete gequält: „Ich hatte Angst … davor wie du mich sehen könntest, wenn du wüsstest, dass ich erneut so schwach gewesen bin. Du hattest mich doch gerade erst vor den Zentauren gerettet …“

„Ich habe dich nie für schwach gehalten.“, entgegnete er, nach einiger Zeit des Schweigens, „Du hast dich immer nur selbst so gesehen … Keiner von uns wäre hier, um in die Fußstapfen der Klinge des Schicksals zu treten. Glint wollte ihre Eier ihnen anvertrauen … jetzt besitzen wir sie, weil du uns zu ihr geführt hast. Ich habe mich dir angeschlossen, weil ich an dich glaube! So wie jeder einzelne von uns. Ohne dich sind wir nichts!“

Shikon Feenseele kämpfte die aufsteigenden Tränen nieder. Sie wollte für ihre Freunde eine starke Anführerin sein!
 

Shikon Feenseele berührte den steinernen Untergrund und versuchte mit Mühe das Zittern aus ihrem Körper zu verbannen – nie würde sie vergessen, wie sich die Erde unter ihren Füßen geöffnet hatte und sie in Primordus´ Reich gestürzt war. In Ganda´s Gesicht spiegelten sich Angst und Aufregung. Ric Bärenklaue und Gwen Grimmpfote wirkten entschlossen. Ull Rosenknospe schien den Kampf ebenfalls herbeizusehnen. Seiketsu Lichtsegen und Ohtah Shadowdragon schwiegen – auch ihnen jagte dieser Ort noch immer einen Schauer über den Rücken.

„Fasst euch an den Händen und lasst einander nicht los. Wir werden ziemlich tief fallen.“, ordnete die Elementarmagierin an, während sie in der Mitte des Kreises Stellung bezog.

Ein letzter Blick in die Augen ihrer Gefährten und Shikon Feenseele begann die Macht der vier Elemente zu rufen. Aus Feuer und Wasser formte sie einen Schutzschild, Erde und Luft ebneten ihnen den Weg. Der Boden brach auf, Shikon Feenseele drehte sich um ihre eigene Achse und der Fels sauste in die Tiefe. Der pfeifende Wind übertönte jeden Schrei. Irgendwann krachten sie auf das Luftpolster, das die Elementarmagierin erschaffen hatte. Mit großen Augen sahen die Freunde sich um. Wenn es so etwas wie die Hölle gab, musste sie genauso aussehen. Seit Shikon Feenseele´s letztem Aufenthalt hatte sich einiges verändert – die Stärke des Drachens war gestiegen, so viel stand fest.

„Wer wagt es in mein Reich einzudringen?“, erklang es in ihren Köpfen.

Die Freunde ließen sich erschrocken los und öffneten damit den Kreis. Shikon Feenseele trat vor.

„Primordus! Mein Name ist Shikon Feenseele …“, rief sie ihm entgegen und ließ ihre Aura frei strömen, „Dass du mich damals nicht getötet hast, war ein Riesenfehler, für den du heute bezahlen wirst!“

Der Feuerdrache lachte boshaft: „Du bist also trotz meiner Warnung zurückgekommen? Dummes, kleines Mädchen! Und dann hast du auch noch ein paar Freunde mitgebracht, die dir beim Sterben Gesellschaft leisten werden? Wirklich amüsant …“

Ohne ein weiteres Wort schoss Primordus einen Feuerball auf sie ab. Shikon Feenseele riss ihren Flammenschild hoch, doch er war viel zu schwach. Sie schlitterte über den Boden und blieb zu Füßen ihrer Freunde liegen. Zum Glück hatte sie nur leichte Blessuren, ihr Körper war Feuer gewohnt.

„Wir müssen ihn gemeinsam angreifen!“, erinnerte Ganda die Teammitglieder, „Glint hat doch gesagt, dass nur alle fünf Völker zusammen etwas gegen die Drachen ausrichten können!“

Keiner von ihnen ahnte, dass die kleine Asura ebenfalls eine persönliche Sache mit dem feurigen Alt-Drachen zu klären hatte … Dabei ging es nicht einmal so sehr um ihr Volk im Allgemeinen – Primordus´ hatte einst ihre Eltern bei einem Ausfall getötet … und eines ihrer Kru-Mitglieder war ihm bei einem Angriff der Zerstörer zum Opfer gefallen. Wenn Team Shiko hier scheiterte, mussten weitere Verluste erleiden …

Von Ganda ermutigt, stand Shikon Feenseele wieder auf, Ohtah Shadowdragon stützte sie.

„Glaubt ihr wirklich, dass ich und meine Brüder so leicht zu besiegen sind? Uns fürchten sogar diese jämmerlichen Sechs Götter!“, höhnte der Alt-Drache.

Die Gefährten stellen sich in einen Halbkreis um Primordus. Seiketsu Lichtsegen schleuderte ihm einen Schwall heiliger Energie entgegen. Gwen Grimmpfote beschwor eine Schar Untoter herauf, und Ganda bombardierte ihn mit einer Unzahl Minen. Ohtah Shadowdragon und Ric Bärenklaue gingen in Begleitung von Tear zum Frontalangriff über, während Ull Rosenknospe unablässig ihre Pfeile auf ihn abschoss. Shikon Feenseele nahm eines der Kristalleier in die Hand und konzentrierte sich darauf. Es barg kein Leben … also musste es mit neuem Leben gefüllt werden. Die Erkenntnis durchströmte die schöne Elementarmagierin wie ein Adrenalinstoß. Sie umfasste das Kleinod mit beiden Händen und ließ die Magie der vier Elemente hindurch fließen. Aber Primordus durchschaute ihr Spiel und griff Shikon Feenseele erneut an, die sich nicht schützen konnte, ohne den Zauber abzubrechen. Die Flammen rasten auf sie zu. Sie spürte dieselbe Panik in sich aufsteigen, wie bei ihrer ersten Begegnung mit dem Feuer-Drachen.

„Haltet durch!“, rief Ganda und stellte sich schützend vor sie, „Ich werde bestimmt nicht zulassen, dass er ungeschoren davon kommt! Hörst du mich, Lucc?“

Noch während sich die Elementarmagierin fragte, mit wem sie da gesprochen hatte, rief sie den Namen der Asura. Doch Ganda lächelte nur – der Feuerstrahl verschwunden und die Asura hob zufrieden einen Daumen hoch. Sie hatte ein winziges Portal geöffnet, um Shikon Feenseele zu beschützen. Nun reagierte auch endlich das Ei von Glint. Es schwebte in die Luft, auf Augenhöhe mit Primordus. Der Alt-Drache war wie erstarrt; seine Seele löste sich von seinem Körper. Ein helles Leuchten erfüllte die Höhle und blendete die Freunde so sehr, dass sie die Augen zukneifen mussten. Ein zischendes Geräusch erfolgte, dann war auf einmal alles ruhig. Sie wagten es wieder hinzusehen, ihr Blick klebte förmlich an der riesigen, steinernen Statue, die einmal Primordus gewesen war und in sich zusammenfiel – auf dem Boden lag der Kristall, welcher eine flammend rote Farbe angenommen hatte.

„Das erste Juwel …“, hauchte Shikon Feenseele überwältigt.
 

Rache für Glint

Shikon Feenseele, Seiketsu Lichtsegen, Ohtah Shadowdragon und Ganda kannten den Schrecken des Drachenbrandes, auch Gwen Grimmpfote war der Anblick nicht unbekannt. Doch Ull Rosenknospe und Ric Bärenklaue erblickten ihn zum ersten Mal. Die Alt-Drachen waren wahrhaftig ein Fluch für Tyria! Überall richteten sie Verwüstung an und brachten Trauer über die Bewohner … Der erste von ihnen war bereits gefallen – Shikon Feenseele verwahrte das Drachen-Juwel mit Primordus´ Seele sicher in der Truhe auf.

„Kralkatorrik wird büßen.“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „Ich werde ihm heimzahlen, was er Glint angetan hat!“

Der Dieb nickte grimmig. Ihn juckte es ebenfalls in den Fingern. Seiketsu Lichtsegen ging es nicht viel anders. Ohne Glint´s Hilfe wären sie nie soweit gekommen. Sie wären niemals Team Shiko geworden, hätten sich nicht als Kameraden gefunden. Gwen Grimmpfote bedeutete dieser Kampf aus einem ähnlichen Grund eine ganze Menge – Kralkatorrik´s Odem hatte viele Charr das Leben gekostet. Schlimmer noch, er hatte sie zu seinen Dienern gemacht … Die Nekromantin erinnerte sich genau an die Schreie der gepeinigten Seelen, die der Drachenverderbnis einst zum Opfer gefallen waren. Es stimmte, sie konnte die Geister des Totenreichs ebenfalls zurückrufen und Leichen für sie kämpfen lassen.
 

„Was? Du hast nekrotische Fähigkeiten?“, hatte Klauensporn sie damals im Fahrar gefragt, „Das ist doch toll! Das heißt, du kannst immer jemanden herbeirufen, der dich beschützt – für den äußerst unwahrscheinlichen Fall, dass ich einmal nicht bei dir bin. Und du kannst sogar mit unseren Ahnen in Kontakt treten! Vielleicht sogar mit deinem Vorfahren Brandor Grimmflamm!“

Sie hatte ihn nicht angesehen, sondern ihm genau diese Frage gestellt: „Aber … ist es nicht ein Verbrechen die Ruhe der Toten zu stören? Ich meine … Zhaitan wird dafür verachtet.“

„Doch, es ist eine Sünde …“, antwortete er ernst und zwang sie seinen Blick zu erwidern, „Wenn man es nur tut, um die Verstorbenen zu quälen. Unsere Aufgabe als Soldaten der Hoch-Legionen wird es sein, Leben zu schützen … und wenn ich tot wäre, würde ich mich freuen dabei helfen zu können!“
 

Team Shiko wanderte stundenlang durch die sengend heiße Kristallwüste. Alles wirkte wie ausgestorben. Hier und da entdeckten sie Ruinen und zerfallene Statuen. Der Zahn der Zeit hatte deutliche Spuren hinterlassen. Am Horizont erhob sich ein Kristallschloss gegen die untergehende Sonne. Kralkatorrik´s Reich … Shikon Feenseele blieb stehen. Auf der Ebene vor ihnen erwartete sie eine Horde seiner kristallinen Ungeheuer.

„Es gibt kein Heilmittel für Drachenverderbnis.“, sagte Ull Rosenknospe, „Für sie gibt es nur den Tod als Rettung vor ihrem Fluch …“

Gwen Grimmpfote ließ die Knöchel ihrer Klauen knacken und erklärte: „Macht, dass ihr hier wegkommt! Überlasst sie mir … Ich kümmere mich schon um diese Möchtegern-Edelsteine!“

Die Elementarmagierin wollte widersprechen, doch der Blick der Charr hielt sie davon ab. Gwen Grimmpfote scherzte nicht – dies sollte ihr Kampf werden.

„Wenn wir mit Kralkatorrik fertig sind, kommen wir dich holen!“, versprach Shikon Feenseele und lief mit den anderen los.

Die Nekromantin lachte amüsiert: „Bis ihr soweit seid, hab´ ich schon alle platt gemacht und komme nach.“

Sie rief so viele Seelen aus der Unterwelt zurück, wie noch nie zuvor. Ihr Trupp zählte auf sie, der Tribun verließ sich auf ihren Sieg, Team Shiko hielt zu ihr. Sie konnte gar nicht verlieren!
 

In Kralkatorrik´s Palast bestand alles aus Kristall. Eine unheimliche Stille lag in der Luft. Nur die Spiegelungen der Helden bewegten sich, deren Schritte durch die weiten Säle hallten. Der Dunst seines Odems wurde mit jedem weiteren Stockwerk drückender. Seiketsu Lichtsegen schwankte, ging in die Knie. Das Atmen fiel ihr schwer.

„Das Gift ist zu stark.“, stellte Ohtah Shadowdragon fest und zog seine Maske enger.

Shikon Feenseele zauberte für jeden eine Luftblase um den Kopf. Die Seraphine bekam sofort eine gesündere Hautfarbe und sie setzten ihren Weg in den obersten Stock fort. Hier gab es nur eine ebene Fläche. Der Boden war spiegelglatt und ging an den sechs Ecken in gigantische Säulen über, die zu einem Spitzdach zusammenflossen. Der schönen Elementarmagierin traten Tränen in die Augen … so ähnlich musste Glint´s Höhle einmal ausgesehen haben.

„KRALKATORRIK!“, schrie sie den schlafenden Drachen an, „Stell´ dich zum Kampf!“

Sofort kam Bewegung in den schuppigen Haufen, der zusammengerollt in einer Ecke lag. Eine Plattenpanzerung nach der anderen richtete sich. Primordus´ Größe war eindrucksvoll gewesen, doch Kralkatorrik´s ausgefahrener Körper mit seinen unzähligen Stacheln war schlichtweg furchterregend; er nahm beinahe die ganze Fläche ein.

„Wer stört mich?“, sprach Kralkatorrik in ihren Gedanken und ein Schwall fauliger Atem schlug ihnen entgegen, „Widerliches Gesindel … ihr werdet mein Abendessen sein.“

Shikon Feenseele ballte ihre Hände zu Fäusten – normalerweise Ohtah Shadowdragon´s Part – und entgegnete wütend: „Wage es nicht meine Freunde anzurühren! Kralkatorrik … heute wirst du dafür bezahlen, was du Glint angetan hast!“

„Diese Närrin hat mich verraten!“, donnerte der Erddrache, „Meine beste Schöpfung …“

Wenn überhaupt möglich, steigerte sich ihr Zorn sogar noch: „Glint war weit mehr als nur deine Schöpfung! Sie hat für die Zukunft dieser Welt gekämpft! Und ich werde alles dafür tun, um ihre letzte Prophezeiung wahrzumachen!“

Das Ei in der Truhe pulsierte. Kralkatorrik lachte dröhnend, der Boden erbebte und er schlug mit seinem Schwanz aus. Shikon Feenseele wurde an die Wand geschleudert, alle Luft wich aus ihren Lungen. Ohtah Shadowdragon stellte sich schützend vor sie und Team Shiko ging in Angriffsstellung.

Von den Charr einmal abgesehen, verachtete der Alt-Drache insbesondere die Menschen mit ihrer Besessenheit dieses widerwärtigen Gefühls, das sie »Liebe« nannten. So wie dieser mickrige Dieb. Er öffnete sein Maul und hauchte Ohtah Shadowdragon seinen fauligen Atem entgegen.

„Niemand kann meiner Macht widerstehen!“, brüllte Kralkatorrik triumphierend.

Der Dunst verzog sich. Das Gift hatte ein Loch in den Kristallboden gefressen. Von Ohtah Shadowdragon keine Spur! Inzwischen war die schöne Elementarmagierin wieder auf die Beine gekommen. Sie umklammerte Glint´s Geschenk und starrte die Stelle entgeistert an. Sie wollte es einfach nicht glauben. Er war doch viel zu geschickt … Aber hatte Ohtah Shadowdragon nicht bereits bewiesen, dass er für sie sogar sein Leben geben würde? Ihre Hoffnung begann zu bröckeln.

„Dass ausgerechnet ein Drache die Schatten unterschätzt …“, machte sich Ohtah Shadowdragon über Kralkatorrik lustig, während er unversehrt an einer Säule lehnte, „Ich dachte ja eigentlich, ihr wärt etwas schlauer und … eine größere Herausforderung. Aber nachdem Primordus schon so eine Enttäuschung war, sollte es mich nicht wundern, dass ihr alle nicht mehr zu bieten habt.“

Mit seiner Provokation lenkte er den Alt-Drachen von Shikon Feenseele ab und gab gleichzeitig den Startschuss für den Gegenschlag. Seiketsu Lichtsegen, Ric Bärenklaue, Ganda, Ull Rosenknospe und Tear halfen ihm, den Erddrachen zu umzingeln.

„Vergesst mich nicht!“, kam es von Gwen Grimmpfote, welche sich, begleitet von ihrer Armee herbeigerufener Diener, bis hierher geschleppt hatte, „Ach und wenn du dich fragen solltest, wo deine ganzen, schönen Schöpfungen abgeblieben sind – die warten in den Nebeln auf dich!“

Die Charr zeigte mit einer Kralle auf Kralkatorrik und die Geister schwärmten aus. Dann brach sie zusammen; sie hatte unzählige Verletzungen davongetragen. Die Angriffe prasselten nun von allen Seiten auf den Drachen nieder. Selbst seine stahlharten Schuppen konnten nicht allem standhalten.

„Es reicht …“, meinte Shikon Feenseele und warf ihm das Kristallei entgegen, „Das ist für Glint und Gwen!“

Überall aus den Rissen in seiner Panzerung strömte ein braunes Licht – die Energie seiner Seele. Da waren es nur noch zwei Elemente.
 

Jormag´s Niedergang

Kaum waren sie aus dem Portal Nahe Hoelbrak getreten, verabschiedete sich Ric Bärenklaue von Team Shiko. Er wollte zum Wanderer-Hügel. Dort standen Schreine für die vier, großen Geister der Wildnis. Ihnen wollte er huldigen, um ihren Segen für den Kampf gegen Jormag zu erhalten. Zuerst begab er sich zum Herz des Raben, wo sich die Schamanen Sigrytha und Freygirr um die jungen, geweihten Raben kümmerten.

„Um zu siegen, musst du erst wissen, was du brauchst.“, sprach die Norn geheimnisvoll.

Ric Bärenklaue klopfte mit der rechten Hand gegen seine Brust und antwortete: „Ich brauche Weisheit … Treue … Mut … und Stärke. Darum erbitte ich die Gunst des Raben.“

„Wer sich dem Raben als würdig erweisen will, muss seine Weisheit beweisen und sein Rätsel lösen.“, erklärte der Schamane und kniete vor dem glänzenden Abbild nieder, „Hört die Worte des Rabengeistes … >Mit mir wirst du niemals Vernunft kennen. Ich mache dich blind und lasse dich deinen Gegner töten. Doch mit mir kannst du deinen Kampf nicht gewinnen … Was bin ich?<“

Der Krieger schloss für einen Moment die Augen. Er kannte die Antwort bereits. Aber es fiel ihm schwer sie auszusprechen. Zu wütend war er auf Jormag. Wegen der Vertreibung aus ihrer Heimat, wegen seiner Eltern … und weil diese eingebildete Eisschlange absolut keine Ehre im Leib besaß.

„Der Zorn.“, presste er hervor, während er dem Drang widerstand seine Hände zu Fäusten zu ballen.

Ein schriller Schrei drang aus dem Schnabel des steinernen Raben. Ric Bärenklaue war erhört worden … Sein Weg führte ihn weiter zum Herz des Wolfes, welches für unendliche Treue und Loyalität stand. Er bewunderte seine Kameraden, besonders ihre Anführerin Shikon Feenseele, aber wie ihm auch schon beim Schrein des Raben bewusst war, seine Rachegefühle gegenüber dem Drachen waren sehr stark … Er befürchtete seine Freunde dadurch in Gefahr zu bringen. Um also vom Geist des Wolfes erhört zu werden, sollte er, laut Gamli und Vigmarr, seine Waffe ins reinigende Feuer halten – er tat wie geheißen.

„Nun wird dein Schwert dich stets daran erinnern, deine Kameraden zu beschützen.“, sagten die Schamanen wie aus einem Mund.

Und so ging er – begleitet von Weisheit und Treue – zum dritten Schrein, dem Herzen der Schneeleopardin. Es überraschte Ric Bärenklaue nicht, dass seine Aufgabe diesmal lautete, verstreute Jungtiere zurückzubringen. Die Schneeleopardin verhieß nicht nur Mut und Unabhängigkeit, für die weiblichen Norn stellte sie den Inbegriff der mütterlichen Liebe dar. Er kämpfte gegen wilde Kreaturen, las Spuren und trug die Jungen zurück zu den Schamaninnen, die um sie kümmerten, als wären es ihre eigenen Kinder. Dann dröhnte ein anerkennendes Knurren in seinen Ohren. Der Mut der Schneeleopardin durchströmte ihn … Bevor Ric Bärenklaue das Herz der Bärin betrat, zog er seine Rüstung aus und wusch sich im angrenzenden Fluss. Diesmal lehnte er die Hilfe von Schamanin Freygunn ab – als er noch ein Kind gewesen war, hatte sie zu ihm gesprochen, ihn gesegnet. Er setzte sich vor den Schrein, begann zu meditieren.

„Mein Sohn … ich weiß, was du vorhast. Ich selbst habe einst mit den anderen Geistern der Wildnis gegen ihn gekämpft.“, flüsterte die warme Stimme der Großen Bärin, „Es gibt nichts mehr, was ich dir noch geben könnte … Alle Stärke, die du brauchen wirst, liegt in dir, deinen Freunden und in deinem Herzen. Ich bin stolz auf dich!“

Noch bevor das tiefe Brüllen die Höhle erfüllte, liefen die ersten Tränen seit Jahren über seine Wangen. Für einen Moment nur gestattete er sich, an das Versprechen vor seinem Aufbruch zu denken … Als Norn musste er sich beweisen und einen Wurmkönig zu töten, war noch keiner Erwähnung in irgendwelchen Liedern wert. Davon abgesehen … wer konnte schon sagen, wann sich Jormag entschied sein Territorium zu vergrößern und sich nach den Fernen Zittergipfeln auch noch die Nördlichen und Südlichen Zittergipfel eigen zu machen. Seine Meisterin hatte ihn ihr Wissen über die Drachen gelehrt – Arroganz konnte eine sehr gefährliche Schwäche sein.
 

Jormag lebte hoch oben im Norden. Die Kälte hier biss sich sogar durch den Wärmezauber von Shikon Feenseele. Nur Ric Bärenklaue schien sie nichts auszumachen – dies war das wahre Land seines Volkes! Und eines Tages würde er sie hierher zurückführen, sobald die Jagd auf die Drachen beendet wäre ...

„Seht mal, diese Statue …“, sagte Seiketsu Lichtsegen und deutete auf die Spitze eines Berges.

Shikon Feenseele folgte ihrem Fingerzeig und sie erschrak fürchterlich: „Das ist keine Statue!“

In dieser Sekunde erwachte der eisige Drache zum Leben, breitete die Flügel aus und erhob sich in die Luft – Jormag. Ric Bärenklaue warf die beiden Frauen zu Boden, damit der Luftdrache sie nicht entdeckte. Da schoss ihm auch schon ein Plan durch den Kopf – die Weisheit des Rabens machte sich bezahlt. Als die anderen ihm zuhörten, erklärte er ihnen, was er vorhatte.

„Aber schaffst du das auch?“, hakte Ohtah Shadowdragon skeptisch nach, „Selbst ich mit meinen Schattenschritten hätte Schwierigkeiten damit.“

Der Norn grinste schief und antwortete: „Die Geister der Wildnis umhüllen mich … Mit den Flügeln des Raben, der Sprungkraft des Wolfes, der Schnelligkeit der Schneeleopardin und der Stärke der Großen Bärin werde ich es schaffen. Ich führe unsere Jagd zum Erfolg!“

Shikon Feenseele nickte zustimmend. Zusammen mit Seiketsu Lichtsegen und Gwen Grimmpfote ging sie in Position, während der Krieger sich eilig auf den Weg machte. Die Elementarmagierin, die Wächterin und die Nekromantin konzentrierten ihre Kräfte, bündelten sich in einer Kugel über ihren Köpfen. Ull Rosenknospe sprang auf einen der vielen Bäume – jederzeit schussbereit. Die Magie schoss als Strahl in die Luft und streifte tatsächlich seinen rechten Flügel, Jormag strauchelte. Er entdeckte die Kämpfer und augenblicklich sprossen verdorbene Eiskreaturen aus dem Schnee. Ohtah Shadowdragon, Ganda und Tear griffen sie an, währenddessen durchbohrte eine Pfeilsalve nach der anderen die Flügel des Drachens. Diesmal stürzte Jormag endgültig ab, raste gen Boden. Und mit einem wilden Kampfschrei sprang Ric Bärenklaue vom höchsten Punkt des Berges auf ihn herab, den Zweihänder voran. Das mächtige Schwert durchtrennte seinen Hals in einem sauberen Schnitt. So sollte er später unter anderem als der »Schrecken Jormag´s« in die Geschichte seines Volkes eingehen … Wie von allein öffnete sich nun die Truhe in Shikon Feenseeles Händen und eines der Eier flog direkt auf Jormag zu, drang in seinen Körper ein und verschlang seine Seele, sodass es in einem strahlenden Orange erstrahlte.
 

Erlösung des Meeres

Nachdem Team Shiko seinen Sieg ausgiebig gefeiert hatte, saßen sie um ein Lagerfeuer und Shikon Feenseele hielt ihnen beinahe ehrfürchtig die Truhe entgegen. Bereits drei Juwelen lagen darin – Primordus´ rotes Feuer, Kralkatorrik´s grüne Erde, Jormags weiße Luft. Fehlte nur noch eines …

„Weiß eigentlich jemand etwas über … Wie heißt dieser Tiefsee-Drache noch gleich?“, fragte Ric Bärenklaue etwas unbeholfen.

Ganda half ihm grinsend auf die Sprünge: „Mélyten.“

Betretenes Schweigen legte sich über das Lager. Shikon Feenseele, die in Götterfels jedes Buch über die fünf Drachen gelesen hatte, wusste auch nicht mehr als seinen Namen und sein Element.

„Mélyten ist wie Zhaitan im Meer des Leids erwacht. Er war es auch, der die Quaggan und die Krait aus ihren früheren Territorien vertrieben hat. Ansonsten war es stets recht still um ihn.“, erzählte Ull Rosenknospe, ohne den Blick vom Feuer zu lösen.

Die anderen starrten sie mit offenem Mund an, während sie weitersprach: „Unsere Mutter hat vor einigen Jahren Informationen über ihn sammeln lassen. Im Traum erfahren wir alles Wissen, das unser Volk angehäuft hat.“

Damit stand Ull Rosenknospe auf und verschwand in den Baumwipfeln. Während Team Shiko ihr teils perplex, teils besorgt hinterher schaute, legte Tear ihren Kopf auf die Vorderpfoten und schloss die Augen. Sie spürte, dass ihre Herrin jetzt allein sein musste.

Die Waldläuferin rannte über die Äste, brachte möglichst viel Raum zwischen sich und ihre Gefährten. Sie hatte mit diesem Tag gerechnet, es von Anfang an geahnt. Zhaitan war nicht ihre Bestimmung, ihr Schicksal lag nicht in Orr. Warum hatte sie versucht, sich das einzureden? Wegen ihm … natürlich. Sie teilten ihre Gefühle zueinander, doch die Wylde Jagd verband sie vorrangig mit Caithe … Dennoch mochte sie auf jenen Kontinent gelangen, wenn die Waldläuferin ihren Alt-Drachen bezwang – Quest hin oder her, sie würde Team Shiko erst verlassen, wenn Zhaitan seinen Brüdern in der tiefsten Unterwelt Gesellschaft leistete! Erschöpft lehnte sich Ull Rosenknospe schließlich gegen einen Baumstamm. Eigentlich wusste sie es bereits seit dem Kampf gegen Primordus. Oder vielleicht sogar schon länger? Shikon Feenseele hatte es ihr doch erzählt, laut Glint mussten die Völker zusammenarbeiten. Jeder von ihnen war von einem Drachen besonders verletzt oder geprägt worden. In Primordus´ Höhle hatte das Kristallei erst reagiert, als Ganda seinen Angriff auf Shikon Feenseele vereitelt hatte. Bei Kralkatorrik und Jormag war es ähnlich gewesen … Was war mit ihr? Was verband sie mit Mélyten? Der Blasse Baum, der Hain, das gesamte Volk der Sylvari und Waldhunde, ihre ganze Welt, alles Leben bezog sein Wasser aus dem Meer des Leids … Ja, bislang hatte sich Mélyten nicht gerührt. Aber was bedeuteten schon fünfundzwanzig Jahre für einen Alt-Drachen? Die Sylvari nahm ihre beiden Bögen von den Schultern. Sie kannte Mélyten´s Fähigkeiten … und vor allem seine Schwachpunkt. Diesmal würden sie ihr nicht helfen – sie brauchte die magische Kraft ihres Volkes!

Entschlossen kehrte sie zum Lager zurück und sagte: „Ich hoffe, Ihr könnt schwimmen. Sonst habt Ihr ein Problem mit mir mitzuhalten, wenn ich Mélyten´s Unterwasserhöhle stürme.“

„Ull!“, rief Shikon Feenseele und grinste, „Damit ist unser Team ja wieder vollständig.“

Es zeigte sich die Spur eines Lächelns um Ull Rosenknospe´s Lippen. Und wie auf Stichwort sprang Tear sie an, wedelte wild mit dem Schwanz. Die Sylvari streichelte sie glücklich.
 

Shikon Feenseele legte denselben Zauber über sie wie bereits in Kralkatorrik´s Kristallpalast – so konnten sie problemlos unter Wasser atmen. Selbst Gwen Grimmpfote ergab sich wortlos ihrem Schicksal, obwohl sie Wasser mehr als alles hasste.

„Vergesst nicht, wir werden komplett von seinem Element eingeschlossen sein.“, warnte Ull Rosenknospe, „Macht Euch auf alles gefasst.“

Mit einem entschlossenen Nicken sprangen alle Mitglieder von Team Shiko in die Fluten des Meers des Leids. Mélyten´s Unterwasserhöhle lag zwischen der Klaueninsel, an der Küste von Löwenstein, und der Südlicht-Bucht. Ein riesiges Gebiet, das es nun abzusuchen galt – wenigstens war das Wasser hier nicht von Zhaitan verseucht, wie der Rest der See. Die Stunden flossen nur so dahin. Bis Shikon Feenseele wie erstarrt verharrte. Sie spürte die Aktivität der Drachenjuwelen. Sie riefen nach der vierten Seele … Und die Elementarmagierin wusste auf einmal ganz genau, wo sich Mélyten aufhielt. Verdammt, sie hätte es früher begreifen müssen – das ganze Wasser war von ihm erfüllt, das hatte sie verwirrt. Hastig klärte Shikon Feenseele ihre Freunde auf und führte sie anschließend zu seinem Versteck, Mélyten war jedoch nirgends zu entdecken.

„Er ist hier …“, flüsterte die Elementarmagierin kaum hörbar.

Ull Rosenknospe nickte zustimmend. Das Wasser schäumte, bildete eine Strömung und nahm schließlich die Gestalt eines Drachen an. Nicht genug, dass das Meer von seiner Energie nur so strotzte, es war auch noch ein Teil von ihm – er war das Meer, das Meer war er!

„Ich bin Mélyten … der unangefochtene Herrscher der Meere.“, hallte seine Stimme in ihren Gedanken, „Was wollt ihr von mir? Seid ihr etwa gekommen, um gegen mich zu kämpfen … so wie gegen meine jämmerlichen Brüder?“

Er wusste, dass sie es gewesen waren, die Primordus, Kralkatorrik und Jormag getötet hatten.

„Überrascht? Ich weiß alles über euch … Team Shiko. Jeder Fluss, jeder See, sogar jeder Sumpf steht unter meiner Kontrolle. Ich bin überall in ganz Tyria!“, höhnte er selbstgefällig.

Fassungslosigkeit stand ihnen ins Gesicht geschrieben und Ohtah Shadowdragon gab knurrend zurück: „Wieso hast du uns dann nicht aufgehalten?“

„Nennen wir es eine einfache Lösung, diese Schwächlinge loszuwerden.“, erklärte Mélyten und seine Augen leuchteten auf, „Zhaitan ist der einzige, der mir wirklich etwas bedeutet!“

Der Dieb zog seine beiden Dolche und warf sie mit voller Kraft auf Mélyten. Er bewegte sich nicht, versuchte nicht einmal auszuweichen. Die Waffen flogen einfach durch seinen Körper hindurch, ohne ihn zu verletzen. Er bestand tatsächlich vollkommen aus Wasser, kein physischer Angriff konnte ihm etwas anhaben.

„Erhebt euch, meine Diener … vernichtet diese Eindringlinge!“, befahl Mélyten und augenblicklich formten sich riesige Gestalten aus dem Wasser.

Sie ähnelten Kraken – mutierten Kraken, um genau zu sein. Aus jedem Fangarm ragten weitere Auswüchse. Ein gieriges, rundes Maul mit messerscharfen Zähnen versuchte die Mitglieder von Team Shiko einzusaugen.

„Raus hier!“, schrie Shikon Feenseele erschrocken.

Alle folgten ihrem Befehl zum Rückzug und schwammen aus der Höhle. Die Monster blieben dicht hinter ihnen. Draußen vor der Höhle entbrannte ein heftiger Kampf – doch im Gegensatz zu ihrem Meister waren diese Kraken sehr wohl verwundbar. Ull Rosenknospe allerdings hielt sich im Hintergrund, denn sie bereitete einen Zauber vor. Genauso wie Shikon Feenseele. Trotzdem schafften es Seiketsu Lichtsegen, Ohtah Shadowdragon, Ganda, Gwen Grimmpfote, Ric Bärenklaue und Tear die Kreaturen zu besiegen, sodass sie sich wieder in ganz gewöhnliches Wasser verwandelten. Ihr Sieg gab gleichzeitig das Signal für Teil zwei ihres Kampfes. Die Elementarmagierin entfesselte eine gewaltige Feuerwalze, welche direkt auf Mélyten´s Unterwasserhöhle zuraste. Der Wasserdrache flüchtete ins offene Meer – genau wie geplant. Nun ließ die Sylvari der Magie ihres Volkes freien Lauf. Alle Wasserpflanzen begannen zu sprießen und zu wachsen. Sie wickelten sich um den Körper des Alt-Drachens, nahmen ihn gefangen. Aber damit noch nicht genug – sie hoben Mélyten sogar aus dem Wasser heraus an die Oberfläche. Hier entblößte sich die einzige Möglichkeit, ihn zu vernichten – ohne den Kontakt mit Wasser war er vollkommen machtlos! Shikon Feenseele nahm das letzte Ei von Glint aus der Truhe und Mélyten´s ganze Existenz strömte hinein – damit besaßen sie auch das blaue Drachen-Juwel des Wassers.

Im selben Augenblick hörte Ull Rosenknospe eine Stimme, die nur sie wahrnehmen konnte: „Tochter … ich weiß um Euren Sieg über Mélyten und die anderen Drachen. Kommt zu mir in den Hain … und bringt Eure Anführerin zu mir. Ich muss mit ihr sprechen!“

Die Waldläuferin konnte es kaum glauben. Der Mutterbaum rief sie und Team Shiko nach Hause.
 

Der Preis des Sieges

Ganda nutzte das feste Portal in Löwenstein, um sie in den Hain zu bringen. Überall schwebten noch dieselben Lichter in der Luft, wie beim letzten Mal. Ein wahrhaft magischer Ort … Ull Rosenknsope überließ es Tear ihre Kameraden in ihrem Haus zu führen, während sie sich selbst mit Shikon Feenseele in das größte Heiligtum des Hains begab – in die Omphalos-Kammer, in welcher der Avatar des Blassen Baums über seine Kinder wachte. Sie sah aus wie eine wunderschöne Sylvari, vielleicht eine Orchidee oder eine seltene Rose. Aber vor allem strahlte sie eine Macht aus, die vom Saft des Lebens rührte … alt und mächtig.

„Baummutter, hier bringe ich Euch wie gewünscht Shikon Feenseele. Sie erbittet die Weisheit Eurer Visionen zu hören.“, erklärte die Waldläuferin und kniete ehrfürchtig nieder.

Sie lächelte herzlich, als sie erwiderte: „Ich danke Euch, meine geliebte Tochter. Eure Taten erfüllen mich mit großem Stolz …“

Die Sylvari lächelte, dann zog sie sich taktvoll zurück. Die Worte des Blassen Baums waren einzig und allein für die Ohren der Elementarmagierin bestimmt.

Als sie allein waren, sagte der Avatar: „Kommt bitte näher, Heldin. Ich werde Euch den Weg zu den Antworten weisen, die Ihr so dringend ersucht. Ich kenne Euren Auftrag … und es gibt nur eine Macht in Tyria, die Euch raten kann. Der Traum der Träume … ist ein Spiegel Eurer eigenen Bestimmung und des Wissens dieser Welt. Doch noch nie hat ihn ein Wesen betreten, das nicht mein Kind war.“

„Ich habe keine Angst.“, antwortete Shikon Feenseele entschlossen, „Ich muss wissen, was notwendig ist, um Tyria von Zhaitan zu befreien.“

Der Mutterbaum nickte entschieden: „Aus Euch spricht große Tapferkeit. Aber urteilt nicht zu schnell … Meine Fähigkeiten erlauben es mir, Bruchstücke möglicher Zukünfte zu sehen. Es ist ein Segen und eine Bürde gleichermaßen. Wenn Ihr die Schwelle zum Traum überschreitet, werdet Ihr sie teilen.“

Shikon Feenseele setzte sich zu ihren Füßen und schloss die Augen. Sie musste diesen Schritt gehen, was es auch kosten würde. Die Mutter der Sylvari hob einen ihrer schlanken Arme und berührte die Stirn der mächtigen Elementarmagierin mit einem Finger. Sofort sprang ein Funke des Lichts auf Shikon Feenseele über und sie sank in sich zusammen. Der Traum hatte begonnen … Sie fühlte sich wie ein Baby im Bauch seiner Mutter. Beschützt, geliebt und voller Neugierde. Alles um sie herum war warm und von Licht durchflutet. Sie konnte nicht sprechen, doch sie hörte eine unglaublich vertraute Stimme. Eine Stimme, die untrennbar mit ihrer Seele verwurzelt war …

„Shiko … die Antwort, die du suchst, liegt tief in dir verborgen. Erinnere dich an Glint´s Worte … Zhaitan kann nur von dir besiegt werden. Es ist deine Bestimmung! Aber ohne die Unterstützung deiner Freunde wirst du es dennoch nicht schaffen …“, erzählte die Stimme und Shikon Feenseele glaubte, in ihren Armen zu liegen, „Jeder von uns trägt eine dunkle Seite und Schwächen in sich. Du musst dich der Dunkelheit der Angst stellen und zu einem Leuchtstern der Hoffnung werden. Denk´ darüber nach – ist du dir bewusst, wovor du dich am meisten fürchtest, kann es nicht mehr so leicht gegen dich eingesetzt werden … Wenn du nicht verlieren willst, musst du dich zuerst deiner eigenen Schwäche stellen!“

Die Stimme entließ Shikon Feenseele aus dem Traum. Es waren nur wenige Sekunden vergangen, doch es hatten sich wie Tage oder gar Jahre angefühlt. Ungewollt rannen Tränen über ihre hellen Wangen. Es war nicht direkt Traurigkeit … Melancholie, Verantwortung, Schuld.

Sie war noch etwas benommen, als der Avatar des Blassen Baums wieder zu sprechen begann: „Das ist ungewöhnlich … aber logisch. Für meine Kinder bin ich die wichtigste Existenz in ihrem Leben. Darum ist es meine Stimme, meine Präsenz, die sie im Traum vernehmen … Ihr seid jedoch keine Sylvari, deshalb sprach jemand anderes zu Euch.“

„Ja. Ich kenne diese Stimme … Und ich höre sie nicht zum ersten Mal im Traum.“, sagte Shikon Feenseele leise, verbesserte sich dann aber, „Also ich meine, das, was die Menschen als >träumen< bezeichnen. Habt vielen Dank, dass ich an Eurem Traum teilhaben durfte.“

Das gewogene Lächeln blieb auf ihrem Gesicht und der Mutterbaum fragte: „Welche Frage tauchte in Eurem Traum auf?“

„Wovor ich die größte Angst hätte … Glint prophezeite mir bereits vor einiger Zeit, um Zhaitan besiegen zu können, müsse ich meine eigene Schwäche überwinden.“, flüsterte Shikon Feenseele und schluckte schwer, „Ich kenne nun die Antwort. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe …“

Zum ersten Mal trat Traurigkeit in das Antlitz des Avatars: „Habt Ihr auch die Kraft es zu tun?“

„Habe ich denn eine andere Wahl?“, gab die Elementarmagierin zurück, wobei sie ein Schluchzen unterdrücken musste.

Der Blasse Baum streichelte ihr sanft über die Wange und erklärte: „Ihr werdet immer die Wahl haben … Ihr habt Euch entschieden den ersten Schritt dieses Weges zu beschreiten, als Ihr Eure Heimat Götterfels verlassen habt. Nun habt Ihr erneut die Chance Euch zu entscheiden. Glaubt mir, nichts ist wandelbarer als die Zukunft. Sie ist nicht festgelegt … Jeder Schritt von Euch verändert auch Eure Zukunft. Und die von Tyria.“

„Ich … ich habe Angst, meine Pflicht könnte mich dazu zwingen, jemanden zu verletzten, den ich liebe. Zu wissen, dass ich für das Leid desjenigen verantwortlich wäre, erscheint mir unerträglich.“, gestand Shikon Feenseele, „Wenn ich mich Zhaitan stelle, werde ich meinen Freunden unglaubliche Schmerzen zufügen. Aber … wenn ich es nicht tue, ist jede Hoffnung für Tyria verloren.“
 

Shikon Feenseele kehrte mit ihren Freunden nach Götterfels zurück, um neue Kräfte zu sammeln – so hatte sie es ihren Freunden zumindest begründet. In Wahrheit wollte sie ihre Heimat ein letztes Mal sehen, bevor sie den alles entscheidenden Kampf mit Zhaitan aufnahm. Die schöne Elementarmagierin zeigte ihren Freunden das Anwesen in der Oberstadt, in dem sie lebte. Fürstin Gwynith erwartete sie bereits ungeduldig.

„Shiko! Du bist wirklich wieder hier … Ich konnte es kaum glauben, als mir berichtete wurde, du seist am Stadttor gesehen worden.“, begrüßte sie ihre Tochter und umarmte sie fest, „Ich hatte solche Angst um dich! All die Zeit … Warum hast du dich nie gemeldet?“

Sie streichelte ihrer Mutter beruhigend über den Rücken, während sie antwortete: „Mir geht es gut, dank meiner Freunde. Wenn ich dir vorstellen darf, Mama … Ohtah Shadowdragon, Seiketsu Lichtsegen, Ganda, Ric Bärenklaue, Gwen Grimmpfote und-“

Mit dem Finger hatte Shikon Feenseele auf die jeweilige Person gezeigt, doch Ull Rosenknospe und Tear fehlten.

„Das hab´ ich ja total vergessen!“, rief sie peinlich berührt aus, „Ull ist eine Sylvari und die halten es nicht in gemauerten Gebäuden aus. Sie ist sicher irgendwo auf dem grünen Platz.“

Die Fürstin lachte und erklärte: „Dann stell´ sie mir morgen vor. Heute Abend feiern wir erst einmal deine Rückkehr und euren Triumph über die Drachen! Glaub´ ja nicht, ich wüsste nicht, was ihr getan gabt. Ich habe schon alles vorbereiten lassen. Hauptmann Thackeray und Fürst Faren kommen übrigens auch. Der Junge hat beinahe einen Luftsprung vor Freude gemacht – in letzter Zeit war er sehr ruhig, hatte gar keine Frauengeschichten mehr.“

Shikon Feenseele nickte lächelnd. Doch Seiketsu Lichtsegen und Ohtah Shadowdragon schauten ernst drein.
 

Die rothaarige Elementarmagierin war es durch die lange Reise nicht mehr gewohnt so feine Kleider zu tragen. Allgemein fiel es ihr inzwischen schwer, sich wieder wie eine adlige Dame zu verhalten, anstatt wie eine Kämpferin für Tyria.

„Lady Shikon, Fürst Faren erwartet Euch im Hof.“, meldete eine der Dienerinnen.

Sie beeilte sich aus dem Zimmer herauszukommen. Faren gehörte zu dem wenigen, was sie in ihrer Abwesenheit vermisst hatte. Er war ihr bester Freund, seit sie kleine Kinder gewesen waren. Darum freute sie sich ihn endlich wiederzusehen.

„Faren! Wie schön, dass du da bist!“, rief Shikon Feenseele, als sie ihm entgegenlief.

Er nahm ihre Hand zum Kuss und antwortete: „Siehe da, die große Heldin und Bezwingerin der Drachen beehrt mich mit ihrer Anwesenheit.“

„Haha, lästere du nur …“, gab sie neckisch zurück, „Wie ich höre, ist bei dir dagegen Flaute mit neuen Eroberungen. Was ist los, hast du deinen Kampfgeist verloren?“

Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht, als er erwiderte: „So siehst du mich, nicht wahr? Als prahlenden Frauenheld … Na ja, ich sollte dir keinen Vorwurf machen, dass du es nie bemerkt hast. Ich habe es ja selbst erst richtig begriffen, nachdem du fort wart.“

Shikon Feenseele starrte ihn sprachlos an. Sie begriff, worauf Faren hinaus wollte und machte einen halben Schritt zurück. Er liebte sie! Und sie hatte es nicht verstanden, nicht einmal in Erwägung gezogen … Ihre Mutter hatte sie einst zwar scherzeshalber gefragt, ob sie Faren eines Tages heiraten würde, aber sie hatte nicht eine Sekunde ernsthaft darüber nachgedacht. Außerdem gab da es bereits jemanden, dem heimlich ihr Herz gehörte.

„Ich …“, begann Shikon Feenseele und atmete noch einmal tief durch, „Du bist mein bester Freund aus Kindertagen, Faren. Ich vertraue dir … und ich schätze deine Gegenwart. Aber bitte, verlange nicht mehr von mir als die Freundschaft, die ich für dich empfinde.“

Der junge Fürst schloss für einen Moment die Augen, dann antwortete er: „Diplomatisch gesprochen … wie immer. Keine Sorge, ein Edelmann weiß, wann ein Kampf verloren ist.“
 

Als Shikon Feenseele mit Fürst Faren den großen Saal betrat, waren bereits alle anderen Gäste eingetroffen. Ohtah Shadowdragon stand gegen eine Wand gelehnt und ließ die beiden keinen Moment aus den Augen. Es ging ihm vollkommen gegen den Strich, wie Faren sich so überschwänglich vor ihr verbeugte und sie das anscheinend auch noch lustig fand. Doch dann staunte er regelrecht, als Shikon Feenseele sich plötzlich ihm zuwendete.

„Da dieses Fest zu meinen Ehren stattfindet, gebührt mir der erste Tanz …“, erklärte sie mit einem Zwinkern, „Würdest du mir die Freude erweisen, Ohtah?“

Der Dieb nickte mechanisch – er war zu keinem Wort fähig, zu verzaubert war er von Shikon Feenseele´s Blick, mit dem sie ihn regelrecht fesselte. Die Musik setzte ein und sein Körper bewegte sich wie von selbst. Er hatte gar nicht gewusst, wie leicht es sein konnte, sich von der Melodie tragen zu lassen … Zaghaft erwiderte er das Lächeln seiner Partnerin. Er vergaß alles um sich herum, hörte nur noch die sanften Klänge und sah in ihr Gesicht. Shikon Feenseele ging es nicht anders. Angenehme Wärme floss durch ihren Körper. Sogar der bevorstehende Kampf mit Zhaitan rückte für den Moment in Vergessenheit. Hier in den Armen von Ohtah Shadowdragon fühlte sie sich so unglaublich wohl, sie gehörte zu ihm. Hier gab es nur sie und ihn.

Seiketsu Lichtsegen lächelte selig, als sie ihren Freunden beim Tanzen zuschaute. Sie freute sich riesig – im Grunde waren die Gefühle zwischen Ohtah Shadowdragon und Shikon Feenseele in ihrem Team ein offenes Geheimnis. Nur die beiden selbst schienen es nicht ganz zu begreifen …

„In diesem Kleid seht Ihr aus wie eine adlige Dame.“, sprach sie plötzlich jemand an – Hauptmann Thackeray, der ihr seine Hand entgegen hielt „Darf ich um diesen Tanz bitten, Lady Seiketsu?“

Die Wächterin errötete, reichte ihm aber dennoch – wenn auch zögerlich – ihre Hand. Er hatte sich verändert; dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, seine Haare waren länger geworden. Trotzdem lächelte Logan noch genauso wie sonst und führte sie auf die Tanzfläche. Seiketsu Lichtsegen verlor sich während dem Tanz beinahe in seinem Anblick. Zum ersten Mal konnte sie ihm auf diese Art nahe sein. Nicht beim Training oder während eines Auftrags. Das Herz schlug ihr sprichwörtlich bis zum Hals und raubte ihr schier die Fähigkeit zu klar denken.

„Ich war unendlich erleichtert, als ich hörte, Ihr wärt wieder in Götterfels.“, sagte er in seiner gewohnt ruhigen Art.

Seiketsu Lichtsegen sah ihn überrascht an. Hatte er sich etwa Sorgen um sie gemacht? Natürlich … wie um jeden seiner Seraphen; sie war nichts besonderes für ihn … würde es wohl niemals sein.

„Ich hätte es nicht ertragen, wenn Euch etwas zugestoßen wäre.“, fügte er noch hinzu.

Die Wächterin konnte nicht anders – Stolz breitete sich in ihr aus und sie entgegnete: „Wir waren in vielen schwierigen Situationen … Aber ich hatte einen guten Lehrer.“

Logan musste lachen: „Den müsst Ihr mir bei Gelegenheit mal vorstellen.“

„Ihr seid ihm sehr ähnlich.“, neckte Seiketsu Lichtsegen ihn und die Röte kehrte auf ihre Wangen zurück, „Unglaublich pflichtbewusst, treu … gegenüber seiner Königin, stets auf das Wohl seiner Kameraden bedacht, stark, bedacht.“

Er winkte immer noch lachend ab: „Ihr schmeichelt mir ja.“

„Nein, Hauptmann Thackeray … genau so sehe ich Euch.“, erklärte sie ernst.

Jetzt war es an Logan überrascht drein zu blicken, doch Seiketsu Lichtsegen hielt dem stand. Nur ein einziges Mal sollte er zumindest einen Hauch ihrer Gefühle spüren ...

Das Fest dauerte bis in die späten Abendstunden. Shikon Feenseele wich für keinen weiteren Augenblick mehr von Ohtah Shadowdragon´s Seite. So kam es auch, dass er es war, der sie zu ihrem Schlafgemach begleitete.

„Ich war heute sehr glücklich …“, gestand die Elementarmagierin leise, das Gesicht zu ihrer Zimmertür geneigt, „Alle waren glücklich. Ich will dieses Glück bewahren … um jeden Preis.“

Ohtah Shadowdragon stützte eine Hand an der Tür ab, die andere legte er um ihren Bauch und lehnte den Kopf an ihre linke Schulter. Ihr Duft umwehte ihn, betörte ihn. Sein letzter Widerstand begann zu bröckeln … Schnell löste er sich wieder von Shikon Feenseele und schallte sich innerlich einen Narren. Er durfte nicht schwach werden! Er war nichts weiter als ihr Kampfgefährte, dessen Aufgabe es war, ihr Leben zu schützen … Ein mickriger Dieb aus der Gosse konnte keinen Platz an der Seite einer so edlen Dame haben … Fürstin Gwynith würde ihn auslachen und ihre Tochter für verrückt halten. Shikon Feenseele schmerzte die Abweisung. Zwar kamen keine Tränen, doch das Stechen in ihrer Brust verhöhnte sie dafür umso mehr. Es durfte ja sowieso nicht sein – ihre Bestimmung war es gegen Zhaitan zu kämpfen und Tyria zu retten, sie durfte ihn nicht noch mehr verletzen.

„Gute Nacht, Ohtah. Und … danke für alles.“, verabschiedete sie sich und öffnete die Tür zu ihrem Gemach.

Er sah ihr nach bis der Zugang wieder geschlossen war. Dann rutschte Ohtah Shadowdragon am Türrahmen entlang zu Boden. Genauso wie Shikon Feenseele auf der anderen Seite.
 

Die Klinge des Schicksals

Drei Tage waren vergangen, seit Team Shiko nach Götterfels gekommen war. Während sich die meisten von ihnen nicht nur erholten – Ric Bärenklaue hatte beispielsweise seine Schwerter zum Schleifen gebracht und Ganda arbeitete an einem Vorrat Mienen –, war Seiketsu Lichtsegen für einen kurzen Besuch in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Zwischen Shikon Feenseele und Ohtah Shadowdragon herrschte eine angespannte Stimmung – seit dem Abend des Festes sprachen sie kaum mehr miteinander. Der geschickte Dieb hielt sich zwar immer in ihrer Nähe, blieb aber unbeteiligt. Gerade las sie ein Buch über die Alt-Drachen in ihrer Bibliothek, als ein Diener hereinkam und sie darüber informierte, dass ein Bote sie im Eingangsbereich des Herrenhauses sprechen wolle. Hastig legte sie es beiseite und beeilte sich in die Empfangshalle zu kommen. Der Bote entpuppte sich als Seraph und brachte eine wichtige Botschaft von Logan Thackeray. Shikon Feenseele hatte sich bereits gefragt, wann der Wächter wieder mit ihr Kontakt aufnehmen würde – nun da er wusste, was ihr Team geschafft hatte.

„Lady Shikon, der Hauptmann wünscht Euch und Eure Gefährten heute zur Mittagsstunde in seiner Dienststube zu sehen. Es handelt sich um eine Angelegenheit bezüglich Orr.“, erzählte er mit einer tiefen Verbeugung.

Shikon Feenseele gebot ihm sich wieder aufzurichten und erwiderte: „Ich danke Euch, Soldat. Bitte richtet ihm unsere Zusage aus und begebt Euch vorher noch in meine Küche zur Stärkung.“

Die Wache bedankte sich und zog anschließend ab. An seine Stelle trat nur eine Sekunde später Ohtah Shadowdragon, natürlich hatte er alles mitangehört. Als ob er Shikon Feenseele mit einem Fremden allein lassen würde – selbst in Götterfels gab es genügend Korruption und Verrat, das wusste er als Kind der Straße leider nur zu gut.

„Was Thackeray wohl von uns will?“, fragte er, während sie nach draußen in den Garten gingen.

Die Adlige blieb unvermittelt stehen und antwortete: „Vielleicht verfügt er über weitere Informationen. Etwas, das uns helfen kann … beim Kampf gegen Zhaitan.“

Traurigkeit war in ihrer Stimme mitgeschwappt, etwas das Ohtah Shadowdragon überhaupt nicht ertrug. In dieser Sekunde war ihm alles andere egal – Hauptsache sie fühlte sich besser.

Er streckte die Hand nach ihr aus, zog sie in eine Umarmung und flüsterte: „Hab´ keine Angst. Ich bin bei dir …“

Shikon Feenseele wehrte sich nicht gegen seine Zärtlichkeit, sondern empfing sie von Herzen gerne und antwortete: „Genau deshalb habe ich keine Angst.“

Was die beiden nicht mitbekamen war, dass die anderen Mitglieder von Team Shiko – bis auf Ull und Tear – sie bereits die ganze Zeit über heimlich beobachteten.

„Bei uns im Norden müsste Ohtah einen Kampf auf Leben und Tod austragen, um so eine tolle Frau wie Shiko zu bekommen.“, meinte Ric Bärenklaue und wandte sich an Gwen Grimmpfote, „Bei euch ist es doch ähnlich, oder?“

Die Charr schnurrte leicht, während sie antwortete: „Aber sicher, Kamerad! Das Männchen bekommt erst dann die Chance um das Weibchen zu werben, wenn er sie im Zweikampf besiegt hat. Tja, manchmal kann es eben auch Nachteile haben eine starke Kämpferin zu sein.“

„Sag´ bloß, Sporn hat sich immer noch nicht getraut? Jetzt mal im Ernst, Kätzchen, wie lange seid ihr beiden schon scharf aufeinander?“, meinte der Norn ungläubig.

Gwen Grimmpfote schlug ihm leicht gegen den Arm und sagte: „Ach, halt die Klappe! Aber glaub´ mir, wenn wir diese Schlacht überleben, fordere ich ihn am Ende noch selbst heraus!“

Ganda interessierte sich nicht für diese animalischen Paarungsabläufe und kehrte daher zum eigentlichen Thema zurück: „Was glaubt Ihr, warum rücken sie nicht einfach mit der Wahrheit heraus? Jetzt mal im Ernst, noch offensichtlicher kann es wohl kaum sein.“

„Shiko´s Pflichtbewusstsein lässt sie schweigen … Bevor Zhaitan nicht vernichtet ist, wird sie sich Ohtah nicht offenbaren.“, erwiderte Seiketsu Lichtsegen betrübt, die kurz zuvor ebenfalls zurückgekehrt war, „Und was Ohtah betrifft … Er würde ihr nie zur Last fallen wollen, deshalb versucht er, seine Gefühle vor ihr zu verstecken. Ihr … Standesunterschied ist in den Augen der Leute einfach zu groß. Man kann sich eben nicht aussuchen, in wen man sich verliebt …“
 

Pünktlich auf den Glockenschlag trafen die Verbündeten bei Logan Thackeray ein. Ull Rosenknospe und Tear hatten sie unterwegs eingesammelt und überredet sich wenigstens kurzzeitig in seiner Stube aufzuhalten, auch wenn es ihnen nicht gerade behagte. Was sie dort erwartete, hätten sie allerdings niemals für möglich gehalten – der Hauptmann der Seraphen-Wache stand umringt von seinen früheren Gildenmitgliedern.

„Das, meine Freunde, ist das glorreiche Team Shiko!“, stellte er sie vor, „Shikon Feenseele, Seiketsu Lichtsegen, Ohtah Shadowdragon, Ganda, Gwen Grimmpfote, Ric Bärenklaue, Ull Rosenknospe und ihre Gefährtin Tear … Und euch darf ich die Klinge des Schicksals vorstellen – Caithe, Eir Stegalkin mit ihrem Begleiter Garm, Zojja und … Rytlock Brimstone.“

Die schöne Elementarmagierin und der geschickte Dieb tauschten verblüffte Blicke. Der jungen Wächterin stand regelrecht der Mund offen und die anderen riefen wild durcheinander.

„Schwester!“, kam es von der Waldläuferin und sie fiel Caithe regelrecht um den Hals, „Es geht Euch gut! Ich hatte Angst, der Alptraum könnte Euch in seinen Bann ziehen.“

Die Erstgeborene der Sylvari lächelte mild, während sie erwiderte: „Beinahe … Aber letztendlich konnte meine Liebe zu Faolain mich nicht die Liebe zu Euch und unserer Mutter vergessen lassen.“

Ric Bärenklaue kniete vor Eir nieder, bevor er das Wort an sie richtete: „Meisterin, ich habe mit meinen Gefährten die Jagd auf Jormag und drei weitere Drachen erfolgreich abgeschlossen. Wir sind endlich frei von seinem Einfluss!“

„Ich bin sehr stolz auf dich, mein junger Schüler!“, bestätigte die Norn und zog ihn auf die Füße.

Der Tribun und Gwen Grimmpfote tauschten den Kriegergruß aus und sie fragte ihn: „Wieso bist du denn hier? Ich dachte, du wolltest nie wieder in die Nähe von Menschen kommen.“

„Tja, Zenturio, ein kleines Mädchen hat mir erklärt, was … >mildernde Umstände< sind.“, antwortete er und nickte Seiketsu Lichtsegen anerkennend zu.

„Ich freue mich Euch wiederzusehen, Zojja.“, begrüßte Ganda die Asura begeistert.

Die Golemantin zeigte die Spur eines Lächelns und meinte: „Ich habe Euch doch gesagt, ich möchte bei Gelegenheit wieder mit Euch zusammenarbeiten. Und siehe da, hier bin ich. Außerdem hätte ich die langweiligen Reden des Arkanen Rats keinen Tag länger ausgehalten – da kam Logan´s Einladung gerade recht.“

Logan räusperte sich peinlich berührt und erklärte dann: „Ich habe meine alten Freunde zusammengerufen, weil ihr vor dem letzten Kampf alles erfahren sollt, was wir über Zhaitan und Orr wissen.“

Team Shiko verstummte sofort. Jeder von ihnen gierte auf Neuigkeiten.

„Nachdem die Menschen-Götter Balthasar, Dwayna und Melandru ihren Sitz in Orr verlassen hatten und in die Nebel aufgestiegen waren, schlossen sich ihre Schützlinge zu Gilden zusammen und führten Kriege gegeneinander.“, begann Eir Stegalkin die Geschichtserzählung.

Die Elementarmagierin nickte: „Damit rissen sie die drei großen Königreiche Kryta, Ascalon und Orr auseinander.“

„Mein Volk nutzte damals diese … Chance und versuchte die Menschen aus Ascalon zu vertreiben. Stattdessen haben sie in einem Anflug von Wahn alles vernichtet und jetzt suchen uns diese widerlichen Geister heim.“, brummte Rytlock Brimstone.

„Aber darum geht es doch gar nicht!“, unterbrach Zojja ihn gereizt, „Um die >Gildenkriege< zu beenden, nutzte ein Mensch namens Wesir Khilbron das sogenannte Zepter von Orr, welches die Macht besitzen soll, Untote zu kontrollieren. Doch dieser Idiot hatte überhaupt keine Ahnung von der Komplexität eines solches Zaubern und so versank Orr im Meer.“

Die Augen von Ohtah Shadowdragon weiteten sich: „Halt, Stopp, Moment! Mit dem Zepter konnte man Untote kontrollieren?! Soll das etwa heißen-“

„Genau.“, klinkte sich Caithe ein, „Wir glauben, Zhaitan ist nur deshalb so stark, weil er die magische Kraft des Zepters absorbiert hat.“

Der Wächter stimmte ihr zu: „Das Zepter lag so viele Jahrhunderte in dem versunkenen Reich, dass seine Macht sogar in die Erde gezogen ist. Zhaitan hat sich den idealen Standort ausgewählt – von den unzähligen Leichen einmal abgesehen.“

„Und je mehr Diener er hat, desto stärker ist er.“, warf die künstlerisch begabte Norn ein.

Rytlock zog sein Schwert und sprach: „Deshalb haben wir – und ich glaube kaum, dass ich das wirklich sage – gemeinsam die Entscheidung getroffen bei der letzten Schlacht an eurer Seite zu stehen!“

„Denn so beeindruckend eure bisherigen Erfolge auch sein mögen, gegen Zhaitan´s ganze Armee habt ihr nicht geringste Chance.“, sagte Zojja, die natürlich das letzte Wort haben musste.

Der wiedervereinten Klinge des Schicksals zu begegnen hatte sie verblüfft, aber dass sie sich ihnen anschließen wollte, haute Team Shiko regelrecht um. Zwei Generationen, die nur existierten, um die Alt-Drachen zu vernichten, schlossen sich zusammen! Für den letzten, großen Kampf. Ein Kampf, der über die Zukunft von Tyria und jedem einzelnen der Anwesenden entscheiden würde …
 

Vorabend der Entscheidung

Team Shiko und die Klinge des Schicksals hatten ihr Lager nordöstlich von Orr an der Festlandküste zum Meer des Leids aufgeschlagen – die See war ruhiger geworden, seit Mélyten nicht mehr über die Gewässer Tyria´s herrschte. Doch nicht nur die Helden hatten sich dort niedergelassen, um den Kampf gegen Zhaitan voranzutreiben; denn die drei großen Orden Tyria´s – der Orden der Gerüchte, die Wachsamen und die Abtei Durmand – hatten sich zu einem Pakt zusammengeschlossen und bei Meerenge der Verwüstung ein Fort errichtet, von dem aus sie agierten. Shikon Feenseele stand am Rand der Halbkreisbucht. Ganda hatte sie regelrecht zur »Türschwelle von Orr« gebracht. Von hier aus konnte man in der Ferne die Spitze der Insel ausmachen. Die Drachen-Juwelen pulsierten förmlich in der Truhe, welche sie in Händen hielt. Alle Repräsentanten der vier Elemente waren vereint – Primordus, der Feuerdrache … Jormag, der Luftdrache … Kralkatorrik, der Erddrache … und Mélyten, der Wasserdrache … Nun existierte nur noch ein Alt-Drache – Zhaitan, der Drache des Todes. Morgen war es soweit, sie würden in das verlorene Königreich einmarschieren. Und die Elementarmagierin wurde das Gefühl nicht los, dass Zhaitan das bereits wusste … Aber sie konnte einfach nicht bei den anderen sitzen und zum bestimmt hundertsten Mal den Plan durchsprechen – keine Strategie der Welt konnte ihnen in seinem Reich einen Vorteil verschaffen. Es blieb ihnen nur jeden seiner Diener zu töten, den er ihnen entgegenwarf, bis sie vor Zhaitan´s Versteck standen.

Plötzlich trat Seiketsu Lichtsegen an ihre Seite und riss sie aus ihrer Versunkenheit. Sie unterdrückte ihre Enttäuschung, dass es nicht Ohtah Shadowdragon war. Im Grunde hatte sie mit seinem Auftauchen gerechnet, seit sie das Lager verlassen hatte. Warum kam er nicht? Er wich doch sonst nie von ihrer Seite – zumindest nicht für lange.

„Er wollte kommen. Ich habe ihn davon abgehalten, weil ich zuerst mit dir sprechen wollte.“, beantwortete die Wächterin ihre unausgesprochene Frage, „Ich kenne dich inzwischen sehr gut, Shiko. Und ich spüre, dass dich etwas beschäftigt … etwas, über das du nicht einmal mit Ohtah reden willst … oder vielleicht auch nicht kannst.“

Eigentlich sollte es Shikon Feenseele nicht überraschen, dass ihre Freundin sie durchschaut hatte und so erwiderte sie: „Ich kenne den Preis für die Rettung Tyria´s … Glint und der Blasse Baum haben mich auf diesen Weg geführt. Vielleicht ahnst du es ja bereits, ganz sicher sogar. Es gibt kein Zurück mehr für mich. Deshalb möchte ich nicht, dass ihr bei dem Kampf dabei seid … vor allem Ohtah nicht.“

„Wie willst du ihn davon abhalten?“, wollte Seiketsu Lichtsegen wissen.

Ein zartes Lächeln legte sich auf die Lippen der Heldin, als sie erwiderte: „Ein Versprechen … Es gibt keine andere Wahl – ich muss ihm eine Falle stellen.“

„Wirst du … wirst du ihm vorher sagen, dass du ihn liebst?“, hakte ihre Gegenüber weiter nach.

Diesmal schüttelte Shikon Feenseele den Kopf. Wie sollte sie Ohtah Shadowdragon ihre Gefühle offenbaren, wenn sie doch genau wusste, dass sie nicht zusammen sein konnten? Es war ihre Bestimmung Tyria vor den Alt-Drachen zu retten … damit andere glücklich sein konnten. Sie stand zwischen der Zukunft und ihrer Verdammnis, da durfte sie nicht an ihr eigenes Glück denken. Für Tyria, ihre Freunde und alle Wesen, die in dieser Welt lebten …

„Themawechsel. Warum hast du Logan nicht gestanden, was du für ihn empfindest?“, gab sie beinahe provokant zurück, um von sich selbst abzulenken.

Sofort schoss Seiketsu Lichtsegen die Röte ins Gesicht und sie antwortete melancholisch: „Weil er nicht dasselbe für mich fühlt … Sein Herz gehört Königin Jennah, da kann ich nicht mithalten. Trotzdem bin ich froh darüber, in ihn verliebt zu sein … Ich wünsche mir nur, dass er aus ganzem Herzen lachen kann, ohne diese ständige Angst. Und dafür werde ich morgen mit all meiner Kraft kämpfen!“

„Wenn er das hören könnte, würde er dir sicher sofort verfallen.“, lachte Shikon Feenseele und legte einen Arm um ihre Schulter, „Du bist für mich wie eine Schwester, Sei … Vergiss´ das nie.“

Sie nickte, weil es ihr nicht anders ging und darum brachte sie die nächsten Worte nur äußerst schwer über die Lippen: „Wirst du Zhaitan auch wirklich besiegen können?“

Entschlossener denn je antwortete Shikon Feenseele daraufhin: „Solange ihr an mich glaubt, ja.“

„Aber … du wirst nicht …“, begann die Wächterin, brachte den Satz allerdings nicht zu Ende.

Die schöne Elementarmagierin richtete ihren Blick wieder in die Ferne und entgegnete steif: „Du kennst die Antwort.“
 

Als die Nacht hereinbrach, kehrte Shikon Feenseele zum Lager zurück. Ohtah Shadowdragon saß am Rand und hielt Wache – er hatte auf sie gewartet. Sie nahm neben ihm Platz, lehnte sich gegen seine Brust.

„Ich muss etwas mit dir besprechen, Ohtah.“, sagte die Elementarmagierin so leise, dass nur er sie hören konnte, „Ich werde mich Zhaitan allein stellen … Ich bin diejenige, die über die vier Elemente gebietet. Es ist mein Kampf, seit ich Götterfels zum ersten Mal verlassen habe – alles lief einzig auf diese Begegnung hinaus.“

Entgeistert starrte er sie an, stotterte sogar: „Wa-was redest du da, Shiko? Das … das kann nicht dein Ernst sein! Zhaitan ist viel zu gefährlich! Ich würde mein Leben für dich geben! Lass´ mich dich begleiten! Ich werde dich beschützen!“

„Du beschützt mich am besten, wenn du vor Zhaitan´s Zitadelle die angreifenden Untoten von mir fernhältst. Ich habe die Macht von vier Drachen auf meiner Seite … Ohne seine Diener ist es nur Zhaitan selbst. Du musst mich gehen lassen, Ohtah … Bitte respektiere meinen Wunsch.“, wählte sie ihre Worte mit Bedacht und schluckte anschließend, „Wäre … wäre mir während der Reise etwas zugestoßen, hätte ich dich zum neuen Anführer unseres Teams ernannt. Deshalb … Ohtah, gib´ mir dein Wort – egal was passiert … Tyria braucht eine Zukunft! Wenn du mir das versprichst, werde ich nicht … verlieren.“

Jedes Wort schnitt ihr regelrecht die Luft ab. Sie hatte nicht gelogen, doch es gab diesen feinen Unterschied zwischen »einen Kampf gewinnen« und »aus einem Kampf siegreich zurückzukehren«, den sie ihm wohl weißlich verschwieg.

Ohtah Shadowdragon schloss sie in seine Arme, hielt sie fest an sich gepresst. Er wollte sie nicht allein lassen, unter keinen Umständen. Aber noch weniger wollte er im Wege stehen … Er wusste, sie würde sich nicht aufhalten lassen. Statt ihn anzulügen, hatte sie sich ihm anvertraut …

„Ich glaube an dich, Shiko, von ganzem Herzen! Und ich schwöre dir, Tyria wird nicht untergehen!“, erwiderte er schließlich, doch ein Teil von ihm brach bei diesen Worten.

Shikon Feenseele lächelte. Sie vertraute ihm, er würde sein Wort halten … Wie zum Zeichen des Abschied hob sie den Kopf und gab ihm einen Kuss auf die Wange, nur wenige Millimeter von seinen Lippen entfernt, die sie dennoch niemals schmecken würde.
 

In dieser Nacht schlief die Elementarmagierin eingehüllt in Ohtah Shadowdragon´s Armen. Wieder schwebte Shikon Feenseele in völliger Dunkelheit und wartete auf die vertraute Stimme.

Und natürlich wurde sie nicht enttäuscht: „Shiko … du hast es wirklich geschafft! Du hast dich mit deinen Freunden gegen die Drachen behaupten können. Nun steht dir nur noch ein letzter Kampf in dieser Welt bevor.“

„Ja. Und ich werde meinen Weg weitergehen … bis zum bitteren Ende. Trotzdem habe ich Angst, große Angst sogar … nicht vor dem Sterben, nein. Ich habe Angst vor dem, was mit Ohtah und den anderen passieren wird …“, erklärte Shikon Feenseele brüchig, dann erstarkte ihre Stimme zunehmend, „Ich habe etwas entscheidendes auf meiner Reise gelernt – es geht nicht darum keine Angst zu haben oder keine Schwäche zu zeigen, sondern ob man wieder aufsteht und sich dem entgegenstellt.“

Zum ersten Mal in ihren Träumen erschien eine Lichtgestalt vor ihr; eine junge Frau mit hochgesteckten Haaren und einem langen Magiergewand, die sprach: „Ich wusste, du würdest diese Lektion wieder lernen … Der Sinn deines Lebens ist es gegen die Drachen zu kämpfen – mit allem, was dich ausmacht! Vertrau darauf … dann wirst du nicht scheitern.“

„Seit du mir das zum ersten Mal gesagt hast, frage ich mich immer wieder, warum gerade ich? Was ist an mir so besonders?“, wollte sie ernst wissen und erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit Primordus, der sie für einen gewöhnlichen Menschen gehalten hatte.

Die junge Frau wirkte traurig, als sie erwiderte: „Es tut mir leid … ich kann es dir nicht sagen. Wenn du die wahre Kraft in dir erweckst, wirst du verstehen … und dann wirst du dich auch endlich an alles erinnern. Erwache, Shiko … bevor es zu spät ist!“
 

Die Quelle von Orr

Am nächsten Morgen setzten die beiden verbündeten Gruppen Schritt eins ihres Plans in die Tat um – sie kaperten ein Totenschiff Orr´s, um sich der Insel weitgehend unbemerkt nähern zu können. Ull Rosenknospe und Caithe machten es zunächst für Lebende seetüchtig; sie ließen Ranken wachsen, die das Schiff zusammenhielten, und große Blätter, die als Segel dienten. Seiketsu Lichtsegen und Logan Thackeray hielten einen Schutzschild aufrecht, welcher sie für die Untoten unsichtbar machte und gegen mögliche Blindgänger abschirmte. Ganda bewegte Gwen Grimmpfote und Rytlock Brimstone mit ein paar arroganten Aussagen ganz im Stil der Asura an Bord zu gehen – denn Charr waren absolut wasserscheu; Garm und Tear dagegen hatten kein Problem damit, sie bleiben treu bei ihren Herrinnen. Die Norn kümmerten sich um die Steuerung und Shikon Feenseele sorgte für einen günstigen Wind, während Ohtah Shadowdragon bereitstand gegen alles und jeden zu kämpfen. So ausgestattet segelten die zwölf Kämpfer mit ihren beiden Tiergefährten Richtung Orr. Selbst von weitem konnte man erkennen, dass der Kontinent nur so von zahlreichen Untoten wimmelte. Dies war wahrlich die Hochburg von Zhaitan´s Armee! Hier gab es kein Leben, hier herrschte der leibhaftige Tod … An einem großen Küstenstrand gingen Team Shiko und die Klinge des Schicksals schließlich an Land. Laut Caithe, die eine Karte von Orr mitgebracht hatte, handelte es sich um das Gebiet des Wintertotengeläut an der Fluchküste, was sich nicht gerade einladend anhörte. Trotzdem bot dieser Ort eine einzigartige Schönheit, der nicht einmal Zhaitan etwas anhaben konnte – die Jahrhunderte unter dem Meer hatten das Land verändert, überall blitzten regenbogenfarbene Stellen aus chemischen Verbindungen auf und verliehen der Gegend etwas mystisches.

Als Ull Rosenknospe den Blick schweifen ließ, hatte sie ein eigenartiges Gefühl, so als ob etwas nach ihr rufen würde … oder jemand. Tear hüpfte aufgeregt auf und ab, auch sie kannte diese Ausstrahlung. Sie konnte kaum glauben, dass er wirklich hier sein sollte. Die Waldläuferin nahm ihren Langbogen von der rechten Schulter und sie rannten los. Ihre Teammitglieder fragten sich, was wohl geschehen sei – selbst Caithe runzelte verständnislos die Stirn. Auf einem hohen Felsen hielten die beiden Ausschau. In einiger Entfernung kämpften Auferstandene gegen einen Sylvari mit dunkelgrünem Teint und dessen Trupp. Ull Rosenknospe schnappte nach Luft – er war es tatsächlich! Sie legte einen Pfeil an, zielte sorgfältig und schoss. Immer weiter, bis schließlich nur noch die Abscheulichkeit übrig blieb, gegen die der männliche Sylvari kämpfte. Ull Rosenknospe nahm die verbliebenen drei Pfeile aus ihrem Köcher, belegte sie mit einem tödlichen Pflanzengift und ließ sie von der Sehne schnellen. Die Kreatur brach in sich zusammen. Der Schwertkämpfer wirkte verdutzt – erst jetzt bemerkte er die Pfeile und erkannte sie sofort. Seine Augen suchten panisch das Gelände ab, dann entdeckte er Ull Rosenknospe und Tear endlich. Sie sprangen vom Felsen herab und liefen ihm, so schnell sie konnten, entgegen. Die beiden Sylvari sahen sich einfach nur an, sogen den Anblick des anderen in sich auf. Es war viel zu lange her, seit er nach Orr aufgebrochen war … Trahearne, Erstgeborener der Sylvari und Junker der Wylden Jagd.

„ULL!“, schrie Shikon Feenseele, die ihr mit dem Rest der Gruppe eiligst gefolgt war, „Ist alles in Ordnung mit euch?“

Die Waldläuferin winkte knapp. Caithe war nicht minder überrascht als Ull Rosenknospe ihren Bruder zu sehen.
 

In einem Lager des Pakts – Ull Rosenknospe und Caithe konnten kaum glauben, dass ausgerechnet Trahearne den Zusammenschluss der Orden als Marschall anführte – berichteten Shikon Feenseele und ihre Freunde von ihren Abenteuern und sie erfuhren, dass Trahearne auf der Suche nach der Quelle von Orr sei.

„Der Untergang Zhaitan´s steht kurz bevor … ich spüre es.“, erklärte er und atmete tief durch, „Wir wissen inzwischen, wo sich die Quelle befindet und werden sie reinigen. Damit verliert Zhaitan einen großen Teil seiner Macht, was ihn verwundbarer denn je machen wird.“

Ull Rosenknospe wollte von alledem nichts hören. Sie hatte sich an den Rand des Lagers verzogen und ihre Tiergefährtin in den Schlaf gestreichelt. Nachdem sich alsbald auch die anderen schlafen gelegt hatten, nahm Trahearne neben ihr Platz.

„Die Karte, die Caithe dabei hat, habt Ihr gezeichnet … Wusste sie, dass Ihr hier sein würdet?“, wollte sie von ihm wissen.

Er schüttelte den Kopf: „Seit unserem Abschied hatte ich keinen Kontakt mehr zu einem Sylvari außerhalb des Pakts. Aber ... ich bin glücklich, Euch wiederzusehen. Wir haben uns tatsächlich wiedergefunden … und dabei ist Orr so gewaltig.“

Sie saßen eine Weile schweigend da. Dann sprang Trahearne plötzlich auf und zog Ull Rosenknospe auf die Füße. Er ließ ihre Hand nicht los, während er sie auf einen der Aussichtspunkte führte. Von dort aus konnte man unendlich weit über das Meer des Leids sehen. Im Osten erblickte die Waldläuferin eine steinerne Treppe, auf dessen oberstem Absatz Statuen standen.

„Man nennt es die >Promenade der Götter< … Dort oben, das sind sie, die drei ursprünglichen Götter, die nach Menschen-Glaube Tyria geschaffen haben. Dahinter liegt Arah, die Hauptstadt von Orr … der Ort, an dem sich Zhaitan versteckt hält.“, erklärte Trahearne, wobei man ihm anmerken konnte, dass er nicht gerne darüber sprach.

Ull Rosenknospe wandte sich wieder dem Meer zu und wechselte leise das Thema: „Ihr habt Eure Wylde Jagd also fast beendet.“

Der Sylvari verschränkte seine Finger mit ihren, bevor er bestätigte: „Genauso wie Ihr. Und wenn es soweit ist, werde ich zu unserer Mutter zurückkehren. Ich bin dem Hain lange genug ferngeblieben. Ich … ich habe keinen Grund mehr zu flüchten, nicht seit ich Euch kenne. Ihr seid und bleibt für immer meine Liebe, Ull … Ich will dort mit Euch leben, in unserer Heimat!“

Überraschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, nur eine Sekunde später wurde Ull Rosenknospe wieder ernst: „Ich würde sterben, um Shiko diese Stufen hinaufzubringen.“

Trahearne nickte, dass hatte er sich bereits gedacht, es änderte jedoch nichts an seinen Gefühlen. So überbrückte er den geringen Abstand, der noch zwischen ihnen geherrscht hatte, und legte seine Lippen auf ihre.
 

Die Fee der vier Elemente

Der Tag der Entscheidung war gekommen. Innerhalb einer Nacht hatte Zhaitan den Großteil seiner verbliebenen Streitkräfte ins Herz von Orr zurückgerufen. Die Stufen der Promenade der Götter waren gespickt mit Kompanien von Auferstandenen. Team Shiko und die Klinge des Schicksals standen einer Übermacht gegenüber. Dem Alt-Drachen des Todes war damit ein großer Fehler unterlaufen – für Trahearne und einer Handvoll seiner Männer war der Weg nun frei. Sie konnten ungehindert zur Quelle von Orr vordringen und das Ritual beginnen. Die restlicher Kämpfer des Paktes schlossen sich dem Kampf von Shikon Feenseele an. Ull Rosenknospe hatte Trahearne am Morgen hinterher geschaut, als er zum Abschluss seiner Wylden Jagd aufgebrochen war.
 

„Ull … das nächste Mal sehen wir uns im Hain wieder!“, waren seine Abschiedsworte gewesen.

Mit einem traurigen Lächeln hatte sie geantwortet: „Auf die eine … oder die andere Weise.“

Er hatte nur genickt, ihr Gespräch von letzter Nacht noch in den Ohren. Jeder Sylvari, der sein Leben aushauchte und nicht dem Alptraum verfallen war, kehrte als Blume in die Omphalos-Kammer zurück, um für alle Ewigkeit mit dem Mutterbaum vereint zu sein …
 

Team Shiko und die Klinge des Schicksals marschierten, geleitet von fast fünfhundert Mann der Paktsoldaten, der Treppe zur Promenade der Götter entgegen. In Shikon Feenseele stieg Freude auf, als sie zu ihren Begleitern sah. Ihre Allianz bestand wirklich aus den fünf großen Völkern Tyria´s – und laut Glint, konnten sie den Krieg so beenden, sie hatten endlich eine reelle Chance. Zhaitan und seine Untoten würden vom Angesicht der Erde verschwinden, die Ordnung wiederhergestellt werden. Doch zuvor stand ihnen noch ein größer Kampf bevor, um den obersten Absatz überhaupt erreichen zu können. Seiketsu Lichtsegen und Logan Thackeray hatten bereits alle Wächter um sich geschart und erschufen einen gewaltigen Schutzschild über ihren Köpfen, der die meisten Geschosse abblockte. Die Waldläufer unter Ull Rosenknospe und Eir Stegalkin starteten bereits eine Gegensalve. Und Ric Bärenklaue führte die übrigen Nahkämpfer an die vorderste Front. Ohtah Shadowdragon fungierte natürlich als Leibwache – und lebendigen Schild – für Shikon Feenseele.

„Egal was es kostet, wir werden Shiko diese Stufen hinauf schaffen!“, rief er gegen den Kampfschrei der Auferstandenen an, die sich wie eine Flutwelle über sie ergossen.

Freund war kaum mehr von Feind zu unterscheiden. Die Magier schlossen ihre Augen – sie richteten ihre Zauber dorthin, wo sie die dunklen Auren spürten. Alles drängte und drängelte. Die Kampftruppe um Team Shiko gewann bereits die ersten Meter für sich. Aber die Masse an Gegnern wurde einfach nicht weniger … Zu viele Reservetruppen warteten noch vor dem Tor nach Arah auf ihren Einsatz. Dort in der Ferne, weit über ihnen erhoben sich die Abbilder von Balthasar, Dwayna und Melandru, die ihnen mit den anderen Göttern aus den Nebeln unfähig zusehen mussten … denn sie hatten auf Orr, ihrer einstigen Hochburg keine Macht mehr.

Kormir, die sich für die Qualen ihrer Freunde verantwortlich fühlte, flüsterte: „>Dwayna lebt in eurem Mitgefühlt, Balthasar in eurer Stärke. Melandru in eurer Harmonie, Grenth in eurer Gerechtigkeit. Und in eurer Inspiration ist Lyssa. Die Göttlichkeit liegt in euch!< Damals habe ich die Worte der Götter nicht verstanden, habe mich darüber aufgeregt. Heute ist das anders … Ihr müsst an euch selbst glauben! Wir Götter können wahrhaft nur für euch beten …“

In Orr schlugen sich Team Shiko und die Klinge des Schicksals gerade auf den vorletzten Treppenabsatz durch – die Paktsoldaten hatten sich gesplittert und auf der gesamten Treppe verteilt, um ihnen den Rücken freizuhalten.

„Geht hinter mich, ich schlage die letzte Bresche!“, schrie Shikon Feenseele.

Ohtah Shadowdragon und Ull Rosenknospe wollten widersprechen, doch die Elementarmagierin webte bereits den Zauber. Sie stürmte von Flammen eingehüllt durch die Linie der orrianischen Armee. Die flüchtenden Auferstandenen wurden so gleich von ihren Gefährten aus dem Weg geräumt. Schwer atmend hob sie den Blick zu den juwelenbesetzten Augen der Statuen. Dieses Land war von ihnen erschaffen worden … Lange bevor Zhaitan ihr Andenken mit seiner Verderbnis beschmutzt hatte. Hinter ihr erklommen Ohtah Shadowdragon, Seiketsu Lichtsegen, Ganda, Gwen Grimmpfote, Ull Rosenknospe, Tear und Ric Bärenklaue den Treppenabsatz. Die Klinge des Schicksals hielt ihnen die nach stürmenden Untoten vom Leib.

Shikon Feenseele wandte sich abrupt zu ihnen um und verkündete: „Ab hier werde ich allein weitergehen. Ihr hindert Zhaitan´s Diener daran in die Stadt einzudringen. Logan und die anderen schaffen das nicht ohne eure Hilfe.“

Ganda war die erste, die ihre Stimme wiederfand: „Und Ihr wollt wirklich so ganz allein gehen? Ohtah könnte dich doch wenigstens begleiten!“

„Nein! Auf gar keinen Fall!“, widersprach sie heftig, „Versteht doch … genau so haben es Glint und der Blasse Baum vorausgesagt.“

Die Sylvari nickte ergeben: „Ich vertraue dem Urteil des Mutterbaums … Und ich weiß, Ihr werdet es schaffen. Ihr seid unsere Anführerin, Shiko!“

„Verpass´ Zhaitan für jeden von uns eine ordentliche Tracht Prügel!“, verlangte der Norn lachend.

Sie zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln, als sie erwiderte: „Mindestens. Ich danke euch für alles, Leute! Ohne euch wäre ich niemals soweit gekommen … wir sind und bleiben ein Team!“

Anschließend wandte sich Shikon Feenseele direkt an Ohtah Shadowdragon und Seiketsu Lichtsegen: „Kennt ihr die Inschrift der Statue, die in Rurikstadt steht? >Ein starkes Herz wird angesichts unüberwindbarer Hindernisse niemals zögern.< Ihr habt mich stark gemacht … Durch euch konnte ich meine Angst bezwingen, meine Schwäche überwinden … Ich werde kämpfen, damit alle frei sein können! Ich stelle mich zwischen das Licht und die Finsternis.“

„Wir sind bei dir.“, versicherte ihr die junge Wächterin, „Du bist nicht allein, Shiko … niemals. Deine Gefühle kann dir nicht einmal Zhaitan nehmen!“

Der geschickte Dieb sah ihr tief in die Augen, legte all seine Liebe hinein und sagte: „Wir werden hier auf dich warten!“

Eine einzelne Träne fand den Weg über ihre Augenränder, als Shikon Feenseele sie verließ. Die Ruinenstadt Arah hatte nichts mehr mit ihrer einstigen Pracht gemein. Kaum ein Stein stand noch auf dem anderen und die Jahrhunderte unter Wasser waren nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Tief im Innern der Heiligen Stadt, in seiner Zitadelle wartete der letzte Alt-Drache bereits auf sie.

„Du bist wirklich zu mir gekommen …“, stellte Zhaitan höhnisch fest, „Ich hätte nicht gedacht, dass du mir gegenüber treten würdest, nachdem du die Kraft meiner Brüder gesehen hast.“

Shikon Feenseele konzentrierte ihre Magie und zauberte die Truhe hervor, die Glint ihr gegeben hatte. Die vier Drachen-Juwelen, welche die extrahierten Seelen von Primordus, Jormag, Kralkatorrik und Mélyten enthielten, begannen zu strahlen und schwebten in die Luft.

Nach einem tiefen Atemzug antwortete sie entschlossen: „Dir wird es nicht anders ergehen als ihnen. Ich werde deine Tyrannei keinen Tag länger zulassen! Tyria hat genug gelitten … weder die Menschen, noch die Asura, die Norn, die Charr oder gar die Sylvari sollen länger in Furcht leben!“

„Warum?“, wollte Zhaitan knurrend wissen, „Wieso interessieren dich all diese niederen Kreaturen, zu deren Volk du nicht einmal gehörst?“

Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und entgegnete: „Ich kämpfe für meine Freunde und alle Bewohner Tyria´s, weil es meine Bestimmung ist! Denn ich bin die Fee der vier Elemente!“

Ein Ruck fuhr durch Shikon Feenseele´s Körper, Bilder rasten an ihr vorbei, doch sie nahm jedes einzelne davon genau wahr. Sie sah eine junge Frau, welche eine Blume im Haar trug, und ihr auf irgendeine Weise ähnelte. Einen Kampf gegen einen Mann mit entstelltem Gesicht. Die Vernichtung eines gehörnten und geflügelten Wesens. Dann den Tod und die Geburt einer Gottheit. Bis es zu einem Drachen aus lebendiger Lava wechselte.

Und plötzlich hörte sie die Stimme von Ohtah Shadowdragon: „Shiko … Shikon No Yosei … Verteidigerin von Cantha und Shing Jea … Retterin von Tyria und Elona … Vernichterin der Zerstörer und Vertraute der Asura … ich, Ohtah Ryutaiyo, bitte dich … werde meine Frau!“

Shiko … Shikon No Yosei, die Fee der vier Elemente. Das war sie … Sie erinnerte sich wieder! Sie war wiedergeboren worden, um gegen die fünf Alt-Drachen zu kämpfen. Sie, die lebende Legende, die Shiro Tagachi, den Untoten Lich, Abaddon und Primordus´ Champion den Großen Zerstörer bezwungen hatte. Gemeinsam mit Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari … Durch das Erwachen ihrer Seele kehrten auch ihre eigentliche Gestalt und ihre magischen Kräfte zurück. Nun war sie sich wieder der wahren Macht bewusst, die in ihr ruhte. Und genauso wie die Stimme es ihr im Traum prophezeit hatte – sie konnte einfach nicht glauben, dass sie Teinai nicht erkannt hatte – wusste sie mit einem Mal auch, wie sie die Energie der Drachenjuwelen nutzen musste.

„Pah! Und wenn schon? Was nutzt dir dein kleiner Zauber? Das ändert nichts an der Tatsache, dass du ein kleines Mädchen bist! Was willst du allein gegen mich ausrichten?“, höhnte der Drache in ihren Gedanken, der ihren Kraftanstieg vor lauter Stolz nicht einmal bemerkt hatte.

Da schwappe eine Welle der Energie über den Kontinent hinweg. Die Verderbnis schmolz aus dem Boden, der Luft, dem Wasser. Die Quelle von Orr floss wieder – Trahearne hatte es geschafft! Der Zeitpunkt war gekommen …

Shikon No Yosei schloss für einen Moment die Augen – vor sich sah sie all ihre Gefährten – und erklärte ruhig: „Ich bin nicht allein – ich spüre die Unterstützung all meiner Freunde in meinem Herzen … Sie geben mir die Kraft, dich zu besiegen. Oh, ihr vier Elemente, hört meinen Ruf im Namen der Sechs Götter – Feuer, Wasser, Erde, Luft!“

Sie breitete die Arme aus und die Elemente gehorchten ihrem Befehl. Vier Lichtsäulen schossen aus den Juwelen in die Höhe – rot, weiß, grün und blau. Genau wie damals, als die Alt-Drachen aus ihrem Schlaf erwacht waren. Damit schloss sich der Kreis.
 

Erschöpft sanken die Kämpfer zu Boden. Die Stufen waren übersät mit den Überresten der Untoten und obwohl Seiketsu Lichtsegen sich kaum noch auf den Beinen halten konnten, entzündete sie zusammen mit Logan, Zojja und Ganda die Leichenberge. Zu groß war die Gefahr, dass sie sich noch einmal erhoben. Ohtah Shadowdragon beobachtete mit Schrecken, was sich am Himmel über der Hauptstadt abspielte – vier Lichter waren wie aus dem Nichts hinaufgeschossen. Was hatte Shikon Feenseele bloß getan, was ging in der Zitadelle nur vor sich? Ein Angstschauer fuhr ihm über den Rücken. Er hätte niemals von ihrer Seite weichen dürfen! Er war doch ihr Beschützer!

„Die Sechs Götter seien meine Zeugen – hiermit erhebe ich einen neuen Schwur, da ich aus jenem anderen entlassen wurde … Ich, Ohtah Ryutaiyo, schwöre am heutigen Tag bei meinem Leben, meiner Seele und meinem Geist, dass ich auf ewig Shikon No Yosei´s getreuer Schatten sein werde, der sie vor allem Schaden bewahren wird! Niemals wieder soll mein Herz von Zweifel ergriffen werden … Ich unterstelle mich ihr mit allem, was ich war, was ich bin, was ich sein werde!“, hörte der Dieb seine eigene Stimme sagen.

Shikon No Yosei … Die Erinnerung traf ihn wie ein Blitzschlag. Er hatte diesen Schwur vor Jahrhunderten in der Befleckten Küste im Angesicht der Sechs Götter selbst geleistet! Darum hatten sie ihn gemeinsam mit Shikon No Yosei zurück nach Tyria geschickt. Weil seine Seele, sein ganzes Sein mit ihr verbunden war. Hinter sich hörte er schnelle Schritte näherkommen. Es war Seiketsu Lichtsegen, besser gesagt Seiketsu No Akari.

„Egal wo du bist oder was du tust … ich bin bei dir und du bist bei mir, Sei. Wir werden nie wirklich voneinander getrennt sein.“, hatte Shikon No Yosei zu ihr gesagt, als die Mönchin sich entschieden hatte, Shing Jea zu verlassen … und so würde es bis in alle Ewigkeit sein.

Sie nickten sich gegenseitig zu. Keine Sekunde später verschwand der geschickte Assassine via Schattenschritt und erschien in seiner ursprünglichen Gestalt neben seiner Geliebten.
 

Der Untergang von Orr

Sie spürte seine Präsenz sofort. Es überraschte sie nicht, besonders seit sie ihre Erinnerungen zurück hatte. Er war noch genau derselbe … Nichts hatte sich geändert. Nicht sein Wille, sein Geschick, sein strategisches Denken und vor allem nicht seine Besorgnis um sie. Es blieb ihr selbst nach all diesen unzähligen Jahren noch ein Rätsel, womit sie einen solchen Mann verdient hatte … Doch sie durfte nicht länger warten!

„Im Namen Balthasars rufe ich das Feuer! Heiß und zerstörerisch soll es lodern … Oh Dwayna, mit dir rufe ich die Luft! Als erfrischende Brise und tosenden Tornado … Melandru, Göttin der Natur, ich rufe die Erde! Nährend und beschützend verlasse ich mich auf sie … Und als letztes rufe ich das Element des Grenth, das Wasser! Klar und unberechenbar zugleich … Lyssa, ich bitte dich, schenke mir die magische Energie, um die Kraft der Elemente zu kanalisieren … Auf dass ich durch Euch, Kormir, Göttin der Wahrheit und Hüterin der Geheimnisse, mein Ziel nicht verfehle!“, sprach Shikon No Yosei die Beschwörungsformel, um die Energie auf ein Maximum zu steigern.

Die Lichtsäulen gehorchten ihr und schlossen sich um den Drachen, zogen sich immer enger zusammen. Shikon No Yosei faltete ihre Hände vor der Brust. Aus dem Rot, Orange, Grün und Blau wurde ein Kokon aus gleißendem Licht, der in allen Farben des Regenbogen schimmerte. So eingesperrt konnte sich Zhaitan nicht mehr gegen die positiven Kräfte der vier Elemente zur Wehr setzen … die Kraft des Lebens fraß sich durch seinen Körper, ließ ihn in sich zusammenfallen. Und mit ihm auch seine zerstörerische Macht über Tyria! In einer gewaltigen Explosion verschwand das Licht und die schöne Elementarmagierin sank kraftlos zu Boden – nach dem Ende des Untoten Tengu-Krieges waren ihre Kräfte nicht annähernd so zerschunden gewesen und damals hatte sie ihre magischen Kräfte vollständig eingebüßt. Ohtah Ryutaiyo, der vollkommen perplex zugesehen hatte, eilte an ihre Seite. Er öffnete den Mund, um etwas sagen, doch sein neu erwachtes Selbst begriff augenblicklich, was dieser Sieg sie kostete.

„Ich wusste es … seit ich mit dem Blassen Baum gesprochen habe. Verzeih´ mir, ich hatte keine andere Wahl.“, erklärte sie nach Atem ringend, „Ich liebe dich, Ohtah … immer. Im letzten, in diesem und in jedem weiteren Leben!“

Er wollte schreien, doch kein einziger Laut verließ seine Kehle. Zu geschockt war er von dem, was sich vor seinen Augen abspielte. Shikon No Yosei wurde, aus seinen Armen heraus, von einer unsichtbaren Macht in die Luft gehoben. Tränen traten in ihre Augen, als sie einen letzten Blick auf ihren Geliebten warf. Dies war der Preis dafür, dass sie die Kraft der Elemente so stark beansprucht hatte … Es war das Opfer, welches sie bringen musste, um Tyria zu befreien. Darum gab es nichts, was sie an ihrer Entscheidung bereute. Und mit einem leisen Geräusch, ähnlich wie beim Zerplatzen einer Seifenblase, funkelten dort, wo Shikon No Yosei einen Moment zuvor noch geschwebt hatte, nun nur noch zarte Staubpartikel. Ohtah Ryutaiyo konnte die Augen nicht abwenden. Er hatte sie verloren … endgültig. Er spürte keinen Schmerz mehr, nur Leere. Unzählige Male war sie als Shikon No Yosei und Shikon Feenseele in Gefahr gewesen. Und jetzt war es der Preis für ihren eigenen Zauber gewesen, der ihr das Leben genommen hatte. Ja, sie war tot … Sie, die Verteidigerin von Cantha und Shing Jea, die Retterin von Tyria und Elona, die Vernichterin der Zerstörer und Vertraute der Asura. Sie, seine Frau, die Mutter ihrer gemeinsamen Kinder Yoso No Koshi und Ryukii No Mai. Sie, die dem Beispiel ihres Meisters folgend die Tengu-Kriege ein zweites Mal beendet hatte. Sie, die Gesandte, die wiedergeboren wurde, um die Welt erneut vor der Bedrohung zu befreien. Sie, die Fee der vier Elemente …

„Wenn wir sterben … dann sterben wir gemeinsam. Ich lass´ dich nicht alleine gehen, niemals!“, hatte sie ihm einst in der Charr-Heimat versprochen und jetzt war sie ohne ihn gegangen.

Noch während Ohtah Ryutaiyo diesen Gedanken nachhing, erzitterte die Ruinenstadt. Alles wackelte, schien aus der Balance gekommen zu sein. Ein regelrechter Sturm legte sich über den Kontinent. Orr, welches früher das schönste Königreich Tyria´s gewesen war, begann wieder im Meer zu versinken, weil Zhaitan´s Einfluss gebrochen war! Doch er rührte sich nicht … Was für einen Grund hatte er zu fliehen? Der Sinn seines Lebens existierte nicht mehr. Wieso also weitermachen?

„Unsere Freunde brauchen dich jetzt. Wenn du ihnen nicht hilfst, werden sie mit Orr untergehen … und damit alle Hoffnung auf eine friedliche Zukunft.“, flüsterte eine vertraute Stimme, die ihm sanft über die Wange streichelte, „Du hast noch nie ein Versprechen gebrochen, Ohtah … Ich warte auf dich und Sei in den Nebeln.“

In diesem Augenblickblick brach die Decke über Ohtah Ryutaiyo in sich zusammen. Mehrere tonnenschwere Steinblöcke fielen zu Boden und schienen den Assassinen unter sich zu begraben – gäbe es da nicht die Kunst des Schattenschrittes. Nur Sekunden später starrten die Mitglieder von Team Shiko und der Klinge des Schicksals Ohtah Ryutaiyo sprachlos an. Ihre Blicke wanderten zwischen ihm und Seiketsu No Akari hin und her. Sie konnten nicht begreifen, was geschehen war, und trotzdem erkannten sie die beiden.

„Fasst euch an den Händen!“, befahl er ohne weitere Erklärung, gerade als die Inseln wieder ein ganzes Stück hinab sanken.

Sie taten, was er von ihnen verlangte – nur Ganda zögerte und fragte: „Was ist mit Shiko?“

Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über das Gesicht der Mönchin, als sie antwortete: „Sie hat sich für Tyria geopfert …“

Der Assassine packte die freie Hand der Asura und brachte sie mit einem gewaltigen Schattenmarsch zurück ans Festland. Dabei staunte er über sich selbst – noch nie hatte er so eine weite Strecke zurückgelegt, noch dazu mit so vielen Begleitern! Dementsprechend erschöpft war er zwar, doch seine Freunde und Verbündeten waren in Sicherheit, in Löwenstein. Dort herrschte bereits ein riesiger Tumult – selbst aus dieser Entfernung konnte man den Untergang der Insel deutlich sehen.

„Heißt das die Jagd ist zu Ende?“, wollte Ric Bärenklaue beinahe enttäuscht wissen.

Gwen Grimmpfote gab ihm einen Klaps auf die Schulter und meinte: „Sieht ganz so aus, Kamerad.“

„Aber mit einem bitteren Beigeschmack …“, entgegnete Ull Rosenknospe und sah hoch zum Abendstern, welcher in der Ferne leuchtete, „Ohne Shiko hätte keiner von uns diesen Kampf ernsthaft ausfechten können. Nicht einmal ich.“

Ganda schaute sie erstaunt an, während sie erwiderte: „Und das aus Eurem Mund. Habt Ihr nicht gesagt, Ihr würdet Euch uns nur anschließen, weil wir sonst keine Chance hätten?“

„Das reicht jetzt!“, unterbrach Ohtah Ryutaiyo die ausbrechende Diskussion, „Auch wenn die Drachen weg sind … unsere Aufgabe ist noch nicht beendet!“
 

Und noch ein Drache!

Da begann die Erde unter ihren Füßen zu beben. Der Assassine kannte das Gefühl – doch diese Erschütterung war weit schlimmer, als jene in Cantha. Die Helden gingen reihum zu Boden, hielten sich aneinander fest.

„Was ist das?“, wollte Ohtah Ryutaiyo erschrocken wissen.

Es war Caithe, die ihm mit Angst in der Stimme antwortete: „Das, meine Freunde … ist ein Drache!“

Die anderen starrten sie voller Entsetzen an. Als Erstgeborene hatte sie bereits das Erwachen zweier Alt-Drachen miterlebt … Das Beben erstarb und eine gelbe Lichtsäule schoss weit in den Himmel hinauf. Es musste eine gewaltige Entfernung zwischen ihnen liegen.

„Wo könnte das sein?“, brummte Rytlock Brimstone übellaunig.

Diesmal ergriff Ganda das Wort: „In dieser Richtung liegt nur der Maguuma-Dschungel.“

„Dann stimmt es also doch …“, meinte der Norn und zog damit die Aufmerksamkeit aller auf sich.

Nur Eir Stegalkin wusste, wovon er sprach, und erklärte: „In unserem Volk erzählte man sich vor uralter Zeit die Sage eines sechsten Drachens, der erst dann aus seinem ewigen Schlaf erwachen würde, wenn seine Brüder den Tod gefunden hätten. Ich … habe es nie geglaubt.“

„Wenn die Norn etwas über diesen Drachen wissen, dann gibt es nur ein Volk, das uns mehr darüber erzählen könnte …“, meinte die braunhaarige Mönchin, während ihr Blick sich nach Südosten richtete, wo irgendwo die Überreste der Feste Donnerkopf lagen.

„Wer?“, riefen die Freunde im Chor.

Seiketsu No Akari warf Ohtah Ryutaiyo einen bedeutungsvollen Blick zu. Seine Gesichtszüge entglitten ihm beinahe – er wusste, an wen sie dachte.

„Die Zwerge.“, hauchten sie wie aus einem Munde.
 

Shikon No Yosei schlug die Augen auf. Sie wusste sofort, wo sie sich befand – die Energie der Nebel war unverkennbar.

„Du bist wach, das ist gut.“, stellte Seira fest, die gerade den Raum betreten hatte, „Shiko, es gibt da etwas, das ich dir sagen muss, bevor du es von jemand anders erfährst …“

Doch die Elementarmagierin winkte ab: „Ich weiß, ich kann nicht lange hierbleiben. Ich kenne das Gesetz der Nebel, Seira – ich war schließlich einst eine Gesandte … Weil ich die Forderung einer Wiedergeburt gestellt habe, muss meine Seele fortan dem ewigen Zyklus folgen.“

„Ja … Nein, ich meine, noch nicht – deine Reise wird erst weitergehen, wenn Seiketsu und Ohtah wieder bei dir sind. Eure Schicksale sind fest miteinander verbunden.“, erklärte das Orakel und die Rothaarige horchte auf, „Shiko … im Maguuma-Dschungel in Tyria … ist der sechste Drache erwacht. Sein Name ist Mordremoth.“

Sie versuchte die Information zu verarbeiten, konnte es aber nicht. Was auch immer Seira versuchte ihr damit mitzuteilen, es war ein Ding der Unmöglichkeit. Es gab nur fünf Alt-Drachen – Zhaitan, Primordus, Kralkatorrik, Jormag und Mélyten … Und sie alle waren unter ihr gefallen!
 

In dieser Nacht schlief keiner der Freunde. Das ganze Team Shiko und die Klinge des Schicksals trauerten um ihre gefallene Kameradin … Ohtah Ryutaiyo hatte sich komplett von der Gruppe zurückgezogen. Als Ohtah Shadowdragon wäre seine Trauer groß gewesen – jetzt, da er seine Erinnerungen wieder hatte, war sie nicht in Worte zu fassen. Shikon No Yosei war zum zweitem Mal gestorben … Aber nie zuvor war er ohne sie am Leben gewesen. Zu jeder anderen Zeit wäre er ihr sofort in den Tod gefolgt, diesmal konnte er es nicht – und genau das hatte sie geplant!

„Du musst jetzt stärker werden, als Shiko es gewesen ist.“, meinte Seiketsu No Akari, die lautlos neben ihn getreten war, „Wenn sie an deiner Stelle wäre, wenn sie dich verloren hätte … Sie wäre innerlich zerbrochen, hätte nicht mehr weitermachen können. Aber sie hat darauf vertraut, dass du es kannst! Für sie … um ihre Mission zu beenden.“

Der Assassine sah hoch zu den Sternen, während er erwiderte: „Bevor ich Shiko in diesem Leben kennengelernt habe, habe ich, wie du weißt, auf der Straße gelebt. Nie hätte aus mir etwas werden sollen … Kurz vor meiner ersten Begegnung mit ihr, prophezeite mir eine Hellseherin, ich würde irgendwann ein großer Held werden, müsse dafür aber das größte aller Opfer bringen … Ich dachte, ich müsse sterben. Verstehst du? Ich hätte derjenige sein sollen … nicht Shiko!“

„Shiko hat gewusst, wie der Kampf gegen Zhaitan enden würde. Deshalb wollte sie uns auch nicht dabei haben. Und sie hatte schreckliche Angst davor …“, erklärte die Mönchin leise.

Ohtah Ryutaiyo ballte seine Hände zu Fäusten und sagte wütend: „Warum hat sie mich dann nicht ihren Platz einnehmen lassen? Warum hat sie mich nicht eingeweiht?“

„Sie hatte keine Angst vor dem Tod … Wir sind schließlich bereits gestorben und leben nur für den Kampf gegen die Drachen noch einmal in dieser Welt.“, widersprach sie ihm, „Sie wollte dich nicht verletzten … das war ihre größte Schwäche. Denn genauso wie dir eine Prophezeiung gemacht wurde, hat auch Shiko erfahren, dass sie nur so Tyria retten könne. Nichts und niemand hätte sie davon abhalten können … Sie war genau dieselbe, wie zuvor. Sie hat die Pflicht über ihr Leben gestellt …“

Er schwieg. Ob in diesem oder im vergangenen Leben, Shikon No Yosei hat niemals gezögert, ihr eigenes Dasein einzusetzen, um andere zu retten … das liebte und hasste er gleichermaßen an ihr.

„Logan sagte mal zu mir >Angst und Zweifel machen uns menschlich. Weiterzukämpfen … das macht uns zu Helden!<“, erzählte Seiketsu No Akari und berührte seine Schulter, „Du bist ein Held, Ohtah! Nicht nur in Shiko´s Augen … Unser Team braucht dich! Du bist jetzt unser Anführer.“
 

Für Seiketsu No Akari stand fest, dass nur ein Zwerg mehr über den ominösen, sechsten Alt-Drachen wissen konnte. Schließlich war es seit jeher ihre Aufgabe gewesen Wissen, Geheimnisse und Schätze zu horten. Das Problem war, die drei einstigen Legenden waren zu Lebzeiten hautnah dabei gewesen, als sie durch ein Ritual die Macht des Großen Zwergs erhalten hatten und den Zerstörern in die Tiefen Tyria´s gefolgt waren. Dennoch konnte Seiketsu No Akari eine einzige, schwache Präsenz von Zwergenaura im Gebiet des Lornar´s Passes ausmachen.

Ohtah Ryutaiyo schwieg sich darüber aus. Keiner der anderen wagte es mehr, ihn auf die Elementarmagierin anzusprechen, seit der Assassine und die Mönchin sie über ihr früheres Leben und ihre Erlebnisse aufgeklärt hatten. Dafür quälte er sich jede Nacht selbst immer wieder mit denselben Fragen und Gedanken. Warum nur hatte sie ihn einfach zurückgelassen, warum war sie ohne ihn in den Tod gegangen? Warum hatte sie ihn so vorgeführt? Mit dem einzigen Mittel, das ihn nun an dieses Leben band … sein Wort. Warum hatte er nicht eher begriffen, was sie vorgehabt hatte? Er hatte kläglich versagt – als ihr Beschützer und Ehemann. Er durfte sie nicht auch noch als ihr Nachfolger enttäuschen … Doch wo sollte er die Kraft dazu finden? Sein Herz war wie tot … Shikon No Yosei war sein Leben. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als seinen Dolch zu ergreifen und sich damit das Leben nehmen zu können. Aber dann könnte er ihr in den Nebeln nicht mehr gegenübertreten, nicht mehr in ihre schokoladenbraunen Augen sehen.

Seiketsu No Akari ging ähnliches durch den Kopf. In der einen Sekunde kamen ihr die Tränen, weil sie sich hatte opfern müssen … Im nächsten Augenblick lächelte, weil sie genau wusste, dass ihre Seelen-Schwester nun aus den Nebeln über sie wachte und dort auf sie wartete.

„Ihr seid sehr tapfer.“, sagte Logan Thackery, als er sich neben sie setzte.

Die Mönchin hatte keine Ahnung, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Ihr Herz schlug schneller, ihr Erwachen hatte nichts an ihren Gefühlen für ihn geändert … Und obwohl sie auch als Seiketsu Lichtsegen gewusst hatte, dass er ihre Liebe nicht erwiderte, war es nun noch auswegloser – sobald sie ihre Aufgabe hier beendet hatte, kehrte sie in die Nebel zurück. Wieder gewannen ihre Tränen die Oberhand. Sie hatte schon einmal eine unerfüllte Liebe erlebt und jemanden verletzt.

Der Wächter zog ein Taschentuch aus seiner Gewand und reichte es ihr: „Tränen sind kein Zeichen von Schwäche … Trotzdem gefallt Ihr mir mit einem Lächeln besser.“

Seine Worte ließen sie tatsächlich ein wenig schmunzeln und sie traute sich sogar ihren Kopf gegen seine Schulter sinken zu lassen. Sie wünschte, es gäbe jemand, der auch Ohtah Ryutaiyo etwas Trost spenden könnte …
 

Die Suche nach dem letzten Zwerg gestaltete sich überraschenderweise einfacherer als angenommen, denn Team Shiko bekam unerwartete Hilfe von der Abtei Durmand – Ull Rosenknospe vermutete einen Befehl von Marschall Trahearne und konnte sich ein kurzes Grinsen nicht verkneifen. Einer der Gelehrten führte Team Shiko und die Klinge des Schicksals durch das Portal in Löwenstein zu ihrem Stützpunkt in den Nördlichen Zittergipfeln. Seiketsu No Akari und Ohtah Ryutaiyo stand regelrecht der Mund offen, als sie dem Zwerg begegneten – es war ausgerechnet Odgen Steinheiler!

„Meine alten Freunde!“, begrüßte er sie überschwänglich, „Sagt, wie ist das möglich?“

Die beiden Verteidiger erzählten ihrem alten Verbündeten von ihrer Wiedergeburt und den Kämpfen gegen die fünf Alt-Drachen.

„Ich habe von einer Gruppe junger Helden gehört, die scheinbar unmögliches vollbracht hätte … aber ich habe nie gedacht, dass ihr das sein könntet.“, meinte der steinerne Deldrimor und runzelte dann die Stirn, „Wo ist eigentlich Shiko?“

Die junge Mönchin, die diesen Teil der Geschichte bislang ausgelassen hatte, schluckte schwer, bevor sie antwortete: „In den Nebeln. Sie hat sich geopfert, um Zhaitan besiegen zu können …“

Bevor Odgen etwas darauf erwidern konnte, wechselte Ohtah Ryutaiyo hastig das Thema: „Wie kommt es eigentlich, dass Ihr doch zu Stein geworden seid? Ich dachte, Ihr wolltet das Ritual nicht vollziehen.“

„So ist es.“, bestätigte der Zwerg und schüttelte den Kopf, „Aber nach Vekk´s Tod … hat König Jalis mich dazu gezwungen.“

„Vekk? Der berühmte Portalist?!“, rief Ganda aufgeregt.

Und Seiketsu No Akari wollte gleichzeitig mit einem traurigen Unterton wissen: „Wie geht es König Jalis?“

„Ich weiß es nicht, Seiketsu. Ich stehe nicht in Kontakt mit den wenigen Deldrimor, die noch immer gegen die Zerstörer kämpfen.“, erklärte Odgen und wandte sich an die Asura: „Was Vekk angeht … ja, er war wohl wirklich einer der größten Eures Volkes. Und mein bester Freund.“

Zum ersten Mal seit dem Untergang von Orr erschien die Spur eines Lächelns um Ohtah Ryutaiyos Mundwinkel: „Die Situation der Zwerge könnte sich bald ändern … Ohne Primordus wird die lebenserhaltende Magie der Zerstörer bald schwinden.“

„Das wäre großartig!“, bestätigte Odgen Steinheiler und breitete die Arme aus, „Jetzt erzählt aber endlich mal, warum ihr hier seid.“

Ric Bärenklaue rückte zuerst mit der Sprache heraus: „Was weißt du über den sechsten Drachen?“

„Mein Gefühl hat mich also nicht getrübt … Mordremoth ist tatsächlich erwacht.“, meinte der Zwerg seufzend, „>Im Schatten seiner Brüder erwacht / zum sechsten Mal die Macht. / Erhebt sich aus den Tiefen heraus / das Licht schießt in den Himmel, geradeaus. / Was wird seinen Taten folgen? / Entdeckt sein Geheimnis, ihr Helden, ihr Holden!< Das ist alles, was ich euch dazu sagen kann. Uns wurden nur diese Worte vor Urzeiten von Glint anvertraut …“

Diese Neuigkeit wunderte weder Ohtah Ryutaiyo noch Seiketsu No Akari. Glint´s Prophezeiungen reichten weiter in die Vergangenheit und Zukunft als vorstellbar.

„Das heißt, im Grunde sind wir kein Stück weiter.“, stellte Ull Rosenknospe nüchtern fest.

Zojja winkte ab: „Wen interessiert das schon? Wir wissen, wo er sich befindet!“

„Ich werde euch helfen!“, entschied Odgen, „Es ist mir eine Ehre, erneut an eurer Seite zu stehen.“

Ohtah Ryutaiyo nickte: „Uns geht es genauso. Auf in den Maguuma-Dschungel!“
 

Shikon No Yosei saß vor Seira´s Weltenspiegel und verfolgte jeden Schritt ihrer Freunde. Es freute sie sehr, dass sich Odgen Steinheiler dem Team angeschlossen hatte. Und sogar die Klinge des Schicksals war bei ihnen geblieben. Nur Ohtah Ryutaiyo machte ihr Sorgen … Vor diesem Spiegel konnte sie seine Gedanken hören, wann immer er sie dachte – und das war ununterbrochen. Nicht einmal nach der Sache mit Abaddon´s Einfluss war er so … verletzt gewesen. Es war ihre Schuld – ihr Trick hatte ihn gebrochen. Für ihn war es eine nie endende Qual, jede einzelne Sekunde. Sie hatte gewusst, was sie ihm damit antat … Und dennoch hatte sie keine andere Wahl gehabt. Zwar war sie zu diesem Zeitpunkt noch Shikon Feenseele gewesen, aber ihre Seele blieb dieselbe – genauso wie seine. Suun, Seira´s Vorgänger hatte ihr einmal erklärt, wenn man sich an etwas nicht erinnern könne, hieße das nicht zwangsläufig, man hätte keine Erinnerungen daran … manchmal seien sie einfach nur verschüttet. Er hatte auch von zwei verschiedenen Gedächtnissen berichtet – dem Körpergedächtnis und dem Gedächtnis der Seele. Shikon No Yosei fragte sich unwillkürlich, ob die Sechs Götter einen solchen Ausgang der Geschehnisse vorausgesehen hatten. Seit ihrer Rückkehr hatte sie noch nicht mit ihnen gesprochen – ohne Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari wollte sie ihnen nicht gegenübertreten.

Doch die beiden einstigen Legenden schlugen sich gerade mit ihren Freunden durch den unerforschten Teil des Maguuma-Dschungels. Ull Rosenknospe, Tear, Eir Stegalkin und Garm kehrten von ihrer Späherrunde zurück.

„Es ist seltsam … Überall herrscht das blühende Leben und die Vegetation ist auf einem sehr hohen Level. Absolut kein Anzeichen von Drachenverderbnis.“, erklärte die Sylvari nachdenklich, „Ob Mordemoth´s Einfluss noch zu gering ist?“

Ganda grübelte eine Weile darüber nach, dann meinte sie: „Das wäre eine Möglichkeit. Seine Auferstehung liegt noch nicht einmal einen Mondzyklus zurück.“

„Aber wenn man bedenkt, dass Primordus seine Diener bereits lange vor seinem Erwachen kontrollieren konnte, erschient das unlogisch.“, widersprach ihr Odgen.

Ric Bärenklaue lachte höhnisch: „Vielleicht versteckt er sich ja, wie ein mickriger Feigling!“

„Immerhin haben wir alle seine Vorgänger plattgemacht. Er wäre gut beraten, vorsichtig zu sein.“, stimmte Gwen Grimmpfote zu.

Doch Ohtah Ryutaiyo widersprach ihr: „Das glaube ich nicht. Er weiß mit Sicherheit, dass auch wir nicht unbesiegbar sind.“

Zum wiederholten Male legte sich Trauer über die Verbündeten.

Es war Logan, der sie wieder wachrüttelte: „Schluss damit, Leute! Was würde Lady Shikon davon halten, wenn sie sehen würde, wie wir uns hier aufführen?“

„Shiko …“, murmelte Seiketsu No Akari, „Sie wollte immer, dass ihre Freunde sie >Shiko< nennen.“

Er nickte zustimmend: „Ja, Shiko … Und ihr seid Team Shiko! Mehr noch, ihr Wille lebt in jedem von uns weiter! Shiko hat an euch geglaubt – sie tut es selbst jetzt noch!“

Ohtah Ryutaiyo´s Augen weiteten sich. So etwas würde Shikon No Yosei auch sagen … Warum fand Logan, an dessen Seite sie nur so kurze Zeit gekämpft hatte, die richtigen Worte, wenn sie doch seit Jahrhunderten seine Frau war? Er hatte sich gehen lassen, war viel zu sehr auf sich selbst fixiert gewesen und hatte dabei vollkommen ihre Gefühle vergessen … Für die Elementarmagierin war es kein Opfer gewesen, sondern ein Geschenk – ein Geschenk an ihre Freunde und alle Bewohner Tyria´s. Und er hatte dieses Geschenk mit Füßen getreten … Schluss damit! Er benahm sich ja schlimmer, als ein winselnder Skritt! Er kannte die Nebel und wusste, dass es Shikon No Yosei gut ging. Was dachte sie bloß von ihm? Sie musste ihn für furchtbar schwach halten. Dabei wollte er gerade für sie stark sein!

„Wir finden Mordremoth und beenden den Kampf gegen die Drachen!“, erklärte der Assassine mit fester Stimme, „Wir kennen bereits den Schrecken seiner Brüder – er soll nicht auch noch die Gelegenheit bekommen, Tyria zu tyrannisieren!“

Dafür erntete er Jubelschreie und Applaus. Ganz Team Shiko wirkte optimistischer und die Klinge des Schicksals war unglaublich stolz auf ihre Schützlinge. Damit marschierte die Allianz mit neuer Entschlossenheit weiter, um das Geheimnis des sechsten Alt-Drachens zu lüften. Der Dschungel war genau so, wie Ull Rosenknospe berichtet hatte – ein Ort voller Leben, ganz im Gegensatz zu Orr. Hier wimmelte es überall von Tieren, Insekten und anderen Lebewesen.
 

Der Wächter von Tyria

Nach einigen Tagen durchbrachen sie das dichte Gehölz und standen vor einem weiten Tal, das vollkommen von einem runden Nest auf Pflanzen eingenommen wurde.

„Das ist wohl Mordremoth´s Versteck.“, bemerkte Odgen und alle nickten.

Das Herz schlug den verbündeten Kämpfern sprichwörtlich bis zum Hals. Außer seinem Namen wussten sie rein gar nichts über Mordremoth – nicht welche Magie er gebrauchte, ob er bereits Diener oder gar welche Schwäche er hatte.

Vor dem Weltenspiegel sitzend, legte Shikon No Yosei die Hände über ihr Herz und flüsterte: „Seid mutig … Ich weiß, ihr schafft es! Denkt an Glint´s Worte … Mordremoth ist kein gewöhnlicher Drache. Ohtah, Seiketsu … ihr alle, erkennt die Wahrheit! Lasst euren Blick nicht von Hass und Vorurteilen trüben.“

Im Maguuma-Dschungel frischte bei diesen Worten der Wind auf, eine Quelle erwachte zum Leben, aus der Erde sprossen Blumen und die Sonne verstärkte ihren Schein … an diesem Ort wirkten die vier Elemente. Der geschickte Assassine und die junge Mönchin sahen sich überrascht an, in ihren Köpfen hallte derselbe Gedanke – Shikon No Yosei hatte ihnen eine Botschaft geschickt!

„Wie kommen wir da rein?“, wollte Ganda ausnahmsweise ratlos wissen.

Ric Bärenklaue spannte die Muskeln an und antwortete: „Überlasst das nur mir!“

Wie ein Berserker schlug er mit seiner mächtigen Klinge immer wieder auf dieselbe Stelle ein, bis tatsächlich so etwas wie ein Durchgang entstanden war. Team Shiko und die Klinge des Schicksals stürmten hinein, bevor sich der Zugang wieder schließen konnte. Im Innern rankten überall Pflanzen, bildeten Wege und sogar Stufen.

„Wieso sieht das Versteck eines Drachens so aus?“, wunderte sich Ull Rosenknospe mit verärgertem Unterton, „Sie sind voller Leben … genauso wie die Gewächse im Hain. Wie ist das nur möglich?“

Die Nekromantin knurrte: „Glaubst du, er könnte die Magie deines Volkes gestohlen haben? Der Maguuma-Dschungel ist immerhin mit der Befleckten Küste verbunden.“

Niemand antwortete, zu furchtbar war diese Vorstellung.

„Gehen wir weiter … Vielleicht begreifen wir es, wenn wir ihn gefunden haben.“, meinte Seiketsu No Akari.

Der spiralförmige Weg, den sie gewählt hatten, führte mitten ins Herz des Pflanzenknäuels.

„Da seid ihr ja … Willkommen.“, empfing sie eine tiefe Stimme, die von überall zugleich kam.

Der Assassine umfasste seine Dolche fester und erwiderte: „Komm´ raus, Mordremoth! Wir werden deine Spielchen nicht mitmachen, egal was du vorhast!“

Sofort begannen die Wände zu wackeln, alles vorformte sich. In den Helden keimte ein schrecklicher Gedanke – dies war nicht Mordremoth´s Versteck, sondern sein Körper! Sie waren blindlings in seine Falle getappt. Ohtah Ryutaiyo hätte sich selbst ohrfeigen können – welcher richtige Anführer führte sein Team vollkommen planlos in die Höhle des Löwen oder in diesem Fall in die Höhle des Drachens? Nein, noch war es nicht vorbei; sie hatten sich schon öfters in fast ausweglosen Situationen befunden.

Da sprach Mordremoth weiter: „Ich kenne das Leid dieser Welt … Als meine Brüder erwachten, brachten sie Trauer und Qual über Tyria. Aber sie sind nicht die Wurzel des Übels. Seiketsu No Akari und Ohtah Ryutaiyo, ich weiß auch über euch Bescheid … Ihr solltet wissen, dass das Böse niemals vernichtet werden kann! Es wird immer wiederkehren …“

Er wollte etwas erwidern, schwieg aber. In seinem Kopf rasten die Gedanken. Was würde Shikon No Yosei jetzt tun? Was erwarteten seine Freunde und Verbündeten von ihm?

„Es gibt Mächte in dieser Welt, von denen weder seine Bewohner etwas ahnen noch die Sechs Götter.“, fuhr der Alt-Drache fort, „Eine von ihnen hat die Sylvari erschaffen … und auch mir das Leben geschenkt. Ich bin anders als meine Brüder. Ich sinne nicht auf Zerstörung.“

Diesmal war es Rytlock Brimstone, der nicht an sich halten konnte: „Lächerlich! Ein Drache, der unser Land nicht ins Verderben stürzen will? Was für ein Schwachsinn!

„Aus dir sprechen Verbitterung … und Verzweiflung … Du hast zu viel schlechtes erfahren.“, stellte Mordremoth fest, „Meine Brüder können euch und dieser Welt nichts mehr antun … Aber ihr Ende ist nicht das Ende eures Kampfes! Sei es der Alptraumhof, die Söhne Svannir´s, die Inquestur, die Flammen-Legion oder sonst eine dunkle Organisation … Tyria braucht mehr, als nur eine … oder zwei Generationen von Helden!“

Da dämmerte es Seiketsu No Akari plötzlich, sie kannte nun den Grund für Mordremoth´s Erwachen: „Ich verstehe … >Im Schatten seiner Brüder erwacht / zum sechsten Mal die Macht. / Erhebt sich aus den Tiefen heraus / das Licht schießt in den Himmel, geradeaus. / Was wird seinen Taten folgen? / Entdeckt sein Geheimnis, ihr Helden, ihr Holden!< Du wirst Tyria nicht vernichten – du willst uns beschützen!“

Die Mitglieder von Team Shiko und der Klinge des Schicksals verloren den Boden unter den Füßen und sie standen völlig unversehrt wieder am Rande des Tals. Vor sich Mordremoth, dessen Körper wahrlich aus Pflanzen zu bestehen schien, und sie mit glänzend schwarzen Augen betrachtete. Ull Rosenknospe und Caithe holten hörbar Luft. Sie erkannten die Macht, die von ihm ausging – die Energie des Lebens. Auch Seiketsu No Akari spürte es, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Nach und nach begriffen alle Helden, was Mordremoth in Wirklichkeit war.

Die Worte kamen einfach so aus Ohtah Ryutaiyos Mund, ohne dass er sie zurückhalten konnte: „Mordremoth … der Drache des Lebens … und Wächter von Tyria!“

Wie zur Bestätigung öffnete der Alt-Drache sein Maul und ein donnerndes Brüllen drang daraus hervor – ein Brüllen, das man in ganz Tyria und darüber hinaus hören konnte; ein Brüllen, das den Beginn eines neuen Zeitalters verkündete. Eine Zeit des Friedens … Da überzog sich der Himmel mit einem gigantischen Regenbogen – die Sechs Götter hatten ihren Segen wieder über ganz Tyria gelegt. Staunend betrachteten die einstigen Legenden ihr Werk. Ohtah Ryutaiyo griff nach Seiketsu No Akari´s Hand und drückte sie leicht. Ihr Auftrag war erfüllt … mehr als das. Von nun an würden andere Helden zusammen mit Mordremoth diese Welt und die verschiedenen Völker beschützen!

Ein eigenartiges Gefühl stieg in den beiden auf, das sie vor Jahrzehnten schon einmal verspürt hatten – der Ruf der Nebel.

„Es ist soweit.“, erklärte Ohtah Ryutaiyo und sah jeden seiner Freunde einzeln an, „Ich weiß, dass Shiko glücklich gewesen ist, euch alle kennenlernen zu dürfen. Und ich schließe mich ihr an … Allein dafür hat sich unsere Wiedergeburt gelohnt. Jetzt ist es an euch über Tyria und die anderen Kontinente zu wachen. Deshalb bitte ich euch zum Abschied, stellt den Kontakt zu Cantha und Elona wieder her! Dort wird die Herrschaft der Drachen auch zu spüren gewesen sein …“

Die kleine Asura hüpfte in die Luft und sagte aufgeregt: „Verlasst Euch auf uns! Ich werde schon irgendwie ein Portal dorthin öffnen.“

„Um eure einstige Heimat zurückzuerobern, würden wir alles geben!“, bestätigte Gwen Grimmpfote.

Ric Bärenklaue klopfte ihm kräftig auf die Schulter, während er versprach: „Ihr werdet bei keinem Volk jemals in Vergessenheit geraten – dafür sorge ich persönlich!“

„Unser Mutterbaum wird all unsere Erinnerungen an Euch an ihre Kinder weitergeben.“, meinte Ull Rosenknospe und Tear heulte traurig.

Ohtah Ryutaiyo lächelte dankbar und richtete seinen Blick auf Odgen Steinheiler, der ihm die Hand reichte.

„Grüß´ Shiko von mir, mein Freund … Auch wenn die Zwerge im Verborgenen hausen, unsere Schriften bestehen fort.“, erklärte der Zwerg und wandte sich an Seiketsu No Akari, welche bislang geschwiegen hatte, „Wenn ich König Jalis treffe, werde ich ihm von unserem Wiedersehen berichten. Auch wenn das Ritual ihn damals verändert hat – er hat dich wie eine Tochter geliebt.“

Tränen traten der jungen Mönchin in die Augen. Und so schwer es ihr fiel, sah sie zur Klinge des Schicksals. Stolz und Ehrerbietung für sie und Ohtah Ryutaiyo stand auf ihren Gesichtern geschrieben. Aber auch Schmerz. Sie waren weit mehr als nur Verbündete, sie waren Freunde geworden. Jeder von ihnen hatte mit seinem Leben für den anderen eingestanden.

Der Assassine legte eine Hand auf ihre Schulter und flüsterte: „Shiko und ich warten auf dich.“

Mit diesen Worten verschwand er aus Tyria, aus seinem zweiten Leben. Doch nur wenige Sekunden später wurde er in den Nebeln von seiner geliebten Shikon No Yosei in die Arme geschlossen, die ihn sehnsüchtig erwartet hatte.

Ohne die Tränen von ihren Wangen zu wischen, trat Seiketsu No Akari Logan gegenüber. Im Stillen fragte sie sich, ob sie nicht doch hierbleiben könne … In der nächsten Sekunde verwarf sie den Gedanken schon wieder. In Götterfels gab es jemanden, zu dem er gehörte. Und auch sie wollte in den Nebeln nach einer bestimmten Seele suchen, die seit fast einer Ewigkeit auf Seiketsu No Akari wartete. Seit sie ihn auf Shing Jea mit Toki No Kibo im Arm gehen ließ …

„Hauptmann Thackeray, ich bin froh, Eure Schülerin gewesen zu sein.“, brachte sie mit Mühe über die Lippen, „Darum wünsche ich mir, dass Ihr glücklich werdet. Sagt Königin Jennah, was Ihr für sie empfindet! Ich bitte Euch … Logan.“

Seine Augen weiteten sich. Sie drehte ihm den Rücken zu, schloss die Augen. Es war gut so … Ihre Aura begann bereits zu flackern, da packte sie jemand am Arm. Überrascht schaute sie noch einmal in das Antlitz des Wächters, der sie an sich heranzog und überraschend küsste.

„Dieser Augenblick gehört ganz allein dir …“, hauchte er gegen ihre Lippen und Seiketsu No Akari löste sich endgültig auf.

Seiketsu Lichtsegen fühlte sofort die Vertrautheit der Nebel und spürte noch Logan´s Druck auf ihren Lippen. Sie lächelte sanft, bevor sie dem »Empfangskomitee« entgegen rannte. Die drei einstigen Legenden hielten sich aneinander fest. Endlich waren sie wieder vereint! Mit jeder weiteren Sekunde löste sie sich mehr von dem Schmerz, den sie in sich verborgen gehalten hatte – hier gehörte sie hin, zu Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo!

„Auch wenn ihrkeine Gesandten mehr seid, werden die Nebel immer eure Zuflucht sein … Der Segen der Sechs Götter wird euch in jede Welt begleiten.“, machte Seira auf sich aufmerksam.

Shikon No Yosei löste sich von ihren Lieben und fragte: „Und wir werden uns wirklich in jedem kommenden Leben neu kennenlernen?“

„So ist es, Shiko. Keine Macht wird euch jemals voneinander fernhalten können. Ihr gehört auf ewig zusammen!“, bestätigte das Orakel mit einem Lächeln, „Und es gibt noch jemanden, der dich im nächsten Leben wiedersehen will, Seiketsu …“

Die Mönchin horchte auf und ihre Wangen färbten sich rot … Klerus.

Ohtah Ryutaiyo nahm die Hand seiner Geliebten und sprach: „Ich liebe dich, Shiko. Als Ohtah Shadowdragon konnte ich dir meine Liebe nicht mehr gestehen … Deshalb schwöre ich dir hiermit, egal in welcher Welt wir uns als nächstes begegnen werden, ich werde dich finden! Und dann … möchte ich, dass du wieder meine Frau wirst!“

Könnte sie in den Nebeln weinen, wären wohl unzählige ihrer Tränen geflossen – so hauchte sie nur ihre Antwort: „Ja, das werde ich … immer und immer wieder.“

Lächelnd griff sie mit freien Hand nach Seiketsu No Akari und gemeinsam schlossen die drei einstigen Legenden ihre Augen … in Erwartung ihres nächsten Lebens.

„Macht euch jetzt bereit. Eure Seelen müssen erst einmal zur Ruhe kommen … Ihr habt viel durchgemacht. Schlaft, bis zu eurer nächsten Wiedergeburt.“, sagte die Norn und wirkte den Zauber.
 

Während Shikon No Yosei´s, Ohtah Ryutaiyo´s und Seiketsu No Akari´s Seelen in einen traumähnlichen Zustand ausharrten, verflogen Tage, Wochen, Monate, gar Jahre – jeder ihrer Freunde hatte seine eigene Bestimmung gefunden, denn der Kampf gegen die Alt-Drachen war für sie nur der Anfang gewesen …

In Götterfels herrschte Königin Jennah weiterhin mit gerechter Hand. Doch ohne Mann an ihrer Seite, alle Avancen hatte sie zurückgewiesen … Trotzdem wuchs ein mutiger, junger Prinz an ihrer Seite heran, der ihren Thron in ferner Zukunft erben würde. Denn Logan Thackeray hatte sein Versprechen gegenüber seiner Schülerin gehalten und Jennah seine wahren Gefühle offenbart. Aber auch wenn sie seine Liebe erwiderte, den Bund konnte sie nicht mit ihm eingehen – die Gesetze Kryta´s verboten einen Ehepartner ohne königliches Geblüt. Dies hielt die beiden allerdings nicht davon ab, heimlich zusammen zu sein. Und obwohl der kleine Keiran nicht ahnte, dass Logan nicht nur sein Lehrmeister war, sondern auch sein Vater, liebte er ihn wie einen solchen.

Rytlock Brimstone, der Logan wieder als Bruder betrachtete, hatte sich den Titel des Khan-Ur erkämpft, des einzig wahren Anführers seines Volkes. Bislang wagte sich kein anderer den Herrscherposten für sich zu beanspruchen – nicht nachdem Rytlock die Flammen-Legion ausgelöscht und damit zahlreiche, treue Anhänger um sich gescharrt hatte.

Zu ihnen gehörte vor allen anderen Gwen Grimmpfote, Pardon Tribun Gwen Grimmpfote. Sie war nach ihrer Rückkehr einstimmig befördert worden. Rytlock Bimstone machte daraufhin Klauensporn darauf aufmerksam, dass die Nekromantin nun ein sehr gefragtes Weibchen sei, schließlich habe sie bei der Rettung Tyria´s mitgewirkt … Daraufhin fasste er sich ein Herz und forderte sie tatsächlich zum Kampf heraus, den er fair und ehrlich gewann. Seitdem stand er als Zenturio und Partner an ihrer Seite.

Mindestens genauso gefragt war Ric Bärenklaue, der große Held, der die Norn in die Fernen Zittergipfel zurückgeführt hatte. Seine Erwählte Kadlin war die uneheliche Tochter von Knut Weißbär, dem Herrscher der Großen Halle von Hoelbrak – obwohl ihre Beziehung nur als einfache Affäre begonnen hatte.

Seine Meisterin Eir Stegalkin dagegen widmete ihr Leben weiterhin ihrer Leidenschaft, der Bildhauerei. So hatte sie drei gigantische Abbilder von Shikon Feenseele, Seiketsu Lichtsegen und Ohtah Shadowdragon geschaffen, welche den Zentralplatz vor dem königlichen Palast zierten. Was Garm anging – Eir hatte ihn in die Wälder entlassen, wo er sich ein eigenes Rudel aufgebaut hatte.

Ihr Zwist mit Zojja war inzwischen längst vergessen. Die zynische Golemantin hatte Snaff´s Labor übernommen, um seine Forschung der gedankengesteuerten Golems weiterzuführen – zusammen mit einigen, jungen Asura, die sie ausbilden wollte.

Unterstützung erhielt sie natürlich von Ganda, die in den Arkanen Rat berufen worden war und ihn tatkräftig aufmischte. Ihr Spezialgebiet waren Verhandlungen mit anderen Völkern. Selbst die starrköpfigsten Asura hatten durch die Erfolge von Team Shiko begriffen, dass Tyria in Zukunft nur bestehen konnte, wenn alle gemeinsam lebten. Und Mordremorth´s Erwachen brachte ihr sogar jenen Asura zurück, an den sie im Geheimen ihr Herz verloren hatte.

Als Widergänger hatte Lucc noch immer eine starke Verbindung zu den Nebeln und konnte die Macht der hiesigen Geister für sich nutzen.

Von einem gemeinsamen Leben mit ihrer Liebsten konnte Caithe nur noch träumen … Sie besuchte jeden Tag die Omphalos-Kammer des Blassen Baums in der Hoffnung dort eine Blume vorzufinden, welche die Seele Faolain´s in sich trug, die durch ihre eigene Hand vom Alptraum erlöst worden war. Nur dass bislang kein Sylvari, der sich einmal von der Baummutter abgewandt hatte, jemals zu ihr zurückgekehrt wäre …

Vor der Heimkehr der großen Helden war Trahearne ein ebenso häufiger Besucher des Mutterbaums gewesen. Dort hatte Ull Rosenknospe ihn im Gebet versunken gefunden und ihm endlich ihre Liebe gestanden. Natürlich blieb Tear trotz des neuen Mitbewohners stets an der Seite ihrer Herrin.

Auch Odgen Steinheiler hatte sich auf die Suche gemacht. Auf die Suche nach Überlebenden seines Volkes … Nachdem Primordus´ Einfluss in den Tiefen von Tyria versiegt war, konnten die Zwerge ihre Waffen endlich ruhen lassen und – entgegen der Prophezeiung aus dem Foliant des Rubikon – weiterexistieren.

Über all diese Geschehnisse wachte Mordremoth als Wächter. Niemals würde er zulassen, dass Tyria noch einmal solche Qualen erleiden musste, wie unter der Herrschaft seiner Brüder … Darum wird er eines Tages gemeinsam mit Team Shiko das Versprechen an Ohtah Ryutaiyo wahrmachen und Cantha und Elona von den finsteren Einflüssen befreien, die sie ins Unglück stürzen wollen!
 

Von alle dem werden Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari nie etwas erfahren – nur das tiefe Vertrauen in ihre Freunde und Verbündeten Ganda, Ric Bärenklaue, Gwen Grimmpfote, Ull Rosenknospe, Tear, Logan Thackeray, Rytlock Brimstone, Caithe, Eir Stegalkin, Garm, Zojja und Mordremoth lassen sie auf glücklichere Zeiten in Tyria und neue, ruhmreiche Helden hoffen.

Was aus Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari werden wird, ist ungewiss … So werden sie – unter welchem Namen sie auch immer leben werden – dennoch stets dieselben sein und doch nie die Gleichen. Unzählige, fremde Welten und Dimensionen erwarten die drei einstigen Legenden, die niemals wirklich in Vergessenheit geraten werden! So liegt im Kloster von Shing Jea noch heute das Buch über ihre zahlreichen Abenteuer aus ihrem ersten Leben und sei es der Blasse Baum, die Geschichtsschreiber von Götterfels, die Skalden der Norn oder sonst ein Wesen – irgendjemand wird die Geschichte von Team Shiko und ihrem Kampf gegen die fünf Alt-Drachen und des Wächters von Tyria weitertragen … für alle Zeiten! Darum mögen die Sechs Götter und die Geister der Nebel über sie wachen, bis wir uns irgendwann in einer neuen Welt, in einer anderen Dimension wiedersehen …

Erzählung 04: Das Schicksal eines Orakels

Orakel Seira

Lange bevor die »Klinge des Schicksals« gegründet worden war und der Erfolg von »Team Shiko« nur in Träumen existierte, hatten die Norn, geleitet von den Geistern der Wildnis und ihrem damals größten Helden Asgeir, sich eine neue Heimat in den Südlichen Zittergipfeln schaffen müssen. Zu jener Zeit bildete sich auch eine fanatische Gruppierung, genannt die Söhne Svannir´s, welche die Drachenverderbnis – vor allem natürlich Jormag´s Eisbrut – nicht als Fluch … sondern vielmehr als Segen betrachteten und den Luftdrachen anbeteten. Mit simpler Propaganda beginnend, wurden sie jedoch schon sehr bald zu einer massiven Bedrohung für das frisch errichtete Hoelbrak. Einige Norn meldeten sich freiwillig, um die Störenfriede aus der Stadt zu jagen … doch ihre Gegenwehr war beträchtlich und der Kampf forderte einen hohen Blutzoll. Unter den Gefallenen befand sich auch Fenris. Aber er war noch mehr, als nur ein tapferer Krieger – der liebende Ehemann von Seira. Seira – die Tochter eines einfachen Fischers und einer Bäuerin, kein Kind großer Helden. Und dennoch hatte besonders dieser Teil ihrer Gesellschaft sie schon seit frühester Kindheit fasziniert. Doch die Vorsehung war ihr im Umgang mit Waffen nicht hold gewesen … weder Schwert, Axt, Hammer noch Pfeil und Bogen oder selbst mickrige Dolche vermochte die junge Norn entsprechend einer jeweiligen Klasse zu führen. Stattdessen war ihr der Pfad der Magie gegeben – Illusion, Täuschung und Verwirrung waren ihr von der Vorsehung gegebenes Spezialgebiet als Mesmer. Nur Fenris war dieser Art von Zauber nicht erlegen … er war ihrer Schönheit, Anmut und Herzlichkeit verfallen. So war es kaum verwunderlich – ehrlich gesagt wunderte es bei aller Anhimmelung wirklich niemanden in der Hauptstadt –, dass er, sobald er die Manneswürde erlangt hatte, bei Seira´s Eltern um ihre Hand anhielt. Noch bevor ihre Vermählung stattgefunden hatte, gehörten ihr Vater und ihre Mutter zu den Opfern der Söhne Svannir´s. Und Opfer war damit wörtlich gemeint – jeden Vollmond töteten sie Jormag zu Ehren eine handvoll Norn am Schrein, welchen sie ihm zu Ehren errichtet hatten. Deshalb hatte sich Fenris dem Kampf gegen sie sofort angeschlossen. Deshalb war auch er gestorben. Deshalb konnte ihm Seira nicht mehr erzählen, dass sie sein Kind unter dem Herzen trug – jener Nachkomme seiner Sippe, der sein größter Wunsch gewesen war … Es stürzte Seira beinahe in Verzweiflung. Schließlich suchte sie Trost im Gebet zur Schneeleopardin, der Schutzpatronin der weiblichen Norn und besonders der Mütter.

So wurde Havroun Nisalla auf sie aufmerksam, nahm sich ihrer Trauer an: „Ich verstehe, wie sehr du leidest … doch bedenke, dein Kind braucht dich! Fenris war ein ehrenhafter Mann – ich bin sicher, er hat den Weg durch die Nebel zur Halle unserer Ahnen gefunden. Dort wird er auf dich und seinen Erben warten.“

Von da an hielt sich Seira beinahe ununterbrochen am Schrein auf. Sie half Nisalla unter anderem beim Versorgen der Schneeleopardenjungen – eine der Hauptaufgaben der Priesterinnen. Mit den Wochen keimte in ihr die Hoffnung und der Wunsch, die Nachfolgerin der Havroun zu werden – denn als solche wäre es ihr möglich, in die Nebel hinüber zu treten und vielleicht konnte sie Fenris dann berichten, dass sich sein größter Wunsch doch noch erfüllen würde. Aber als die Norn Nisalla schließlich darauf ansprach, wurde sie bitter enttäuscht – ein Waisenmädchen namens Arga sollte das Privileg der Schamanenausbildung erhalten.

Wütend warf Seira ihrer Fast-Meisterin vor: „Ich dachte, du würdest meine Unterstützung wertschätzen und ich könnte in deine Fußstapfen treten!“

„Diese Position ist für dich vollkommen undenkbar …“, entgegnete Nisalla ruhig, „Davon abgesehen solltest du wissen, dass es die Schneeleopardin ist, die diese Entscheidung fällt. Ich bin dir dankbar für deine Hilfe und am Schrein wird es auch stets einen Platz für dich geben, doch-“

Ehe sie zu Ende sprechen konnte, nahm Seira weinend Reißaus – sie wollte kein einziges Wort mehr hören. Das Schicksal war grausam genug gewesen, als es ihr ihren Liebsten so früh entrissen hatte. Nun auch noch ihren letzten Rettungsanker, um Fenris noch ein letztes Mal gegenüber zu treten ... Warum eigentlich? Wieso sollte es ihr nur durch Lehren eines Havroun möglich sein, die Nebel lebend zu betreten? Wenn Nisalla sie nicht unterweisen wollte, in Ordnung – Seira würde selbst einen Weg finden! Sie war immerhin eine Norn … Aufgeben war für ihr Volk nun wirklich keine Option. So zog sich Seira täglich an einen entlegenen Ort zurück, um zu meditieren, sich auf die Nebel zu fokussieren. Tage, Wochen, gar Monate zogen an ihr vorbei – dann, etwa einen Mondzyklus vor der Niederkunft, öffnete Seira ihre Augen nicht in der ihr bekannten verschneiten Landschaft. Sie stand auf einer sattgrünen Wiese, auf der die schönsten Blumen in allen Farben blühten. Inmitten dieses Paradieses ragte ein großer Felsen aus dem Boden heraus, auf dem ein Mann mit langem, grauen Bart, eigentümlicher Kleidung und überdimensionalen Hut saß. Die Augen hielt er geschlossen, die flachen Hände ruhten auf seinen Oberschenkeln.

„Willkommen in den Nebeln …“, sagte er, ohne seine Position zu verändern, „Mein Name ist Suun, ich bin das Orakel der Nebel. Was führt Euch hierher? Der Tod umgibt Euch – aber Ihr selbst … seid noch nicht tot.“

Norn knieten vor niemandem, Norn erniedrigten sich nicht, Norn ließen niemals Schwäche die Oberhand ergreifen – dennoch sank Seira zu Boden. Sie hatte es geschafft! Endlich war sie am Ziel ihrer Wünsche angelangt … Oder fast zumindest immerhin müsste sie Fenris erst noch finden.

„Ich bin Seira vom Volk der Norn und suche meinen Mann. Ich will … ich muss ihm etwas mitteilen. Kannst du mir helfen?“, antwortete die Norn wieder etwas gefasster.

Diesmal zeigte Suun´s Gesicht eine Regung – er öffnete die Augen, ging auf sie zu und erklärte: „Es tut mir sehr leid, Kind – den Lebenden ist es nicht gestattet, unter den Geistern zu wandeln. Doch sagt mir, wie seid Ihr überhaupt hierher gelangt?“

Seira schluckte schwer über diese Neuigkeit, ehe sie etwas erwidern konnte: „Dann … dann kannst du ihm vielleicht eine Nachricht von mir überbringen? Du bist schließlich auch hier. Und ich … ich habe Monate trainiert, um mein Ziel zu erreichen. Ich wollte Fenris so unbedingt wiedersehen, um ihm von seinem Sohn zu erzählen, den ich in mir trage.“

„Ihr tragt ein Kind?!“, entfuhr es Suun schockiert, „Sei-Seira, ich … Die Aura des Todes, die Euch umgibt … stammt von Eurem ungeborenen Kind …“

Noch während die Mesmer zu verstehen versuchte, was das Orakel ihr eröffnet hatte, schlug sie die Augen bereits im verschneiten Wanderer-Hügel auf – unter entsetzlichen Schmerzen in ihrem Unterleib. Mühevoll schleppte sich Seira an den einzigen Ort, an dem sie auf Hilfe hoffen konnte – zum Schrein der Schneeleopardin. Doch für ihren Sohn kam jede Hilfe zu spät … es kam still zur Welt.

„Seine Seele hatte ihn verlassen …“, meinte die Havroun mitfühlend, „Seien die Geister der Wildnis ihm gnädig und geben ihm die Gesandten sicheres Geleit in die Nebel …“
 

Sie war ein Frack. Seit Tagen hatte sie weder gegessen noch getrunken geschweige denn geschlafen. Sie wünschte sich den Tod, sie sehnte ihn sogar herbei! Denn so wäre sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn wiedervereint … Und obwohl Norn weit zäher waren als Menschen, verließ Seira das Bewusstsein. Ohne sie sich darauf konzentriert hatte, erwachte sie auf jener Wiese – erneut stand ihr dort Suun gegenüber.

„Ihr seid zurück … Mein Beileid für Euren Verlust. Es war der Preis für Eure Fähigkeit zum Übertritt. Die Nebel haben seine Seele verzerrt …“, sprach er sie an.

Seira hätte nicht gedacht, dass ihr Schmerz noch größer werden könnte – doch sie hatte nicht nur ihr Kind verloren, sie selbst trug Schuld daran! Sie hatte es zu verantworten, dass Fenris´ Vermächtnis nicht überdauern würde … Deshalb also hatte Nisalla sie als Nachfolgerin abgelehnt – ihr war klar gewesen, was es Seira kosten würde.

„Meine ganze Familie ist bereits in die Halle unserer Ahnen eingegangen … Ich verdiene diese Ehre nun nicht mehr.“, meinte Seira mit verzweifelter Stimme, „Bitte … Was kann ich tun, um zu sühnen?“

Suun schwieg eine Weile, während er auf- und ab lief, schließlich erklärte er: „Das mag Euch jetzt vielleicht makaber erscheinen … aber ich glaube, wir sind uns nicht grundlos begegnet. Hier wird die Astralform oder auch >wahre Form<, die Erscheinungsgestalt der Seele angenommen. Nur dem Orakel ist es möglich in Fleisch und Blut hinüber zu treten – wie Ihr sehen könnt, bin ich ein alter Mann, der die Lebenszeit eines Menschen weit überschritten hat … Für mich ist die Zeit gekommen, einen Nachfolger zu erwählen. Ich spüre bei Euch eine entsprechende Affinität und Faszination für die Gefilde der Nebel.“

Mit allem hätte Seira gerechnet, allerdings nicht mit einem solchen Angebot … Es gab nichts mehr, was sie an ihr altes Leben band. Wäre dies nicht die Chance, die sie sich wünschte? Möglicherweise wäre es ihr sogar vergönnt, einmal Fenris oder gar ihren Sohn zu treffen … Und Suun hatte recht – die Nebel übten eine eigenartige Anziehung auf sie aus.

„Die Geister der Nebel sind voller Freude und Zufriedenheit … doch in ihnen genauso Trauer und Leid. Als künftiges Orakel müsst Ihr alle Facetten kennengelernt haben, um sie richtig deuten zu können …“, fuhr Suun nach dieser kurzen Pause fort.

Seira neigte ihr Haupt vor ihm, während sie antwortete: „Ich danke dir … Meister. Ich verspreche, du wirst deine Wahl nicht bereuen.“

Ein seltenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht und er entgegnete bestätigend: „Keine Sorge, ich werde Euch alles lehren und auf Eure Aufgabe vorbereiten.“

Suun nahm die Kette von seinem Hals ab. Daran hingen mehrere bunten Perlen und in der Mitte prangte eine große, schwarze Kugel. Er legte sie Seira um, die daraufhin kurz verschwand, ehe sie wenige Stunden später wieder auftauchte.

„Durch diesen Stein kann Eure körperliche Gestalt die Nebel betreten und verlassen.“, erklärte das Orakel und begann einen Vortrag über die grundlegenden Aufgaben seiner beziehungsweise ihrer künftigen Position.

Als Orakel der Nebel wäre sie gleich der Führerin dieser Gefilde – gleichzeitig jedoch stand sie nicht über den Gesandten, welche die Seelen geleiteten. Allerdings fiele es ihr zu, in den Bewegungen der Nebel zu lesen … besondere Ereignisse vorherzusehen und den Kern einer Seele zu ergründen. Da Seira eine Mesmerin war, hatte sie einen klassengegebenen Vorteil – sie konnte jede Art von Illusion durchschauen und kannte bereits Wege, die Gedanken von anderen zu erkennen. Manchmal würde sie auch entscheiden müssen, was mit einer Seele geschah – nicht jeder war es wert, in die Nebel einzugehen …

„Das Orakel ist das Zentrum der Nebel … Bei uns fließen alle Aspekte zusammen – wir halten die Nebel im Gleichgewicht.“, beendete Suun seinen Monolog, „Habt Ihr das soweit verstanden?“

Die Rothaarige nickte entschieden. So wie für ihr Volk die Geister der Wildnis alles zusammen- und erhielten, war hier das Orakel das Sinnbild. Suun wirkte zufrieden und führte Seira weiter. Er zeigte ihr jeden Winkel – die friedlichen Gestaden, in denen die Seelen in Ruhe einkehrten; die Zwischendimension, in denen die Geister lebten, die auf der Erde noch etwas zu erledigen hatten; den Bereich, in dem jene Seelen schliefen welche dem ewigen Zyklus folgend auf ihre nächste Wiedergeburt warteten; den Riss des Kummers, in dem des Gottes Balthasar Ewige Krieger gegen die Schattenarmee seines Halbbruders Menzies kämpften; das Grab der altehrwürdigen Könige; die Unterwelt, welche von Grenth regiert wurde, und in der vor allem die schrecklichsten Verbrecher in den tiefsten Tiefen versiegelt wurden sowie die Residenz des Orakels selbst, in der es unter anderem einen gewaltigen Spiegel gab, der seinem Besitzer jeden Ort auf der Welt in Vergangenheit und Gegenwart zu zeigen vermochte. Den Sitz der Sechs Götter dürften sie nur mit ausdrücklicher Erlaubnis sehen – für Seira würde dies der Moment sein, wenn sie einst das Amt von Suun übernehmen würde. Und die Halle der Helden hatte er ihr für den Moment noch vorenthalten, um sie nicht von ihrem Pfad abzubringen …
 

Die Zeit verflog – so fern man in den Nebeln überhaupt von »Zeit« sprechen konnte. Erst hatte Suun ihr einige Übungen aufgegeben, um ihren Geist zu schulen. Anschließend hatte sie ihm bei seiner Arbeit assistiert.

Bis zu jenem Moment, da er ihr verkündete: „Seira … es ist soweit. Ihr seid bereit für den letzten Schritt, der Euch bemächtigt, meine Nachfolge anzutreten. Ihr müsst >Weh no Su< werden … das bedeutet, Ihr müsst näher an die Sterne kommen und die Avatare von vier Himmelskörpern besiegen! Die Sterne im Nachthimmel lassen mit ihrem Licht Ebenbilder ihrer selbst auf der Welt entstehen … Kaijun Don, die Kirin … die Verkörperung der Verderbtheit, vom reinen Guten zum reinen Bösen gewandelt. Kuonghsang, der Schildkrötendrache … der ewige Widerspruch, weder dies noch das. Hai Jii, der Phönix … das Pendant des ewigen Feuers, das in der Unterwelt brennt. Und schließlich, von allen am mächtigsten … Tahmu, der Drache – die ständige Mahnung an Grausamkeit, Schmerz und Leid. Geht, Seira, mit dem Segen der Nebel!“

Auf einen Wink hin erschien vor ihr ein rundes, goldenes Portal. Mit geballten Fäusten schritt die Norn hindurch – Stolz war die prägnanteste Eigenschaft ihres Volkes und sie hatte nicht vor, diesem Teil ihres Seins auch noch Schande zu bereiten. Sie fand sich unter einem bunten Nachthimmel wieder – Blau-, Rot- und Violetttöne zogen über das Firmament. Verwirrt sah sie sich um und entdeckte das stellare Wesen. Kaijun Don´s Körper bestand lediglich aus einer Ansammlung von Licht und Sternen – was unweigerlich bedeutete, ein physischer Angriff würde keine Wirkung auf sie haben … Zum ersten Mal freute sich Seira sichtlich, dass eine eine der wenigen Magiekundigen der Norn (gewesen) war. Als die Kirin auf Seira aufmerksam wurde, setze sie zu einem wilden Galopp an. Sofort wirkte die Mesmer den Effekt ihres Spiegelbilder-Zaubers, womit sie zwei illusionäre Klone von sich erschuf, welche die Aufmerksamkeit von Kaijun Don auf sich zogen. Gerade, da die Himmlische die beiden erreicht hatte, zerschmetterte sie ihre Abbilder und Kaijun Don unterlag dem Schadens des »Geistigen Wracks«. Zufrieden mit ihrem ersten Sieg ging sie weiter durch das endlose Gelände, in dem sie nirgends anzukommen schien. Was hatte Suun einmal gesagt? »Die Nebel sind alles und nichts – sie haben keinen Anfang und kein Ende. Hier gibt es keine Entfernungen und keine Zeit.« Für einen Moment nur schloss Seira die Augen und erschuf augenblicklich einen Chaosvortex an jener Position, an der Kuonghsang auftauchte – beziehungsweise zu der sie sich hatte hinziehen lassen. Allein durch Willenskraft hatte sie den Ort gewechselt; anscheinend galt dieser Test nicht nur ihren kämpferischen Talenten. Der Schildkrötendrache verlor sich in der wirbelnden Energie und löste sich auf … Die nächste Herausforderung musste sie mit Köpfchen angehen, denn Hai Jii war ebenfalls ein Mesmer. Welche Schwäche ihrer Klasse konnte sie ausnutzen? Ein jede Illusion würde er sofort durchschauen und zerstören … Mesmer waren stark im Geist, doch körperlich schwach! Seira dachte zurück an Hoelbrak, an die große Halle … und deren Waffenkammer. Kaum, dass Hai Jii sich ihr zeigte, ging ein Schauer aus Klingen auf ihn nieder, welche aus einer temporären Öffnung zwischen den Dimensionen regneten. Der Phönix schrie auf in seiner Niederlage. Damit hatte die Rothaarige nur noch einen Gegner vor sich – laut Suun, den stärksten unter ihnen, einen mächtigen Elementarmagier, den Feuer, Blitz, Wasser und Erde gehorchte … Von seiner gewaltigen Gestalt überrascht, erstarrte Seira – Tahmu nutze ihr Zögern für einen Angriff und schleuderte ihr einen Blitzschlag entgegen. Vom der drohenden Gefahr wachgerüttelt, riss sie einen schützen Vorhang hoch, an dem der Zauber abprallte. Stern oder nicht – jedes Wesen im Universum hatte Gefühle und Ängste, selbst schier allmächtige Drachen! Besonnen spurtete Seira los, wich seinen Feuerbällen aus und suchte nach einen geeigneten Position. Normalerweise konnte sie sich gerade einmal für eine einzelne Sekunde unsichtbar machen … doch in den Nebeln existierte Zeit als Gefüge im Grunde ja nicht. Allein das, woran sie glaubte, war hier Wirklichkeit. So verschwand die Mesmer vor Tahmu´s Augen, der aufbrüllte in seinem Zorn und wild um sich feuerte. Unsichtbar hieß jedoch nicht unverwundbar – daher beeilte sich Seira, ihn mit trügerischen Bilder seiner schlimmsten Angst zu belegen. Der Himmlische wand sich, doch krümmte er sich immer mehr zusammen, die Flügel eng an seinen Körper gepresst … Ein solches Wesen fürchtete vor allem anderen einen Käfig … den Verlust seiner Freiheit. Unter diesen seelischen Schmerzen gab er sich geschlagen. Seira hielt sich die Hand vor den Mund, unterdrückte ein Schluchzen – sie hatte es tatsächlich geschafft! Eine goldene Aura legte sich um sie, erfüllte sie mit positiver Kraft und mit einem Mal konnte sie überall am Himmel stellare Geister sehen. Ob es auf der Erde eine Ewigkeit oder nur wenige Minuten gedauert hätte, ehe sie Suun wieder gegenüber stand, hätte Seira nicht sagen können.

Ihr Meister lächelte sie stolz an und applaudierte ihr: „Ich wusste, Ihr wäret würdig meine Nachfolgerin zu werden.“

Von ihrer ersten Begegnung an, trotz aller Verwirrung und Trauer, die sie in sich getragen hatte, war da irgendetwas an ihr, das ihn an eine einstige Heldin Cantha´s erinnerte … Und damit meinte er nicht, ihr vom Feuer geküsstes Haar. In Seira´s Augen lag dieselbe Entschlossenheit, mit der jenes Mädchen ebenfalls gegen die Himmlischen angetreten war …
 

Und so wurde aus einer gebrochenen Frau das nächste spirituelle Oberhaupt der Nebel, welches noch nicht ahnte, dass dieses neue Leben nicht nur Erfüllung, sondern zudem Glück und eine tiefe Freundschaft mit sich bringen würde – mit eben jener Legende, an die sie Suun erinnert hatte …

Erzählung 05: Das Schicksal eines Studenten

Hoffnung auf Liebe

Er sah auf und murrte: „Ist auf Tyria schon wieder ein Monat vergangen?“

Der Besucher – ein älterer Mann mit ausladendem Hut von dem Bänder tief über sein Gesicht hingen, sodass man seine Augen kaum erblicken konnte – lächelte melancholisch, ehe er entgegnete: „Nein … und dennoch komme ich heute zu dir. Es ist soweit … die letzte Erinnerung an dich hat Tyria verlassen.“

Ein Brennen erfüllte seine Augen – wäre er noch am Leben gewesen, hätten sich die Tränen nicht mehr zurückhalten lassen. Nicht sein eigenes Schicksal betrauerte er … Als er sich nach seinem Tod geweigert hatte, in die Nebel einzugehen oder dem ewigen Zyklus zu folgen, hatte ihm Suun offenbart, dass sich seine Seele nur so lange in diesem Zwischendasein manifestieren konnte, solange jemand lebte, der sich an ihn erinnerte … Er hatte zu Lebzeiten nicht viele Leben berührt, keine angesehenen Heldentaten vollbracht, wie sein ebenfalls bereits verstorbener Mentor Bruder Mhenlo … Jalis Eisenhammer und seine Deldrimor konnte man nicht mehr wirklich als »lebendig« ansehen, seine Eltern waren früh gestorben, Jabari hatte offenbar auch schon den Weg in diese Welt gefunden … und sie nun ebenfalls. Ihretwegen verspürte er diesen stechenden Schmerz, an der Stelle, wo früher sein Herz geschlagen hatte … Die eine, die er sein Leben lang und darüber hinaus geliebt hatte, ohne dass sie seine Gefühle jemals erwiderte …

„Wie?“, brachte er mühevoll über die Lippen.

Das Orakel setzte sich neben ihn und antwortete: „Du wirst dich auflösen, wie ein-“

„Nein, verdammt!“, unterbrach ihn der einstige Mönch ungehalten, „Wie ist Seiketsu gestorben?“

Im diesem Augenblick begriff Suun. Deshalb hatte er sich für keinen Pfad entschieden … Er hoffte, sie nach dem Tod wiederzusehen – im ewigen Paradies oder in einem anderen Leben … je nachdem was sie gewählt hätte, wäre er ihr gefolgt. Obwohl der Alte zig Lebensspannen überdauert hatte und ihm menschliche Gefühle schon fast vollkommen fremd geworden waren, erfüllte Sunn dennoch die Tragik dieser Entwicklung.

„Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari haben ihr Leben selbst beendet … um ein Teil des Gesandtenrates werden zu können.“, erklärte er schließlich, „Du … kannst sie nicht mehr treffen, Klerus.“

Es war, als hätte man ihm ein Brett vor den Kopf geknallt. Seine Augen weiteten sich vor Schock, ohne mehr etwas wahrzunehmen. Er hatte jahrelang hier gesessen und gewartet, ohne dass die Zeit ihm etwas bedeutet hätte. Ein Teil von ihm fragte sich, wohin es sie nach dem Tod treiben würde … ein anderer Teil von ihm hatte sich gewünscht, dieser Tag möge niemals kommen und sie würde ewig auf Tyria wandeln. Doch das Schicksal hatte ihm einen weiteren Streich gespielt – sie würde keinen dieser Wege gehe, die ihm angeboten worden waren. Stattdessen opferte sie sogar noch ihr Dasein nach dem Tod ihrem Verantwortungsbewusstsein! Für Seiketsu No Akari würde ihr Dienst an Tyria nie genug sein … alles hatte sie in ihrem Leben aufgegeben, um als Verteidigerin von Cantha an der Seite von Shikon No Yosei stehen zu können. König Jalis hätte sie in seinen Hallen als Ehrenmitglied seiner Sippe aufgenommen … und er hatte ihr sein Herz angeboten. Doch sie hatte beides abgelehnt. Weil sie zurück in ihre Heimat wollte. Und genau genommen trug auch er einen Teil der Schuld – die Ironie am Leben nach dem Tod war, dass es genug Möglichkeiten gab, um zurückzublicken auf das, was man zurückgelassen, verloren hatte. Toki No Kibo, die er als Säugling in ihren Armen gesehen hatte, war ein Findelkind … Seiketsu No Akari hatte sie aufgenommen und von Herzen geliebt, sich jedoch keinem Mann zugewandt. Aber sie konnte das Missverständnis genauso wenig richtigstellen … dies war noch eine Eigenschaft, die Seiketsu No Akari zu etwas ganz besonderem machte – sie hasste es, andere zu verletzten … und nachdem sie ihm scheinbar zweimal das Herz gebrochen hatte, hatte sie es nicht mehr über sich gebracht, ein weiteres Mal zu riskieren. Bruder Mhenlo meinte irgendwann, es bräuchte mindestens zehnmal so lang, sich wieder zusammenzusetzen, als es dauere, zu zerbrechen … und was einmal zerbrochen wäre, würde niemals mehr wieder vollständig ganz werden … Diese Erfahrung hatte Klerus in diese Situation gebracht – er wollte eine richtige Chance bei ihr! Jetzt würde er einfach verschwinden, als hätte er nie existiert …

„Du kannst sie nicht mehr treffen, Klerus.“, wiederholte Suun, „Bis Seiketsu No Akari ihre Position einnimmt, wird es zu spät sein. Dies ist die letzte Gelegenheit … Möchtest du mir noch etwas aus deinem Leben erzählen?“

Wie oft hatte Suun ihn nach seinem Leben gefragt? Wie oft hatte Klerus ihn einfach ignoriert? Ohne es bewusst zu entscheiden, sprudelten nun die Worte aus seinem Mund.
 

Er wurde in einem kleinen Dorf nahe Löwenstein geboren, als Sohn einfacher Bauern. Das fast schon tropische Klima schenkten ihnen alles, was sie zum Leben benötigten – allerdings zeugte es ebenso von Gefahr. Wie überall auf Tyria mussten sich die Dorfbewohner gegen eine Vielzahl von Monstern zur Wehr setzen, um ihre Felder und Hütten zu beschützen. Doch einmal griff eine gewaltige Horde Skale sein Zuhause an … in Folge dieses Kampfes starben sein Vater und seine Mutter, zu diesem Zeitpunkt war er noch ein Junge gewesen. Er hatte sich hinausgeschlichen, wollte seinen Eltern zusehen – stattdessen sah er sie sterben. In diesem Moment geschah etwas … Nie zuvor hatte sich Magie in ihm geregt, doch als die leblosen Leiber auf dem Boden aufschlugen, ging von seinem eigenen Körper ein pulsierendes Licht aus, das Haut und Haar für einen Krytaner später unnatürlich hell würde erscheinen lassen. Diese heilige Energie vertrieb die nekrotischen Bestien. Die anderen Dorfbewohner starrten ihn an – es kam nur selten vor, dass in einem der ihren magische Kräfte erwachten und wenn dies zugleich noch mit einer derartigen, äußerlichen Veränderung einherging … In den nächsten Tagen brachten sie Klerus, wie er von da an genannt wurde, zum Tempel der Zeitalter, wo der von den dortigen Mönchen ausgebildet wurde und ihm verliehene Kräfte zu kontrollieren lernte. Dort begegnete er später auch Mhenlo von Ascalon, der mit seinem Volk aus dessen zerstörter Heimat nach Kryta geflohen war, und zu so etwas wie seinem Mentor wurde. Diese Begegnung würde Klerus´ Leben für immer verändern – denn Bruder Mhenlo fiel es zu, einen möglichen Studenten für ein Stipendium bei den Deldrimor-Zwergen vorzuschlagen …

„Ihr … Ihr bietet mir diese Chance an?“, gab Klerus überrascht zurück.

Im Tempel gab es viele ausgezeichnete Mönche, in ganz Kryta ohnehin – und ausgerechnet er durfte sie wahrnehmen.

Bruder Mhenlo betrachtete seinen Freund eingehend, ehe er antwortete: „Du hast deinen Platz in dieser Welt noch nicht gefunden … Vielleicht findest du etwas in den Südlichen Zittergipfeln, das dir einen Sinn im Leben gibt.“

Es sollte sich herausstellen, dass der Ascalonier recht behielt – Klerus verliebte sich … in die canthanische Studentin. Seiketsu No Akari kam ihm vor wie ein leibhaftiger Engel … Doch sie legte offensichtlich keinen großen Wert darauf, mit ihm und Jabari, dem elonischen Student Zeit zu verbringen. Stattdessen verschwand sie nach den Vorträgen entweder in ihrer Stube oder setzte ihre Recherchen in den Weiten der Bibliothek fort. Klerus beobachtete sie häufig aus der Ferne und sah den Schmerz in ihren Augen.

Doch es war Jalis Eisenhammer, der einen Zugang zu ihr fand – der junge Mönch hatte sie eigentlich selbst gerade aufsuchen wollen und hörte auf dem Flur seine Worte: „Ich bin ein alter Mann, ich habe viel gesehen in meinem Leben. Du bist anders, als Klerus oder Jabari … und das liegt nicht daran, dass du ein Mädchen bist. Du verbirgst etwas … Du versuchst deine Gefühle zu unterdrücken. Du hast Heimweh, mein Kind, nicht wahr?“

„Ja … egal, ob ich wach bin oder schlafe. Ich habe praktisch mein ganzes Leben in unserem kleinen Dorf verbracht und kenne jeden Zentimeter von Shing Jea. Ich liebe diese Insel! Und … ihre Menschen …“, kam schluchzend Seiketsu No Akari´s Antwort.

Der König der Deldrimor wirkte verständnisvoll: §Ich verstehe … Als Herrscher dieses Landes und eines ganzen Volkes spuken mir ständig Sorgen im Kopf herum. Um nicht von ihnen beherrscht zu werden, suche ich nach Dingen, die mein Herz erfreuen … Deshalb komme ich auch so häufig zu euch in den Unterricht. Es befreitet mir Freunde. Eines möchte ich dich noch fragen, Seiketsu … Warum hast du dich auf das Studium bei uns eingelassen?“

„Schon bevor meine Schwester Shiko … Shikon No Yosei und ich unsere Ausbildung begannen, haben wir darüber gesprochen, wie schön es ist, anderen helfen zu können. Wir wollten nicht alles so hinnehmen, wie es ist … Wir wollten für unsere Heimat und seine Bewohner da sein.“, erklärte die Braunhaarige wieder gefasster, „Shiko hat den Weg der Elementarmagierin gewählt … Sie ist unglaublich stark, auch wenn sie sich dessen noch nicht ganz bewusst ist. Ich dagegen kann nicht kämpfen. Aber ich wollte bei ihr sein! Immer … Deshalb bin ich Mönchin geworden, um sie mit meinen Gebeten zu beschützen! Meister Togo sagte damals, ich sei talentiert … Ich bin nur hier, weil ich so unglaublich schwach bin. Ich muss stärker werden, sonst kann ich Shiko nicht helfen.“

Da wurde sich Klerus bewusst, wie sehr er sich wünschte, sie würde so über ihn sprechen … Seiketsu No Akari hatte etwas in ihm berührt, das kein anderer geschafft hatte – er verehrte Bruder Mhenlo, hatte seine Eltern geliebt, mit Jabari verstand er sich als Kommilitone recht gut und die Deldrimor hatten ihn herzlich aufgenommen … aber nichts davon ließ ihn so fühlen, wie jetzt. Heiß und kalt zur selben Zeit, mit wild schlagendem Herzen, einem Kribbeln unter der Haut und vollkommen euphorisch bei dem Gedanken an sie, grinste Klerus über das ganze Gesicht. Ja, er hatte sich verliebt!

„Jemand, der einen solch aufrechten Wunsch in sich trägt, kann jede Stärke entwickeln, die er braucht … Du sagst, deine Schwester wäre sich ihrer wahren Kraft nicht bewusst? Du ebenfalls nicht, mein Kind … noch nicht.“, sagte Jalis Eisenhammer zum Abschied.

Klerus verbarg sich hastig hinter einer Säule, damit der Zwerg ihn nicht entdeckte. Innerlich stimmte er ihm zu … In Seiketsu No Akari schlummerte etwas ganz besonderes. Aber sie würde ihn mit ihrer Entschlossenheit wahrscheinlich nie beachten, wenn sie die wahre Natur seiner Gefühle nicht kannte! Klerus erwog einen Moment lang, es ihr sofort zu gestehen … dann jedoch kehrte in sein eigenes Quartier zurück. Nach dem aufwühlenden Gespräch über ihre Heimat, fand er es geschmacklos, sich ihr zu offenbaren. Ihre Gedanken sollten erst einmal zur Ruhe kommen …
 

Eines Abends kehrte Klerus in den Flur zurück, in dem ihr Zimmer lag. Nichts hatte sich zwischen ihnen geändert … Und trotzdem blieb er bei seinem Entschluss. Nachdem er geklopft und von ihr hereingebeten worden war, schweifte sein Blick kurz umher und er räusperte sich.

„Ich muss dir etwas sagen … Ich habe mich in dich verliebt!“, gestand Klerus anschließend.

Mit etwas schwacher Stimme gab sie zurück: „Wie … wie war das?“

„Ich liebe dich, Seiketsu.“, bekräftigte er daher erneut.

Ihre Antwort stand ihr bereits ins Gesicht geschrieben – tja, im Grunde hatte er auch nicht erwartet, dass sie seine Gefühle erwiderte … Nun ja, laut ihr, konnte sie es nicht einmal. Ob es Wunschdenken oder Realität war, konnte Klerus nicht sagen, aber er meinte, Bedauern herauszuhören.

„Es war mir einfach nur wichtig dir die Wahrheit zu sagen … Mir tut es leid, sollte ich dir damit zu nahe getreten sein.“, tat er den Korb ab, „Ich wollte einfach, dass du weißt, wie sehr ich dich bewundere …“

Ihr trauriges Lächeln war mehr Strafe, als Trost … Er ging aus dem Zimmer und sank am Türrahmen auf den Boden. Ja, diese Abfuhr hatte er erwartet und sich dennoch Hoffnung gemacht – so war das mit der Liebe wohl, egal wie aussichtslos es scheinen mochte. Seine Brust zog sich zusammen und er verspürte das Bedürfnis nach frischer Luft. Genau genommen war ihnen das Verlassen der Feste Donnerkopf nach Einbruch der Dunkelheit allerdings verboten … doch darum scherte sich Klerus im Augenblick nicht. Schon kurz darauf sollte er diese Leichtsinnigkeit allerdings bereuen … Klerus wurde gefangen genommen – von den Steingipfeln, dem verfeindeten Clan der Deldrimor und besonders ihrem Anführer Dragnar Steinhaupt wäre es eine Freude seinem Vetter Jalis Eisenhammer einen herben Schlag zu verpassen. Eingesperrt in einer unterirdischen Zelle ahnte er nicht, dass der König auf ihr Vorhaben eingehen wollte, sich gegen den Mönch austauschen zu lassen. Erst der dumpfe Geräusch ausrückender Schritte erweckte wieder Klerus´ Aufmerksamkeit und plötzlich erglomm in der Ferne ein Licht.

Er stürmte zu den Gittern und rief: „Hallo?! Ist da jemand? Bitte, helft mir!“

Wen er auch erwartet hatte – Jabari und Seiketsu No Akari, von welcher der Schein ausging, sicher nicht: „Ihr seid gekommen!“

Die Canthanerin berührte lächelnd seine Hand, während sie erwiderte: „Wir würden doch keinen Kamerad im Stich lassen! Die Deldrimor kämpfen draußen gegen die Steingipfel. Wir sollten uns beeilen und dich hier rausschaffen. Ich weiß nicht, wie lange sie noch durchhalten werden.“

Nachdem Jabari kurzerhand das Schloss geknackt hatte, konnte Klerus nicht anders und drückte Seiketsu No Akari an sich. In dieser undurchdringlichen, kraftraubenden Dunkelheit hatte er befürchtet, sie niemals wiederzusehen … Trotz dieser Erleichterung verlor er das Bewusstsein.

Ein Schwall reiner Energie erfasste ihn. Es war, als wäre es ein Teil von ihm selbst … und gleichzeitig wusste er, dass sie jemand anderem gehörte – Seiketsu No Akari! Er öffnete die Augen und sah sie erschöpft zu sinken. Hastig befreite er sich von Jabari, der ihn auf dem Rücken getragen hatte. Die junge Mönchin hatte ihre Magie aufgebraucht, um die Feinde niederzustrecken. Für ihn hatte sie sich in Gefahr begeben … Es interessierte Klerus nicht, ob der Waldläufer ihn beobachtete, dankbar hauchte er seinen Kuss auf Seiketsu No Akari´s Stirn, ehe er sie vom Boden hochhob. Eine Schar Deldrimor rückte an und eskortierte sie zu Droknar´s Schmiede – die Steingipfel hatten einen Überfall auf die Feste Donnerkopf unternommen und kurzzeitig für sich erobert, doch König Jalis plante bereits den Gegenschlag. Bei ihm entschuldigte sich Klerus lang und breit … Anschließend hatte er ihn samt Jabari losgeschickt, um ihre Feinde auszuspionieren. Aufgrund weiterer Vorfälle hatte es Wochen gedauert, bis er und Seiketsu No Akari über die Geschehnisse hatten sprechen können … Und danach waren sie so etwas wie Freunde gewesen, zumindest bis zu jenem Tag, da die Deldrimor – samt Seiketsu No Akari – in die Fernen Zittergipfel aufgebrochen und nicht mehr zurückgekehrt waren … Er selbst und Jabari waren zu diesem Zeitpunkt unterwegs gewesen – erst waren es nur Wochen gewesen, die sie gewartet hatten, dann Monate. Irgendwann machten sie sich auf den Weg nach Löwenstein … Und so erfuhren die beiden verbliebenen Studenten, dass sämtliche Zwerge zu Stein geworden waren, um gegen ihren Erzfeind, die Zerstörer in den Kampf zu ziehen. Außerdem wurde die Kunde der drei lebenden Legenden laut, die als Verteidiger nach Cantha zurückgekehrt waren. Dort hatte er sie zwar wiedergesehen … doch wie bereits erwähnt, einen tragischen Fehler begangen.

Als er seine Erzählung so endete fühlte sich Klerus leer … Er sah auf seine Hand – sie war durchsichtig geworden. Mit einem letzten Gedanken an Seiketsu schloss er die Augen …
 

„Wie kann das sein?“, verlangte eine hallende Stimme zu erfahren, „Sprich´, Schwester!"

Eine Frau antwortete, allerdings ebenso ratlos: „Ich weiß es wirklich nicht! Ja, er ist einer meiner Kinder … aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Was meint Ihr dazu, Seira?“

Besagte schwieg, ehe sie erwiderte: „Ratlose Seelen sind mehr oder minder nichts ungewöhnliches – besonders seit dem Erwachen der Drachen. Doch diese Seele war im Grunde genommen bereits erloschen … >Ein Hinweis darauf, dass wir die Nebel nie ganz verstehen werden.< Das hat Suun mir mal gesagt.“

Suun … der alte Mann hatte ihn nach seinem Tod immer wieder aufgesucht, wann immer ein Mondzyklus vergangen war. Und er hatte ihm von Seiketsu No Akari´s Tod erzählt … Klerus riss die Augen auf. Über seinem Gesicht erblickte er acht Gestalten. Sofort ereilte ihn der nächste Schreck – sein Leben lang hatte er zu Dwayna gebetet und nun befand er sich in ihrer Gegenwart und jener der anderen Götter. Und eine hünenhafte Frau mit langem, gelocktem Haar einer ausladenden Tätowierung war ebenfalls zugegen.

Sie sprach ihn an: „Keine Angst, Klerus – du … befindest dich in den Nebeln.“

Er ging das Gespräch noch einmal durch … Die Sechs Götter waren offensichtlich ratlos, wie er noch – oder wieder – existieren konnte.

„Vielleicht verhält es sich mit ihm ähnlich, wie bei Ohtah …“, warf eine Dunkelhäutige mit einem prächtigen, weißen Flügelhelm auf – Kormir, die Göttin Wahrheit, „Sage mir, Klerus, bist du auf irgendeine Weise mit den drei einstigen lebenden Legenden von Tyria verbunden?“

»Legenden« … so hatte man die drei Helden noch zu Lebzeiten betitelt. Wie oft war er nach Löwenstein gegangen, nur um ihrer Geschichte zu lauschen?

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die Götter ja immer noch auf eine Antwort warteten: „Ich liebe Seiletsu … Nach meinem Tod habe ich auf sie gewartet, aber sie …“

Er brach ab. Wahrscheinlich wussten sie ohnehin, was aus ihren Günstlingen geworden war …

Seira, die sich zu seiner Überraschung als Suun´s Nachfolgerin entpuppte, meinte lächelnd: „Dann ist es der Wille der Nebel … Klerus, Botschafterin Shiko, Späher Ohtah und Heilerin Seiketsu haben den Gesandtenrat verlassen.“

Etwas benommen lauschte er ihrer Geschichte – dass sie auf Tyria wiedergeboren worden waren, um den Kampf gegen die tyrannischen Alt-Drachen aufzunehmen. Ohtah Ryutaiyo hatte einst geschworen, auf ewig Shikon No Yosei zu beschützen – daher hatte er sie begleiten müssen, nicht dass er dies nicht sowieso getan hätte. Und Seiketsu No Akari hatte sich ihr ebenfalls angeschlossen. Klerus schüttelte belustigt den Kopf. Sie hatte sich kein Stück verändert … Seira erklärte ihm, dass das Gesetz der Nebel besagte, wer einmal eine Wiedergeburt durchlaufen hatte, musste für immer diesem Zyklus folgen.

„Deine Seele hat sich anscheinend durch Seiketsu´s Entschluss neu zusammengesetzt … Dir stellt sich erneut die Chance, zu wählen.“, endete das Orakel der Nebel ihren Bericht.

Wären die leibhaftigen Götter Tyria's nicht gerade anwesend gewesen, hätte er sie für verrückt erklärt, ihm diese Wahl überhaupt erst zu eröffnen – als ob seine Antwort nicht klar wäre!
 

Obwohl er von Seiketsu No Akari abgewiesen worden war, hatte Klerus die Hoffnung nicht aufgegeben – in diesem Leben hatten sie nicht zueinander gefunden … Nun stand ihnen ein unendlich häufiges Wiedersehen in verschiedensten Welten bevor – und er war sich sicher, sich erneut in sie zu verlieben!

Erzählung 06: Das Schicksal einer Asura

Ein ungewöhnlicher Name

Viele Jahrzehnte waren vergangen seit die Alt-Drachen die Herrschaft über Tyria an sich gerissen hatten. Aus der kleinen Ansammlung von verstreuten Laboren war eine florierende Industrieanlage geworden – eingeteilt in mehrere Ebenen und Bereiche konnte es für Nicht-Asura äußerst schwer werden, sich in Rata Sum zurecht zu finden. Die regierende Instanz – wenn man sie denn überhaupt so nennen konnte – war der Arkane Rat, ein Zusammenschluss von zwölf Asura aus den verschiedenen Kollegs. Neben den ständigen Diskussionen über die Ewige Alchemie gab es genau zwei weitere Problemthemen, die beinahe jedes Mal zur Sprache kamen … die Inquestur, eine abtrünnige Gruppe Wissenschaftler ohne Moralvorstellungen, und die Alt-Drachen, besonders Primordus. Bereits vor dessen Erwachen hatten sie durch seine Kinder gelitten und mussten vor ihnen fliehen. Doch dies bedeutete nicht, dass die Asura ihrer einstigen Heimat vollends den Rücken gekehrt hatten – immer wieder wagten sich Krieger in den feurigen Schlund. Allerdings … kehrte kaum jemand von ihnen zurück. Genauso erging es zwei Asura, die erst vor kurzem Eltern eines Mädchen geworden waren. Statt bei ihrem Vater und ihrer Mutter wuchs die kleine Ganda daher auf der Straße auf. Dabei bekam sie häufig den Spott der Leute zu spüren – und das nur, weil ihr Name anders war als bei den Asura üblich. Für gewöhnlich wählte das spitzohrige Volk kurze Vornamen, bei denen die weiblichen auf einem Vokal endeten und die männlichen mit einem Konsonanten abschlossen. Zwar traf das bei Ganda noch soweit zu – jedoch fehlten ihr zwei gleiche Buchstaben hintereinander. Und sie wusste nicht einmal, warum man sie so genannt hatte … und würde es auch niemals erfahren. Genau deshalb wollte sie sich unter allen Umständen beweisen!

Aber außer ihr selbst sollte es doch noch jemanden geben, der an Ganda und ihre Karriere glaubte – eine ältere Asura namens Zanga. Ihre erste Begegnung war eine der etwas anderen Art … während Ganda sich nämlich lauthals gegen ein paar eingebildete Jungen durchzusetzen versuchte, die sie hänselten, diskutierte Zanga nur wenige Meter entfernt keineswegs leiser mit einem der Wächter, der sie als senil abstempeln und wegbringen sollte. Listig, wie beide nun einmal waren, zündeten sie ohne sich auf irgendeine Weise abzusprechen, zur selben Zeit eine Rauchbombe und nahmen schnell Reißaus – genau in die gleiche Richtung. Draußen auf einem der Plateaus von Rata Sum machten die beiden Fluchtgefährten schließlich offiziell Bekanntschaft.

„Das habt Ihr gerade ziemlich gut hinbekommen. Selbst gebaut, nehme ich an.“, lobte die Alte ihre Aktion.

Ganda freute sich über das Kompliment und antwortete: „Eure war noch besser.“

Es war unüblich für einen Asura das Werk eines anderen höher zu bewerten – für Ganda, die eben so vollkommen anders aufgewachsen war, als die meisten Nachkommen ihres Volkes, bedeutete es lediglich ehrlich zu sein.

„Ich übe schon ein paar Tage länger als Ihr …“, gab sie zurück, „Das war wirklich gut – besonders da Ihr Euch Eure Fertigkeiten überwiegend selbst angeeignet habt, wie man so hört.“

Die junge Asura schwieg. Ihre mangelnde Ausbildung war stets ein wunder Punkt; natürlich kannte sie sich durch die unterschiedlichen Jobs in den Laboren mit vielem aus, doch das ersetzte keinen Lehrmeister.

Zanga, die Ganda´s Gedanken erraten konnte, als würde sie in einem aufgeschlagenen Buch darüber lesen, wandte sich ab und drehte sich nach einigen Schritten noch einmal um, bevor sie ihr zurief: „Was ist? Kommt Ihr jetzt mit? Ich könnte eine tatkräftige Assistentin mit genügend Verstand gebrauchen.“

Mit großen Augen starrte Ganda ihre Gegenüber an. Dann beeilte sie sich Zanga zu folgen. Erst sehr viel später sollte Ganda erfahren, dass Zanga ähnliches durchlebt hatte …
 

Als die Zeit gekommen war, verließ Ganda das Labor ihrer Lehrmeisterin als ausgebildete Ingenieurin und stellte einen Antrag auf Gründung ihrer eigenen Kru, damit sie beim sogenannten Snaff-Wettbewerb teilnehmen konnte. Jedes Jahr, wenn der Todestag des im Kampf gegenden Alt-Drachen Kralkatorrik gefallenen Golemanten und Teil der legendären Gilde »die Klinge des Schicksals« näher rückte, veranstaltete Zojja, seine letzte Schülerin, zusammen mit einer Jury, bestehend aus Mitgliedern des Arkanen Rates, ihn, um den besten Jungerfinder zu küren. Wie die meisten Asura folgte auch Ganda den Lehren der Ewigen Alchemie – alles in dieser Welt lebe in einem empfindlichen Gleichgewicht zusammen und bedinge sich gegenseitig … wer etwas nehmen will, muss gleichzeitig etwas geben. Kundige konnten dieses Wissen zu ihrem Vorteil nutzen. Kein Wunder also, dass sie in ihrer tiefen Verehrung eine Kru im Kolleg der Synergetik eröffnete – Asura, die in diesem Bereich tätig waren, studierten unter anderem die Muster energiegeladener Formen und galten als außergewöhnlich philosophisch. Ganda´s Team bestand nur aus drei weiteren Asura – üblicherweise schlossen sich fünf Mitglieder zusammen. Das änderte natürlich nichts an ihrem Entschluss mit ihrem Projekt, dem »Unendlichkeitsball« den Preis zu gewinnen. Fast Tag und Nacht saß sie über den Plänen, beauftragte die anderen mit Experimenten und feilte an der perfekten Form, um die Ätherkupplungen und Magieresonanz in Einklang zu bringen … Viel zu schnell war der entscheidende Zeitpunkt gekommen. Nach Dynamik, Statik und Inquestur kamen die Vertreter der Synergetik zuletzt an die Reihe. Ganda präsentierte den Unendlichkeitsball als selbstständig regenerierende Batterie und zog damit das Erstaunen der gesamten Jury auf sich.

„Ihr wagt es!“, rief ein Mitglied der Inquestur empört, „Dieses Gerät wurde von unseren Forschern entwickelt! Ihr habt die Pläne gestohlen!“

Im ersten Moment war Ganda wie vor den Kopf gestoßen, doch sie fing sich alsbald wieder: „Der Unendlichkeitsball ist die Arbeit meiner Kru! Kämpft gegen mich, wenn Ihr etwas anderes behaupten wollt!“

Da mischte dich Zojja plötzlich ein: „Nichts dergleichen wird hier passieren! Dieser Wettbewerb wurde in Gedenken an Snaff ins Leben gerufen – ich lasse nicht zu, dass ihn jemand mit Blut besudelt. Wir vertagen die Verkündung des Siegers, bis ich die Originalpläne gesehen und den wahren Erfinder ehren kann.“

Sofort steckten die Asura die Köpfe zusammen und einer der Assistenten meinte: „Ich könnte schnell zum Labor laufen und sie holen.“

„Gut, geht. Ich bleibe mit unserem Schätzchen hier – der Inquestur kann man nicht trauen. Und Ihr beide folgt unseren Gegnern.“, führte Ganda den Plan zu Ende.

Alle nickten zustimmend und machten sich auf den Weg.

Zojja trat an sie heran und sagte: „Es tut mir leid … Auch wenn ich den Anschuldigungen keineswegs glaube, so muss ich dennoch die Regeln befolgen.“

Ganda konnte ihre Entscheidung nachvollziehen; nicht, dass sie ihr nicht trotzdem gegen den Strich ging. Eine solche Aktion trug genau die dreckige Handschrift der Inquestur – voller Lug und Betrug. Dennoch unternahm der Arkane Rat nichts, um ihre Organisation zu schließen. Es war mit ihnen, wie bei einem zweischneidigen Schwert – ihre Methoden waren widerwärtig und verachtenswert … aber dadurch erzielten sie gleichzeitig unglaubliche Resultate, die vor allem für den Kampf gegen die Alt-Drachen notwendig waren. Nur … welchen Sinn hatte es solche Monster zu bekämpfen, wenn man dadurch selbst zu Monstern wurde?

Kaum war eine Stunde verstrichen, kehrte der Bote der Inquestur zurück – die Arme voller Aufzeichnungen. Ganda und Zojja war gleichermaßen der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Die Anführerin der gegnerischen Kru lachte nur hämisch und präsentierte die Pläne. Während die Jury große Augen machte, musste Ganda einige Male blinzeln, bevor sie begriff, was sie sah – ihre Handschrift, ihre Zeichnungen. Die Inquestur waren noch viel dreister als gedacht – anstatt sie zu kopieren, hatten sie ihre Arbeit einfach gestohlen! Nur dass ihnen dieser Coup diesmal ins eigene Fleisch schnitt …

Als Zojja sie zu den Siegern erklären wollte, trat Ganda ihr in den Weg und verkündete: „Ich kann beweisen, dass diese Unterlagen von mir stammen! Das Papier, welches ich verwende, ist mit einem persönlichen Wasserzeichen versehen. Es ist ein Zitat meiner Lehrmeisterin … >Planung ist etwas für Idioten.<“

Zojja reagierte ehe die Inquestur handeln konnte. Mit einem Luftmagiezauber wehte sie die Blätter in ihre Hände und überprüfte Ganda´s Aussage. In jeder oberen, rechten Ecke fand sie die Worte von Zanga.

„Damit wäre das ja geklärt. Ich verleihe demnach Euch, Ganda, den Titel der >Denkerin<.“, erklärte die Elementarmagierin in der blauen Rüstung, „Und die Inuestur ist sowohl für dieses als auch für das kommende Jahr vom Wettbewerb ausgeschlossen.“

Ganda bedankte sich mit einer Verbeugung bei Zojja, als ihr plötzlich ihre Kru-Mitglieder einfielen, die sie losgeschickt hatte. Augenblicklich hastete sie durch das Tal in Richtung ihres Labors. Einige Meter vor dessen Eingang knieten die beiden Gehilfen, die sie zur Überwachung abgestellt hatte, und schon wollte sie mit einer Schimpftirade beginnen, da entdecke sie den letzten ihres Teams – leblos in einer Blutlache liegend. Ganda´s Knie wurden weich und sie sank ebenfalls zu Boden. Nie zuvor hatte sie gedacht, es wäre derart hart, sich als hellstes Köpfchen von Rata Sum zu behaupten, dass sogar einer ihrer Leute sein Leben lassen müsste …
 

Nur wenige Wochen, nachdem sie die Asche ihres Kameraden rituell der Ewigen Alchemie übergeben hatten, wartete bereits eine neue Herausforderung auf die Kru. Ein weißhäutiger Asura mit blutroten Augen kam mit einer äußerst sonderbaren Nachricht ins Labor.

„Wiederholt das!“, verlangte die Denkerina geschockt.

Noch einmal las er das Schriftstück vor, welches das Siegel des Arkanen Rates trug: „Hiermit wird Lucc – das bin ich – vom Kolleg der Dynamik zur Synergetik versetzt. Im Zuge dessen soll er der Kru von Ganda zugeteilt werden, um diese wieder aufzufüllen.“

„>Wieder aufzufüllen<?! Ich glaub´ das ja nicht!“, entgegnete die Ingenieurin wütend und schlug mit der Hand auf ihren Schreibtisch.

Lucc schaute sie entschuldigend an, als er fragte: „Ihr … habt einen der Euren verloren?“

Ganda holte tief Luft, um sich zusammenzureißen, und antwortete: „Er wurde umgebracht, von der Inquestur! Erwartet also nicht, dass Ihr offenherzig von uns empfangen werdet – der Verlust ist noch zu frisch.“

Wie zur Unterstreichung ihrer Worte wandte sich Ganda zum Gehen, doch er hielt sie am Arm fest und meinte ernst: „Ihr sollt die Wahrheit über mich wissen. Dieser Wechsel … ist das Urteil, dem ich mich unterwerfen muss, weil … weil ich meine Kru im Stich gelassen habe. Wir unternahmen einen Ausfall in Primordus´ Reich … Als wir von einer Horde Zerstörer angegriffen wurden, bin ich geflohen. Keiner von meinen Leuten hat überlebt. Ihr seht … ich verdiene Eure Freundlichkeit ohnehin nicht.“

Ihr Blick wanderte stumm zu Boden. Was hätte sie darauf erwidern sollen? Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie nicht, was sie denken sollte … Sie verstand den Beschluss vollkommen – nur warum es ausgerechnet ihre Kru sein musste, konnte sie nicht nachvollziehen. Gleichzeitig tat ihr Lucc unglaublich leid – sie fühlte sich ebenfalls schuldig für den Tod in ihren Reihen. Es war ein schreckliches Gefühl … die Trauer, die Scham, das Versagen. Alles Empfindungen, die ihr Volk sonst tunlichst umging. Vielleicht waren die Asura durch all die Schicksalsschläge ja etwas zu arrogant und hartherzig geworden. Ein Grund mehr, ihm trotz allem doch eine Chance zu geben …
 

Bald zeigte sich, dass Lucc nämlich gar keine Bürde für die Kru war, wie er geglaubt hatte. Vor allem Ganda schätzte seine exzellente Beobachtungsgabe und schlauen Einfälle – mehr noch, weil sie ihm inzwischen nicht sprichwörtlich jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen musste.

Eines Abends, als nur noch Ganda und Lucc im Labor waren, sagte sie plötzlich: „Ihr habt Alpträume.“

Der Rotäugige wusste, dass er es nicht leugnen konnte – sie musste seine Schreie gehört haben –, und erwiderte: „Ja. Sie verfolgen mich, Nacht für Nacht.“

Mit einem Wink bedeutete sie ihm ihr zu folgen. Für heute war die Arbeit zu Ende. Sie schaltete den elektronischen Kamin an und sie setzten sich in die gemütlichen Sessel, die davor standen.

„Ich bin froh, dass Ihr in unser Team gekommen seid. Am Anfang dachte ich, die Kru wäre durch den Verlust >beschädigt< … und ich hatte keine Ahnung, wie ich uns hätte >reparieren< sollen. Aber wie es aussieht, war das eher Eure Aufgabe … und vielleicht können wir dasselbe für Euch tun, wenn Ihr es zulasst. Ist Eure Versetzung wirklich eine Strafe? Oder eher die Möglichkeit zum Neuanfang? Im Kolleg der Dynamik hat sich sicher bereits herumgesprochen, was mit Euch geschehen ist … Synergetik dagegen hatte keine Ahnung und auch ich weiß nur von dem Vorfall, weil Ihr es mir erzählt habt.“, meinte sie und kassierte damit einen perplexen Blick von ihm, „Ich habe mir etwas überlegt … Was haltet Ihr davon, wenn wir für unsere gefallenen Kameraden Gedenktafeln in der Werkstatt aufhängen?“

Seine Kollegen hatten ihn fürchterlich beschimpft, unter ihnen war er ein Geächteter gewesen. Darum hatte er versucht, die Erinnerungen zu verdrängen – ohne Erfolg. Möglicherweise half ihm eine offene Mahnung, um damit fertig zu werden.

Dankbar antwortete Lucc: „Das ist eine gute Idee. Aber … unseren Eltern sollte ebenfalls gedacht werden.“

Nun war es an Ganda ihn verwundert anzusehen und sie entgegnete: „Woher wisst Ihr davon?“

„Ich hätte es Euch schon längst erzählen sollen … es tut mir leid, Ganda. Nicht der Arkane Rat hat die Kru ausgesucht, sondern ich. Weil ich Euch kennenlernen wollte … Euch, deren Eltern bei derselben Mission ums Leben kamen, wie meine.“, erklärte er niedergeschlagen.

Seit Lucc zu ihnen gestoßen war, fragte sich die exzellente Ingenieurin, warum – warum gerade ihr Team? Sollte sie wieder einmal getriezt werden? Nach dem Gewinn des Snaff-Preises erschien dies aber so unwahrscheinlich. Stattdessen war es Lucc selbst gewesen … Sie hatte ihre Eltern nicht gekannt, er dagegen war bereits ein kleiner Junge gewesen. Von einem Tag auf den anderen war seine ganze Welt in sich zusammengebrochen.

„Wie habt Ihr es geschafft … wie seid Ihr danach zurecht gekommen?“, wollte Ganda wissen.

Die Frage verwirrte Lucc – er hätte eher mit Vorwürfen oder ähnlichem gerechnet – und sagte: „Mein Großvater Bronkk hat für mich gesorgt. Er starb, als ich meine Ausbildung begann – wahrscheinlich wäre er ziemlich von mir enttäuscht. Es war eine Dreistigkeit mich Euch ohne Eure Zustimmung derart zu nähern … Wahrscheinlich ist es besser, ich verlasse Rata Sum – endgültig.“

„Wollt Ihr wieder davonlaufen? Wir brauchen Euch – und Ihr braucht uns … Ist es nicht so?“, meinte Ganda leise, „Ich bin die Leiterin dieser Kru, Ihr seid ein Mitglied davon … und ich habe Euch nicht gestattet, Euch aufzugeben – weder jetzt, noch in Zukunft. Ist das klar?“

Lucc konnte nur schwach nicken. Ganda dagegen lächelte. Nach den Lehren der Ewigen Alchemie musste sein Leben mit dem gestalten, was einem gegeben war … Ohne die Ereignisse, die sie durchlebt hatten, wären sie nicht die geworden, die sie nun waren.
 

Ohne erkennbare Anzeichen drangen einige Tage darauf Zerstörer in ihre Gebiete ein. Jeder kampffähige Asura rüstete seine Golems oder sonstige Waffen und begab sich zu seiner Division – Ganda´s Kru gehörte zu Zojja. Kaum hatten sie in ihren Reihen Stellung bezogen, bemerkte Ganda sein Fehlen und begab sich auf die Suche nach ihm. Zwar verstand sie nicht viel vom Spuren lesen, doch die Zerstörer waren nicht gerade schwer zu finden – und nur dorthin konnte er sich aufgemacht haben. Aus einem breiten Spalt an einer Felswand strömten die Zerstörer ins Freie … sie kamen direkt aus den Tiefen von Tyria, dem Reich von Primordus! Nahe des Zugangs registrierte Ganda eine kleine Bewegung zwischen den Blättern einer großen Farnpflanze. Geduckt schlich sie darauf zu.

Gerade, als Lucc das Versteck verlassen wollte, riss sie ihn zurück und zischte: „Seid Ihr denn verrückt geworden?!“

„Ich will nur verhindern, dass weitere von diesen Monstern an die Oberfläche gelangen können.“, erklärte er so leise, dass nur Ganda ihn hören konnte.

Im Grunde kein schlechter Plan. Sie bedeutete ihm per Fingerzeichen, dass sie ihm helfen würde. In ihrem Rucksack befanden sich allerlei Sprengsätze, die seinen Vorrat ergänzten. Vorsichtig kletterten die beiden Asura an der Seite des Hangs nach oben, außerhalb des Sichtfeldes ihrer Feinde. Unterwegs brachte Ganda bereits kleinere Mienen, während die mächtigeren Bomben bei den Gesteinsmassen über dem Eingang zum Einsatz kamen.

„Verzeiht mir – das ist meine Aufgabe!“, verkündete Lucc entschieden und stieß sie zu Boden.

Auf ihrem Rucksack schlitterte Ganda hinab, bis sie schließlich gegen einen Baumstamm knallte und das Bewusstsein verlor.

Später sollte Ganda erfahren, dass sie Lucc zum letzten Mal gesehen hatte … Stattdessen sollte das, was ihn in seinem Kummer hatte trösten sollen, nun auch an ihn erinnern. Um einer ähnlichen Situation zu entgehen – einen Freund in Not zurückzulassen –, schlug den harten Weg eines Portalisten ein …
 

In vier langen Jahren eignete sie sich das komplexe Wissen an und tat sich als meisterliche Schülerin hervor. Ihre Lehrer sowie einige ranghohe Asura begegneten ihr nun mit Respekt. Noch ahnte keiner von ihnen, dass Ganda die hohen Erwartungen jäh enttäuschen würde – denn nachdem sie ihre Abschlussprüfung mit Auszeichnung bestanden hatte, packte sie ihre wichtigsten Habseligkeiten zusammen und verkündete dem Arkanen Rat, sie würde Rata Sum auf unbestimmte Zeit verlassen. Mit Versprechungen lockend, versuchten sie die junge Ingenieurin umzustimmen, aber keines der Argumente brachte ihr Vorhaben ins Wanken.

In Löwenstein machte sich die Denkerin im Untergrund einen Namen – vielleicht mochte dies Schicksal gewesen sein, so kam eines Tages ein junger Dieb auf Ganda zu, um sie für einen Transport in die Kristallwüste anzuwerben. Doch stattdessen schloss sie sich der später als »Team Shiko« bekannten Gruppe an, welche den Kampf gegen die Alt-Drachen wiederaufnahm und dies überaus erfolgreich … nicht nur Primordus, sondern ebenso seine vier Brüder – Zhaitan eingeschlossen – fielen unter dem zweiten Zusammenschluss aller fünf, großen Völker. Und damit erweckten sie den sechsten Alt-Drachen – Mordremorth, den Drachen des Lebens, der jedoch keine Verderbnis über Tyria brachte – sondern die Widergänger zurück ins Leben rief. Unter denen sich auch Lucc befand!
 

Um Mut zu haben, muss man das Leben schätzen – egal, wie klein oder groß man ist, kann man die Welt auf seine Art beeinflussen. Die Ewige Alchemie lehrt uns, den ewigen Kreislauf des Lebens … Leben wird gegeben, Leben wird genommen – was man daraus macht, liegt an jedem selbst. Ohne den Verlust von Lucc hätte Ganda Rata Sum wohl niemals verlassen und damit hätte Team Shiko ein wichtiges Mitglied gefehlt … und Tyria würde noch heute unter dem Joch der Alt-Drachen stehen.

Erzählung 07: Das Schicksal eines Norn

Bezwinger und Schrecken

Ein Norn, der noch einige Jahre vom Mannesalter entfernt war, befestigte die Schwertscheide an seinem Gürtel. Mit keiner anderen Waffe fühlte er sich so wohl – das hatte er wohl von seinem Vater, der zu den besten Schwertkämpfern seines Volkes gehörte … Seine Mutter dagegen galt als begabte Heilerin; von ihr hatte er ihre spirituelle Verbundenheit zu den Geistern der Wildnis. Er wollte ein ebenso gefeierter Held werden, wie seine Eltern. Und heute würde er den ersten Schritt auf diesem Weg gehen …

Die Jagdgesellschaft hatte ihm eine Jagd im Wanderer-Hügel genehmigt. Als Debütant durfte er allerdings nur ein einziges Beutetier erlegen, welches anschließend als Opfer dargebracht wurde – und zwar dem Geist, welchem er von nun an die Treue halten wollte. Er schlich durch das Gras, tief in den Wald hinein. Sein Ziel war ein Minotaurus-Bulle. Und deshalb durfte er sich keinen einzigen Fehler erlauben – sie konnten Jäger sogar gegen den Wind riechen. Er zog blank, umkreiste die Minotauren-Herde und stürzte auf eines der Tiere zu. Sein Schwert knallte gegen die wuchtigen Hörner. Das Männchen schnaubte ärgerlich und stemmte die Hufe in den weichen Boden. Der junge Krieger löste den Druck, wich dem Stoß aus und rammte dem Minotauren die Klinge in den Schädel. Stolz schleppte er den Kadaver zum Grawlenfjord, an dem ein Schrein der Großen Bärin lag. Er setzte sich vor das leuchtende Abbild des Geistes und begann zu meditieren, wie seine Mutter es ihn als kleinen Jungen gelehrt hatte.

In Gedanken stellte sich vor: „Mein Name ist Ric Cordinson … Mit meinem Schwert unterstelle ich mich dem Dienst an der Großen Bärin. Möge sie meine Opfergabe akzeptieren und meinen Weg mit ihrer Kraft stärken!“

Da sprach die Große Bärin plötzlich persönlich zu ihm: „Ich habe deine Bitte gehört … Ich beobachte dich, ich kenne dich. Trage den Namen der >Brärenkralle< und ich werde in jedem deiner Schwerthiebe sein!“
 

Nur wenige Norn hatten jemals die Stimmen der Geister der Wildnis so deutlich wahrgenommen – und meist waren es dann die Hovroun, wenn sie zu ihnen in die Nebel übertraten. Für dieses Zeichen war er gleichzeitig dankbar und es machte ihm Angst. Ric beobachtete den vorbeiziehenden Zug am Schneeherren-Tor. Es kehrte nicht einmal die Hälfte der Krieger von dem Ausfall aus dem Norden zurück. Doch natürlich brachten sie keine Leichen nach Hause … jeder, der von einem Drachen oder seiner Gefolgschaft getötet wurde, erlag ebenfalls der Verderbnis – in diesem Fall verwandelte er sich in Jormag´s Eisbrut. Er sah jedem Jäger ins Gesicht, suchte vergebens nach zwei bestimmten Personen. Weder seine Mutter noch sein Vater gehörten zu den Überlebenden. Und genau das hatte er befürchtet … Seine Eltern waren tot. Nein, schlimmer – sie waren Diener des Drachen geworden. Als ihr Sohn fiel es ihm zu eines Tages auszuziehen, sie zu suchen und vom Fluch Jormag´s zu erlösen. Doch dazu benötigte er jemanden, der ihn nicht nur in der Kriegskunst unterrichtete, sondern ihn auch zu einem richtigen Jäger machte … In Hoelbrak gab es nur eine einzige Person, die ihn verstehen und ausbilden konnte – die Waldläuferin Eir Stegalkin!
 

„Sag´ das nochmal, Junge.“, entgegnete sie auf seine Ausführung.

Ric Bärenklaue hob demonstrativ das Schwert und erklärte: „Ich möchte dein Schüler werden, damit ich irgendwann meine Eltern jagen kann! Bitte, Eir … es gibt niemanden hier, der so viel über die Drachen weiß, wie du.“

„Selbst wenn – ich bin Bildhauern, keine Babysitterin! Verschwinde aus meiner Heimstätte!“, gab sie aufgebracht zurück, bevor sie ihm die Tür vor der Nase zuschlug.

Früher hatte seine Mutter gelacht, wenn er den Dickköpfigen gespielt hatte – in dieser Hinsicht war er seinem Vater sehr ähnlich gewesen. Und auch jetzt würde er seine geerbte Hartnäckigkeit unter Beweis stellen! Er setzte sich neben das Tor, welches zu Eir Stegalkin´s Garten führte, und wollte dort solange ausharren, bis sie ihn aufnahm. Mit der alsbald anbrechenden Nacht kam jene Kälte, die nicht einmal die Norn so einfach wegsteckten. Langsam wurden seine Augenlidern schwer und er war kurz vor dem Einschlafen, da stupste ihn eine feuchte Nase an und goldene Augen musterten ihn – es war Garm, Eir´s schwarzer Wolf und treuester Begleiter.

„Du solltest ihm dankbar sein … Wenn er mich nicht so gedrängt hätte, wärst du morgen nicht mehr aufgewacht.“, meinte die Waldläuferin, als sie Ric Bärenklaue vom Boden hochzog.

Kaum hatten sie die warme Feuerstelle im Haus erreicht, schlief der junge Krieger bereits auf dem Boden ein. Die Norn lächelte melancholisch und gestattete sich für einen winzigen Moment an ihren Sohn Braham zu denken – er lebte bei Freunden seines verstorbenen Vaters, weil sie ihn zurückgelassen hatte, um der Klinge des Schicksals beizutreten. Seitdem hatte sie ihn weder gesehen noch gesprochen, es nicht gewagt nach Klippheim zu gehen. Ihr Blick wanderte zu Garm, der sich neben Ric Bärenklaue gelegt hatte. Es war nicht sein Kratzen an der Tür, welches sie dazu bewegt hatte, den Jungen ins Haus zu holen. Sie konnte nicht noch ein Kind im Stich lassen, das sie brauchte … es genügte, dass Braham leiden musste. Und vielleicht lenkte sie die neue Aufgabe sogar von den Alpträumen über Snaff ab.
 

„Kaum ein Jäger in Hoelbrak ist dir gewachsen, im Kampf bist du ein sehr gefährlicher Gegner.“, lobte Eir Stegalkin ihren Schüler, als er den letzten Sumpflindwurm niedergestreckt hatte, „Du bist soweit …“

Der junge Mann reinige seine Schwerter mit Schnee, bevor er antwortete: „Heißt das, du erlaubst mir in diesem Jahr die Teilnahme an der Großen Jagd?“

„Ich habe bereits verkündet, dass du meinen Platz einnehmen wirst.“, bestätigte die rothaarige Waldläuferin und berührte ihn an der Schulter, „Aber ich meinte noch etwas anderes … Es wird Zeit, dass deine Eltern die Reise in die Nebel antreten!“

Ric Bärenklaue schaute seine Meisterin verblüfft an – sie hatten in den ganzen Jahren nicht mehr darüber gesprochen; er war davon ausgegangen, dass sie es längst vergessen hätte.

„Aber ich muss dich warnen – diese Kreaturen, die einst deine Eltern waren, sind gefährlich! Wenn es um die Diener eines Drachen geht, kann man nicht vorsichtig genug sein.“, mahnte ihn Eir Stegalkin, „Weißt du schon, wie du sie aufspüren willst?“

Er zögerte nur einen winzigen Augenblick, dann entgegnete er: „Es tut mir Leid, dass ich es dir nie gesagt habe, Meisterin … Wann immer ich allein unterwegs war, habe ich die Spuren von … Cordin und Henja verfolgt, um ihr Versteckt zu lokalisieren. Seit einigen Wochen scharen sie eine Eisbrut-Herde um sich, am Schrein der Jora.“
 

Seine Knöchel traten weiß hervor, so stark umklammerte Ric Bärenklaue die Griffe der beiden Klingen. Trotz der Entfernung konnte er seine Eltern ganz klar ausmachen – das Schwert seines Vaters und die Halskette seiner Mutter würde er unter Tausenden wiedererkennen. Alles in ihm schrie nach Vergeltung, nach Erlösung … nur Eir´s Gegenwart hielt ihn noch zurück.

„Werden sie mich erkennen?“, fragte der Krieger ernst.

Seine Meisterin wirkte traurig, als sie erklärte: „Nein. Die Drachenverderbnis löscht jede Erinnerung aus … Bei den Söhnen Svannir´s ist es anders, weil sie zwar von Jormag berührt, aber nicht unter seinem Einfluss gestorben sind.“

Ric Bärenklaue nickte grimmig. Vielleicht war das sogar besser – so konnten sie wenigstens in den Nebeln Ruhe finden …

„Garm und ich kümmern uns um die kleinen Fische.“, meinte die Eir und zückte ihren Bogen, „Ich werde das jetzt nur einmal sagen … Ich bin froh und dankbar, dich als Schüler zu haben. Du hast meinem Leben wieder einen wirklichen Sinn gegeben … Du findest es wahrscheinlich unangebracht, gerade heute – du bist mir genauso wichtig, als wärst du mein Sohn.“

Mit diesen Worten im Ohr trat Ric Bärenklaue jenen Wesen gegenüber, die einst seine Eltern gewesen waren, und zog blank.
 

Erschöpft ließ er sich zwischen die beiden Leichnamen auf die Knie fallen. Tränen stiegen in ihn auf.

„Du führst deine Klauen wahrhaft mit dem Mut meiner Kinder …“, hallte die Präsenz der Großen Bärin durch seinen Geist, „Schäme dich nicht für deine Trauer. Und keine Sorge, Cordin und Helja werden nicht in Vergessenheit geraten – ihre eigene Geschichte und das, was noch vor dir liegt, hat sie zu großen Helden gemacht!“

Die Augen des Kriegers weiteten sich und eine Frage brannte in ihm.

„Es ist nicht unsere Aufgabe unseren Schützlingen ihren Weg vorzugeben oder zu beeinflussen … Lass´ dich von deiner Kraft und deinem eigenen Willen leiten!“, erklärte der Geist.

Ric Bärenklaue konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, als Eir ihn mit einer Umarmung aus seiner Starre riss.
 

Knut Weißbär selbst, Herr der Großen Halle Hoelbrak´s, war es gewesen, der die Beute zum Kampfschauplatz getrieben hatte. Bevor die Jagd beginnen konnte, baten die Schamanen noch um den Segen der Geister der Wildnis – von der Schneeleopardin bekamen sie Schnelligkeit und Anmut verliehen, der Rabe gewährte ihnen Weisheit und Klarheit, im Zeichen des Wolfes sollten sie wie ein Rudel und mit der Stärke der Bärin kämpfen. Dann durften die Teilnehmer endlich die Stufen zum Plateau hinaufsteigen. Mit einem tiefen Grollen schoss Issormir, ein mächtiger Wurm, aus der Erde heraus. Sie fächerten sich in einem zweireihigen Halbkreis vor ihm auf – die Waldläufer und Magier blieben zurück, während die Nahkämpfer auf ihn zustürmten. Ric Bärenklaue schlug eine Salve nach der anderen, während ein Lächeln sein Gesicht zierte – er dachte daran, warum er rechts und links eine scharfe Waffe führte.

„Du hast dich also für das Schwert entschieden … Und dennoch möchtest du von mir, einer Bogenschützin, lernen.“, hatte Eir an seinem ersten Morgen unter ihren Fittichen gesagt, „Sag´ mir, wenn du mit einer Klinge umgehen kannst, warum dann nicht auch mit zwei? In der Wildnis musst du angreifen und dich gleichzeitig verteidigen können – einhändig bist du alles und jedem unterlegen!“
 

Knut Weißbär hob seinen Bierhumpen und rief stolz: „Ich gratuliere euch herzlich, meine jungen Freunde, von diesem Tag an geltet ihr in den Augen unseres Volkes als vollwertige Mitglieder – ihr seid erwachsen geworden, eure Legende hat begonnen! Mögen die Spielmänner noch viele Liebe über sie dichten – über die Bezwinger von Issormir!“

Ein zustimmendes Grölen tönte durch den Schankraum der Großen Halle. Ric Bärenklaue saß mit den anderen jungen Norn zusammen. Sie prallten, tranken und beglückwünschten sich gegenseitig zu ihrem Erfolg. Eir prostete ihrem Schüler an diesem Abend nur aus der Entfernung zu – die Aufmerksamkeit galt ihm und diese wollte sie mit ihrer Anwesenheit nicht schmälern. Nachdem sich die Älteren zurückgezogen hatten, begann das Unterhaltungsprogramm für die ruhmreichen Jäger. Tänzerinnen, Barden, Musiker – es wurde gelacht, noch mehr getrunken und so ordentlich gefeiert, dass beinahe die Wände wackelten. Eine der Tänzerinnen fiel Ric Bärenklaue besonders auf. Ihr rotbraunes Haar erinnerte ihn an ein loderndes Lagerfeuer in einer kalten Nacht – ihre dunkelblaue Kleidung unterstrich diesen Eindruck noch zusätzlich. Während seine Kumpane weiterhin mit großer Ausdauer ihre Becher leerten, klebte sein Blick an ihr. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen. Und schließlich gab sie ihm einen stummen Wink, ihr zu folgen. Im obersten Stockwerk lagen die Zimmer von Knut Weißbär´s Familie; in den restlichen drei Etagen gab es Quartiere für Würdeträger, Schamanen und andere Gäste – je höher ihr Ansehen, desto weiter oben lag der zugeteilte Raum. Doch das Mädchen führte ihn stattdessen ins Untergeschoss, von dem er gar nicht gewusst hatte, dass es existiert. Sie lehnte sich an eine der hölzernen Türen und sah ihn erwartungsvoll an.

„Hierher kommt sonst niemand …“, sagte sie leise.

Ric Bärenklaue verstand sofort. Hier wären sie ungestört … nur sie und er, die ganze Nacht. Er biss sich auf die Unterlippe. Durch das Töten von Issormir war er in den Augen seines Volkes nun ein Mann. Und als solcher durfte er das Lager mit einer Frau teilen …

„Wie heißt du?“, fragte er kehlig.

Sie legte den Kopf schief und flüsterte: „Du kannst mich Kadlin nennen, tapferer Bezwinger von Issormir …“
 

Jemand streichelte ihm über den Kopf. Erst dachte er an seine Mutter … Eir tat so etwas normalerweise nicht. War ihr Geist aus den Nebeln zu ihm gekommen oder spielten ihm seine Erinnerungen einen Streich? Nach und nach wurde es in Ric Bärenklaue´s Kopf klarer – das viele Bier forderte seinen Tribut – und er wurde sich des Gefühls nackter Haut bewusst, da erinnerte er sich an den vergangenen Abend.

„Kadlin?“, kam seine Stimme nur als Krächzen heraus.

Sie lachte glockenhell und erwiderte: „Wer sonst?“

Er setzte sich neben ihr auf, betrachtete sie eingehend. Nicht nur er hatte mit ihr seine erste Nacht verbracht …

„Warum ausgerechnet ich?“, wollte er etwas beschämt wissen, nun da wieder halbwegs klar denken konnte, „Ich meine … ich war nicht der alleinige Held der Großen Jagd. Und für dich war es …“

Kadlin knete ihre Finger und antwortete nach einigem Schweigen: „Du bist mutig und stark … Und dennoch keiner von diesen Kerlen, die sich für unbesiegbar halten. Ich habe dich gestern beim Fest beobachtet – du hast auch geprallt mit eurem Sieg, aber … du hast auch Respekt vor Issormir. Für dich war es kein einfaches … Abschlachten. Ich wusste, ich kann dir vertrauen.“

Ric Bärenklaue legte die Finger unter ihr Kinn, sodass sie ihn ansehen musste. Ihre Worte drückten genau das aus, was er gefühlt hatte – Respekt vor einem starken Gegner, Ehrfurcht vor dessen Geist und Dankbarkeit durch ihn endlich ein vollwertiger Krieger geworden zu sein. Und so war sein Kuss diesmal nicht stürmisch wie in der letzten Nacht – sondern unglaublich sanft.
 

Seit über einem Jahr trafen sich Ric Bärenklaue und Kadlin bereits heimlich in einem der unbenutzten Zimmer unter der Großen Halle. Nicht einmal Eir hatte der Krieger die Wahrheit gesagt.

Irgendwann hatte er gefragt: „Kadlin … welche Art von Beziehung haben wir eigentlich? Ist das noch eine harmlose Affäre – oder war es das überhaupt jemals?“

„Ich glaube nicht, dass ich mich dann so wohl fühlen würde. Wie stehst du dazu … zu mir?“, war ihre Antwort gewesen, wobei die Unsicherheit in ihrer Stimme deutlich herausgehört hatte.

Und während er sie fest an sich gedrückt hielt, wollte er ihr diese Zweifel nehmen: „Ich wünsche mir … mehr zwischen uns. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, ein anderer Mann könnte … dich mir wegnehmen.“

Doch dann rückte ein Ereignis näher, welches alles zwischen ihnen änderte – ein Faustkampf-Turnier für die besten Kämpfer und Jäger der Zittergipfel, das ermitteln würde, wer sich mit dem Segen der Geister der Wildnis dem Alt-Drachen Jormag stellen sollte. Natürlich gehörte Ric Bärenklaue zu denjenigen, die sich als erstes für die Teilnahme eintragen ließen – etwas, das Kadlin ganz und gar nicht gefiel.

„Warum willst du unbedingt gegen dieses Monster kämpfen?!“, fuhr sie ihn, „Du wirst sterben, Ric! Ist dir das überhaupt klar? Niemand kann gegen die Drachen gewinnen – schon gar kein einzelner Krieger! War das nicht die Lektion, die du bei der Jagd auf Issormir gelernt hast?!“

Wut stieg in ihm auf und er gab lautstark zurück: „Ich werde mich nicht feige verkriechen, während immer mehr unseres Volkes von diese Bestie versklavt werden!“

„Na schön, wenn du dein Leben einfach so wegwerfen willst. Ich werde dich nicht aufhalten …“, sagte sie verärgert, „Aber erwarte nicht, dass ich dir dabei auch noch anfeuere! Wenn du an dem Turnier teilnimmst … will ich dich nicht mehr sehen.“

Er ballte die Fäuste, sagte aber nichts mehr. Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Sein Zorn vernebelte ihm so sehr die Sinne, dass er nicht einmal mehr Kadlin´s Schluchzen hörte.
 

Nach unzähligen, harten Duellen ging Ric Bärenklaue als Gewinner aus dem Turnier hervor – und schloss sich nur wenige Stunden später einer Gruppe an, welche geführt von Shikon Feenseele die fünf großen Völker Tyria´s vereinen wollte, um gegen alle fünf Alt-Drachen zu ziehen; ihre Argumente … und Kadlin´s Vorwürfe hatten seine Wirkung nicht verfehlt. Allein konnte er nicht bestehen. Während die kleine Asura namens Ganda ihre Weiterreise vorbereitete, musste der Krieger dringend noch einmal mit Kadlin sprechen. Er suchte in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer, doch es war leer; eigentlich nicht weiter überraschend, immerhin hatten sie sich hier gestritten. In seiner schieren Verzweiflung wollte er die Große Bärin um Rat bitten und begab sich zu deren Schrein.

Vor dem Altar kniete bereits jemand – er wollte sich zurückziehen, um gebührenden Abstand zu halten, da sprach die junge Frau: „Ich habe selten zu einem der Geister gebetet … aber er tut es. Er verehrt Euch und würde sogar sterben, um Euch Ehre zu machen und von unserem Volk respektiert zu werden. Ich flehe Euch an – steht ihm bei! Er darf dem Drachen nicht zum Opfer fallen … Ich liebe ihn doch!“

„Und ich liebe dich … Kadlin.“, gestand er, als er von hinten an sie herangetreten war.

Kadlin wirbelte herum, warf sich in seine Arme.

„Ich muss Jormag vernichten … Ich hasse ihn für alles, was er getan hat! Unser Volk musste aus dem Norden vor ihm fliehen, drei Geister der Wildnis wurden von ihm verschlungen und … ich musste meine Eltern töten, weil sie von seiner Verderbnis befallen waren.“, flüsterte er dicht neben ihrem Ohr, „Ich werde nicht scheitern; ich habe Verbündete gefunden und einen Grund, warum ich unter allen Umständen nach Hoelbrak zurückkommen muss – ich will dich zu meiner Frau machen!“

Verwunderung lag in Kadlin´s Blick, dann Traurigkeit und sie offenbarte: „Dazu musst du wissen, wer ich in Wirklichkeit bin … Mein vollständiger Name lautet Kadlin Knutsdottir. Ich bin seine uneheliche Tochter, die er vor der Welt versteckt gehalten hat … Das Untergeschoss der Großen Halle ist mein Quartier.“

Ric Bärenklaue begann hämisch zu lachen: „Dachtest du etwa, das ändere etwas meinem Entschluss? Wenn ich wiederkomme, werde ich nicht mehr der Bezwinger Issormir´s sein, sondern der Schrecken Jormag´s! Und wenn Knut dich mir nicht freiwillig zur Frau geben will, nehme ich dich mir trotzdem … bei den Klauen der Großen Bärin!“
 

Die Große Bärin lehrt uns auf unsere eigene Kraft zu vertrauen … Wir gehen unseren eigenen Weg, verfolgen bestimmte Ziele. Jeder von uns hat etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt …

Ric Bärenklaue kennt seine Motivation ganz genau – und durch Team Shiko kann er der Held werden, der er sein möchte und den sein Volk so dringend braucht. Denn mit der Unterstützung seiner Freunde und seiner Liebe wird er alles bezwingen, was sich ihm entgegen stellt!

Erzählung 08: Das Schicksal einer Bastard

Gefangenschaft und Leidenschaft

Knut Weißbär war ein angesehener Mann in Hoelbrak. Das lag zum einen natürlich an seiner Blutlinie, die direkt auf einen der größten Helden der Norn zurückführte – Asgeir, der ihr Volk im Auftrag der Geister der Wildnis hierher geführt hatte –; dieser Umstand machte Knut zum Herrn der Großen Halle. Aber der Krieger hatte seinen Wert auch auf zahlreichen Jagden und in unzähligen Kämpfen bewiesen. Doch gleichzeitig lag ein dunkler Schatten über seiner Vergangenheit, der mit dem Tod seiner Frau Kirra begonnen hatte … Sie war eine starke Elementarmagierin gewesen und gehörte häufig zu den Ausfallkommandos – denn seit die Drachenverderbnis sich stetig ausbreitete, war es die Aufgabe der Feuermagier die Leichen der Gefallenen zu verbrennen, sodass sie sich nicht wieder erheben konnten. Nicht einmal ihre Schwangerschaft oder die abschließende Geburt der Zwillinge Skarti und Sigfast konnte Kirra über einen längeren Zeitraum davon abhalten, die Züge zu begleiten – sogar gegen Knut´s Willen. Aber einige Wochen später kehrte ihre Unternehmung nicht mehr nach Hoelbrak zurück; die Gegenwehr war einfach zu gewaltig gewesen und Kirra hatte ihre letzten Kräfte eingesetzt, um den kompletten Kampfplatz zu flambieren. Durch diesen Verlust stürzte Knut in ein tiefes Loch – an dessen Tiefpunkt er seine Qualen im Freudenhaus außerhalb der Stadt vergessen wollte. Er ging an den knapp bekleideten Frauen vorbei und suchte nach etwas, das ihn berührte – das flammend rote Haar einer jungen Norn erinnerte ihn daran, wie Kirra gestorben war; verbrannt durch ihren eigenen Zauber, in demselben Feuer wollte er auch vergehen.

„Wie heißt du?“, fragte er leise.

Ihre blauen, katzenartigen Augen musterten ihn – eine Spur des Erkennens huschte über ihr Gesicht – und sie antwortete melodisch: „Lilifa … Und wenn du es wünscht, werde ich dir heute Nacht jeden Wunsch erfüllen.“

Sie erhob sich in einer geschmeidigen Bewegung von der Bank und streichelte über seine mit Bartstoppeln übersäten Wange, zog ihn so näher an sich heran. Ihr Blick wanderte langsam hinter sich, zu einer der Zimmertüren. Er nickte kaum merklich und gab sich ihr vollkommen hin. Die Nacht brannte sich in sein Gedächtnis. Aber obwohl er nicht aufhören konnte, sich immer schneller und fester in Lilifa zu versenken, fühlte er jede Sekunde den schmerzhaften Stich des Verlustes in seinem Herzen.

Am nächsten Morgen kehrte er in die Große Halle zurück und widmete sich von da an wieder seinen Pflichten als Krieger und Vater. Jedoch geschah etwa ein Jahr später etwas, mit dem er niemals gerechnet hätte und das sein Leben völlig veränderte, komplett aus den Angeln riss – vor dem Portal seines Quartiers lag ein in Windeln eingewickelter Säugling!

Und einem Zettel, der bei ihr lag, las er geschockt: „>Ihr Name ist Kadlin. Kümmere dich gut um deine Tochter …<“

Das war er, sein fleischgewordener Verrat an Kirra; denn er hatte das rote Haar sofort wiedererkannt. Wollte ihn die Geister der Wildnis etwa für seine Untreue verhöhnen?

Aus Angst, Scham oder welchen Gründen auch immer – Knut versteckte Kadlin – von der er sich weigerte, sie als seine Tochter anzuerkennen, geschweige denn als solche anzusehen – vor der Welt im Untergeschoss der Großen Halle. Kaum jemand wusste, dass dieses Stockwerk existierte; darum wurde es zu ihrem Reich. Knut trug einem Schamanen sogar auf, eine Schweigerune in den Boden zu ritzen; angeblich weil das Knarren der Bretter bei Festen inzwischen unerträglich sei. Alles nur, damit niemand sein düsteres Geheimnis entdeckte …
 

Viele Jahre lebte Kadlin unerkannt, unbemerkt unter der Großen Halle.Als sie jünger gewesen war, hatte Knut ihr des öfteren noch Aufgaben gegeben, die sie bis zu seinem nächsten Besuch zu erledigen hatte – meistens ging es darum, etwas neues zum Anziehen zu nähen oder Gebete rezitieren zu können. Darum war auch das einzige Geschenk, das sie jemals von ihm bekommen hatte, eine Bibliothek mit Werken aller großen Völker. Kein Wunder also, dass Kadlin die Geschichtsschreibung beinahe auswendig beherrschte. Ihre Lieblingsbücher handelten von Liebespaaren. Die endlosen, technischen Bücher der Asura mochte sie dagegen überhaupt nicht, zu trocken. Schließlich war träumen eines der wenigen Dinge, die sie hier in ihrem Gefängnis selbst bestimmend tun konnte … träumen und tanzen! Sie liebte das Tanzen zur festlichen Musik – denn sie konnte zwar niemand hören, aber umgekehrt wirkte der Zauber nicht. Und so schwebte sie durch die Räume, nähte sich wunderschöne Kleider und konnte vergessen, sich fallen lassen, einfach sie selbst sein – wenn auch nur für kurze Zeit …

„Was machst du da?“, donnerte Knut wütend.

Kadlin zuckte erschrocken zusammen, weil sie ihn nicht zuvor nicht bemerkt hatte.

„Ach, lassen wir das … deshalb bin ich nicht gekommen.“, fuhr er immer noch gereizt fort, „Ich habe mich entschieden. Du kannst nicht ewig hier unten sitzen und dich von mir ernähren lassen – deshalb wirst du Sigfast´s Frau! So bist du wenigstens zu etwas nütze … Skarti ist bei den Frauen ja beliebt, um ihn muss ich mir keine Sorgen machen. Aber sein Bruder … nun ja, er hat wohl einen etwas speziellen Geschmack.“

Die junge Norn schlug sich die Hände vor den Mund – Knut wollte sie allen Ernstes mit ihrem Halbbruder verheiraten?!

„A-aber, Vater-“, stotterte sie.

Seine Faust traf die Wand mit einem lauten Knall und er schrie regelrecht: „Ich bin nicht dein Vater! Und wage es ja nie wieder, mir zu widersprechen!“

Damit verließ er das Untergeschoss, in dem nur noch Kadlin´s erstickte Schluchzen zu hören waren.
 

Die Jahre in Gefangenschaft hatten Kadlin gelehrt, Knut nicht zu verärgern – zumindest nicht wenn sie wollte, dass er sie weiterhin regelmäßig besuchte. Diesmal war sie allerdings ganz froh darüber eine Weile allein zu bleiben. So konnte sie sich ungehindert in die Fantasiewelten ihrer geliebten Bücher flüchten. Wie durch Zufall war ihr an diesem Tag ein Werk über Asgeir in die Hände gefallen, welches mit persönlichen Tagebucheinträgen seinerseits ergänzt worden war.

„>Die Begegnung … Vision … oder wie ich es auch immer nennen soll … Es erscheint mir unmöglich das Wesen der Geister der Wildnis in Worte zu fassen. Ich glaube, selbst wenn ich ein Gelehrter und kein Krieger wäre, würde es mir nicht recht gelingen. Denn kein Begriff scheint für sie angemessen zu sein ... Ich kann nur von mir, von meinen Empfindungen berichten. Nicht eine Sekunde habe ich an ihrer Botschaft gezweifelt! Ich wusste einfach, dass Hoelbrak uns retten würde! Unsere einzige Hoffnung zu überleben war eine Flucht aus den Fernen Zittergipfeln …<“, las Kadlin und spürte wieder einmal Tränen in ihren Augen aufsteigen.

Nur einmal in ihrem Leben hatte sie zu den Geistern gebetet – sie wünschte sich damals von ihrem Vater geliebt zu werden und ein richtiges Zuhause zu haben, kein Versteck. Doch in all der Zeit hatte sich rein gar nichts geändert … Knut´s Hass auf sie war, wenn überhaupt möglich, nur noch mehr gewachsen, je älter Kadlin wurde. Vielleicht war ja einfach zu schwach, um von der Großen Bärin erhört zu werden und es fehlte ihr an der Schläue des Raben, ohne Familie war sie dem Wolf unwürdig und Schneeleopardin verwehrte sich ihr wohl ebenfalls. Trotzdem bewunderte sie Asgeir, ihren Ahnen, und alle anderen ihres Volkes, welche die Geister der Wildnis bedingungslos verehrten.
 

Einmal im Jahr fand die Große Jagd statt, die sozusagen dem Debüt für junge Jäger und Krieger entsprach. Diesmal war das Ziel des Zugs Issormir gewesen, ein mächtiger Wurmkönig.

Nachdem sie ihn erfolgreich zur Strecke gebracht hatten, zogen die Teilnehmer zur Siegesfeier in die Große Halle, die wie üblich von Knut Weißbär eröffnet wurde: „Ich gratuliere euch herzlich, meine jungen Freunde, von diesem Tag an geltet ihr in den Augen unseres Volkes als vollwertige Mitglieder – ihr seid erwachsen geworden, Eure Legende hat begonnen! Mögen die Spielmänner noch viele Liebe über sie dichten – über die Bezwinger von Issormir!“

Anschließend zog sich der weißhaarige Norn ins oberste Stockwerk, in sein Quartier zurück – dieser Abend gehörte gänzlich der neuen Generation von Helden. Kadlin wartete dennoch zwei weitere Stunden ab, in denen er nicht wieder auftauchte. Sie hatte ein freizügiges, nachtblaues Gewand angelegt und trug die gewellten, feuerroten Haare zu einem hohen Schwanz. Ihre Entscheidung war getroffen – bevor es dazu kam, dass sie sich in die Hände ihres Halbbruders begeben musste, wollte sie wenigstens ein einziges Mal frei sein … Zum ersten Mal seit ihr Vater sie hierher gebracht hatte, verließ sie ihr Reich und begab sich unter andere Norn. Sie mischte sich unter die Tänzerinnen, bewegte sich rhythmisch zur Musik. Niemand bemerkte, dass sie im Grunde nicht zu ihnen gehörte. Während Kadlin so durch den Raum schwebte, fixierte sie einer der Krieger mit seinen Augen. Sie tanzte auf ihn zu, kreiste extravagant mit ihren Hüften und beobachtete seine Reaktion. Er hatte ihr Interesse geweckt … weil ebenso ehrfürchtig von den Geistern der Wildnis gesprochen hatte, wie Asgeir in seinen Texten. Dieser Krieger war anders als die restlichen hirnlosen Idioten, die einfach nur auf alles einschlugen und glaubten, damit ihr Können zu beweisen.

„Ric, die Kleine scheint auf dich zu stehen – worauf wartest du noch? Schnapp´ sie dir endlich, bevor ein anderer kommt!“, rief einer seiner Trinkkumpane, was Kadlin lächeln ließ.

Jetzt kannte sie sogar seinen Namen … Sie kam ihm wieder näher, strich über seine Schulter. Er griff nach ihrer Hand, erhob sich und folgte ihr durch die tanzende Menge. Vor einer Tür abseits des Trubels blieb Kadlin schließlich stehen.

Ihr Blick wurde erwartungsvoll, als sie flüsterte: „Hierher kommt sonst niemand …“

Etwas leuchtete in seinem Gesicht auf. Er hatte verstanden, was sie ihm anbot … was sie wollte.

„Wie heißt du?“, fragte er in heiserer Erregung.

In verführerischer Weise erwiderte sie: „Du kannst mich Kadlin nennen, tapferer Bezwinger von Issomir …“
 

Ric löste etwas in ihr aus, dass sie nie zuvor für möglich gehalten hätte … Sie hatte geglaubt zu wissen, was Sehnsucht sei – doch nach dieser Nacht verzehrte sie sich regelrecht nach ihm und seiner Nähe. Jeder wache Gedanke und alle Träume drehten sich nur um ihren schwarzhaarigen Geliebten mit den tief grünen Augen. Sie trafen sich weiter heimlich im Untergeschoss der Großen Halle. Ein Jahr zog so ins Land, in dem einzig die anwachsende Machtherrschaft der Alt-Drachen verhinderte, dass Knut Sigfast´s Hochzeit mit Kadlin organisieren konnte.

Während dieser Zeit wollte Ric Bärenklaue einmal von ihr wissen: „Kadlin … welche Art von Beziehung haben wir eigentlich? Ist das noch eine harmlose Affäre – oder war es das überhaupt jemals?“

„Ich glaube nicht, dass ich mich dann so wohl fühlen würde. Wie stehst du dazu … zu mir?“, hatte sie ihm als Gegenfrage gestellt und scheute bereits die Antwort.

Doch der Schwarzhaarige zog sie fest an sich, ehe er entgegnete: „Ich wünsche mir … mehr zwischen uns. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, ein anderer Mann könnte … dich mir wegnehmen.“

Dieser Satz macht Kadlin sowahl glücklich … als auch traurig. Sie hatte es noch nicht gewangt, ihm die Wahrheit über ihre Identität und die Pläne ihres Vaters zu sagen.

Apropos ihr Vater – Kut Weißbär veranstaltete ein Faustkampf-Turnier, um den besten Kämpfer ihres Volkes zu ermitteln, der unterstützt von den vier Geistern der Wildnis hinausziehen und Jormag ein für alle Mal erledigen sollte. Und ausgerechnet Ric Bärenklaue nahm daran nicht nur teil, er gewann sogar! Das freute Kadlin allerdings keineswegs. Sie stritten sich fürchterlich darüber – denn die Norn hatte Angst um ihn. Niemand konnte allein gegen diese Bestien bestehen … Er brauchte Hilfe! Deshalb ging Kadlin zu dem einzigen Ort, wo sie diese erbeten konnte – zum Schrein der Großen Bärin, der Ric Bärenklaue seine ewige Treue geschworen hatte.

„Ich habe selten zu einem der Geister gebetet … aber er tut es. Er verehrt Euch und würde sogar sterben, um Euch Ehre zu machen und von unserem Volk respektiert zu werden.“, sprach sie versunken und bemerkte daher nicht, dass sie belauscht wurde, „Ich flehe Euch an – steht ihm bei! Er darf dem Drachen nicht zum Opfer fallen … Ich liebe ihn doch!“

Eine breitschultrige Gestalt trat hinter sie und sagte: „Und ich liebe dich … Kadlin.“

Kadlin sprang auf, stürzte sich in seine Arme. Ric drückte sie fest an sich und erklärte ihr, warum ihm der Kampf gegen Jormag so viel bedeutete – seine Eltern waren von der Drachenverderbnis verschlungen worden und er hatte sie eigenhändig davon erlöst.

„Ich werde nicht scheitern; ich habe Verbündete gefunden und einen Grund, warum ich unter allen Umständen nach Hoelbrak zurückkommen muss – ich will dich zu meiner Frau machen!“, hauchte er ihr ins Ohr.

Sie starrte ihn erst verwundert, dann traurig an und erwiderte: „Dazu musst du wissen, wer ich in Wirklichkeit bin … Mein vollständiger Name lautet Kadlin Knutsdottir. Ich bin seine uneheliche Tochter, die er vor der Welt versteckt gehalten hat … Das Untergeschoss der Großen Halle ist mein Quartier.“

Ric begann schallend zu lachen: „Dachtest du etwa, das ändere etwas meinem Entschluss? Wenn ich wiederkomme, werde ich nicht mehr der Bezwinger Issormir´s sein, sondern der Schrecken Jormag´s! Und wenn Knut dich mir nicht freiwillig zur Frau geben will, nehme ich dich mir trotzdem … bei den Klauen der Großen Bärin!“
 

In den folgenden Monaten verbreitete sich die Kunde über die Nachfolger der Gilde der »Klinge des Schicksal« über ganz Tyria. Ob im Maguuma-Dschungel, Ascalon, Kryta oder den Zittergipfeln – überall wurden die Geschichten von »Team Shiko« laut. Kadlin, die sich so oft sie konnte, aus der Großen Halle stahl, um beim Schrein der Großen Bärin für ihren Liebsten zu beten, hörte von den Schamanen, wie Ric Bärenklaue kurzzeitig zurückgekehrt war, um sich auf den Kampf gegen Jormag vorzubereiten. Mit dem Segen der Geister der Wildnis und seinen Kameraden war er vor einiger Zeit in die eisige Tundra aufgebrochen … Und nach Primordus und Kralkatorik war ein weiterer Alt-Drache unter ihnen gefallen. Doch diese Erlösung hatte gleichzeitig eine schattige Seite … Für Knut Weißbär war nun endlich der Moment gekommen, auf den er so viele Jahre hatte warten müssen – er konnte aus dem belastenden Schandfleck einen Gewinn erzielen, indem er Kadlin mit Sigfast verheiratete! Zurück in Hoelbrak wählte Besagte nicht den Weg zur geheimen Hintertür … zum ersten Mal in ihrem Leben schritt sie durch das riesengroße Eingangsportal aus Eichenholz und stieg die Treppe bis ins oberste Stockwerk der Großen Halle hinauf. Die Norn hatten keine Wachposten, trotzdem zögerte Kadlin für einen winzigen Moment – bis ihr Blick auf die Tätowierungen auf ihren Armen fiel. Die weißen, verschnörkelten Linien hatte sie sich nach Ric Bärenklaue´s Aufbruch stechen lassen. Mit einem kräftigen Stoß stieg sie die Tür zum Speicher auf. In der ersten Sekunde wurde Knut sehr blass, dann rot vor Zorn.

„Wie kannst du es wagen hierher zu kommen?! Hinaus! Sofort!“, brüllte er.

Eine nie gekannte Selbstsicherheit überkam Kadlin, als sie antwortete: „Nein, Vater. Ich werde nicht eher gehen, bis du mir zugehört hast.“

„Ich habe eigentlich gedacht, du hättest die Spielregeln verstanden …“, knurrte der alte Norn sichtlich unzufrieden, „Also, was willst du?“

Die Rothaarige holte tief Luft und erklärte ruhig: „Ich weigere mich Sigfast´s Frau zu werden. Es gibt jemanden, den ich liebe … und der mich liebt. Du willst, dass ich heirate, damit ich dir nicht mehr zur Last falle, nicht wahr, Vater? Gut, dein Wunsch soll mir recht sein … Der Name meines Verlobten lautet Ric Bärenklaue.“

„Soll das ein Scherz sein? Wieso sollte ein angesehener Krieger wie er, eine Bastard wie dich zur Frau haben wollen?“, machte sich Knut über sie lustig.

In genau diesem Augenblick öffnete sich die Tür und ein weiterer Besucher trat ein – es war tatsächlich Ric Bärenklaue! Kadlin stiegen die Tränen in die Augen. Wie viele Tage und Nächte hatte sie um sein Leben gebangt, war beinahe daran verzweifelt? Am liebsten hätte sie sich sofort in seine Arme geworfen, aber etwas hielt sie zurück.

Der »Schrecken Jormag´s«, wie ihn die Norn in ihren Erzählungen nannten, verneigte sein Haupt kurz vor Knut und sagte: „Verzeih´ mein ungebetenes Eindringen. Ich möchte dir von dem Erfolg meiner Jagd als Mitglied von Team Shiko berichten … und in der Hoffnung meine Taten genügen, dich um die Hand deiner Tochter bitten.“

Knut starrte den Schwarzhaarigen fassungslos an. Dieser Junge war zu einer bedrohlichen Gefahr geworden … nicht nur durch seine Ausbildung bei Eir Stegalkin war er in aller Munde, warum nur war er nicht wie die anderen Wagemutigen bei dem Versuch gegen Jormag anzutreten ums Leben gekommen? Sollte er jemals nach der Macht der Großen Halle greifen, hätte Skarti keine Chance …

„Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, junger Freund – Kadlin ist bereits versprochen.“, redete er sich hastig heraus.

Ein schiefes Grinsen legte sich auf Ric Bärenklaue´s Gesicht, während er entgegnete: „Um es noch einmal deutlicher zu sagen … Kadlin´s Unschuld gehört mir bereits und ich bin gern bereit, um sie zu kämpfen, wenn du es wünschst!“

Der Herrscher der Großen Halle bedachte seine Tochter mit einem abfälligen Blick. Genau wie ihre Mutter besaß sie keinerlei Ehre und Anstand! Vielleicht sollte er besser froh sein, sie vollends los zu sein … schließlich würde sie so aus seinem Stammbaum verschwinden.

„Du hast gewonnen … unter einer Bedingung.“, antwortete Knut entschieden, „Schwöre mir bei den Geistern der Wildnis, dass ich deine und ihre Visage nie wieder zu Gesicht bekomme!“

Erschrocken packte Kadlin Ric Bärenklaue´s Arm, um ihn davon abzuhalten, sich auf den Handel einzulassen – wenn man es überhaupt so bezeichnen konnte.

„Wenn das der Preis ist, den du für die Frau, die ich liebe, forderst … Trotzdem kannst du mich nicht gänzlich aus Hoelbrak vertreiben – dafür bleiben wir der Großen Halle nach Möglichkeit fern!“

Knut spuckte aus, bevor er nickte. Ric Bärenklaue griff nach Kadlin´s Hand und führte sie hinaus – weg von diesem Mann, der sie so sehr hasste. Hinein in eine glückliche Zukunft an seiner Seite …
 

Manchmal kommt einem das Leben wie ein Fluch vor … Es hat keinen Sinn, dreht sich nur im Kreis – von einer Qual in das nächste Leiden. Und gleichzeitig kann man nicht loslassen … Wir werden nicht gefragt, ob wir auf die Welt kommen wollen, doch für jeden hält das Leben etwas bereit … eine Aufgabe, eine Begegnung. So stellen wir irgendwann fest, dass das Leben doch auf irgendeine Art schön ist und wir froh sind am Leben zu sein!

Für Kadlin Knutsdottir war das Leben eine Bürde – und sie wusste nicht einmal, warum. Wie muss das sein, wenn ein Vater sein Kind so abgrundtief hassen kann? Leiden im Endeffekt nicht beide darunter? Manchmal braucht es mehr als nur Mut … Freundlichkeit, Mitgefühl … denn Liebe entspringt nicht nur einer einzigen Empfindung.

Erzählung 09: Das Schicksal einer Charr

Bedeutende Vorfahren

Als Nachfahre des legendären Brandor Grimmflamm und seiner Enkelin Kalla Flammenklinge lastete ein gewisser Erwartungswert auf den Schultern von Vallus Grimmähne. In der Blut-Legion erwies er sich als begabter Gladiator – was er nicht zuletzt seinem Bruder, Kampfgefährten und Truppmitglied Sesric Grimmauge zu verdanken hatte. Beide gehörten zu der Kategorie Charr, welche die Flammen-Schamanen verabscheuten und die unaufhörlichen Auseinandersetzungen mit den Menschen für verschwendete Leben hielten. So kam es, dass Vallus Grimmmähne seiner Tochter einen ganz besonderen, sehr ungewöhnlichen Namen – zumindest aus Sicht seines Volkes – gab … Gwen, benannt nach einer Heldin der Menschen, die als Kind Gefangene der Charr gewesen war und mit ihrem Mann Keiran Thackeray die Leitung der Ebon-Vorhut übernommen hatte, als König Adelberg sie nach Ascalon zurückbeorderte. Wie üblich überließ er sie zur Erziehung jenem Fahrar, in dem auch er und sein Bruder ausgebildet worden waren. Dort sollte aus Gwen und den anderen Jungen eine eingeschworene Kriegsschar werden. Doch stattdessen erwarteten Gwen Jahre voller Spott – denn ihr Vater verließ seinen Trupp, macht sich selbst zu einem ausgestoßenen Gladium! Nur wenige hielten in der Gruppen von gut dreißig jungen Welpen zu ihr – Maverick, Euryale, Winzling, Reeva und vor allem Klauensporn. Den kräftig gebauten Charr mit dem leuchtend orangebraunen Fell, der einem furchterregenden Löwen ähnelte. Ihn hatte Gwen vom ersten Tag an gemocht …
 

Valus und Sesric hatten sich am Fuß der Treppe von ihr verabschiedet. Von ihrer Mutter wusste sie nicht mehr, als dass sie einen Tag nach dem Wurf verschwunden war. Aber selbst wenn sie das nicht getan hätte – die Ausbildung im Fahrar war unumgänglich … Kein Charr bildete seine Kinder selbst aus. Gwen stieg die erste Stufe hinauf, dann die nächste, immer weiter. Sie wollte eine ebenso anerkannte Soldatin werden, wie es ihr Vater war; jemand, auf den er und ihre Vorfahren stolz sein konnte. Deshalb musste sie jetzt mutig …

„Was ist denn das?“, fragte einer der Welpen, der sie zuerst gesehen hatte, „Ein verängstigtes Kätzchen?“

Sie stand da, eine Hand weiterhin an das Geländer geklammert, den Blick zum Boden gerichtet, vollkommen planlos. Und ja verdammt, die Trennung von ihrer Familie setzte ihr zu!

Der Junge wollte auf sie zugehen, da packte ihn ein anderer und knurrte: „Lass´ sie gefälligst in Ruhe! Wir waren alle mal neu hier – oder hast du schon vergessen, wie du dir in der ersten Nacht die Augen ausgeheult hast?“

Er riss sich von dem jungen Charr los und zog sich zum Rest der Gruppe zurück.

Ihr Retter dagegen hielt Gwen die Pfote entgegen und sagte: „Willkommen, Neuling. Mich nennt man Klauensporn.“

„Gwen.“, antwortete sie und räusperte sich verlegen.
 

Von diesem Tag an war Klauensporn nicht nur ihr bester Freund gewesen, sondern wollte auch unbedingt ihren Beschützer spielen. Und Gwen begriff, warum das System ihres Volkes so gut funktionierte – ihr Trupp bedeutete ihr alles! Jeder von ihnen war ein Teil ihrer Familie, den sie nicht mehr missen wollte. Blieb nur noch die Frage zu klären, wer den Trupp anführen sollte …

„Ich bin der Stärkste von uns!“, prahlte Maverick, der bereits im Fahrar als exzellenter Krieger galt.

Klauensporn hielt natürlich sofort dagegen: „Als ob ich mir von dir etwas vorschreiben lassen würde – dein Ego ist doch größer als die ganze Schwarze Zitadelle!“

Euryale schüttelte den Kopf: „Wir können keinen von euch beiden Machos gebrauchen.“

„Da muss ich ihr zustimmen.“, meinte Reeva, während sie unablässig mit ihrem Schraubenschlüssel spielte, „Es sollte jemand sein, der uns alle versteht … Versteht das nicht falsch, Leute, ich würde jedem von euch mein Leben blind anvertrauen, aber was strategisches Denken und Taktik angeht, nun ja, sagen wir, da liegen wir nicht alle auf einer Höhe.“

Schließlich machte Winzling, ein kleinwüchsiger Wächter, den entscheidenden Vorschlag, obwohl er für gewöhnlich nicht der hellste zu sein schien: „Ich bin für Gwen.“

„Ich?!“, stieß die Nekromantin überrascht aus, „A-Aber was werden die anderen davon halten?“

Der Waldläufer legte ihr die Hand um die Schulter und lachte: „Was soll uns das schon interessieren? Der Kleine hat ja recht!“

Die weißen Flecken in ihrem Gesicht färbte sich leicht rot, als sie erwiderte: „Danke, Klaue … Ich schwöre euch, ihr könnt euch auf mich verlassen!“

„Also dann, Chef, welcher Legion sollen wir uns morgen anschließen?“, wollte Maverick wissen.

Gwen Grimmpfote schwieg einen Augenblick. Sie musste die Talente aller Mitglieder genau abwiegen, bevor sie eine Entscheidung traf … Reeva wäre natürlich prädestiniert für die Eisen-Legion, aber leider war sie auch die einige. Blut würde Maverick am ehesten zusagen. Trotzdem gab es eine Legion, die keinen von ihnen benachteiligte – Asche.
 

Als sechsköpfiger Charrtrupp zählten sie zu einer Minderheit, die auf kleine Gruppengröße setzten – doch in der Asche-Legion kam ihnen es ihnen bei Spionage-Aufträge oder Erkundungstouren zugute. Die Erfolgsquote der äschernen Grimm-Kriegsschar lag nach einem Jahr bei vollen einhundert Prozent. Grund genug für Imperator Malice Schwertschatten sie auf Empfehlung von Tribun Torga Wüstengrab trotz ihres jungen Alters mit einer Klasse S-Mission zu betrauen. Gwen Grimmpfote wurde zu ihr in den Imperator-Kern eingeladen – Klauensporn begleitete sie als Sekundant.

„Antreten, Legionär!“, begrüßte sie imposant wirkende Charr, „Ich denke, du bist über die jüngsten Ereignisse im Bilde, was die Verhandlungen zwischen uns und der Königin der Menschen betreffen. Viele ausgezeichnete Soldaten haben die Hoch-Legionen verlassen … und sich der Flammen-Legion angeschlossen, weil sie einen möglichen … Frieden mit den Menschen nicht akzeptieren wollen."

Gwen Grimmpfote senkte den Blick zu Boden. Ihr war aufgefallen, dass wenigen Soldaten durch die Gebiete patrouillierten.

„In einer Woche trifft sich ein Vertreter von Smodur mit einem krytanischen Minister bei der Gipfelspitze, Nahe Ebonfalke.“, fuhr die Imperator fort, „Ich gehe stark davon aus, dass dies kein friedliches Zusammentreffen wird – nicht solange der Aufrührer der Abtrünnigen am Leben ist. Die Mission hat allerhöchste Wichtigkeit! Der Friedensvertrag wird über unser aller Zukunft entscheiden! Ich habe daher sehr gründlich darüber nachgedacht, wen ich damit betrauen könnte … und meine Wahl ist auf dich und deinen Trupp gefallen, Gwen Grimmpfote.“

Ihre leuchtend grünen Augen weiteten sich, Klauensporn sog hörbar die Luft ein.

„Ich würde dir allerdings noch gern einen weiteren Krieger zur Unterstützung mitgeben … Aufgrund der gravierenden Bedrohung durch die Drachen wollen wir nicht nur mit den Menschen Frieden schließen … Es kam auch zu einem Waffenstillstand mit den Norn – und als sichtbares Zeichen einer ernsthaften Zusammenarbeit stellen sie uns einen ihrer Kämpfer zur Verfügung.“, erklärte sie mit undefinierbarem Unterton.

Diese Nachricht überraschte Gwen Grimmpfote. Ihr Volk galt für gewöhnlich als noch kriegerischer als die Norn. Und dann gleich zwei Feinde weniger? Nein … so ganz stimmte das nicht – es gab nur gefährlichere Feinde. Die Alt-Drachen waren das grauenhafteste, was Tyria jemals gesehen hatte!

„Nimmst du den Auftrag an, Legionär?“, fragte Malice Schwertschatten ernst.

Die Charr salutierte mit stolz geschwellter Brust und antwortete: „Ja, Sir! Jawohl, Sir! Wir werden die Verräter zur Strecke bringen und die Vertragsverhandlungen schützen!“

„Das ist die richtige Einstellung! Wirklich, Imperator, sehr interessant Euer Kätzchen.“, polterte eine laute, männliche Stimme in den Raum.

Klauensporn fuhr sofort mit ausgefahrenen Krallen herum, während Gwen Grimmpfote ihn nur ruhig musterte.

„Mein Name ist Ric Bärenklaue! Ich freue mich schon darauf mit euch ein paar Gegner auseinanderzunehmen!“, meinte der Norn mit einem breiten Grinsen.

Gwen Grimmpfote schlug ein zum Kriegergruß und erwiderte: „Ebenso, Kamerad.“
 

Das gut ausgelegte Portalnetz kam dem Kriegstrupp zugute – von der Schwarzen Zitadelle aus, ging es über Löwenstein nach Götterfels und von dort gelangten sie nach Ebenfalke. In der Hauptstadt der Menschen waren einige vor ihnen zurückgeschreckt, hatten mit großen Augen jeden ihrer Schritte verfolgt. Die Festung der Ebon-Vorhut war dagegen ein ganz anderes Kaliber … Bereits am Portal wurden sie von einer zwanzigköpfigen Einheit in Empfang genommen; jeder von ihnen schwer bewaffnet. Genauso wie die Wachen auf den Wällen und Wehrtürmen. Klauensporn hatte insbesondere Maverick eingeschärft hier kein falsches Wort zu verlieren, wenn er ihnen keinen Kugel- und Pfeilhagel einbringen wollte. Gwen Grimmpfote ging voraus. Ihr Blick wanderte unablässig von einem Soldaten zum nächsten. Hass stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie kannten ihr Volk eben nur von den unablässigen Angriffen und als Mörder ihrer Freunde …

„Ich glaube nicht, dass eine einfache Vertragsunterzeichnung diesen Zorn besänftigen kann … Ihre Herzen brennen vor Wut.“, flüsterte Ric Bärenklaue so leise, dass nur die Nekromantin ihn hören konnte.

Und sie musste ihm recht geben. Es gab nur einen Grund, warum sie ihre Anwesenheit duldeten – weil ihre Königin es befohlen hatte. Der Kommandant von Ebonfalke, Wade Samuelsson war zwar ein großer Befürworter der Friedensverhandlung, aber ob sein Wort genügt hätte? Es hatte ja nicht einmal das Wort der Charr-Imperatoren genügt … und für sie war die Legion, der Trupp wichtiger als das eigene Leben. Wenigstens hatte die Eben-Vorhut ihnen verraten, wo das Lager der Abtrünnigen lag, so konnten sich die Sucherei sparen und den Feind direkt angreifen. Maverick und Ric Bärenklaue wetteiferten darum, wer mehr Gegner platt machte – Reeva, Euryale und Winzling sicherten derweil das Gelände. Gwen Grimmpfote und Klauensporn kümmerten sich den Befehlshaber. Wobei »kümmern« hierbei bedeutete, dass sie von ihm Information bezüglich der Abtrünnigen wollten. Später konnte Gwen Grimmpfote nicht mehr sagen, was diesem Feigling von Charr mehr Angst eingejagt hatte – ihre wütenden Truppmitglieder oder die untoten Diener.

„Tötet mich nicht! Ich sage euch alles, was ihr wissen wollt!“, flehte er jämmerlich, „Unser Anführer heißt Ajax Ambossbrand. Er hält sich in einem Höhlensystem westlich von hier auf – zusammen mit seiner Streitmacht. Sie wollen den krytanischen Minister auf dem Weg zur Gipfelspitze überfallen und die Schuld der Eisen-Legion zuschreiben.“

Die Entscheidung fiel der Nekromantin nicht leicht, doch sie ließ ihn laufen.

„Du weißt, dass er seinen Boss warnen wird, nicht wahr, Kätzchen?“, fragte der Norn-Krieger mit hochgezogener Augenbraue.

Sie seufzte, bevor sie entgegnete: „Ich weiß. Aber er hat doch schon seine Kameraden verloren … das ist Leid genug. Und sollte er sich uns beim Überfall in den Weg stellen, werde ich ihn nicht noch einmal begnadigen!“
 

Das Versteck zu finden, war für die feinen Nasen der Charr kein Problem – Schießpulver und ein unverkennbarer Geruch, der allen Flammen-Anhängern anhaftete, führte sie auf direktem Weg dorthin.

„Wenn wir da einfach reinmarschieren, sind wir sofort tot.“, bemerkte die Ingenieurin teils erstaunt, teils beeindruckt, „Es ist alles vermint und wahrscheinlich haben sie noch weitere Fallen im Innern.“

Gwen Grimmpfote konzentrierte sich auf die nekrotische Energie und zischte genervt: „Es wird ein Weilchen dauern, bis ich das Gebiet gesäubert habe.“

Um sie herum erschienen plötzlich vier Knochenschrecks, zwei Knochenteufel und ein Fleischgolem. Einen nach dem anderen schickte sie den Durchgang entlang. Ein Feuerwerk an Explosionen ließ das Gestein erbeben. Rasch beschwor sie neue Diener herauf und so arbeiteten sie sich immer weiter, bis der Weg stetig breiter und die Hindernissen weniger wurden.

„Wir nähern uns ihrem Zentrum … Ich spüre eine große Anzahl Auren.“, kam es von der Elementarmagierin.

Nachdem die Nekromantin ihr Kontingent an kontrollierbaren Kreaturen wieder aufgefüllt hatte, schärfte sie ihnen ein: „Vergesst nicht, wir sind eine Einheit!“

Der Charr-Krieger lachte amüsiert: „Du tust grad so, als wären wir erst seit einer Woche im Fahrar, Chef!“

Alle lachten über diesen spitzen Kommentar, bevor der tödliche Ernst wieder in ihre Züge trat und sie ihre Waffen zückten. Die Hitze im Innern der Höhle war beinahe unerträglich – wenn man nicht zur Flammen-Legion gehörte. Das Gestein spie einen unablässigen Strom an Lava aus. Überall klirrte das Metall gezogener Schwerter und Befehle wurden gebellt. Sofort marschierte die erste Welle an Gegnern auf sie zu. Ric Bärenklue richtete mit seinen beiden Schwertern ein wahres Massaker an – es blieb nur ein Haufen zerstückelte Leichen von ihnen zurück. Euryale kümmerte sich um das Entzünden der Überreste; seit Zhaitan´s Aufstieg war das zu einer unausgesprochene Regel geworden.

Plötzlich fächerten sich die Feinde auf, sodass so etwas wie ein Durchgang entstand, und sie gaben den Blick auf einen hochgewachsenen Charr mit braunem Fell frei. Ein dunkles Funkeln lag in seinen Augen.

„Du bist Ajax Ambossbrand, nicht wahr?“, sprach Gwen Grimmpfote ihn an, „Ich hörte, du willst die kleine Party an der Gipfelspitze platzen lassen.“

Ein wütendes Knurren verließ seine Kehle: „Aber vorher werde ich dich und deine kleine Kampftruppe auseinandernehmen, Weib!“

„Das heißt, du stellst dich mir wirklich zum Kampf? Ich hatte schon befürchtet, du würdest deinen Schwanz genauso einziehen wie deine Kumpane, die keinen Mumm haben gegen ein Weibchen anzutreten!“, entgegnete die Nekromantin bissig, dann wandte sie sich an den Norn, „Leih´ mir mal eine Waffen, Kamerad.“

Er warf ihr die Axt eines Gefallenenzu, die sie geschickt auffing und drohend in Ajax Richtung hielt. Er trat ihr mit einem Streitkolben entgegen, der sich gut dafür eignete, scharfe Klingen abzufangen. Dadurch kam Gwen Grimmpfote nicht nah genug an ihn heran, um einen verwundeten Hieb zu landen. Sie war so auf das Geschehen konzentriert, dass sie nicht mehr auf die übrigen Mitglieder der Flammen-Legion achtete, beziehungsweise genug mit Ajax zu tun hatte. Auf einem kleinen Felsvorsprung lauerte ein Bogenschütze und zielte genau auf sie. Der Pfeil surrte, sauste durch die heiße Luft – doch er traf nicht sein ausgewähltes Ziel. Die Legionär wusste im ersten Moment nicht, was geschehen war; jemand hatte sie zur Seite gestoßen und sie war hart auf dem Boden gelandet. Schockiert starrte sie auf jene Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte – dort kauerte Klauensporn. Ein Pfeil lag neben ihm auf dem Boden und er ächzte vor Schmerz. Die Spitze hatte sein linkes Auge gestreift. Sein Anblick löste eine unglaubliche Wut in Gwen Grimmpfote aus. Die Axt fiel scheppernd zu Boden. Eine schattige Wolke hüllte die Nekromantin ein, verlieh ihr ein furchteinflößendes Äußeres.

„Ich bin der leibhaftige Tod!“, schrie Gwen Grimmpfote, die in der Spektralform des Todesschleiers auf Ajax Ambossbrand zustürmte.

Mit giftgrünen Klauen zerfetzte sie seine Brust. Unablässig schlug sie auf ihn ein, getrieben von Zorn und Hass. Als sein Herz aufhörte zu schlagen, ließ sie den übrig gebliebenen Fleischklumpen fallen und fuhr die Reihen seiner Anhänger. Nicht einer überlebte ihren Angriff.

„Gwen … hör´ auf! Es ist genug …“, kam es schwach von Klauensporn, der seine Tatze nach ihr ausstreckte.

Seine Stimme drang in ihren Kopf ein, rüttelte sie wach. Der grün-schwarze Nebel verzog sich, Gwen Grimmpfote brach in die Knie und stützte sich schwer auf den Pranken auf. Keuchender Atem und schweißnasses Fell zeugten von ihrer Erschöpfung. Dann verlor sie das Bewusstsein.
 

Beinahe drei Tage lang schwebte Gwen Grimmpfote zwischen Leben und Tod. Zu nah war sie der Schwelle zu den Nebeln gekommen. Aber auch Klauensporn erholte sich nur langsam – zwar war der Pfeil nicht eingedrungen, doch sein Augenlicht war verloren. Das hinderte ihn allerdings genauso wenig wie den Rest ihres Trupps anm Lager ihrer Legionär zu wachen. Aber es gab noch jemanden, der ungeduldig auf ihre Genesung wartete – Tribun Rytlock Brimstone, eine echte Legende ihres Volkes. Und so kam es, dass sich Gwen Grimmpfote am Morgen des vierten Tages gleich in seinem Quartier meldete.

„Was hältst du von den Aktivitäten der Abtrünnigen?“, wollte die eindrucksvolle Gestalt Rytlock´s als erstes wissen.

Die Nekromantin dachte einen Moment über die Frage nach, bevor sie erklärte: „Sie sind … beunruhigend. Nicht nur dass die Anhänger der Flammen-Legion stetig zahlreicher werden und den greifbaren Frieden mit den Menschen gefährden-“

„Glaubst du denn ernsthaft an diesen Vertrag?“, unterbrach er sie barsch.

So langsam kam sich Gwen Grimmpfote wie in einem Verhör vor, antwortete aber dennoch gewissenhaft: „Nicht an einen lächerlichen Fetzen Papier … sondern an die Idee, die dahintersteckt. Es gibt weit schlimmere Feinde, als Menschen, Geister oder selbst die Verräter aus unseren eigenen Reihen. Versteh´ das nicht falsch, Tribun … Ich höre die Klagen der Toten und trauere um jedes unnötig beendete Leben. Deshalb kann ich einfach nicht verstehen, warum sich jemand gegen ein vereintes Tyria stellt.“

Der Krieger schwieg. Jeder Charr und im Grunde auch jedes andere Volk wusste, was die Klinge des Schicksal, dessen Teil er gewesen war, getan hatte – und beinahe geleistet hätte.

„Viele verschließen den Blick vor den Problemen der Welt und sehen nur sich selbst … Du nicht. Du hast die Bedrohung erkannt … genauso wie ich einst.“, kam es leise von Brimstone und er reichte ihr eine Schriftrolle, welche das Siegel der Asche-Legion trug.

Der Tribun hatte Antrag gestellt, dass Gwen Grimmpfote nicht mehr unter Torga Wüstengrab dienen sollte – stattdessen wollte er ihr Befehlshaber sein! Und Malice Schwertschatten unterstützte diesen Wunsch … damit war es im Grunde bereits beschlossene Sache, ihre Antwort nur noch reine Formalität.

So hätte es zumindest sein sollen, denn Gwen Grimmpfote erwiderte ernst: „Verzeih´ mir, aber ich kann dem momentan nicht zustimmen. Wenn du meine Treue für dich willst, musst du meinen ganzen Trupp verpflichten – ohne sie bin ich nichts!“

Seine roten Augen funkelten bedrohlich, dann brach er in schallendes Gelächter aus: „Du hast wirklich Mumm, Legionär! Das ist gut, sehr gut! Und einer der Gründe, warum ich dich überhaupt erst abgeworben habe.“

Gwen Grimmpfote salutierte ergeben und schwor sich selbst, sein Vertrauen in sie nie zu enttäuschen.
 

Keiner der beiden hätte sich in diesem Augenblick träumen lassen, dass Gwen Grimmpfote und ihr neu gewonnener Freund Ric Bärenklaue schneller als gedacht Mitglieder eines Teams werden würden, das es mit den fünf Alt-Drachen aufnehmen konnte - dank Shikon Feenseele!

Erzählung 10: Das Schicksal einer Sylvari

Vom Träumen und Erwachen

Sie spürte die Wärme des Mutterbaums, war mit ihr verbunden, lebte durch sie. Das Wissen der Sylvari strömte durch ihren Körper; die Geschichte Tyria´s, die Entstehung ihres Volkes und die Bedrohung, welche die Welt seit über zweihundert Jahren in ihrem eisernen Griff hält – die Alt-Drachen. Und schließlich senkte sich die letzte Phase des Traums der Träume über sie, welche ihre eigene Persönlichkeit erwachen ließ. Sie stand auf einem Hügel. Über ihr schimmerte der Vollmond als helle Scheibe, Sterne tanzten um ihn herum. Plötzlich schwappte ein gewaltiger Schatten über sie hinweg und zeigte die Silhouette eines Drachens … Fremde Schreie vermischten sich mit ihrer angsterfüllten Stimme. Da griff jemand nach ihrer Hand. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, aber er war nicht allein – insgesamt drei hochgewachsene Gestalten und ein kleineres Wesen, das sich neben ihr zusammengekauerte, gaben ihr neue Hoffnung.

„Er wird Eure Wylde Jagd sein, wenn die Zeit für Euch gekommen ist.“, sprach die Stimme der Baummutter zu ihr, „Nun, erwachet … Tyria erwartet Euch!“

Die Blüte der blauen Frucht, in der sie geruht hatte, öffnete sich und gebar sie als neuen Setzling in die Welt hinein. Freude und Geborgenheit empfingen sie in der Omphalos-Kammer, dem heiligsten Ort des Hains – hier lebte die Personifikation des Blassen Baums.

„Willkommen, meine geliebte Tochter …“, begrüßte sie der Avatar, „Sprecht, wie ist Euer Name?“

Die Sylvari formte die Antwort in ihren Gedanken, dann fiel ihr ein, dass sie die Worte hier laut aussprechen musste, um verstanden zu werden: „Ull … Ull Rosenknospe.“

Ull Rosenknospe richtete ihren Blick zum Himmel. Ein ebenso schöner Vollmond wie in ihrem Traum erhellte den Himmel, begleitet von unzähligen kleinen Lichtpunkten. Der Zyklus, der Nacht genannt wurde … Sie konnte ihre Freude über diesen einzigartigen Anblick kaum im Zaum halten und so schaffte eine einzige Träne ihrer Selbstbeherrschung zu entfliehen. Kaum dass sie den Boden berührte, wuchs eine Rose empor und offenbarte einen Waldhund-Welpen.

„So etwas habe ich selten gesehen.“, meinte die Baummutter mit einem gütigen Lächeln, „Das Schicksal hat euch zusammengeführt … Ich stelle mich dem nicht in den Weg. Nehmt Tear mit auf Eure Reise und passt gut aufeinander auf!“
 

Ull Rosenknospe folgte ihrer Erinnerung aus dem Traum zu einer kreisrunden Lichtung im Caledon-Wald, der Zufluchtsort für neu erwachte Sylvari.

Malomedies, die Koryphäe der Nacht und Mitglied des Weisen Rates der zwölf Erstgeborenen, sprach sie an: „Kommt ruhig näher, Setzling. Die Sterne leuchten im Ereignis Eurer Geburt heute besonders hell ... Lasst Euch von ihnen inspirieren, wenn ihr den Weg Eurer Wylden Jagd wählt.“

Er breitete die Arme aus und wies auf acht Sockel, auf denen verschiedene Gegenstände lagen … ein Schwert, ein Bogen, ein Dolch, ein Ankh, eine Miene, ein Knochen, eine Maske und ein Edelstein – ein Symbol für jede Klasse. Ull Rosenknospe streckte die Hand in ihre Richtung aus, augenblicklich begann der Bogen zu glühen. Damit war eine neue Waldläuferin aus dem Volk der Sylvari geboren. Tear, die bislang auf der Schulter ihrer Herrin geschlafen hatte, regte sich und quiekte vergnügt. Ihr schien die Entscheidung auch zu gefallen.

„Ich habe Euch erwartet …“, sagte eine klare Stimme, die ihr vertraut erschien.

Eine schlanke Gestalt löste sich aus den Schatten. Man konnte eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden Sylvari erkennen. Und Ull Rosenknospe wusste aus den Erinnerungen des Traums auch genau, um wen es sich handelte – Caithe, eine der Erstgeborenen und Gründerin der Gilde »die Klinge des Schicksals«.

„Der Blasse Baum prophezeite mir, dass ich Euch irgendwann begegnen würde. Denn Ihr habt dieselbe Wylde Jagd erhalten, wie ich.“, erklärte die Diebin ehrfürchtig.

Von da an war das Schicksal von Ull Rosenknospe und Caithe miteinander verbunden – sie wurden zu wahren Schwestern im Traum.
 

Caithe brachte Ull Rosenknospe – und natürlich auch Tear – einige Wochen später in der Omphlos-Kammer, weil der Blasse Baum nach ihnen gerufen hatte. Doch dort waren sie nicht die einigen Besucher. Ein männlicher Sylvari mit moosgrünem Teint kniete bereits vor ihrem Avatar.

Die Waldläuferin erkannte ihn von hinten nicht, dafür aber ihre Schwester: „Trahearne! Ihr seid wieder im Hain …“

„Unsere Mutter hat nach mir gerufen …“, entgegnete er ernüchternd, „Und Ihr habt einen neuen Schützling? Es freut mich, dass Ihr wieder jemandem vertraut.“

Sie überging die Anspielung seine Anspielung und erklärte stattdessen: „Meine Schwester Ull … und ihre Gefährtin Tear.“

Trahearne´s Blick weitete sich. Es kam nur äußerst selten vor, dass derselbe Traum zwei oder mehr Sylvari geschenkt wurde. Selbst Ähnlichkeiten bei den Wylden Jagden waren schon besonders. Sein Blick wanderte zwischen den beiden Frauen hin und her.

Ull Rosenknospe verneigte sich respektvoll mit den Worten: „Es ist mir eine Ehre Euch kennenzulernen, Erstgeborener.“

Der Nekromant winkte ab. Er lebte weder im Hain, noch in dessen Nähe – darum galt er in seinem Volk als nicht sehr beliebt und hatte irgendwann angefangen sie ebenso zu meiden. Es war ihm unangenehm plötzlich wieder so höflich behandelt zu werden.

„Meine geliebten Kinder …“, sprach die Baummutter, während sie auf eine leuchtende Blume zu ihren Füßen zeigte, und löste damit die angespannte Situation, „Ich habe eine wichtige Aufgabe für Euch. Es geht um Riannoc … Er starb bei der Ausführung seiner Wylden Jagd, dem Kampf gegen einen mächtigen Lich. Caithe, Trahearne, Ihr erinnert euch sicher, dass ich damals eine Klinge aus meinen eigenen Dornen für ihn erschaffen habe. Doch seit seinem Tod ist es verschwunden … Ich bitte Euch, meine Kinder, zum Wohle ganz Tyria´s, bringt Caladbolg zurück!“

Zweifel lagen in Trahearn´s Stimme: „Aber wie sollen wir das Schwert finden?“

Ein Lächeln schlich sich auf Ull Rosenknospes Gesicht und sie sagte: „Caladbolg trägt die Energien von Riannoc und des Mutterbaums in sich … Das heißt, Tear wird es schaffen, es aufzuspüren!“

Sie gab ein kurzes Jaulen von sich, was von aufgeregtem Schwanzwedeln begleitet wurde. Dann ging sie zu der Blume, welche Riannoc´s Seele in sich barg, und schnüffelte daran. Es dauerte einige Minuten, bis sie anfing zu bellen. Die Waldläuferin nickte zufrieden und nahm ihren Jagdbogen von der Schulter.
 

Tear folgte der Spur Riannoc´s durch den Caledon-Wald, bis in den Leichenhof-Morast hinein; einem widerlichen Sumpf, der von Untoten nur so wimmelte. Traearne rief seine nekrotischen Diener, Caithe wurde zu einem tödlichen Schatten und Ull Rosenknospe brachte mit jedem Pfeil mindestens einen Tod. Nur die Waldhündin hielt sich aus dem Kampf raus; die Essenz hatte sie zu der Stelle geführt, an der Riannoc einst gefallen war – ein Blatt mit einem leuchtender Ornament markierte den Ort.

„Sie hat es wirklich gefunden …“, staunte Trahearne, nachdem alle Gegner aus dem Weg geräumt waren, „Nicht einmal die Baummutter wusste, wo seine Überreste liegen.“

Caithe streichelte Tear, während sie fragte: „Und Caladbolg?“

Sie schloss die Lider über ihren glänzend schwarzen Augen. Ull Rosenknospe tat es ihr nach, leitete ihre Energie durch das symbiotische Band in ihre Gefährtin, teilte deren Vision von einem Mann.

„Beim Blassen Baum!“, rief sie und brach in die Knie, „Ein Mensch – ein Mensch hat Caladbolg an sich genommen …“

Ihre Schwester stützte sie und antwortete finster: „Riannoc hatte einen menschlichen Knappen gewählt. Ich habe Gerüchte gehört, Waine würde bei Gladiatorenkämpfen nahe Löwenstein stets als Gewinner hervorgehen … Bislang dachte ich, er hätte einfach nur viel von Riannoc gelernt.“

„Dabei missbraucht er die einzige Waffe, die unsere Mutter jemals gefertigt hat!“, pflichtete der Nekromant ihr wütend bei.

Ull Rosenknospe verstärkte den Griff um ihren Bogen, als sie erklärte: „Wir werden ihn nicht davon kommenlassen! Ich habe einen Plan.“
 

„Schaffst du das auch?“, wollte sich Caithe vergewissern, „Das sind fast fünfhundert Meter.“

Die Waldläuferin grinste schief, bevor sie entgegnete: „Ich verfehle mein Ziel nicht! Und Tear wird das Signal geben, sobald das Ablenkungsmanöver funktioniert hat. Dann schlagen wir zu!“

Mit einem entschiedenen Nicken verschwand die Diebin. Im selben Moment betraten die beiden Krieger die Arena – einer von ihnen war Waine und er trug tatsächlich die gesuchte Waffe auf dem Rücken! Ull Rosenknospe legte sofort einen Pfeil an die Sehne, atmete tief ein und zielte.

Der Schiedsrichter verkündete die Namen der Kontrahenten, als auf einmal ein Tumult unter den Zuschauern losbrach – Geister, Phantome, Knochendiener und andere Ungetüme begannen unter ihnen zu wüten. Trahearne hatte sogar einen Fleischgolem beschworen. Die Menschen stürmten kreischend in alle Himmelsrichtungen davon und Tear´s Heulen hallte durch das Tal. Ull Rosenknospe ließ den Pfeil fliegen, der Waine´s Hinterkopf punktgenau durchbohrte. Caithe legte ihre Tarnung ab, nahm das Klinge des Blassen Baums an sich und zog sich genauso spurlos zurück, wie sie erschienen war.
 

„Wir haben Euren Auftrag ausgeführt, Mutterbaum.“, verkündete Trahearne und hielt Caladbolg stolz empor, „Aber ohne Ull und Tear hätten wir es nur schwerlich geschafft, wenn überhaupt.“

Der Avatar wirkte erheitert, als sie erwiderte: „Es kommt nicht oft vor, dass Ihr so voller Lob für andere seid, mein geliebter Sohn …“

Er räusperte sich verlegen und legte das Schwert zu ihren Füßen nieder.

„Sein Energielevel ist sehr niedrig. Es wird einige Tage dauern, bis Caladbolg seine wahre Stärke zurückerlangt hat. Doch wie ich Euch kenne, mein Sohn, wollt Ihr nicht im Hain Quartier beziehen, nicht wahr?“, meinte die Baummutter.

Verwirrt erwiderte der Nekromant daraufhin: „Wie meint Ihr das? Ich dachte, Ihr habt mich nur hierher bestellt, um die Klinge zurückzubringen.“

Ein glockenhelles Lachen erklang in der Omphalos-Kammer und sie erklärte voller Zuneigung: „Ich habe Möglichkeiten Eurer Zukunft gesehen. Eines ist sicher … Ihr könnt nicht länger nur studieren. Es wird Zeit für Euch die Feder wegzulegen und das Schwert zu ergreifen, um Eure Wylde Jagd zu erfüllen! Und dieses Schwert soll Caladbolg sein … Es wird Euch gute Dienste leisten und Euch in Orr beschützen.“
 

Ull Rosenknospe hatte beim Zugang des Caledon-Waldes auf den Erstgeborenen gewartet. Tear war vom Hunger getrieben bereits nach Hause gegangen.

„Verlasst Ihr uns jetzt wieder?“, sprach sie ihn an, „Caithe hat mir von Eurem Quest erzählt … Wisst Ihr, ich habe genau wie sie von einem Drachen geträumt und werde den Hain auch eines Tages verlassen müssen.“

Trahearne horchte auf – ihre Stimme klang so unglaublich traurig, dass er sie trösten wollte: „Ich bleibe noch einige Zeit. Deshalb … ich meine, hättet Ihr Lust morgen etwas mit mir zu unternehmen?“

Sofort hellte sich ihr Gesichtsausdruck auf und so kam es, dass der Erstgeborene sich ihr und Tear auf einer Tour durch den Caledon-Wald anschloss. Ull Rosenknospe setzte wieder ihre Schießkünste unter Beweis, zeigte Trahearne ihre Lieblingsorte und sie veranstalteten sogar ein kleines Wettschwimmen. Zum Abendessen gingen sie in Ull Rosenknospe´s Hütte, die auf einer kleinen Anhöhe nahe der Quetzal-Bucht stand. Anschließend legten sie sich auf das – für das Volk der Sylvari untypische – Flachdach, um den das Farbenspiel des Sonnenuntergangs zu beobachten.

Als die ersten Sternbilder aufblitzten, flüsterte die Waldläuferin: „Ich liebe all die nächtlichen Lichter …“

„Deshalb wollte ich den Tag mit Euch verbringen.“, erwiderte Trahearne, woraufhin sie ihn allerdings nur verständnislos anschaute, „Ich werde in ein Land reisen, in dem es keine Hoffnung gibt … Eine Welt, die Zhaitan frei nach seinem Willen geformt hat – dort regiert in jedem Winkel der Tod. Ihr dagegen sprüht vor Leben! Ich wollte die Welt so sehen, wie Ihr es tut … um daraus Inspiration und Kraft zu schöpfen.“

Ull Rosenknospe richtete ihren Blick wieder zum Firmament, während sie antwortete: „Dann hoffe ich, ich konnte Euch behilflich genug sein.“

„Oh ja …“, bestätigte er und nahm ihre Hand.
 

Die nächsten Tage flogen regelrecht an ihnen vorbei. Den größten Teil des Tages trainierten Ull Rosenknospe und Tear, während Trahearne Schriftstücke las, die er noch nicht kannte. Abends saßen sie zusammen, aßen gemeinsam und die Bogenschützin löcherte ihren Besucher mit Fragen über die Alt-Drachen.

Eines Morgens verließ die Waldläuferin die Hütte in Begleitung von Tear bereits vor Sonnenaufgang. Sie rannte nur durch den Wald, ohne ein Ziel vor Augen zu haben; sie wollte weder jagen, noch ging es ihr ums Training. Als ihre Beine so sehr schmerzten, dass sie einknickten, sah die Waldhündin sie mit schief gelegtem Kopf an.

„Ich weiß doch selbst nicht, wovor ich davonlaufe!“, begehrte Ull Rosenknospe auf, was jedoch ein vorwurfsvolles Bellen nach sich zog, „Du hast ja recht. Aber was soll ich denn tun?“

Tear machte einige Schritte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Sylvari seufzte ergeben und folgte ihr zurück in die Hütte. Dort erwartete sie allerdings ein Anblick, auf den sie absolut nicht vorbereitet war – Trahearne trug Caladbolg auf dem Rücken und eine lederne Tasche hing über seiner Schulter. Im ersten Moment wirkte er überrascht, dann melancholisch.

Ull Rosenknospe schluckte schwer, bevor sie zu sprechen begann: „Es ist soweit … Ihr geht nach Orr.“

„Ja. Und diesmal kehre ich erst zurück, wenn meine Wylde Jagd beendet ist.“, antwortete der Erstgeborene mit einer nie gekannten Entschlossenheit, „Ich habe mich so oft gefragt, warum ausgerechnet ich eine derart unlösbare Aufgabe erhalten habe … Seit ich Euch kenne, denke ich anders darüber. Der Mutterbaum hat uns ausgewählt, weil es nur für uns nicht unmöglich ist! Endlich habe ich Hoffnung – Hoffnung für Orr! Dafür danke ich Euch …“

Ein kurzes Schweigen legte sich über sie. Trahearne hatte recht … Sie musste denselben Mut aufbringen, wie er. Der Mutterbaum vertraute darauf, dass Ull Rosenknospe sich dem Alt-Drachen aus ihrem Traum stellte und bezwang.

Leise fragte sie: „Werde ich Euch wiedersehen, Trahearne?“

Die Worte des Blassen Baums klangen wieder in seinen Ohren, als sie ihm Caladbolg am Morgen gegeben hatte: „Ich sehe eine Veränderung in Euch, mein Sohn … Euer Herz hat sich gewandelt. Und mein Gefühl sagt mir, ihr kennt die Ursache dafür … Ist es nicht so?“

„Selbst wenn unsere Wege uns nicht mehr zueinander führen würden, mein Herz wird es tun.“, antwortete er lächelnd und griff nach der Hand, welche er in jener Nacht gehalten hatte, „Ull … Ihr seid meine Liebe!“

Die Berührung brach viel zu abrupt ab. Sie blinzelte heftig, wollte seinen Namen rufen – doch Trahearne war bereits verschwunden. Ull Rosenknospe bückte sich und drückte die Blätter, welche der kleine Wirbelsturm zurückgelassen hatte, fest an ihre Brust.
 

Kurz nach Trahearne´s Abreise ließ auch Ull Rosenknospe den Hain hinter sich – doch sie reiste nicht nur mit Tear, sondern wurde ein Teil von »Team Shiko«; welches angeführt von Shikon Feenseele gegen die Alt-Drachen zog. Im Verlauf dieser Reise erfüllte die junge Sylvari ihre Wylde Jagd, indem sie den Wasserdrachen Mélyten bezwang. Sie traf sogar wieder auf Trehearne, genau wie sie es sich gewünscht hatte, als dieser zur Quelle von Orr vordringen wollte. Mit dem Versprechen sich irgendwann und irgendwie gemeinsam im Hain zu leben, trennten sich ihre Wege allerdings erneut. Nachdem der übermächtige Zhaitan durch die Zusammenarbeit von Team Shiko, der Klinge des Schicksals und des vereinten Pakts gefallen war, erwachte jedoch der sechste Alt-Drache im Maguuma-Dschungel. Und als wäre diese Tatsache nicht schrecklich genug, mussten die Verbündeten sein Geheimnis ohne ihre im Kampf gefallene Anführerin lüften und in ihm den Wächter von Tyria erkennen. Während dieser Zeit wusste niemand etwas über den Verbleib der Helden … Waren sie gemeinsam mit Orr untergegangen? Hatten sie sich retten können? Aber warum waren sie dann verschwunden? All diese Fragen bereiteten vor allem dem heimgekehrten Trahearne Kummer. Jeden Tag ging er für viele Stunden in die Omphalos-Kammer, um zum Geist des Blassen Baums zu beten und wartete dort auf ein Zeichen von Ull Rosenknospe – doch weder konnte der Mutterbaum sie spüren noch kehrte ihre Seele als Blume in den Hain zurück.

„Ich wünschte so sehr, Ihr könntet sie in Eurer Vision sehen.“, flüsterte der Nekromant niedergeschlagen.

Ein sanftes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Avatars und sie erwiderte: „Der Traum zeigt mir zwar keine Bilder von Ull … aber ich kann sie dennoch sehen.“

„Wo-Wovon sprecht Ihr?“, wollte er verwirrt wissen.

Sein Blick folgte ihrem Fingerzeig zum Zugang des Heiligtums. Dort stand eine Sylvari mit dunkelblauem Blatthaar … Sie hatte zwei Bögen über den Schultern, der Köcher hing an ihrer Hüfte und sie war in Begleitung eines Waldhundes.

„Ull …“, hauchte der Erstgeborene vollkommen überwältigt.

Sofort kam Bewegung in die Waldläuferin. Sie sprang Trahearne entgegen und drückte sich fest an ihn. Er schloss die Arme um sie, atmete tief ihren Duft nach Wald und Rosen ein.

Ull Rosenknospe löste sich von Trahearne, um vor dem Mutterbaum niederzuknien, und erklärte: „Verehrte Baummutter, ich melde mich von meiner Wylden Jagd zurück …“

Der Blasse Baum hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten: „Warte, meine geliebte Tochter … Ich war sehr in Sorge um dich und erwarte deinen Bericht mit Spannung. Doch zuvor solltest du Trahearne von deinen Erlebnissen erzählen – die Ungewissheit über dein Schicksal hat ihm viel Schmerz bereitet.“

Dankbarkeit flutete durch Ull Rosenknospe´s Körper und sie verbeugte sich zum Abschied. Kaum hatte sie im Hinausgehen Trahearne´s Hand ergriffen, begann er zu rennen. Sie konnten es beide nicht erwarten, in der Hütte anzukommen, sich auf das Flachdach zu legen und sich gegenseitig von ihren Abenteuern zu berichten.
 

Liebe ist etwas Reines ... Liebe ist Sehsucht, Erfüllung und auch Schmerz. Liebe heißt zu warten und zu hoffen.

Trahearnes Leben war von dem Fluch, eine scheinbar unmögliche Aufgabe erfüllen zu müssen, belastet. Er mied die Gesellschaft seines Volkes, um nicht ihrem Mitleid ausgesetzt zu sein und niemanden an sich zu binden, den er hätte enttäuschen können. Erst die Begegnung mit Ull Rosenkospe weckte in ihm den Wunsch erfolgreich zu sein ... Denn sie ist seine Liebe!

Erzählung 11: Das Schicksal eines Widergängers

Leben oder sterben

Wer sich in Rata Sum nicht auskannte, mochte sich auf den zahlreichen Etagen, vielfältigen Gassen und schier unzähligen Laboratorien rettungslos verloren. Und über diese Stadt voller Wissensdurst regierte der sogenannte »Arkane Rat« – mehr oder weniger korrupt, mehr oder weniger ernsthaft. Dennoch galt es ihrem Wort zu folgen – selbst wenn sie eine merkwürdige Entscheidung trafen, wie etwa einen Asura aus dem Dynamik-Kolleg herauszunehmen und einer neuen Kru einer anderen Abteilung zuzuweisen. So machte sich Lucc, ein beinahe weißhäutiger Jungspund mit blutroten Augen auf dem Weg zur diesjährigen Gewinnerin des Snaff-Preises. Kaum hatte er sich bei ihr vorgestellt, musste er jedoch bereits an ihrem Titel »Denkerin« zweifeln …

„Wiederholt das!“, verlangte Ganda, seine neue Anführerin in geschockter Tonlage.

Eigentlich hätte Lucc nicht gedacht, dass er in Gegenwart einer als so talentiert geltenden Asura etwas würde zweimal erklären müssen – nichtsdestotrotz verlas er erneut das mitgebrachte Schriftstück vor, welches das Siegel des Arkanen Rates trug: „Hiermit wird Lucc – das bin ich – vom Kolleg der Dynamik zur Synergetik versetzt. Im Zuge dessen soll er der Kru von Ganda zugeteilt werden, um diese wieder aufzufüllen.“

„>Wieder aufzufüllen<?! Ich glaub´ das ja nicht!“, entgegnete die Ingenieurin wütend und schlug mit der Hand auf ihren Schreibtisch.

Der Ausbruch erweckte Mitleid in ihm und er hakte nach: „Ihr … habt einen der Euren verloren?“

Ganda nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie erwiderte: „Er wurde umgebracht, von der Inquestur! Erwartet also nicht, dass Ihr offenherzig von uns empfangen werdet – der Verlust ist noch zu frisch.“

Beim diesjährigen Snaff-Wettbewerb, welchen Zojja zu Ehren ihres verstorbenen Lehrmeisters ausrichtete, war es zu einem verhängnisvollen Zwischenfall gekommen – die Inquestur hatte nicht nur behauptet, die Pläne für Ganda´s Unendlichkeitsball entwickelt zu haben … sie waren in ihre Werkstatt eingebrochen, hatten ihren dort verbliebenen Kameraden getötet und die Blauphasen als ihre eigenen ausgegeben. Dieser Teil konnte zwar vereitelt werden, doch außer dem Ausschluss am Wettbewerb hatte diese verdammte Organisation keine Strafe erdulden müssen.

Die Inquenierin wollte bereits zurück an die Arbeit gehen, rief der Tüftler ihr hinterher: „Ihr sollt die Wahrheit über mich wissen. Dieser Wechsel … ist das Urteil, dem ich mich unterwerfen muss, weil … weil ich meine Kru im Stich gelassen habe. Wir unternahmen einen Ausfall in Primordus´ Reich … Als wir von einer Horde Zerstörer angegriffen wurden, bin ich geflohen. Keiner von meinen Leuten hat überlebt. Ihr seht … ich verdiene Eure Freundlichkeit ohnehin nicht.“

Ihre Augen blieben stumm zu Boden gerichtet. Einem Teil von ihm versetzte es einen Stich, dass er sie enttäuschen musste … Was auch immer sie getan hatte, seine Abwesenheit zeigte, sie hatte bei der obersten Instanz ebenfalls kein Stein im Brett. Er kannte die Umstände ja nicht, unter denen ihr Teammitglied gestorben war … Vielleicht musste auch Ganda sich mit Schulgefühlen, Scham, Verachtung herumschlagen …
 

Doch Lucc bekam keineswegs von den anderen die kalte Schulter gezeigt und erwies sich als das genaue Gegenteil einer Belastung – vor allem Ganda lernte seine klugen Einfälle und genaue Beobachtungsgabe zu schätzen. Allerdings bedeutete die gemeinsame Arbeit in einem Labor, sich gegenseitig selbst von den Seiten kennenzulernen, welche man lieber vergessen würde …

So meinte die Asura eines Abends, als sie mit Lucc allein war: „Ihr habt Alpträume.“

Er erstarrte – konnte er seine Schreie in der Nacht nicht leugnen – und antwortete beinahe zitternd: „Ja. Sie verfolgen mich, Nacht für Nacht.“

Auf einen Wink von ihr, folgte er ihr zu der gemütlichen Sitzecke. Während sie den elektronischen Kamin anstellte, nahm er bereits auf einem der Sessel Platz.

„Ich bin froh, dass Ihr in unser Team gekommen seid. Am Anfang dachte ich, die Kru wäre durch den Verlust >beschädigt< … und ich hatte keine Ahnung, wie ich uns hätte >reparieren< sollen. Aber wie es aussieht, war das eher Eure Aufgabe … und vielleicht können wir dasselbe für Euch tun, wenn Ihr es zulasst. Ist Eure Versetzung wirklich eine Strafe? Oder eher die Möglichkeit zum Neuanfang? Im Kolleg der Dynamik hat sich sicher bereits herumgesprochen, was mit Euch geschehen ist … Synergetik dagegen hatte keine Ahnung und auch ich weiß nur von dem Vorfall, weil Ihr es mir erzählt habt.“, sagte sie, was ihr einen perplexen Blick von ihm einbrachte, „Ich habe mir etwas überlegt … Was haltet Ihr davon, wenn wir für unsere gefallenen Kameraden Gedenktafeln in der Werkstatt aufhängen?“

Die beiden Schlauköpfe waren sich ähnlich … Zu Beginn hatte es sich für sie wie die Rüge des Arkanen Rats angefühlt, ein neueres Triezen trotz des gewonnen Snaff-Preises – inzwischen erschien es ihr eher, wie die kreisende Bestimmung der Ewigen Alchemie. Damit leben, was einem gegeben war … das Beste aus dem machen, was in einem steckte. Ihre ganze Kindheit schmeckte nach dem Spott über ihren Namen … aber in ihrem Volk zählte eigentlich nur Köpfchen. Zumindest wenn es jemanden gab, der einem eine Chance einräumte. Zinga hatte Potenzial in ihr gesehen, würde zu ihrer Lehrmeisterin und nur deshalb konnte Ganda überhaupt erst ihre eigene Kru gründen. Und damit trug sie die Verantwortung für alle Mitglieder.

Durch die Schmach hatte Lucc vergessen, verdrängen wollen – erfolglos. In diesem Labor jedoch galt er nicht länger als Geächteter und möglicherweise half ihm eine offene Mahnung, um damit fertig zu werden.

Dankbar antwortete der junge Tüftler: „Das ist eine gute Idee. Aber … unseren Eltern sollte ebenfalls gedacht werden.“

Ganda´s violette Augen weiteten sich, während sie fragte: „Woher wisst Ihr davon?“

Es ward Zeit für die Wahrheit, aber er schaffte es nicht, sie dabei anzusehen: „Ich hätte es Euch schon längst erzählen sollen … es tut mir leid, Ganda. Nicht der Arkane Rat hat die Kru ausgesucht, sondern ich. Weil ich Euch kennenlernen wollte … Euch, deren Eltern bei derselben Mission ums Leben kamen, wie meine.“

Im Gegensatz zu Ganda, die noch ein Säugling gewesen war, konnte sich Lucc an seine Eltern erinnern … sein ganzes Leben hatte sich plötzlich komplett auf den Kopf gestellt.

„Wie habt Ihr es geschafft … wie seid Ihr danach zurecht gekommen?“, wollte Ganda nach kurzem Schweigen wissen.

Eher hätte er mit Vorwürfen oder gar Wut gerechnet und er brauchte einen Moment, um sich wieder zu fangen, bevor er antwortete: „Mein Großvater Bronkk hat für mich gesorgt. Er starb, als ich meine Ausbildung begann – wahrscheinlich wäre er ziemlich von mir enttäuscht. Es war eine Dreistigkeit mich Euch ohne Eure Zustimmung derart zu nähern … Wahrscheinlich ist es besser, ich verlasse Rata Sum – endgültig.“

„Wollt Ihr wieder davonlaufen? Wir brauchen Euch – und Ihr braucht uns … Ist es nicht so?“, widersprach Ganda leise, aber bestimmt, „Ich bin die Leiterin dieser Kru, Ihr seid ein Mitglied davon … und ich habe Euch nicht gestattet, Euch aufzugeben – weder jetzt, noch inj Zukunft. Ist das klar?“

Lucc schaffte nur ein schwaches Nicken, während die Ingenieurin lächelte.
 

Lange sollte es bei dieser friedlichen Stimmung allerdings nicht bleiben – ein Großaufgebot der Zerstörer drang in das Gebiet der Asura ein und ein jeder rüstete seine Waffen. Geführt von Zojja übernahm die Kru Ganda´s den Kampf aus mittlerer Distanz. Im Gewimmel bemerkte zunächst niemand, wie sich ein Asura mit beinahe weißem Fell davonstahl. Einmal hatte er gekniffen, einmal hatte er seine Kameraden sterben lassen – sie nicht, selbst wenn er dafür gegen ihren Befehl verstoßen musste! Unbeherrscht, wie Zerstörer nun eben waren, war es ein leichtes für ihn ihre Spuren zurückzuverfolgen. Ein gewaltiger Riss, aus dem glühende Hitze strömte, spaltete einen Felsvorsprung nahe Rata Sum – Lucc wusste, die unterirdischen Tunnel würden genau ins Herz der Tiefen von Tyria führen. Versteckt zwischen den Blättern eines Farnbusches überprüfte der emsige Tüftler seine Ausstattung – Bomben, Mienen, Dynamit. Allerdings hatte er im Wegschleichen weniger mitnehmen können, als wahrscheinlich nötig wäre … Ganz würde er den Zug der Feinde wohl nicht stoppen können.

Innerlich wappnete er sich, als ihn plötzlich jemand am Kragen packte und eine bekannte, piepsige Stimme zischte: „Seid Ihr denn verrückt geworden?!“

Ganda hatte nach ihm gesucht und ihn gefunden. Er kam nicht umhin, zu staunen – seinetwegen hatte sie ihren Posten an Zojja´s Seite verlassen.

„Ich will nur verhindern, dass weitere von diesen Monstern an die Oberfläche gelangen können.“, antwortete er etwas verspätet, dafür ganz leise.

Per Fingerzeig bedeutete die Ingenieurin, dass ihm helfen wolle, und packte einen zweiten Satz Sprengladung aus ihrem Rucksack aus. Ob es ihm schon zuvor durch den Kopf gegangen war oder erst in diesem Moment, hätte Lucc später nicht mehr sagen können – kaum hatten sie außerhalb des Sichtradius der Zerstörer die kleinen Mienen sowie Bomben über dem Eingang angebracht, nutzte Lucc die kurze Pause, die sich zur nächsten Welle bot. Ohne Vorwarnung riss er das verbliebene Material an sich und stieß Ganda den Abhang auf der anderen Seite hinunter, den sie haltlos auf ihrem Rucksack hinab schlitterte und durch den Aufprall gegen einen Baum, das Bewusstsein verlor.

„Verzeiht mir – das ist meine Aufgabe!“, rief er ihr hinterher.

Gesagt, getan … er fiel durch Feuer, Asche und Gestein tief hinab, während seine Gedanken einer einzigen Asura galten: „Ganda … ich laufe nicht mehr davon. Ich habe etwas gefunden, für das es sich lohnt zu kämpfen – vielleicht werdet Ihr mich eines Tages verstehen können. Ich wollte diesen Kampf nicht … aber inzwischen glaube ich nicht mehr daran, dass unser Volk eine Zukunft hat, solange die Drachen Tyria beherrschen. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit miteinander gehabt – Ihr habt mich gerettet! Lebt wohl, bis uns die Ewige Alchemie wieder vereint.“

Wie ein Stein schlug er hart auf einem Felsvorsprung auf, der ihn etwas ausbremste. Noch weiter ging sein Sturz, während er sich an den scharfen Gesteinsbrocken Schnitte, Prellungen und Knochenbrüche zuzog. Irgendwann landete Lucc schon halb tot auf einer kleinen Insel inmitten eines Lavameeres. Die gewaltige Gestalt über ihm konnte er nicht klar ausmachen – doch es gab keinen Zweifel … er befand sich in der Gegenwart von Primordus. Noch einmal gestattete er sich, an Ganda zu denken; ihr Leben zu bewahren, war seinen Tod wert … auch wenn es ihn schmerzte, dass sie erneut jemanden an die Flammen verloren hatte. Vielleicht würde diese seine Entscheidung die Wende im Krieg gegen die Alt-Drachen markieren – hätte Lucc zu geahnt, wie ihre Geschichte weitergehen würde, wäre sein Schicksal sicher anders verlaufen … So verließ er diese Welt auf dieselbe Weise, wie seine Eltern und die von Ganda. Sterben hätte er sich leichter vorgestellt … einfach in den Nebeln wieder aufwachen und weiter ging die Reise im Sinn der Ewigen Alchemie – allerdings nicht für ihn. Sein Geist löste sich nicht von dem Leben, welches er hinter sich lassen sollte … Die verfluchten Alt-Drachen verdienten den Tod, nicht er! Es war nicht so, dass er seine Entscheidungen bereute … gegen Primordus´ Drachenverderbnis zu kämpfen, Ganda zu beschützen – alles würde er genauso wieder tun …

„Wer bist du? Was … bist du?“, hallte es durch die unbekannte Sphäre, in der er schwebte, „Warum gehst du nicht in die Nebel?“

Denn genau das tat seine Seele nicht … Seira, das Orakel der Nebel blieb ratlos und Lucc´s Seele nicht die einzig ruhelose. Alle hatten sie eines gemeinsam – sie waren Opfer der grausamen Alt-Drachen. Während die Jahre in Tyria vergingen, war für sie die Zeit nur an den Berichten der Norn greifbar. Irgendwann erzählte Seira von drei jungen Menschen, welche das Erbe der »Klinge des Schicksals« weiterführen wollten. Eigentlich handelte es sich bei ihnen um keine gewöhnlichen Tyrianer – denn Shikon Feenseele, Ohtah Shadowdragon und Seiketsu Lichtsegen lebten nicht zum ersten Mal für den Kampf um die Freiheit. Lucc bewunderte ihre Entschlossenheit, sich erneut eine solche Bürde aufzulasten – und stockte, als die kleine Gruppe um noch ein weiteres Mitglied wuchs. Ganda hatte sich künftigen »Team Shiko« angeschlossen! Und nachdem sie alle fünf, großen Völker versammelt hatten, machten sich die Kämpfer auf in die Tiefen von Tyria … zu Primordus.

Innerlich flehte er Ganda an, umzudrehen, abzuhauen … während er bereits wusste, dass sie es nicht tun würde – diese flammende Bestie verkörperte den Grund für all ihr Leid. Als Lucc gestorben war, hatte sie seinen Heldenmut gleich übertriebenem Leichtsinn verflucht – inzwischen dachte die Denkerin anders darüber. Zum Glück, denn gegen ihre Gemeinschaft konnte der Feuer-Drache nicht bestehen. In Zukunft sollten seine Brüder dieselbe Niederlage erleben, selbst der mächtigste unter ihnen. An jenem Tag erbebte Tyria zum sechsten Mal auf diese Art, ein Lichtstrahl schoss in den Himmel … kündete vom Erwachen eines weiteren Alt-Drachens!

Und von einer Sekunde zur anderen sprach eine mächtige Stimme zu ihnen, die nicht Seira gehörte: „Habt keine Furcht. Mein Name lautet Mordremorth, ich bin der Drache des Lebens. Doch ich bringe keine Drachenverderbnis über euch … ich schenke euch, die ihr von meinen Brüdern aus dem Leben gerissen wurdet und ihrer Macht dennoch widerstanden habt, eine neue Existenz – als meine Widergänger!“

Hinter ihren Augen blitzte ein gelber Schein auf, ein Sog erfasste Lucc und die anderen. Erst fühlte er die Schwere eines Körpers – ein fast schon ungewohntes Gefühl. Dann sah sich der Tüftler um und erblickte im Tal unter sich liegend die Hochburg des asurischen Intellekts, Rata Sum! Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken und er spürte unzählige Leben um sich herum, ebenso hörte er ein fernes Echo … Mit der Zeit würden die Widergänger ihre neuen Kräfte zu kontrollieren lernen – mit den Geistern der Nebel kommunizieren und deren Kräfte für sich nutzen zu können. Für den Moment jedoch verdrängte Lucc diese Empfindungen aus seinem Bewusstsein – es gab nur ein Lebewesen, dessen Gegenwart er wahrnehmen wollte. Sein Körper schien genau derselbe zu sein, wie vor seinem Tod … doch die Bewegungen fielen ihm zu Beginn noch schwer. Als würden die Befehle des Gehirns über Umwege zum Ziel gelangen. Vielleicht nicht unbedient verwunderlich – durch Seira wusste er, dass bereits über fünf Jahre vergangen waren, die er an der Grenze zu den Nebeln verbracht hatte. Während Lucc sich der Hauptstadt näherte, fiel ihm bereits auf, wie fleißig sein Volk währenddessen gewesen war; im Grenzgebiete gab es weitere Laboratorien, neue Portale waren geschaffen worden und er begegnete mehr Angehörigen anderer Rassen. Trotz der leichten Beschwerden fanden seine Füße den Weg selbst ohne seine neuen Fähigkeiten – dieses eine Labor, welches er als sein Zuhause bezeichnete. Dessen Leiterin schraubte mit dem Rücken zu ihm an einem kleinen Gerät herum, das er nicht erkannte. Der Rest dagegen wirkte unverändert – nur die Gedenktafel mit der Aufschrift »LUCC – ein gefallener Freund« kannte er nicht, obwohl der Rotäugige damit rechnen musste. Seine eigene Idee gedachte ihm selbst …

„Ganda.“, sprach er sie an.

Der Klang ihres Namens ließ sie aufschauen. Der Schraubenschlüssel, den sie in Händen hielt, fiel klirrend auf den Laborboden.

Beinahe vergaß die junge Ingenieurin sogar das Atmen, während sie sagte: „Ich träume … das ist unmöglich … Lucc, Ihr … Ihr seid tot …“

Mit einem halbherzigen Lächeln antwortete er: „Ich war es. Aber … dank Euch oder beziehungsweise dem ganzen Team Shiko und Mordremoth bin ich wiedergekehrt. Ihr habt mich schon wieder gerettet!“

Da einem Asura am besten auf vernünftigem Weg beizukommen war, berichtete er ihr von der Grenze zu den Nebeln und Mordremorth´s Odem, der viele Opfer der Alt-Drachen zu neuem Leben erweckt hatte.

„Ich melde mich hiermit von meiner Arbeit, das Tunnelsystem der Zerstörer zu schädigen und ihren Vormarsch aufzuhalten, zurück.“, fügte er schließlich noch hinzu, „Das heißt, wenn mein Posten in Eurer Kru noch frei ist.“

Asura weinten nur sehr selten – hier jedoch quollen die Tränen widerstandslos über Ganda´s Augenränder. Sie hastete ihm entgegen und verpasste ihm einen Schlag auf den Kopf.

„Ihr seid ein Idiot! Eine Schande für alle Asura, dass Ihr so eine dämliche Frage gestellt habt!“, schluchzte sie und man konnte überdeutlich ihre Freude heraushören.

Lucc zog sie an sich und entgegnete: „Ich habe Euch auch sehr vermisst … Ganda, ich will nicht noch einmal gestorben sein, ohne dass Ihr es wisst – ich liebe Euch.“

Ganda dachte daran, wie lächerlich Shikon Feenseele und Ohtah Schattendrache versucht hatten, ihre Gefühle füreinander voreinander verborgen zu halten … damals konnte ihr rationaler Verstand es nicht nachvollziehen, dabei hatte sie selbst ihr Herz zum Schweigen verurteilt.

Doch offenbar hatte ihre Feuer affine Anführerin auf die kleine Asura abgefärbt: „Seid froh, dass Ihr eigens zurückgekommen seid – ich hätte Euch in den Nebeln die Hölle heiß gemacht, wenn ich gehört hätte, dass meine Emotionen auf Gegenseitigkeit beruhen!“

Zunächst starrte er sie perplex an, bevor ein Grinsen auf seinem Gesicht erschien: „Ich glaube, Ihr habt mir viel zu erzählen. Vielleicht am Kamin?“

Ganda lachte über diese kleine Anspielung – dort hatten sie zum ersten Mal offen miteinander gesprochen und sich einander angenähert.
 

Liebe ist für Asura keine Selbstverständlichkeit … Paarung, Nachwuchs zeugen, den Fortbestand der Art sicher, natürlich – Gefühle spielen dabei häufig eher eine Nebenrolle. Ganda und Lucc jedoch erfahren dieses unglaubliche Glück durch einen Hauch von Schicksal.

Erzählung 12: Das Schicksal einer Luxon und einer Kurzick

Das Blut der Legenden

Mehr als fünfhundert Jahre waren seit der größten Katastrophe in der Geschichte von Cantha vergangenen. Einst hatte Shiro Tagachi eine fürchterliche Schockwelle ausgelöst, welche den ganzen Kontinent überzog, überall seine Spuren hinterließ. So wurde das Meer zu Jade und der Wald zu Bernstein. Die Heimat der Luxon und Kurzick war dem Gleichgewicht geraten. Krieg war die Folge – ein Krieg, der Tausende von Opfern forderte … bis zur Rückkehr ihres gemeinsamen Feindes und dem mutigen Einsatz einer Heldin, deren Namen mit Ehrfurcht in den Hallen des Klosters von Shing Jea ausgesprochen wurde. Doch nicht nur die Schatten der Vergangenheit bedrohten in diesen Tagen das Reich des Drachens, sondern auch die Wege der Zukunft … Und Frieden war hier noch nie ein Zustand von Dauer. So geschah zu jener Zeit, als die Auswirkungen des Jadewindes langsam nachließen, dass der rechtmäßige Kaiser von seinem eigenen Vertrauten Usoku vom Thron gestoßen wurde. Sein Machthunger war absolut grenzenlos und er wollte sich sogar den Echowald und das Jademeer untertan machen, welche zwar zum Kaiserreich gehörten, jedoch von ihren eigenen Anführer hatten. Die Bewohner Cantha´s litten unter diesem Depoten – überall wurden Schreie nach neuen Helden laut. Helden, welche den Mut und die Kraft aufbringen konnten, sich gegen Usoku´s gewaltigen Einfluss zu behaupten. Aus allen vier Zonen Cantha´s schloss sich eine Gruppe zusammen, die sich die »Freien von Cantha« nannte. Sie kämpften erbittert gegen die Soldaten des neuen, tyrannischen Herrschers … Doch sie konnten nicht siegen, mussten flüchten. Nur eine Handvoll überlebte die Hetzjagd. Zumindest kurzzeitig – an der Grenze zum Echowald und dem Jademeer, dem Pongmei-Tal schafften es die Häscher des Kaisers die Widerstandskämpfer einzuholen und zu stellen. Eine von ihnen nutzte die Gelegenheit, um zwei Säuglinge zu verstecken … die Zwillingsmädchen Kurotsuki Yumi und Tsukishiro Miyu, denen sie direkt nach ihrer Geburt jeweils einen halben Herzanhänger aus Silber geschenkt hatte. Nachdem sich die Frau von ihren Töchtern mit einem Kuss auf die Stirn voll Trauer verabschiedet hatte, kehrte sie zu ihrem Mann zurück … und ging mit ihm gemeinsam in den Tod. Die beiden Mädchen lagen schlafend im Unterholz. Die Wächter hatten sie nicht bemerkt und zogen ab – ihr Auftrag war erfüllt, der Kaiser würde zufrieden sein. Aber Kurotsuki Yumi und Tsukishiro Miyu blieben dennoch nicht gänzlich unentdeckt – Späher, die das Massaker mitangesehen hatten, retteten sie und nahmen sie mit sich in ihre jeweiligen Fraktionen. Einer ging nach Cavalon, der andere kehrte ins Haus zu Heltzer zurück. So kam es, dass Kurotsuki Yumi ein Leben unter Luxon begann und Tsukishiro Miyu als Kurzick aufwuchs …
 

Während die Jahre ins Land zogen, wurde es still um den Widerstand gegen die Tyrannei des Kaisers … Die »Freien von Cantha« waren im Grunde nur noch ein Name … Und dennoch erzählten die Menschen immer wieder von jenen mutigen Freiheitskämpfern. Besonders in schweren Zeiten glomm der Funke der Hoffnung in ihren Augen auf … Während die Bewohner von Kaineng mit harten Strafen wie Ausgangssperren oder Auspeitschungen in Schach gehalten wurden, versuchten die Kurzick ihre aristokratisch Ehre beizubehalten und führten die uralten Gepflogenheiten fort. Soweit es ihnen möglich war zumindest – selbst wenn das Grafenamt offiziell außer Kraft gesetzt worden war, trug ihr Oberhaupt weiterhin den Titel. Das Verblassen des Jadewindes dagegen hatte ihre Religion gespalten – während die eine darin eine göttliche Strafe sahen, deuteten andere es als Zeichen eines neuen Zeitalters. Den Luxon fiel es ebenfalls nicht leicht an ihrer Lebensart festzuhalten – mit dem Friedensvertrag war bereits vor zwanzig Dekaden die Piraterie abgeschafft worden … sie hatten sich stattdessen auf Handel spezialisiert. Nun gab es strengste Grenzkontrollen, die hoch besteuert wurden, wenn man sie als einfacher Bürger überqueren wollte – während die Kurzick ihren Nachbarn helfen wollten, hatten die Luxon die Wahl zwischen dem Zorn des Kaisers und dem Hungertod. Allein vom Fischfang, der durch die stetige Verflüssigung des Meeres wieder möglich wurde, konnte das Volk nicht überleben. Flüchten wäre vielleicht eine Option gewesen – nur wohin? Weder Tyria mit seinen Alt-Drachen noch das vor Untoten wimmelnde Elona würden ihnen eine neue Heimat bieten. Und der Schande, jenes Land ihrer Vorfahren aufzugeben, wollte sich kein einziger Luxon ergeben. Schmugglerverstecke zwischen den beiden Fraktionen hatten bislang die größte Katastrophe abgewendet … doch auf Dauer konnte dies kein Leben sein. Daher sollte es nicht weiter überraschen, dass sich auf beiden Seiten neuer Widerstand in Form zweier, jungen Frauen regte – unabhängig voneinander planen sie den langersehnten Putsch gegen Kaiser Usoku. Aber nicht alle sind davon begeistert, dass die schwarzhaarige Luxon-Nekromantin und die blonde Kurzick-Mesmer für die Freiheit Cantha´s und seiner Bewohner sogar sterben würden …

Mikolas, der Kurotsuki Yumi wie seine eigene Tochter aufgezogen hatte, unterdrückte nur mit Mühe seine Tränen, als er ihr zum Abschied eine neu angefertigte Rüstung überreichte. Sogar unter besten Bedingungen erschien es unwahrscheinlich, dass die Widerstandskämpferin noch einmal unbeschadet aus Kaineng zurückkehren würde … Denn Kurotsuki Yumi hatte vor drei Jahren schon einmal das Jademeer verlassen, allerdings erfolglos. Sie dankte ihrem Ziehvater für seine unendliche Liebe und Fürsorge. Nachdem sie sich umgezogen hatte, machte sie sich noch auf die Suche nach dem Sohn ihres Onkels, des Ältesten der Luxon. Einer seiner Freunde schickte die Nekromantin schließlich zum Argo-Hügel im Archipel – seinem Lieblingsplatz, worauf sie eigentlich auch hätte selbst kommen können … hätte sie nicht gehofft, er würde vor ihrem Aufbruch von sich aus zu ihr kommen. Dabei war sie damals ja sogar in einer »Nacht und Nebel«-Aktion spurlos verschwunden …

„Du willst dich also nicht von mir verabschieden?“, sprach sie Symeon an und setzte sich zu ihm.

Ohne sie anzusehen, antwortete er: „Nur wenn du mir versprichst, am Leben zu bleiben.“

Kurotsuki Yumi seufzte tief. Symeon wusste genauso gut wie sie, dass ein solches Versprechen unmöglich war – sie musste kämpfen und würde sich garantiert nicht zurückhalten. Diesmal würde sie es nicht ertragen, versagt abgezogen zu sein …

„Mein Vater wollte dich bei der nächsten Versammlung als neues Mitglied des Rats vorschlagen.“, wechselte der Waldläufer abrupt das Thema.

Die Schwarzhaarige nickte erst, entgegnete jedoch: „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt für Politik geschaffen bin …“

Symeon wollte gerade etwas erwidern, da küsste sie ihn. Kurotsuki Yumi konnte nicht sagen, seit wann sie in ihn verliebt war … Ihm gehörte ihr Herz in Wahrheit – selbst wenn sie ein Schatten über ihren Gefühlen für ihn lag. Sie wollte ihn nicht verletzen … Aber der Aufgabe, die sie begonnen hatte, konnte sie sich ebenso wenig entziehen.

Bei den Kurzick hatte Tsukishiro Miyu ähnliche Pläne … In ihr aristokratisches Gewand gehüllt, welches auf ihren Status als Grafentochter hinwies, wollte sie sich eigentlich auf den Weg machen, als sie eine schreckliche Nachricht erhielt – ihr Adoptivvater, Graf Terrik zu Heltzer hatte einen Schwächeanfall erlitten und war in sein Gemacht gebracht worden. Alles in ihr zog sich schmerzhaft zusammen. Ausgerechnet er, der die Mesmer stets gelehrt hatte, gütig und rechtschaffend zu sein. Wie konnte sie da mitansehen, wie ein Tyrann über ihre Heimat verfügte und Menschen wie Abschaum behandelte? Der Kaiser musste gestürzt werden!

Doch der alte Graf wusste, dass seine Zeit bald gekommen wäre … und so sagte er ihr, als sie das Zimmer betreten hatte: „Hör´ mir gut zu … Ich werde nicht mehr lange leben und du bist mein einziges Kind – von meinem Blut oder nicht, spielt keine Rolle. Du bist ebenso eine Kurzick, wie alle, die in diesem Wald geboren wurden … und du genießt ihr aller Respekt. Ich werde die Zukunft unseres Hauses in deine Hände legen, das ist mein letzter Wunsch.“

Für einen kurzen Moment musste die Blonde ihre Augen schließen, dann antwortete sie: „Verzeih´ mir bitte, Vater – ich kann dir diesen Wunsch nicht erfüllen. Erst muss ich mich meinem Schicksal stellen … Und sollte ich in diesem Kampf mein Leben lassen, wird Selik deinem Namen alle Ehre machen und deinen Platz einnehmen.“

Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern rannte fluchtartig hinaus. Und prallte prombt mit jemanden zusammen, der ihr Vorhaben sofort durchschaute: „Du gehst also trotzdem wirklich …“

Die Mesmer richtete den Blick auf den Großneffen des Grafen. Er trat neben sie, streichelte ihre Wange. Ihr ganzes Leben lang war Selik zu Heltzer an ihrer Seite gewesen – doch im diesem Fall gestattete sie ihm nicht, sie zu begleiten.

Er konnte nicht anders, als sie zu küssen und leise zu flüstern: „Mögen wenigstens meine Gefühle bei dir sein …“

„Und meine bei dir.“, entgegnete sie, „Es tut mir leid. Aber gerade deshalb werde ich nicht länger zulassen, dass die Soldaten dich, Vater oder einen anderen gefangen nehmen oder sogar töten! Und sollte ich wirklich fallen, trete ich alle Privilegien an dich ab.“

Darum hatte sie Selik´s Hilfe strickt abgelehnt … denn auch sie selbst war sich im Klaren darüber, dass es sich hierbei um ein reines Himmelfahrtkommando handelte – und ihr Volk brauchte eine Zukunft.
 

Wie durch Zufall begegneten sich die beiden Freiheitskämpferinnen an genau der Stelle, an welcher der Echowald und das Jademeer aufeinandertrafen … jenem Ort, an dem sie einst getrennt worden waren. Es waren bereits Gerüchte von einer Fraktion zur anderen vorgedrungen – sie hatten dasselbe Ziel.

„Ich bin Kurotsuki Yumi.“, begann die Nekromantin bestimmt.

Die Augen der Mesmer weiteten sich, dann stellte auch sie sich vor: „Mein Name ist Tsukishiro Miyu.“

Die Mädchen machten einige Schritte aufeinander zu. Bei genauerem Betrachten konnte man eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihnen erkennen – von den Namen einmal ganz abgesehen. Und sie trugen den gleichen halben Herzanhänger aus Silber. Zögerlich nahmen sie ihn ab und fügten ihn zusammen. Die Kanten passten genau aufeinander.

Kurotsuki Yumi konnte es kaum glauben und hauchte: „Das heißt, wir sind wirklich Schwestern …“

„Zwillinge.“, bestätigte Tsukishiro Miyu ebenso überwältigt.

Ein Lächeln breitete sich auf ihren beider Gesichtern aus. Ein unglaubliches Glücksgefühl pumpte durch ihre Körper. Keine von ihnen zweifelte auch nur eine Sekunde lang an dieser Wahrheit – sie spürten einfach, dass es stimmte. Und diese Tatsache bedeutete zusätzlich auch doppelten Ärger für den Kaiser.

Kurotsuki Yumi und Tsukishiro Miyu traten im Schutz der Nacht wieder an die Oberfläche. Sie hatten das alte Tunnelsystem benutzt, welches den Freien von Cantha vor Jahren als Versteck gedient hatte. Die Docks von Kaineng lagen vollkommen verlassen dar. Obwohl die Untoten verschwunden waren, gab es nach wie vor keine Nutzung der Seewege … Gerade als die Kurzick und die Luxon weitergehen wollten, wurde alles in ein helles Licht getaucht und die plötzlichen, mechanischen Geräusche klangen unnatürlich laut in der Stille.

„Seht Ihr – ich wusste, ich schaffe es!“, prahlte eine piepsige Stimme, „Die Koordinaten hätten zwar wirklich etwas genauer sein können, aber ich bin eben ein Genie! Hoffentlich werden Shiko und Glint auch einmal ein so brillante Köpfe!“

Jemand antwortete ihr missbilligend: „Ruhe, Ganda! Vielleicht stehen hier irgendwo Wachen!“

Irgendjemand flüsterte noch etwas, das nicht zu verstehen war – zumindest für die Mädchen. Die anderen Neuankömmlinge rollten dagegen leicht mit den Augen; schließlich hatte genau er ihnen in Löwenstein stundenlang von seiner neugeborenen – und leider ebenso nicht anerkannten – Tochter Sarah berichtet … Kurotsuki Yumi bedeutete ihrer Schwester derweil leise zu sein, während sie ein Stück weiterschlichen. Und obwohl das Licht inzwischen genauso schnell wieder verschwunden war, konnte die Nekromantin mit ihrer Nachtsicht glänzen. Auf einer freien Fläche standen sechs Gestalten – jeder von ihnen hatte eine andere Größe und Statur. Und einige davon sahen nicht sehr menschlich aus …

„Schlechte Nachrichten …“, knurrte eine von ihnen, „Wir sind nicht allein.“

Kurotsuki Yumi schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Was auch immer diese Wesen waren, sie konnten ihren Atem nicht gehört haben! Das war unmöglich …

„Es sind Menschen.“, gab selbige katzengleich von sich, „Zwei junge Frauen, um genau zu sein.“

Eine tiefe, männliche Stimme winkte ab: „Und wenn schon, Kätzchen. Wir haben eine Mission zu erfüllen! Selbst wenn der Kaiser weiß, dass wir kommen – wen interessiert das schon? Die Drachen haben wir auch ohne Überraschungseffekt fertig gemacht! Apropos Überraschung – Kadlin erwartet bereits unser fünftes Kind! Wenn die Havroun recht hat, bekommen Svana, Eirin, Cordin und Björn wieder eine Schwester – dann werde ich endlich meine Mutter Henja ehren!“

„Dann müssen Klaue und ich ja schauen, dass wir aufschließen!“, kam es erneut von dem katzengleichen Wesen, „Vallus und Sesric sind ja bereits im Fahrar, demnächst werden Langmar und Rittersporn ihnen folgen, dann haben wir wieder genug Zeit dafür. Und wenn das mit den Zwillingswürfen so weitergeht, überholen wir euch sogar noch!“

„Haltet jetzt endlich die Klappe!“, meinte ein schlankes Wesen in Frauengestalt mit einem Bogen über jeder Schulter.

Tsukishiro Miyu traute ihren Ohren kaum. Sie nickte Kurotsuki Yumi zu und beide traten sie aus ihrem Versteck. Die Fremden griffen sofort nach ihren Waffen, doch die Zwillinge hoben beschwichtigend die Hände.

„Wartet, bitte!“, sagte die Mesmer, „Wir … wir sind Feinde des Kaisers und wollen heute Nacht einen Putsch-Versuch wagen. Wollt Ihr uns dabei unterstützen, wenn Ihr ebenfalls gegen ihn seid?“

Zu behaupten, die sechs Fremden wären überrascht gewesen, wäre eine völlige Untertreibung gewesen. Der einzige Mensch kam nach einigen Schrecksekunden auf sie zu, musterte die beiden.

Als er zu sprechen begann, war sein Ton warm und freundlich: „Ihr seid wahrlich sehr mutig … Wenn ich mich vorstellen darf – Logan Thackeray, Ritter Ihrer Majestät Königin Jennah von Kryta. Und dies sind meine Freunde die Asura Ganda, die Charr Gwen Grimmpfote, der Norn Ric Bärenklaue, die Sylvari Ull Rosenknospe und ihr Farnhund Tear. Wir sind hier, um dem Reich Cantha die Freiheit zurückzugeben.“

Jetzt war es an Tsukishiro Miyu und Kurotsuki Yumi noch perplexer drein zu schauen. Der Wächter erzählte in Kurzform, dass sie aus Tyria gekommen seien, weil dieser Kontinent sehr wichtig für jemanden aus ihrer Gruppe gewesen sei, der aber bereits verstorben war … Nachdem die Luxon und die Kurzick ebenfalls ihren Standpunkt erläutert hatten, schmiedeten sie gemeinsam einen Schlachtplan.
 

Vor dem Zugang zum Palast, hielten sie noch einmal inne und Ull Rosenknospe hauchte: „Denkt daran, wir sind hier, um ein letztes Mal >Team Shiko< zu sein …“

„Shiko?“, kam es synchron von Kurotsuki Yumi und Tsukishiro Miyu.

Die kleine Portalistin lächelte melancholisch, als sie erklärte: „Unsere Anführerin … aber sie ist bereits in den Nebeln. Von ihr hat Logan vorhin gesprochen. Shiko … Shikon Feenseele … oder eher Shikon No Yosei … die Fee der vier Elemente, Verteidigerin von Cantha und Shing Jea.“

Sie dachten an ihr erstes Treffen im Pongmei-Tal, als sie ihre Herzanhänger aneinander gehalten hatten. Damals hatten sie nicht an die Inschrift auf der Rückseite gedacht. Erneut führten sie die beiden Hälften zusammen und lasen das eine Wort, das dort stand – »Shiko«. Ehrfürchtig sahen sie von ihrem Anhänger auf. Dann jedoch schüttelten sie beide den Kopf – erst die Arbeit. Später würden sie Ganda und die anderen bitten, ihnen mehr von ihrer Freundin zu erzählen.

Im Palast war es ruhig. Kurotsuki Yumi übernahm beinahe wie selbstverständlich die Führung. Sie wusste genau, wohin sie gehen mussten. Gwen Grimmpfote schickte ihren Schlafzauber über die Wachen, sodass sie sich fast wie bei einem gemütlichen Spaziergang vorkamen. Wären da nicht die übrigen Sicherheitsvorkehrungen gewesen … Tsukishiro Miyu stolperte und betätigte dabei eine der eingebauten Fallen – Pfeile schossen auf sie zu! Ihre Schwester warf sich vor sie und konnte einige abwehren, aber ein Schuss traf sie trotzdem in der Schulter.

„YUMI!“, kreischte die blonde Mesmer.

Die Nekromantin lächelte schwach und meinte: „Ich habe dich gerade erst gefunden … Da werde ich bestimmt nicht zulassen, dich so schnell wieder zu verlieren.“

Logan riss den blutgetränkten Ärmel ab, begutachtete die Wunde. Im Gedanken sprach er zu Seiketsu No Akari, die als »Seiketsu Lichtsegen« seine Schülerin und im Heilen stets viel besser gewesen war, als er selbst. Er brach den Schaft des Pfeils in der Mitte durch, während Tsukishiro Miyu die Schwarzhaarige festhielt, und zog die Spitze auf der anderen Seite ganz heraus. Sofort legte er seine Hand über die verwundete Stelle, die seinem Willen gehorchte und sich langsam schloss. Erleichtert und unsagbar glücklich umarmte Tsukishiro Miyu ihre Zwillingsschwester.
 

Es war beinahe Mitternacht, als sie endlich den Thronsaal erreichten. Ohtah Ryutaiyo alias Ohtah Shadowdragon hätte sie nun mühelos mit einem einzigen Schattenschritt an ihr Ziel bringen können, denn … der Raisu-Palast war weitaus tückischer als angenommen. Natürlich erwartete sie der Kaiser bereits – doch es war nicht wie erwartetet Usoku, sondern sein Sohn.

„Uchi … du hast die Nachfolge deines Vaters angetreten.“, kam es überraschenderweise von Kurotsuki Yumi.

Alle Augen richteten sich schlagartig auf die junge Luxon.

Der Kaiser lachte hämisch: „Bereust du es jetzt? Tut mir ja leid … ich habe dich belogen.“

„Ich hätte dir niemals vertrauen dürfen!“, knurrte sie wütend, „Diesen Fehler werde ich sicher kein zweites Mal begehen.“

Ihre Freunde und Verbündeten begriffen nicht, was vor sich ging. Da erzählte Kurotsuki Yumi ihnen, dass sie vor knapp drei Jahren schon einmal in den Palast eingedrungen und auf Uchi getroffen sei. Damals habe er ihr versprochen, die Tyrannei seines Vaters beenden – wenn sie zu ihm zurückkam.

„Das du mir wirklich geglaubt hast … Welcher Mann würde schon bei einer wie dir schwach werden? Da müsste man ja jede Nacht haben, du könntest einen im Schlaf umbringen, wie eine Schwarze Witwe!“, machte Uchi sich über Kurotsuki Yumi lustig und warf ihr dann ein Schwert zu.

Kurotsuki Yumi bückte sich, um es aufzuheben, da erstarrte sie mitten in der Bewegung. Innerhalb eines Sekundenbruchteils – fast einem Schattenschritt gleich – war Uchi von seinem Thron auf sie zu gestürmt und hatte ihr seine Waffe in den Bauch gestoßen. Tsukishiro Miyu versuchte zu schreien, während ihr Kopf einfach nicht begreifen wollte, was geschehen war, aber sie hatte keine Kraft dafür. Gwen Grimmpfote eilte sofort an ihre Seite, kniete neben Kurotsuki Yumi nieder. Sie spürt, dass ihre Seele kurz davor war in die Nebel aufzusteigen, doch etwas hielt sie noch zurück … Logan Thackeray zog blank, Ull Rosenknospe legte an und Ganda lud ihr Gewehr. Ric Bärenklaue dagegen ging mit seinem mächtigen Zweihänder direkt auf Uchi los. Er lachte allerdings nur und der Norn prallte an einem Schutzschild ab.

„Eine Aegis!“, rief der tyrianische Wächter.

Tear stupste derweil die schluchzende Mesmer an. Sie reagierte nicht. Da fasste die Waldläuferin einen Plan. Während der Wächter, der Krieger und die Ingenieurin den Kaiser ins Visier nahmen, schnappte sich die Sylvari Tsukishiro Miyu und verschwand mit ihr auf eines der Vordächer, ohne dass Uchi etwas davon mitbekam. Ebenso wenig wie die Kurzick selbst … Sie befand sich in einer Art Schockzustand, nur den leblosen Körper ihrer Schwester vor Augen.

„Miyu!“, versuchte Ull Rosenknospe sie wachzurütteln, „Reißt Euch zusammen! Es ist noch nicht vorbei – oder soll sich Yumi umsonst geopfert haben?“

Da horchte Tsukishiro Miyu auf. Erleichtert erzählte die Waldläuferin ihr von ihrem Plan. Hastig stimmten sie das Timing ab und beobachteten den Kampf ihrer Verbündeten. Sie kamen einfach nicht durch die Aegis, jeder Schlag wurde zurückgeworfen. Die Mesmer holte tief Luft. Sie war nach Kaineng gekommen, um den Kaiser zu töten! Danach würde sie nie wieder dieselbe sein … Doch gab es wirklich einen Unterschied zwischen dem Befehl zum Morden und selbst zu töten? Sie wollte gar nicht wissen, wie viele Leben bereits wegen Uchi und seinem Vater ausgelöscht worden waren. Im Geiste formte sie den Zauber, der die Verzauberung vom Kaiser nehmen und ihn damit angreifbar machte. Tsukishiro Miyu ließ ihn fliegen – laut klirrend splitterte der Schutzschild und der Pfeil der Sylvari durchbohrte Uchi´s Hals. Noch während sein Leichnam zu Boden fiel, rannte die Blonde bereits wieder zurück zu ihrer Schwester. Logan folgte ihr, legte seine Hand auf die Wunde und begann murmelnd zu Dwayna zu beten.

„Unsere Völker sind frei, hörst du?“, sagte Tsukishiro Miyu mit einem unterdrückten Schluchzen, „Wir wollten die anderen doch noch nach Shiko fragen.“

Während der Wächter rezitierte, warfen sich die Mitglieder von Team Shiko einen Blick zu und berichteten, was ihnen am stärksten von der Geschichte ihrer Anführerin in Erinnerung geblieben war. Shikon No Yosei war zusammen mit Seiketsu No Akari aufgewachsen und hatte sich als junge Elementarmagierin aufgemacht, ihre Heimat zu retten. Auf dieser Reise hatte sie ihre große Liebe und treuen Beschützer Ohtah Ryutaiyo kennengelernt. Gemeinsam befreiten sie sogar Tyria und Elona vor dunklen Mächten. Am Ende ihres Lebens beschlossen die »drei lebenden Legenden«, wie sie zu dieser Zeit genannt wurden, als Gesandte weiter ihren Dienst zu tun. Und irgendwann wurden sie als Shikon Feenseele, Ohtah Shadowdragon und Seiketsu Lichtsegen wiedergeboren, um die Welt von den fünf Alt-Drachen zu befreien – zusammen mit ihren Freunden von Team Shiko und der Klinge des Schicksals. Anschließend waren sie in die Nebel zurückgekehrt, um dem ewigen Zyklus aus Wiedergeburt und Tod zu folgen …

Ric Bärenklaue räusperte sich zunächst, ehe er noch zu singen begann: „Wer stark bleibt, wenn der Mut vergeht … wer aufsteht, wenn er fällt … wer weitergeht, wo alles steht – der ist ein wahrer Held, der ist ein wahrer Held! Wer von sich gibt und nicht viel nimmt … wer für das Gute steht … wer weiterkämpft, selbst wenn der Wind, so fest von vorne weht, so fest von vorne weht. Hast nicht lange überlegt – wo ein Wille, da ein Weg! Kommt es hart auf hart, schreitest du zur Tat – hast unsre Herzen berührt. Dein Ruf eilt dir voraus – wir trinken darauf … Ehre, wem Ehre gebührt! Das Herz am rechten Fleck und stets vorneweg … wird dein Mut Legende sein! Dieses Lied gehört nur dir, darum singen wir: >Einer für alle und alle für einen!< Und auch noch in hundert Jahr´n wird man von deinem Mut erfahr´n, du gehst in die Geschichte ein und wirst unsterblich sein und wirst unsterblich sein! Kommt es hart auf hart, schreitest du zur Tat – hast unsre Herzen berührt. Dein Ruf eilt dir voraus – wir trinken darauf … Ehre, wem Ehre gebührt! Das ist ein Heldenlied und nur du hast es verdient. Hast nicht lange überlegt – wo ein Wille, da ein Weg! Kommt es hart auf hart, schreitest du zur Tat – hast unsre Herzen berührt. Dein Ruf eilt dir voraus – wir trinken darauf … Ehre, wem Ehre gebührt! Das Herz am rechten Fleck und stets vorneweg … wird dein Mut Legende sein! Dieses Lied gehört nur dir, darum singen wir: >Einer für alle und alle für einen!<.“

Ganda starrte den Norn perplex an. Gwen Grimmpfote grölte im Jubelschrei. Ull Rosenknospe nickte anerkennend und Logan Thackeray grinste breit. Ausgerechnet von dem harten Kerl ein solches Loblied zu hören, erfüllte ihre Herzen mit Freude – und hätte ihrer Anführerin sicher ebenso sehr gefallen.

Eine eine schwache Stimme antworteten ihr: „Shikon No Yosei war unsere Vorfahrin.“

Alle fuhren erschrocken zu Kurotsuki Yumi herum. Sie hatte sie Augen geöffnet und ein kleines Lächeln zeichnete sich um ihre Lippen ab. Tsukishiro Miyu weinte vor Freude, als sie ihrer Schwester über die kalte Wange streichelte.

„Shiko … unsere Ahnin hat die Kette einst von ihrer Mutter geschenkt bekommen und im Laufe ihres Lebens an ihre Tochter weitergegeben.“, fuhr die Luxon fort, „Seitdem wird der Anhänger immer weiter vererbt … Und irgendwann wurde ihr Name auf die Rückseite eingraviert.“

Die Worte kamen Logan nur schwer über die Lippen: „Hast … hast du Shiko getroffen?“

„Nein, leider nicht. Ich stand an der Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits … Dort bin ich Seira, dem Orakel der Nebel begegnet, die mir sagte >Das Blut der Legenden lebt weiter …<.“, antwortete sie und berührte die Hälfte ihres Anhängers.

Bevor jemand etwas erwidern konnte, öffnete sich das Tor zum Thronsaal und vier Männer in langen Gewändern und prächtigen Hüten traten unterwürfig ein. Sofort ging Team Shiko mit gezückten Waffen in Habachtstellung – immerhin hatten sie gerade erst den Kaiser gestürzt und selbst der schlimmste Tyrann hatte irgendwelche Verbündeten, um seine Macht auszuüben … Und Ushi´s Leichnam lag noch immer in ihrer unmittelbaren Nähe. Doch die Canthaner machten keinerlei Anstalten die Helden anzugreifen – stattdessen sahen sie unglaublich drein.

Einer der Männer, dessen Kleidung in reinem Weiß leuchtete, trat vor und ergriff als erster das Wort: „Verzeiht … seid Ihr für … die Beseitigung der Thronräuber verantwortlich?“

Die Kämpfer entspannten sich. Kurotsuki Yumi, die sich inzwischen aufgesetzt hatte, und Tsukishiro Miyu, die ihre Schwester stützte, neigten im Zuge der Höflichkeit ihre Häupter.

Dann antwortete die Mesmer: „Ja, Usoku wurde von seinem eigenen Sohn und dieser von uns getötet.“

Die vier Männer, die etwas im Hintergrund standen, wirkten nicht sonderlich überrascht und gleichzeitig geschockt. Anscheinend hatte der falsche Kronprinz schon länger den Eindruck erweckt, als wolle er schnellstmöglich selbst den Thron besteigen.

„So schulden wir, die fünf Minister des Reichs des Drachens, Euch Dank, Fremde, die Ihr uns von der Herrschaft dieser Thronräuber befreit habt. Mein Name lautet Hiang, mir untersteht das Ministerium des Friedens.“, stellte er zunächst sich selbst und anschließend seine Kollegen vor – den Minister der Erde Tsuchio, den Minister des Feuers Himon, den Minister des Wassers Mizuro und den Minister des Windes Kazenshi.

Einst waren die vier elementaren Ministerien aufgelöst worden … Man hatte den Beraterstab des Kaisers neu geformt und die Positionen anders besetzt. Mit der Zeit war man jedoch übereingekommen, dass es ein Oberhaupt der Abteilungen brauchte – so waren Erde, Feuer, Wasser und Wind wiederbelebt und Frieden geboren worden. Unter Usoku waren sie zwar nicht gefeuert worden … allerdings zu einfachen Bediensteten degradiert.

„Bitte, nennt mir nun Eure Namen und was Euch zu dieser geschichtsträchtigen Heldentat bewogen hat.“, fügte Hiang noch hinzu.

Ein Zucken ging durch die vier anwesenden Mitglieder von Team Shiko – es war Ull Rosenknospe, die leise antwortete: „Es war der Wunsch unserer Anführerin, in ihrer Heimat möge wieder Frieden einziehen …“

„Wir stammen aus Tyria.“, übernahm Logan und wies zunächst auf besagten Teil der Gruppe, ehe er auf die beiden Schwestern zeigte, „Der Dank gebührt vor allem Yumi und Miyu – sie sind wahre Nachfahrinnen der ersten Verteidiger von Cantha.“

Die fünf Canthaner ihm gegenüber wurden auf einen Schlag blass und fielen zu Boden, gemurmelt vernahmen sie: „Eure kaiserlichen Majestäten …“

Weder die Nekromantin noch die Mesmer wussten, was damit gemeint sein könnte … Da erklärte der Minister des Friedens ihnen, dass die legendäre Shikon No Yosei selbst bereits kaiserliches Blut in sich getragen hatte, zudem war ihr Enkel der Sohn des zweiunddreißigsten Kaisers. Als Nachkommen dieser Linie gebührt der Älteren nun der zurückeroberte Thron von Cantha.

Tsukishiro Miyu sah auf ihren Anhänger und meinte: „Du bist es, Yumi.“

Nun betrachtete die Luxon ebenfalls das Kleinod um ihren Hals – »Shi« war die erste Silbe, das Geburtsrecht der Erstgeborenen … Ihre Schwester hatte recht. Doch konnte sie so etwas? Eine gute Herrscherin sein, ihre Heimat hinter sich lassen … und ihn. Hatte sie ihm gegenüber nicht gerade erst noch ihre Bedenken bezüglich einer solchen Position geäußert? Dann dachte sie wieder an ihre Begegnung mit Seira. Das Orakel der Nebel hatte sofort gewusst, wer sie war … und wessen Familie sie angehörte, welches Blut in ihren Adern floss. Selbst fast dreihundert Jahre später erzählte man sich noch Geschichten über jene Frau, welche den ewigen Krieg zwischen Luxon und Kurzick beendet hatte … die »lebende Legende«, die mehrfach ganz Tyria gerettet hatte. Dieses Vermächtnis ruhte tief in Kurotsuki Yumi … Shikon No Yosei hatte sich ihrer Aufgabe gestellt, diesem Beispiel würde sie folgen!

„Mein Name lautet Kurotsuki Yumi … und ich akzeptiere die Kaiserwürde.“, antwortete die Nekromantin schließlich.

Die Minister strahlten vor Freude und entfernten sich, während sie bereits wild durcheinander redeten, wie sie dem Volk von der frohen Kunde berichten sollten.

Kurotsuki Yumi und Tsukishiro Miyu drehten sich daraufhin wieder zu ihren Verbündeten um, da ergriff die kleine Asura das Wort: „Das würde Shiko gefallen – ihr Erbe wurde weitergegeben. Jetzt ist Cantha wieder in den richtigen Händen!“

„Stimmt.“, bestätigte die ruppige Charr, „In euch schlägt das Herz wahrer Anführer.“

Der Norn nickte ebenfalls: „Nun werden Geschichten über euch die Runde machen.“

„Wir selbst werden sie zu unseren Völkern tragen – in Gedenken an Shiko.“, fügte die geheimnisvolle Sylvari hinzu.

Zuletzt reichte der Wächter ihnen die Hand und sagte: „Und Tyria und Cantha können wieder in Beziehung zueinander treten. Ich bin sicher, Königin Jennah wird euch bald entsprechend benachrichtigen.“

„Das würde mich freuen.“, antwortete Kurotsuki Yumi in ihrer neuen Position, „Auf den Frieden!“
 

„Ich bin stolz auf dich.“, meinte Tsukishiro Miyu, nachdem die beiden Schwestern Team Shiko verabschiedet hatten, „Du wirst eine großartige Kaiserin sein.“

Sie lehnte sich gegen ihre Schulter, ehe sie entgegnete: „Du könntest diese Funktion genauso gut erfüllen.“

„Mag sein. Aber … ich muss einem anderen Erbe folgen, nein … ich will es so. Luxon wählen ihr nächstes Oberhaupt, nicht wahr? Ich wurde vom Grafen zu Heltzer adoptiert … und werde seine Nachfolgerin sein.“, erklärte die Blonde lächelnd, „Ich bin nicht tot – also geht meine Stellung auch nicht auf Selik über.“

Auf ihren fragenden Blick hin, erzählte Tsukishiro Miyu ihr von ihrem Geliebten. Kurotsuki Yumi öffnete bereits den Mund, schloss ihn allerdings wieder – für den Augenblick brachte sie es nicht fertig von Symeon zu sprechen. Dennoch freute es sie, dass ihre Zwillingsschwester das Glück in der Liebe gefunden hatte. Und in den nächsten beiden Wochen blieb ihr kaum Zeit im Liebeskummer zu schwelgen – eine Krönung bereitete sich nämlich nicht von allein vor. Der Hofschneider fertigte ein Gewand ganz nach ihren Wünschen an, Tsukishiro Miyu kümmerte sich um die Gästeliste sowie Einladungen und das Bankett. Kurotsuki Yumi lernte das kaiserliche Zeremoniell auswendig und nahm sich Zeit, um die Menschen kennenzulernen, die ebenfalls ihr Leben im Palast verbrachten – von den Kammerzofen, über die Köche, bis hin zu den Stalljungen und Knechten. Die Bediensteten wunderten sich zunächst natürlich über dieses Gebaren – schließlich waren sie die Behandlung von Usoku und Uchi gewohnt. So jedoch eroberte Kurotsuki Yumi ihre Herzen im Sturm, jeder ging in die Stadt hinaus und berichtete den Bürgern mit Freude von der neuen Kaiserin. Endlich konnte Kaineng wieder aufatmen – Zhaitan verpeste nicht länger ihre Gewässer, der Usurpator war gestürzt, die Kurzick und die Luxon konnten ihre Beziehungen zueinander samt selbstverständlich der Hauptstadt wiederaufnehmen. Den Gipfel der Euphorie erreichte es, als die Bewohner von Kaineng um den Ursprung von Kurotsuki Yumi´s Geburtsrecht erfuhren – lauthals versammelten sich Scharen von Menschen, jubelten, klatschten. Nervös griff Kurotsuki Yumi nach ihrem Mantel. Früher oder später musste sie ihnen gegenübertreten – ob vor oder nach der offiziellen Krönung war im Grunde vollkommen egal. Sie tauschte einen Blick mit Tsukishiro Miyu, die ihr aufmunternd zuzwinkerte. Dann trat die Nekromantin auf den Balkon hinaus, woraufhin die Rufe der Leute noch lauter wurden.

Hiang trat an ihre Seite, schlug mit einem Stab auf den Bogen, woraufhin sofort Stille einkehrte, und verkündete: „Ich präsentiere dem Volk von Kaineng Ihre kaiserliche Hoheit Kurotsuki Yumi – Nachfahrin von Shikon No Yosei und Tsukuyomi Toya, rechtmäßige Herrscherin über das Reich des Drachens.“

In Cavalon noch hatte sie daran gezweifelt, überhaupt für Politik geschaffen zu sein … nun allerdings, da sie in ihrer neuen Position den Menschen gegenüber stand, für die sie die Verantwortung tragen würde … war da ein Gefühl, das sie erfüllte. Ihre Schwester hatte ihr gesagt, sie wolle tatsächlich das Oberhaupt der Kurzick werden – das konnte sie nachempfinden. Und sie würde ihren Schwur, Cantha und seine Bewohner zu beschützen, mit all ihrer Kraft erfüllen!
 

Erschöpft betrat Kurotsuki Yumi ihr Gemach. Wie vielen Würdenträgern war sie vorgestellt worden? Sie wusste es nicht … Ihren Ziehvater wiederzusehen hatte sie gefreut, ebenso Tsukishiro Miyu´s Verlobten kennenzulernen – ihrem Adoptivvater dagegen ging es noch immer nicht besser, weshalb die Mesmer noch in dieser Stunde abgereist war. Doch eine Person war nicht zu ihrer Krönung erschienen … Die erneute Begegnung mit Ushi hatte den Scham in ihr neu aufleben lassen – schon damals gehörte ihr Herz eigentlich einem anderen und dennoch hatte sie sich von ihm verführen lassen. Ein Fluch lag ihr auf den Lippen; am liebsten hätte sie seine Leiche wiederauferstehen lassen und noch weitere Male selbst getötet!

„Ich wünsche eine Audienz bei Eurer kaiserlichen Majestät.“, drang eine Stimme vom Fenster zu ihr.

Erst jetzt bemerkte Kurotsuki Yumi, dass es offenstand und sich eine Gestalt gegen die Dunkelheit der Nacht abzeichnete.

„Ihr solltet schnellstmöglich die Sicherheitsvorkehrungen im Palast erhöhen lassen.“, fuhr der junge Mann fort, der sich nun zu erkennen gab.

Die Nekromantin schlug sich die Hände vor den Mund und rief dann aus: „Symeon!“

Kaum zwei Sekunden später fiel sie ihm um den Hals und der Luxon presste sie fest an sich. Ein Teil von ihm hatte geglaubt, sie niemals mehr in den Armen halten zu können … Schon einmal war sie gegangen und er könnte sich ohrfeigen, dass er ihr nicht einfach gefolgt war. Jahrelang hatte Symeon versucht sich erfolglos einzureden, nur eine kleine Schwester oder ähnliches in ihr zu sehen … Natürlich wäre es ein leichtes zu behaupten, ihr Kuss hätte ihn wachgerüttelt – in Wahrheit hatte er längst begriffen, wie viel sie ihm wirklich bedeutete. Und dennoch war zu feige gewesen, sich ihr zu offenbaren …

„Ich liebe dich, Yumi.“, hauchte der Luxon nahe ihrem Ohr.

Ihr Körper versteifte sich. Ja, sie hatte ihn vor ihrem Aufbruch geküsst und er sich nicht dagegen gewehrt … trotzdem hatte sie damit nicht gerechnet.

Dafür gab es ein neues Hindernis, welches Kurotsuki Yumi zur Sprache brachte: „Ich … bin jetzt Kaiserin. Deshalb kann ich nicht zum Jademeer zurückkehren …“

Symeon lachte auf. Etwas an ihr hatte sich verändert – Pflichtbewusstsein schön und gut, aber diese Position war ein ganz anderes Kaliber, wo sie doch die Nominierung des Rates ausgeschlagen hatte.

„Ich lasse dich nicht mehr gehen … Ich bleibe bei dir.“, antwortete Symeon und rückte soweit von Kurotsuki Yumi ab, um ihr ins Gesicht sehen zu können.

Verwunderung spiegelte sich darauf, dann Freude. Und diesmal war er derjenige, der die Initiative ergriff. Es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis im Palast die nächste Feierlichkeit abgehalten werden würde – und zwar eine Doppelhochzeit! Als Titularkaiser würde Symeon Kurotsuki Yumi als erster Berater zur Seite stehen und Selik erhielte dann im Sinne seines Großonkels sogar einen ganz ähnlichen Titel – nämlich Titulargraf.
 

Bis dahin hatte Tsukishiro Miyu jedoch mit etwas anderem zu kämpfen … Während der gesamten Rückreise hatte sie gewünscht, noch rechtzeitig zu kommen … Die letzten Meilen rannte sie regelrecht – durch das gewaltige Eingangstor, dessen Gruß der Wachen sie im Eifer überging, über den gewaltigen Prunkhof, bis zu den Privatgemächern der Herrscherfamilie. Erst vor der Zimmertür ihres Vaters hielt sie kurz inne, um sich zu sammeln, ehe sie nach einem leisen Klopfen eintrat.

„Miyu, mein geliebtes Kind … du bist zurück.“, sagte er schwach.

Tsukishiro Miyu setzte sich an seine Seite. Sie fühlte sich schuldig, weil sie gegangen war … und wusste gleichzeitig, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Und Terrik zu Heltzer war derselben Ansicht – denn man hatte ihn bereits über alle Einzelheiten informiert.

Trotzdem kamen ihr die Worte nur schwer über die Lippen: „Weißt du, selbst wenn Yumi nicht die Erstgeborene wäre … ich hätte die Kaiserwürde verweigert. Weil es für mich einen anderen Platz gibt.“

„Als meine Frau starb, hatte ich Urgoz angefleht, mich von meinem Leid zu erlösen. Und das hat er getan – er hat mich zu dir geführt. Ich habe dich vom ersten Moment an geliebt!“, meinte er, während sich ein Lächeln über seine Züge legte, „Ich bin unglaublich stolz, dein Vater sein zu dürfen!“

Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie gab gerührt zurück: „Und ich bin überglücklich, deine Tochter zu sein …“

Der Graf nahm den Siegelring vom Finger, hielt ihn ihr hin und erklärte: „Von jetzt an bist du Gräfin Tsukishiro Miyu zu Heltzer, das offizielle Oberhaupt dieser Fraktion.“

Ihre Tränen bahnten sich nun vollends ihren Weg, als die Mesmer nach der Herrschaftsinsignie griff und ihren Vater umarmte.

„Ich werde dich nicht enttäuschen!“, schwor sie ihm, ehe er in ihren Armen starb.
 

Gibt es so etwas wie Schicksal? Kurotsuki Yumi und Tsukishiro Miyu wurden Säuglinge voneinander getrennt und dennoch haben sie sich wiedergefunden … Usoku raubte den Thron von Cantha und doch regiert nun die wahre Erbin als Kaiserin über das Reich des Drachens. Ihre Heimat zu befreien – unausweichliches Schicksal oder freier Wille? So oder so … auch bei Zwillingen muss jeder seinen eigenen Weg gehen – ihre Ahnen jedenfalls wären stolz auf diese beiden neuen Verteidiger! Und so wird das Blut der Legenden weiterleben … bis der Mond vom Himmel fällt …

Buch 09: Die Legenden in einer anderen Welt

Ein neuer Schüler

Lachen und freudiges Gemurmel drangen an die Ohren der sechzehnjährigen Nadeshiko Yosogawa, erste Klasse der Thanca-Oberschule von Tokio. Wie jeden Tag, nachdem die erlösende Schulglocke geläutet hatte, und einen Teil der Schüler in die wohl verdiente Freizeit entließ. Aber eben nur einen Teil – der Teil, zu dem auch sie gehörte. Jene Schüler, die keinem Club beigetreten waren. Anders als ihre Zwillingsschwester, welche sich nach der Schule noch fast jeden Tag freiwillig mit Geschichte auseinandersetzte, zusammen mit ihrem festen Freund Klerus Monko. So war Seiketsu Yosogawa schon immer gewesen. Stets wollte sie allen Dingen auf den Grund gehen, aus dem Tun anderer lernen. Nadeshiko träumte lieber still vor sich hin. So wie heute … Tief in Gedanken versunken lief sie am Sportfeld ihrer Schule vorbei.

„Vorsicht!“, schrie jemand und Nadeshiko schreckte auf.

Ein Fußball flog geradewegs auf sie zu. Nadeshiko starrte ihn an, konnte sich nicht mehr rühren … nur noch die Hände vor ihr Gesicht schlagen. Keine Sekunde später prallte der Ball ab – allerdings nicht an ihr. Sie spähte zwischen ihren Fingern hindurch und erblickte einen Jungen, der sich schützend vor sie gestellt hatte. Seine Arme in Abwehrhaltung erhoben, wie beim Karate.

„Du solltest besser auf dich aufpassen.“, sagte dieselbe Stimme, welche sie zuvor gewarnt hatte.

Die Rothaarige blinzelte ein paar Mal. Der fremde Junge drehte sich halb zu ihr um, lächelte und ging. Nadeshiko war so gebannt, dass sie vollkommen vergaß, sich bei ihm zu bedanken.
 

Nadeshiko Yosogawa´s Kopf lag auf der Platte ihres Schulpults. Ihre Schwester warf ihr einen irritierten Blick zu; Nadeshiko benahm sich seit gestern äußerst merkwürdig. Seiketsu stupste sie leicht von der Seite an, doch nur ein Seufzer kam als Antwort.

Die Schulglocke läutete und der Lehrer betrat den Raum mit den Worten: „Aufstehen, verbeugen.“

Alle Schüler kamen seiner Aufforderung nach, wobei es bei Nadeshiko eher ein reiner Mechanismus war. Sie war nicht wirklich anwesend, irgendwie ganz weit weg. Nicht dass das etwas neues gewesen wäre, nur die Art … Sonst wirkte sie immer glücklich, wenn sie vor sich hinträumte.

„Ich habe euch einen neuen Mitschüler anzukündigen.“, erklärte der Lehrer, „Tritt ein und stelle dich der Klasse vor.“

Der Neue öffnete die Schiebetür und obwohl Nadeshiko nicht aufschaute, hörte sie ihm dennoch zu: „Mein Name ist Taiyo Ryuohtah.“

Diese Stimme! Nadeshiko fuhr regelrecht hoch. Es war eben jener Junge, der sie gestern Nachmittag vor dem Fußball gerettet hatte. Ryuohtah Taiyo … Ungewöhnlicher Name, dachte sie und gleichzeitig stieg ein warmes Gefühl in ihr auf. Lag es daran, dass sie ihm nicht zum ersten Mal begegnete oder weil er ihr geholfen hatte? Irgendetwas ließ sie eine Verbindung zu ihm spüren …

„Setz´ dich hinter Yosogawa.“, ordnete der Lehrer an und kratzte sich an der Wange, „Die Rothaarige von beiden, meine ich.“

Nadeshiko´s Augen weiteten sich. Ihr Lehrer sprach tatsächlich von dem Platz hinter ihr. Ryuohtah würde hinter ihr sitzen, nur einen Platz entfernt sein. Ganz nah bei ihr. Ryuohtah Taiyo selbst war bereits beim Betreten des Zimmers aufgefallen, dass er in ihrer Klasse gelandet war. Und jetzt sollte er auch noch bei ihr sitzen. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als er auf dem zugewiesenen Stuhl Platz nahm. Beide sehnten von diesem Moment dem Ende der Stunde entgegen – was Seiketsu nicht verborgen blieb und mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert wurde. Als es dann endlich soweit war, drehte Nadeshiko sofort ihren Stuhl zu seinem Pult um.

Röte legte legte sich auf ihre Wangen, während sie ihn ansprach: „Taiyo-kun, ich-“

„Ohtah.“, unterbrach er sie sanft, „Bitte. Einfach nur Ohtah.“

Sie lächelte zaghaft und erwiderte: „Oh-Ohtah … Und mich nennen meine Freunde >Shiko< …“

„Shiko? Das klingt sehr schön.“, meinte er, was sie noch verlegener machte.

Bevor sie am Ende gar nichts mehr herausbrachte, sagte sie schnell: „Also, wegen gestern … Ich … ich wollte mich noch bei dir bedanken. Du hast mich gerettet!“

„Einer Dame muss man doch zu Hilfe eilen.“, winkte er ab, zwinkerte ihr aber noch zu.

Wieder ertönte die Schulglocke, diesmal verfluchte Nadeshiko sie und für den Rest des Tages fiel es ihr äußerst schwer sich auf den Unterricht zu konzentrieren, denn ihre Gedanken kreisten nur um ein Thema – Ryuohtah Taiyo.
 

Liebe geht nicht nur durch den Magen

Dieser Tag gehörte zu den wenigen Ausnahmen, an denen Seiketsu Yosogawa einmal nicht ihren Clubaktivitäten nachging und so konnte sie ihre Schwester gleich über Ryuohtah ausfragen.

„Es ist das erste Mal, dass du dich … Wie soll ich sagen? Ernsthaft für einen Jungen interessierst.“, stellte die Braunhaarige auf dem Nachhauseweg fest.

Nadeshiko hatte gewusst, dass dieses Gespräch kommen würde und ergab sich darum lieber gleich ihrem Schicksal: „Ich … Es kommt mir so vor, als wäre ich meinem leibhaftigen Schutzengel begegnet.“

„Und ich glaube, du hast dich total in ihn verknallt!“, lachte Seiketsu.

Sofort schoss Nadeshiko das Blut ins Gesicht und sie gestand leise: „Ich befürchte … du hast recht. Oh Sei-nee, was soll ich jetzt nur tun?“

„Erst mal ruhig bleiben.“, meinte sie beschwichtigend, „Es gibt absolut keinen Grund, warum er sich nicht auch in dich verlieben sollte – du bist wunderschön, klug, ehrlich und-“

Nadeshiko hob die Hand, um sie zu unterbrechen: „Furchtbar ungeschickt! Mal im Ernst – er hat einen Ball für mich abgewehrt, weil ich zu unfähig war … So perfekt, wie du immer sagst, bin ich nicht. Allein bin ich doch total hilflos!“

„Umso besser, Shiko-chan!“, neckte Seiketsu sie und legte ihr einen Arm um die Schulter, „Das scheint ja seinen Beschützerinstinkt zu wecken!“

Die Schwestern lachten. Es tat unheimlich gut mit jemandem reden zu können, der einen wirklich verstand. Seiketsu würde alles für ihre – immerhin ganze sieben Minuten – jüngere Schwester tun.

„Ich werde ihm ein Bento machen!“, rief Nadeshiko plötzlich aus, „Also … jetzt nicht irgendwas mit Herzen oder so …“

Perplex blieb Seiketsu stehen. Es war ihr wirklich absolut ernst mit diesem Ryuohtah …
 

Sie konnte nicht glauben, dass sie so in ihre Pläne vertieft gewesen war, wie sie Ryuohtah das Bento übergeben wollte, dass sie es gar nicht mitbekommen hatte – er hatte das Klassenzimmer bereits verlassen! Seiketsu sei Dank, dass sie wenigstens jetzt nach ihm suchen konnte. Nadeshiko rannte, so schnell sie konnte, die Stufen hinunter – kein Wunder, dass sie die feuchte Stelle übersah und darauf ausrutschte. Erst kam sie nur ins Straucheln, ruderte wild mit den Armen, dann kippte sie doch nach vorn. Erschrocken kniff sie die Augen zusammen – beinahe ein natürlicher Reflex bei ihr. Da packte jemand ihren Arm und hinderte sie daran vollends zu fallen. Nadeshiko atmete erleichtert auf. Ihre Füße standen wieder fest auf dem Boden.

„Siehst aus, als wäre ich so was wie dein persönlicher Held.“, witzelte ausgerechnet Ryuohtah, „Wo wolltest du denn so eilig hin?“

Mit bleichem Gesicht sah sie ihn an und hauchte: „Zu dir.“

Überraschung zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Dieser Ausdruck verstärkte sich noch, als sie ihm das eingepackte Bento entgegen hielt. Unsicher griff er danach, mit einem imaginären Fragezeichen über dem Kopf.

Nadeshiko räusperte sich verlegen und fragte: „Wollen wir zusammen Mittagessen?“

„Unter einer Bedingung …“, erwiderte Ryuohtah schelmisch, „Wir gehen dafür zu deinem Lieblingsort hier. Die Schule ist immer noch neu für mich – aber die überfüllte Mensa würde ich gern tunlichst meiden.“

Um seine Gunst zu erringen, musste sie ihm ihr Herz öffnen – und so brachte sie ihn zu einem abgeschiedenen Teil des Schulgartens. Dort stand ein verlassener Busch wunderschöner Rosen, deren Blätter tiefrot leuchteten und an den Rändern leicht ausfransten.

„Rote Rosen …“, flüsterte Nadeshiko überwältigt, „Meine Lieblingsblumen. Nicht sehr originell, was?“

Ryuohtah kniete vor ihnen nieder, um fast ehrfürchtig über die Blüten zu streicheln.

„Sie passen zu dir, Shiko … In dir lebt dasselbe Feuer wie in ihnen.“, sagte er und lächelte sie an.

Etwas peinlich berührt wechselte sie das Thema: „Lass uns jetzt essen. Die Pause dauert schließlich nicht ewig … Itadakisamasu!“

Während dem Essen schwiegen beide. Aber Nadeshiko beobachtete aus den Augenwinkeln seine Reaktion. Es schmeckte ihm! Ein riesiger Stein fiel ihr vom Herzen.

„Shiko?“, riss Ryuohtah sie aus ihren Gedanken, „Arigato … für das Bento und diesen Ort.“

Dann gab er ihr einen Handkuss.
 

Rettung in letzter Sekunde

Von da an verbrachten Nadeshiko Yosogawa und Ryuohtah Taiyo jede Mittagspause zusammen vor dem Rosenbusch, selbst als der Herbst Einzug hielt und es langsam jeden Tag ein wenig kälter wurde. Manchmal begleitete er sie sogar nach Hause, wenn Seiketsu entweder mit ihrem Club beschäftigt war oder eine Verabredung mit Klerus hatte – die Zwillingsschwestern schwebten sprichwörtlich auf Wolke sieben. Und diese Euphorie veranlasste Nadeshiko sogar zu einer spontanen Einkaufstour – obwohl Shopping, ganz untypisch für Mädchen in ihrem Alter, eigentlich nicht wirklich ihr Ding war. Aber es ging mit jeder Woche näher an Weihnachten heran und das war eine zusätzliche Motivationsquelle. Nadeshiko liebte die weihnachtliche Dekoration und das Lichtermeer ... Dabei bemerkte sie nicht, wie ihr jemand seit unbestimmter Zeit folgte. Nadeshiko stand an der Ecke einer Gasse und betrachtete staunend das Schaufenster eines Blumenladens. Als sie auf einmal grob am Arm gepackt wurde. Ihr Angreifer zerrte sie in die Dunkelheit des schmalen Weges und presste sie gegen einen kalten Türrahmen aus Stein. Voller Angst starrte das Mädchen ihn an – seine gelben Augen durchbohrten sie, die grässliche Narbe über der rechten Wange brannte sich in ihr Gedächtnis ein.

„Du wirst nicht schreien, verstanden? Sonst könnte ich sehr ungemütlich werden … und das würde uns den Spaß verderben.“, drohte er und legte seine Hand von ihrem Mund unter den Saum ihres Kleides.

Trotz der dicken Strumpfhose stieg bei dieser Berührung die Übelkeit in der Rothaarigen auf und sie rief nach dem einzigen Menschen, an den sie denken konnte: „OHTAH! Hilf mir …“

Er lachte höhnisch und leckte sich über die Lippen, als er erwiderte: „Tja, Süße, nur hört dich hier leider niemand.“

„Sei dir da mal nicht so sicher!“, hallte Ryuohtah´s Stimme durch die Gasse.

Er traf den Fremden mit einem geraden Faustschlag im Gesicht, sodass er rückwärts taumelte, weg von Nadeshiko. An seine Position trat Ryuohtah in Abwehrstellung.

„Ich warne dich! Wage es nicht noch einmal, Shiko zu nahe zu kommen!“, erklärte er wütend.

Er zuckte mit den Schultern und warf ihr eine Kusshand zu. Dann zog er ab. Nadeshiko brach in die Knie, alle Kraft hatte sie verlassen.

„Shiko!“, kam es erschrocken von Ryuohtah und er eilte an ihre Seite, „Komm´, ich bring dich nach Hause …“

Weil er traute ihren Beinen nicht traute, nahm er sie Huckepack – Nadeshiko widersprach nicht einmal.

Ryuohtah war bereits einige Straßen mit ihr auf dem Rücken gegangen, als sie das Wort ergriff: „Du warst schon wieder da, um mich zu retten … Warum, wie?“

„Du hast mich doch gerufen.“, antwortete er gefasster, „Weißt du, da ist die ganze Zeit so ein merkwürdiges Gefühl in mir. Ich muss mich einfach immer wieder vergewissern, dass es dir gut geht. Also laufe ich los … und ich finde dich, jedes Mal. Gomenasai … das hört sich bestimmt ziemlich merkwürdig an – vor allem nach gerade eben.“

Nadeshiko drückte sich enger gegen seine Schulter, als sie flüsterte: „Nicht aus deinem Mund. Arigato, Ohtah … Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn du nicht gekommen wärst.“

Ein Knurren entfuhr ihm: „Daran will ich gar nicht denken!“
 

Das Haus war leer. Nadeshiko´s Eltern arbeiteten beide ganztags und Seiketsu hatte eine Verabredung mit Klerus. Es gehörte sich zwar nicht, dass zwei so junge Menschen allein zu Hause waren, aber Ryuohtah wollte Nadeshiko unter keinen Umständen allein lassen – lieber bezog er eine Standpauke.

„Du solltest etwas schlafen.“, riet er ihr und deckte sie zu, nachdem Nadeshiko es sich auf der Couch bequem gemacht hatte.

Verlegen versteckte sie sich etwas unter der Decke und fragte leise: „Würdest du … Hältst du bitte meine Hand, bis ich eingeschlafen bin, Ohtah?“

Sofort nahm er ihre Hand in seine, drückte einen Kuss darauf. Das, was geschehen war, hätte nie passieren dürfen – nicht ihr! Es gab kein reineres und schöneres Wesen als Nadeshiko … nicht für ihn. Es dauerte nicht lange und Nadeshiko´s Lider fielen von selbst zu, dabei hatte sie schwören können, es wäre nicht das erste Mal, dass Ryuohtah über ihren Schlaf wachte – was natürlich vollkommener Blödsin war! Während Ryuohtah in ihren Anblick vertieft war, öffnete sich die Haustür mit einem leisen Quietschen. Anschließend trat Seiketsu ins Wohnzimmer.

Ihre Augen weiteten sich und sie wollte umgehend wissen: „Was ist hier vorgefallen?“

Der missbilligende Tonfall entging ihm nicht, doch er konnte es ihr auch nicht verübeln. Knapp berichtete er von dem Überfall auf Nadeshiko. Er musste sich stark beherrschen, um seine Wut unter Kontrolle zu halten. Seiketsu stockte der Atem bei der Erzählung – sie stellte sich das grauenhafte Szenario bildlich vor. Ausgerechnet ihre kleine Schwester!

„Und du warst zufällig zur rechten Zeit am richtigen Ort?“, hakte sie nach.

Mit leichter Röte im Gesicht erklärte er: „Ich hatte ein ungutes Gefühl und habe nach ihr gesucht.“

„Verstehe.“, meinte Seiketsu und sie lächelte wehmütig, „Ich muss dir danken, Taiyo-kun … Shiko ist das wertvollste, was ich habe.“

Ryuohtah erwiderte ihr Lächeln und sagte mehr zu sich selbst: „Ja, Shiko ist ein Schatz … Und diesen Schatz werde ich um jeden Preis beschützen!“
 

Von arrangierter Verlobung und wahrer Liebe

Nadeshiko, Seiketsu und ihre Eltern saßen im Wohnzimmer und tranken Tee. Die Schwestern unterhielten sich angeregt über die bevorstehenden Prüfungen. Da gebietet ihnen ihr Vater plötzlich zu schweigen.

„Ich habe etwas sehr wichtiges mit dir zu besprechen, Nadeshiko.“, sagte er und legte ein Foto in die Mitte des Tisches, „Dieser junge Mann heißt Rien … Er ist der Sohn eines Bekannten von mir. Vielleicht erinnerst du dich noch daran, damals als ihr beide weggelaufen seid, war er es, der euch vor diesem wilden Köter beschützt und nach Hause gebracht hat. Zur Wiedergutmachung, weil er von dem Tier verletzt wurde und dadurch eine grauenhafte Narbe im Gesicht zurückbehalten hat, verlangt er, dass du seine Frau wirst, Nadeshiko. Lange Zeit hat er in Amerika studiert, nun ist er wieder in Japan und will sein Wort wahrmachen.“

Es war, als höre Nadeshiko diese Informationen als dritte Person. Sie konnte ihren Blick nicht von dem Abbild des Mannes nehmen. Niemals würde sie es vergessen … Diese gelben Augen und auch die Narbe verfolgten sie in ihren Alpträumen. Dass sie nicht verrückt geworden war, lag einzig und allein an Ryuohtah Taiyo – er rettete sie jede Nacht erneut. Außerdem … wie sollte ihn oder überhaupt irgendeinen anderen heiraten, wenn ihr Herz bereits Ryuohtah gehörte?

„A-aber, Otosama, ist … ist das nicht ein ziemlich hoher Preis?“, fragte Seiketsu mit geschocktem Unterton, „Ich meine, es ist ja nicht Shiko´s Schuld gewesen.“

Sein Blick sprach Bände. Er duldete keinen Widerspruch. Seine Tochter hatte ihm Folge zu leisten.

Doch nicht mit Nadeshiko: „Niemals. Ich werde ihn nicht heiraten … Nicht ihn. Lieber sterbe ich!“

Damit sprang sie von der Couch aus und stürmte aus dem Raum, zur Haustür hinaus. Ihr Vater stand empört auf, schaute ihr nach. Ihre Mutter wirkte erschrocken. Nur Seiketsu blieb ruhig … Sie ahnte, wohin ihre Zwillingsschwester gehen würde. In dieser Situation konnte nur er ihr helfen.
 

Sie rannte die Straßen entlang, ohne genau zu wissen, wohin ihr Weg eigentlich führte. Sie kannte nur ihr Ziel – die Person, die sie jetzt unbedingt sehen wollte. Unter allen Umständen. Irgendwann hielt sie an, um Luft zu holen. Ihre Brust schmerzte, sie hatte Seitenstechen.

„Ohtah …“, flüsterte sie weinend und sank an der Wand entlang zu Boden.

Jemand trat aus dem Gebäude, vor dem sie zusammengebrochen war, und eine bekannte Stimme rief verwundert: „Shiko! Was machst du denn hier? Was ist passiert?“

Nadeshiko schaute hoch. Da stand er – Ryuohtah, ihr Held, in seinem Karate-Anzug mit dem blauen Gürtel des fünften Kyu. Unwillkürlich musste sie lächeln. Er hatte sie gefunden … wieder einmal.

Er half ihr aufzustehen und meinte: „Ich bring´ dich erst mal rein. Bei mir bist du in Sicherheit – immer, das verspreche ich dir.“

Ryuohtah führte die aufgelöste Nadeshiko in den Trainingsraum des Dojo´s seiner Familie. Wie durch Zufall war sie genau hier gelandet, bei ihm. Rasch goss er einen Tee auf und stellte den Becher auf den Boden. Die Tränen flossen weiterhin über ihre Wangen. Er nahm neben ihr Platz, sofort lehnte sie sich an ihn und Ryuohtah schloss sie fest in die Arme.

Der Tee dampfte bereits nicht mehr, als Nadeshiko schluchzend zu sprechen begann: „Ohtah, ich … ich … Ich liebe dich …“

Ein Schauer schoss durch seinen Körper und er verkrampfte sich spürbar, nur mit Mühe gelang es ihm zu antworten: „Und … warum weinst du dann? Glaubst du etwa … ich … ich würde nicht dasselbe für dich empfinden?“

Sie schüttelte den Kopf, den sie noch immer an seiner Schulter vergraben hatte: „Meine … meine Eltern … Sie haben … Sie wollen mich verheiraten! Rien … Er ist derjenige, der mich …“

Nadeshiko konnte den den Satz nicht beenden. In Ryuohtah kochte die Wut hoch – er wusste auch so, von wem sie sprach.

„Dieses miese Schwein! Ich hatte ihn gewarnt – diesmal mache ich ihn fertig!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, dann zwang er Nadeshiko, ihn anzusehen, „Keine Angst … Ich lasse nicht zu, dass dieser Kerl dich noch einmal anfasst! Ich würde es nicht ertragen … Weil ich dich auch liebe, Shiko … von ersten Moment an.“

Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Egal was es ihn kostete, Rien würde sie nicht zur Frau bekommen, niemals. Er würde ihren Eltern erzählen, was vorgefallen war … alles tun, was sie von ihm verlangten, solange er nur ihre Tochter lieben durfte. Und dann tat Ryuohtah das, wonach er sich schon so lange sehnte – er küsste Nadeshiko.
 

Sein bleibt bestehen! Und auch sein Wunsch, dass sie wieder seine Frau wird, soll sich in diesem Leben erfüllen … Nadeshiko Yosogawa und Ryuohtah Taiyo werden um ihre Liebe kämpfen! Natürlich mit der Unterstützung von Seiketsu Yosogawa und Klerus Monko, dessen Seele sich ihnen ebenfalls ewigen Zyklus folgt, um mit seiner Geliebten vereint zu sein. So werden die einstigen Legenden von nun an stets ein ultimatives Happy End erleben …

Buch 10: Die Legenden am Rande des Himmels

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Buch 11: Die Prophetin der Legende

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Buch 12: Die Legende vom Wandel des Herzens

Die Rückkehr der Elben

Avalon – ein vergessener Inselkontinent im Meer von Raum und Zeit, verschleiert von Nebeln, umringt von einem undurchdringlichen Wald, beherrscht von einem gewaltigen Berg inmitten des Herzlandes. Über dieses Reich herrscht Torarien, König der Elben und Vater von drei Söhnen namens Kamekle, Ryuohtah und Hoorgo.

Und für sie hatte Torarien nun einen Auftrag von aller höchster Wichtigkeit: „Ihr wisst, warum wir ein Leben in dieser tristen Einöde fristen müssen … Wir wurden gejagt und vertrieben von den widerlichsten Abscheulichkeiten, die jemals auf Erden wandelten – den Menschen! Wir haben damals aus Respekt vor der Natur den Kampf gescheut und sind hierher geflohen; doch diese Welt lässt uns immer weiter ausbluten … Ihr seid die begabtesten Krieger unseres Volkes, darum entsende ich euch auf die Erde, um sie für uns zurückzuerobern! Kamekle, Hoorgo … Ryuohtah, enttäuscht mich nicht!“

„Jawohl, Vater … Eure Majestät!“, kam es im Gleichklang zurück und die Brüder salutierten.

Der Erstgeborene und damit nächster Anwärter auf den Thron, Kamekle war mit seiner schlaksigen Gestalt der geborene Gelehrte und Stratege. Die Kampfausbildung hatte er nur auf Torarien´s Verlangen hin über sich ergehen lassen – dennoch gehörte er durch Alfirin, seine Immerweiße Blume zu den besten Rapier-Meistern. Sein jüngster Bruder Hoorgo war das genaue Gegenteil von ihm – er liebte das Kämpfen und stürmte mit seinem mächtigen Zweihänder am liebsten mitten in die gegnerische Gruppe, die er mit seinem flammend roten Haar meist schon von Weitem ziemlich einschüchterte. Und Ryuohtah? In den Augen seines Vaters besaß er keinerlei herausragende Fähigkeiten. Zwar konnte im Duell kaum jemand gegen seine beiden Langdolche ankommen, aber das genügte Torarien nicht – von dem äußeren Makel seines Sohnes einmal ganz abgesehen. Die Elben liebten und verehrten Perfektion, danach zu streben war ein großer Teil ihrer Kultur; da passte die Heterochromie von Ryuohtah´s Augen nicht hinein – rechts schwarz, links rot. Seinen Brüdern dagegen war dieser Unterschied herzlich egal, sie respektierten und liebten ihn.

Aus diesem Grund durchschritten sie auch gemeinsam das Portal, Seite an Seite. Eiskalte Luft schlug ihnen entgegen, fremde Sternbilder leuchteten über ihren Köpfen – die Nacht hatte hier eine ganz andere Gestalt als in Avalon. Und was war bloß mit dem Boden los? Der dunkelgraue, harte Asphalt war den Elben vollkommen unbekannt. Sie kannten nicht einmal Elektrizität oder sonstige moderne Technik. Wenigstens die menschliche Sprache beherrschten sie fließend – wobei die Magie ihnen half, sich an die jeweilige Region anzupassen.

„Wo sind denn jetzt diese Würmer?“, keifte Hoorgo schlecht gelaunt, „Meiner Klinge dürstet es nach Blut!“
 

Währenddessen wurde Shiko Yosogawa an einem anderen Ort jener Stadt von einem Alptraum nach dem nächsten geplagt – mathematische Formeln, Vokabeln, Grammatikregeln, der ganze Schulstoff wirbelte durch ihren Geist. Es war, als liefe sie durch einen nie endenden Tunnel des Lernens. Doch dann veränderte sich etwas.

Jemand rief ihren Namen … ihren waren Namen: „Shikon … Shikon, erwache!“

Shiko konnte die männliche Stimme nicht zuordnen, dabei kam sie ihr irgendwie bekannt vor … was allerdings noch viel wichtiger war – woher kannte er ihre richtige Identität? Mit einem markerschütternden Schrei fuhr Shiko aus dem Schlaf hoch; sie saß kerzengerade im Bett und presste die Arme an die Brust. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie keuchte erschöpft. Es war Magie, alte Magie. Und diese Energie pumpte durch ihren Körper, verwandelte ihn. Das Erbe ihres Vater´s ruhte nicht länger …

Von einer Sekunde zur anderen verschwand der Schmerz wieder. Hastig sprang Shiko aus dem Bett auf und stürzte zum Wandspiegel. Das Mädchen ihr gegenüber hatte rotbraunes Haar, das ihr über den gesamten Rücken fiel. Ein Edelstein – möglicherweise ein Rubin – prangte auf ihrer Stirn und sie trug ein Kleid, das nicht von Menschenhand gemacht sein konnte. Und obwohl sie wusste, was sie erwarten würde, erschrak Shiko beim Anblick ihrer spitz zulaufenden Ohren – sie war tatsächlich zur Elbe geworden!
 

Shikon folgte der magischen Spur. In ihrer Hand ruhte ein Bogen, der sich allein durch ihre Gedanken materialisiert hatte … nur indem ihr sein Name durch den Kopf gegangen war – »Feuerblume«. Trotz des Zwielichts entdeckte sie drei Krieger auf offener Straße; alle trugen unterschiedliche Arten von Schwertern, hatten andere Staturen und gehörten ebenfalls eindeutig zum Volk der Elben. Mit Schrecken registrierte Shikon, wie die Fremden auf die herannahenden Menschen reagierten … Bevor sie etwas dagegen tun konnte, erlebte sie ein Szenario geboren aus schlimmster Grausamkeit, ein wahrhaftiges Massaker. Der Mann, welcher den Zweihänder führte, schlachtete zwei Menschen gleichzeitig regelrecht ab. Die Blutlache auf der Straße schimmerte im Mondlicht. Shikon stieg die Galle hoch. Ein Pfeil schnellte von Shikon´s Sehne – der erste überhaupt –, während sie ihr ganzes Vertrauen in die magische Kraft ihrer Waffe legte. Genau in diesem Moment trat jedoch der Elb mit den beiden Langdolchen in den Weg, sodass das Geschoss seine rechte Wange streifte und einen langen blutigen Striemen hinterließ. Für den Bruchteil einer Sekunde, der ihren elbischen Sinnen vollkommen genügte, begegneten sich ihre Blicke. Zwei verschiedenfarbige Iriden brannten sich in ihre schokoladenbraune Iris …

Im ersten Moment war sie von einem merkwürdigen Glühen erfüllt, dann kam die Angst – Flucht wäre ihre einzige Hoffnung! Die Energie, welche sie verändert hatte, verschwand und mit ihr auch Feuerblume, die sich in ihre Seele zurückzog. Einem Mensch könnten sie sicher schwerlicher folgen, wenn überhaupt – doch der Elb war ohnehin viel zu verwundert gewesen, um der Rothaarigen hätte folgen zu können.

Hätte Shikon jedoch geahnt, was ihr in der kommenden Zeit bevorstand, hätte sie vielleicht lieber jetzt dem Tod ins Auge geblickt … Ein Zitat, das sie irgendwann einmal aufgeschnappt hatte, besagte »heute leben, morgen kämpfen«. Aber wäre sterben wirklich so schrecklich gewesen, im Vergleich zu den bevorstehenden Ereignissen?
 

Ryuohtah berührte die blutende Stelle. Eine Woge der Wut schwappte über ihn hinweg … bis ihm der Blick der Elbe wieder vor die Augen trat. Diese Tiefe hatte ihn gepackt, gefesselt, ergriffen – etwas schien nicht mit ihm zu stimmen.

„Was ist denn auf einmal mit dir los?“, schnauzte Hoorgo ihn an.

Doch Kamekle hielt seinen jüngsten Bruder zurück und meinte: „Es ist erstaunlich, dass ihre Aura so plötzlich verschwunden ist.“

Der Braunhaarige nickte beklemmt. Hoorgo stürzte sich derweil auf sein Schwert Dúath, was in Sindarin so viel wie »Dunkelheit« bedeutete, und verstand absolut kein Wort; er war zu beschäftigt gewesen, um das kurze Aufflackern von fremder Magie zu bemerken.

„Wir müssen zurück nach Avalon und Vater Bericht erstatten – unser Auftrag sah keine elbische Gegengewehr vor.“, entschied der Älteste.

Bevor Hoorgo selbst den geringsten Widerstand leisten konnte, öffnete Kamekle bereits das Portal und stieß ihn hinein. Ryuohtah dagegen musste er nicht bitten. Die Brüder hatten den größten Teil ihres Lebens nur zu dritt verbracht und kannten daher jedes Verhaltensmuster der anderen.

Kein Wunder also, dass der Kronprinz wie selbstverständlich nach ihrer Rückkehr das Wort an den Herrscher richtete: „Vater … Eure Majestät, es gab Komplikationen. Wir sind auf der Erde nicht nur auf Menschen gestoßen … Eine Frau elbischen Blutes hat uns angegriffen.“

„Das kann nicht sein!“, donnerte Torarien, „Es gibt keine Elben mehr in jener Welt! Wie könnt ihr euch da so sicher sein?“

Entgegen des Protokolls erhob sich nun Ryuohtah und sprach: „Ihre Aura … die Ausstrahlung dieser Magie war eindeutig die unseres Volkes. Ich bitte Euch, Vater … ich bin es, der von ihrem Pfeil verwundet wurde – erlaubt mir auf die Erde zurückzukehren und sie persönlich hierher zu schleifen, um diese Schmach zu tilgen und Euch den Beweis zu erbringen.“

Torarien´s Gesichtsausdruck wurde hart, als er entgegnete: „Natürlich … Wer außer dir könnte derart scheitern?! Aber gut, dein Vorschlag soll mir recht sein – so muss ich deine Visage wenigstens nicht in meiner Nähe ertragen. Bring´ dieses Miststück zu mir … Und wehe, du wagst es, dich ohne sie wieder in meinem Reich blicken zu lassen!“

Seine Worte verletzten Ryuohtah mehr, als es jede Klinge vermocht hätte. Wäre er nicht auch der Sohn seiner Mutter Chunryu – die einzige Person, die Torarien in seinem Leben wohl wirklich geliebt hatte –, hätte der König ihn sicher bereits vor Jahrzehnten getötet. So musste er lediglich mit dessen Groll leben …
 

Noch mehr Probleme ...

In den folgenden Tagen war Shiko wie ausgewechselt – anstatt wie sonst dem Unterricht zu folgen, war sie ständig in Gedanken versunken und kritzelte ohne darauf zu achten etwas in ihren Block hinein.

Nach der Schule wurde sie von ihrer besten Freundin Seiketsu Aokawa abgefangen, die sie durch die Innenstadt schleppte, um sie gebührend auszuquetschen: „Was ist in letzter Zeit eigentlich mit dir los, Shiko-chan? Sag´ bloß, du hast irgendeinen Kerl kennengelernt und mir nichts von ihm erzählt?!“

Als ob sie ihr die Wahrheit hätte sagen können … Innerhalb einer Nacht hatte sich Shiko´s Leben komplett auf den Kopf gestellt. Nicht nur, dass das Blut ihres Vaters in ihren Adern erwacht war und sie sich dadurch in eine Elbe verwandelt hatte … Es waren auch noch andere Elben auf der Erde erschienen, die – nebenbei gesagt – zwei Menschen ermordet hatten! Nicht gerade leicht all diese Erlebnisse auf die Reihe zu bekommen … Einerseits wünschte sich Shiko nichts sehnlicher, als nur ein ganz normales Mädchen zu sein; auf der anderen Seite war es ein unbeschreibliches Gefühl gewesen, sich so frei und beinahe schwerelos zu bewegen … Wie sie es drehte und wendete, die Ausgangssituation blieb dieselbe – das Blut der Elben floss durch ihren Körper, ob sie es wollte oder nicht, und diese Fremden stellten eine Bedrohung für die Bewohner der Stadt dar, die sie ignorieren … oder aber bekämpfen konnte. Wobei dies eine rein rhetorische Frage blieb – niemals könnte sie einfach nur zu- geschweige denn wegsehen; eher erschien es ihr, ihre Verantwortung zu sein.

Seiketsu wedelte ihr mit der Hand vor dem Gesicht herum, während sie fragte: „Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?“

„Natürlich nicht!“, entfuhr es Shiko, „Ich meine – klar, höre ich dir zu, Sei-chan. Und nein, da gibt es niemanden …“

Sie wollte unter keinen Umständen länger an den braunhaarigen Krieger mit den zwei Klingen denken. Nur warum ging ihr dieser Typ dann nicht endlich aus dem Sinn? Selbst im Traum verfolgten sie seine Augen … schwarz und rot.

„Trotzdem … Irgendetwas stimmt nicht mit dir.“, beharrte Seiketsu, dann schlug sie die Hände vor den Mund, „Oh nein, ist … ist es wegen deiner Mutter?“

Shiko schwieg. Noch so ein schwieriges Thema … ihre Mutter Kaira. Was vor gut einem Jahr als harmlose Erkältung begonnen hatte, war zu einer tödlichen Lungenentzündung geworden. Seitdem lebte die junge Schülerin allein in der Wohnung, da sie keine anderen Verwandten hatte … beziehungsweise nichts über sie wusste, beispielsweise über ihren Vater Tetogo – von der Sache mit der elbischen Abstammung einmal abgesehen. Sollte Seiketsu ruhig glauben, sie wäre wegen dem baldigen Todestag so seltsam drauf.

Da drang plötzlich die Melodie eines Liedes aus dem Geschäft, vor dem sie zum Stehen gekommen waren. Der Sänger erzählte von einem Liebespaar, welches sich nach tausend Jahren endlich wiedersehen konnte, nachdem ihr Feind endlich besiegt war, der ihr Glück überschattet hatte … an jeder Stelle, an der sie sich einst trennten. Tief im Wald begegneten sie sich im Licht des Vollmondes und gemeinsam erfüllten sie so ihr Schicksal.

Shiko wurde melancholisch zumute. Sie liebte die Vorstellung des Elbenvolkes über das silberne Mondlicht … Wenn Sterbende den Sinn ihres Lebens erfüllt hatten, wurden sie nicht mehr in ein neues Leben wiedergeboren, sondern gingen ins Mondlicht ein, um dort auf ewig mit ihren Liebsten vereint zu sein. Irgendwie hoffte Shiko, auf diese Art eines Tages ihre Mutter wiederzusehen …

„>Dein Herz kommt nicht zur Ruh´<.“, wiederholte die Rothaarige kaum hörbar, „Wie wahr …“

Seiketsu lächelte mitfühlend und sagte: „Es wird besser. Du bist doch sonst so optimistisch!“

Das sanfte Lied endete. Doch erst jetzt realisierte Shiko, dass seine Worte in Sindarin gesprochen waren … der Sprache der Elben!
 

Zu Hause warf Shiko ihre Schultasche mit voller Wucht gegen eine Wand, sodass sich der gesamte Inhalt auf dem Boden verteilte. War sie nicht schon freaky genug gewesen – auch ohne diese ganze Elben-Nummer? Nicht nur dass sie sich in eine andere Rasse verhandelt hatte; jetzt konnte sie auch noch eine Sprache sprechen, die sie niemals jemand gelehrt hatte! Langsam sprach sie ein paar einfache Worte aus, die ihr durch den Sinn gingen. Bis es in ein freudloses Lachen überging …

Plötzlich kam ihr eine Idee – Hausaufgaben! Nichts konnte sie mehr ablenken, als sich auf Mathematik konzentrieren zu müssen. Dafür würde sie alle ihre Gehirnwindungen brauchen. Shiko nahm also ihren Block vom Boden, schlug eine unbestimmte Seite auf und erschrak. Eine Bleistiftzeichnung starrte ihr entgegen – wild abstehendes Haar, spitze Ohren und unterschiedlich dunkel schraffierte Augen … sogar die blutende Schramme hatte sie in das Bild eingefügt und damit ein genaues Abbild jenes Kriegers geschaffen, den sie verwundet hatte. Wie konnte man nur so blöd sein, den ganzen Tag nicht zu kapieren, was man da eigentlich vor sich hinkritzelte?!

Wie vom Blitz getroffen sprang Shiko auf und schnappte sich erneut ihre Tasche. Keine drei Sekunden später war sie bereits wieder zur Tür hinaus geeilt, zurück in Richtung Stadt. Ihre Füße trugen sie ohne großes Zutun zurück zu jenem Geschäft, aus dem zuvor die elbische Musik gedrungen war … Ein goldener Sonnenstrahl leuchtete ihr vom Cover einer der CDs entgegen – Shiko wusste sofort, dass der Interpret irgendwie mit dem Volk ihres Vaters in Verbindung stehen musste … nur auf welche Weise vermochte sie noch nicht zu sagen. Denn ihre Mutter hatte ihr einst erzählt, es gäbe keine Elben mehr auf der Erde. Alle waren sie in die andere Welt gegangen …

Sie kaufte die CD und betrachtete die Titelliste beim Hinauslaufen, dabei sprach die Rothaarige eines der Worte aus, um seinen Klang vernehmen zu können: „Avalon …“

Da knallte sie plötzlich mit voller Wut gegen einen jungen Mann. Mit einer hastigen Entschuldigen auf den Lippen schaute Shiko zu ihm auf. Er war einen ganzen Kopf größer, das braune Haar stand in alle Richtungen ab und seine schwarzen Augen musterten sie, während sich ihre Augenlider mehrmals perplex hoben sowie senken.

„Was. Hast. Du. Da. Gerade. Gesagt?“, fragte er betont langsam, sodass mir jede einzelne Silbe einen Schauer über den Rücken jagte.

Als sie nicht reagierte, packte der Fremde sie am Arm und zog sie ein Stück hinter sich her.

„Du kommst mit mir!“, knurrte er, ohne sie freizugeben.

Hatte sie sich gerade verhört? Endlich erwachte Shiko´s Kampfgeist! Sie riss sich mit einem Ruck von ihm los und holte ihre Wasserflasche aus der Tasche – bevor er irgendwelche Anstalten machen konnte, etwas zu erwidern oder auszuweichen, hatte Shiko ihm bereits den gesamten Inhalt übergeschüttet.

„Vielleicht hilft dir diese kleine Abkühlung ja wieder zur Vernunft zu kommen!“, entgegnete Shiko wütend, „Fanatisch, pervers oder was auch immer du bist, ist mir vollkommen egal! Ich habe nicht vor auch nur ansatzweise irgendwo mit dir hinzugehen.“

So hochmütig wie möglich schritt Shiko an ihm vorbei. Doch innerlich brodelte es in ihr!
 

„Das ist ja spannend!", rief ihre beste Freundin Seiketsu vom anderen Ende der Leitung aus, nachdem Shiko ihr alles erzählt hatte.

Sie verdrehte die Augen und erwiderte ärgerlich: „Von wegen! Der Typ hat sie nicht mehr alle! Warum muss so was ausgerechnet mir passieren, Sei-chan? Was, wenn er mir jetzt auflauert, um sich zu rächen?!“

„Daran hättest du auch früher denken können.“, bemerkte die Braunhaarige nüchtern, was nun wirklich nicht gerade aufbauend wirkte, „Aber mal im Ernst – vielleicht hast du ihn ja auch mit deiner Schlagfertigkeit beeindruckt und jetzt einen neuen Verehrer?“

Der Halbelbe fiel beinahe das Telefon aus der Hand, sodass ihre Antwort etwas auf sich warten ließ: „Bitte, nicht! Mein Traumprinz müsste ganz anders sein … höflich, charmant, zärtlich, stark, leidenschaftlich und vor allem super romantisch!“

Ein kleines Lachen entfuhr Seiketsu, als sie scherzte: „Du weißt aber schon, dass wir nicht in einer Romanwelt leben, Shiko-chan?“

„Haha, danke für die Blumen, Sei-chan.“, gab ich zurück und rollte mit den Augen, „Und trotzdem – wenn ich mich jemals verliebe, dann in einen echten Ritter, der mich beschützt und … sich nicht für mich schämt, mich niemals aufgibt.“
 

Ryuohtah war starr wie Stein. Sein Blick klebte weiterhin an der Stelle, an der das Mädchen in der Menge verschwunden war. Was nur stimmte mit dieser Welt nicht? Erst traf ihn dieser verfluchte Pfeil und nun wurde er von einem einfachen Menschen gedemütigt! Hinzu kam das Getuschel der Leute und die herannahende Nacht – zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich einsam. Trotz aller Qualen in Avalon hatte er sich dort stets auf seine Brüder verlassen können … oder Trost im Schwertkampf gefunden. Seine Brüder waren auf der anderen Seite des Portals … und seine Langdolche musste er in einer Zwischendimension verbergen.

„Du scheinst in ziemlichen Schwierigkeiten zu stecken, Junge.“, sprach ihn ein glatzköpfiger Mann an, „Na los, komm´ mit.“

Er ging weiter ohne nachzusehen, ob Ryuohtah ihm wirklich folgte. Für gewöhnlich wäre er niemals auf die Hilfe eines Menschen eingegangen … Doch in diesem Moment war er zu schwach, um der Versuchung zu widerstehen. Er folgte dem Mann zu dessen Haus, wo ihn trockene Kleidung, eine warme Mahlzeit und ein weiches Bett für die Nacht erwarteten. Ryuohtah war zu erschöpft, als dass er hätte nach dem Grund für seine Gastfreundlichkeit fragen können oder sich Gedanken darüber machte, sich bei seinem Todfeind einzunisten – er nutzte ihn nur aus, nichts weiter … morgen könnte er ihn schließlich immer noch umbringen. Kaum berührte sein Kopf das Kissen, fiel er in einen so tiefen Schlaf wie seit Jahrzehnten nicht mehr, in dessen Träume eine gewisse Rothaarige vorkam …
 

„Shikon …“, flüsterte eine männliche Stimme.

Shiko kannte sie. Dieselbe Stimme hatte das elbische Blut in ihr erweckt … Sollte sie diesmal antworten? Diesem jemanden, der das größte Geheimnis ihres Lebens kannte.

„Fürchte dich nicht! Ich will dir nichts Böses … Ich besuche dich in deinen Träumen, um dir zu helfen. Du hast deine Verwandlung noch nicht unter Kontrolle, nicht wahr? Du wirst es nicht ohne weiteres schaffen, deine Elbengestalt anzunehmen …“, erklärte der Unbekannte, der ihr so vertraut erschien, „Nichts ist mehr, wie es war … und Veränderung geschehen nicht mehr Stück für Stück. Es sind Äonen vergangen, seit Elben diese Welt mit Absicht betreten haben. Du bist ihnen bereits begegnet … Doch weder du noch ich wissen, was sie auf der Erde suchen. Sei vorsichtig, Shikon, dein Leben ist zu wertvoll!“

„Wer bist du?“, platzte es aus ihr heraus.

Eine Spur Traurigkeit lag in der Luft, als er antwortete: „Das kann ich dir noch nicht offenbaren … Es wäre zu gefährlich für dich, wenn du meine Identität kennen würdest.“

Damit löste sich der Traum auf und Shiko erwachte. Ihr Kopf schmerzte von den unzähligen Fragen, die auf sie einstürzten – wer war er, warum konnte er zu ihr sprechen, woher kannte er ihren wahren Namen, was bedeutete die Ankunft der Elben und … wenn Elben die Erde so lange Zeit gemieden hatten, wie waren sich dann ihr Vater und ihre Mutter begegnet? Sie war der leibhaftige Beweis, dass Elben in dieser Welt gelebt hatten – zumindest einer von ihnen … Außerdem wer oder was gab diesem Typen eigentlich das Recht, sie belehren zu wollen? Wenn es nach Shiko ginge, würde sie diese Menschen abschlachtenden … Wesen am liebsten sofort vergessen! Jedenfalls sobald es ihr irgendwie gelungen wäre, sie endgültig zu vertreiben – seit jenem Abend waren keine weiteren Leichen mehr gefunden worden.

Gleichzeitig musste sie einen Weg finden, zu sich selbst zurückzukehren. Ihr ganzes Sein war wie gespalten … nicht menschlich, aber auch keine ganze Elbe. Beides zu gleichem Teil. Dann musste es ihr auch gelingen beide Erscheinungsformen zu kontrollieren!

„Feuerblume, hilf´ mir …“, hauchte Shiko kaum hörbar und begann sich zu konzentrieren.

Vor ihrem inneren Auge erschien ihr elbisches Spiegelbild – die typischen Ohren und der flammende Rubin blitzten zwischen dem längeren Haar hindurch, das locker herunterhing; der blaue Stoff umschmeichelte ihre Gestalt; den Bogen trug sie über einer Schulter, der Köcher hing an ihrer Hüfte. Es wirkte wunderschön und dennoch sprach die Gefahr eines drohenden Kampfes überdeutlich aus diesem Anblick. Der Schmerz war wesentlich leichter zu ertragen, als beim ersten Mal. Shikon schlug die Augen auf und konnte trotz der Dunkelheit in ihrem Zimmer gut sehen – Nachtsicht. Sie fragte sich, ob dies nicht etwas zu Vampir-stylisch für Elben war … Aber was wusste sie schon über ihr Volk? Sie nahm sich fest vor, bei Gelegenheit die Bibliothek zu durchsuchen.

Die Nachtluft begrüßte die Rothaarige mit einem kühlen Wind. Bislang hatte sie nicht wirklich darauf geachtet, aber das Empfinden als Elbe war völlig anders. Alles nahm man bewusster war … deutlicher. Kein Wunder also, dass sie so etwas wie einen sechsten Sinn besaß, und dieser traute dem undurchsichtigen Frieden ganz und gar nicht. Dass sie von den Taten der Elben nichts mehr gehört hatte, bedeutete im Grunde gar nichts … Vielleicht waren sie nur weniger auffällig vorgegangen oder machten Pläne für ihr eigentliches Ziel – was das auch sein mochte.

Mit einem einzigen Sprung landete Shikon auf dem Dach des Nachbargebäudes – dabei kam sie sich fast wie eine Kamikaze-Diebin vor … »Die Nacht ist mein Freund. Ich verwandle mich, um den Menschen zu helfen … Egal wie sehr ich darauf hoffe, es geschehen keine Wunder. Ich muss mir selbst helfen!«
 

Die Sonne stand hoch im Zenit. Ryuohtah blickte an die weiße Decke. Wie in Zeitlupe liefen die gestrigen Ereignisse noch einmal vor ihm ab … Ein Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenzucken.

„Ich komme rein.“, sagte der Mann lächelnd, der ihn aufgenommen hatte, „Ich verstehe … deshalb wirkst du wie nicht von dieser Welt.“

Ein kalter Schauer überlief Ryuohtah, während seine Hand langsam zu seinen Ohren wanderte und das spitze Ende berührten. Die Magie, die ihm das Aussehen eines Menschen verliehen hatte, war im Schlaf verblasst. Hitze der Scham stieg dem Elben ins Gesicht. Lautlos formte er die Worte der Macht. Erstaunen legte sich auf das Gesicht seines Gegenübers.

„Was hast du nun vor, da du weißt … was ich bin?“, wollte der Braunhaarige wissen.

Der freundliche Ausdruck kehrte zurück und er antwortete: „Zunächst möchte ich mich vorstellen – Mein Name ist Mhenlo … Taiyo Mhenlo und wenn ich ehrlich bin, gibt es für mich keinen Unterschied zwischen gestern und heute.“

„Du … hast keine Angst vor mir?“, gab Ryuohtah ungläubig zurück.

Jetzt lachte Mhenlo: „Wieso sollte ich? Buddha lernt uns, dass jedes Leben kostbar ist … Dein Äußeres ist nicht entscheidend – was zählt, ist dein Herz.“

Jedes seiner Worte schockte Ryuohtah auf das Neue und es dauerte eine ganze Weile, bis er leise erwiderte: „Nenn´ mich Ohtah.“

Hatte sein Vater ihn nicht sein ganzes Leben lang gelehrt, was für blutrünstige Bestien die Menschen waren, neben denen sogar Hoorgo harmlos erschien? Natürlich, er musste auf der Hut sein, möglicherweise war dies nur eine List … doch daran glaubte er nicht wirklich – Mhenlo schien keinerlei böse Absichten in sich zu tragen. Und wenn er so darüber nachdachte, wäre es nicht allzu verwunderlich, wenn Torarien sie angelogen hätte; vielleicht war dies seine Gelegenheit, sich ein eigenes Bild von der Erde zu machen.
 

In dieser Nacht schlich sich Ryuohtah hinaus, um nach der Elbe auf die Suche zu gehen. Er folgte einer magischen Spur durch die Stadt, über Dächer und durch kleine Gassen. In dem dicht besiedelten Gebiet hörte sie plötzlich auf – ohne schwächer zu werden, einfach weg. Wütend schlug er gegen eine Mauer, sodass ein Abdruck seiner Faust zurückblieb. Weder magische noch materielle Spuren konnten einfach so im Nichts verschwinden! Erneut wunderte sich Ryuohtah über die Merkwürdigkeit der Erde und seiner Regeln … Wütend wandte er sich ab. Doch ein Betonbau erregte seine Aufmerksamkeit – ein riesiges Plakat wehte über dem Eingang zu dessen Gelände, auf dem ein junges Paar zu sehen war und das für den Ball eines Schulfestes warb. Die plötzliche Erkenntnis traf Ryuohtah wie ein Schlag ins Gesicht. Die Elbe nutzte denselben Zauber wie er … sie war ebenso eine Gestaltwandlerin!
 

Ein Unglück kommt selten allein

Die Nächte waren ruhig geblieben, die Nachrichten brachten keine Horrormeldungen. Und trotzdem blieb ihr schlechtes Gefühl. Ein weiterer Grund dafür, warum Shiko alle – und zwar wirklich alle – Bücher zum Thema Elben aus der Stadtbibliothek zusammengesammelt hatte; es gab sogar ein Sindarin-Wörterbuch, obwohl sie das gar nicht gebraucht hätte, war es durchaus interessant.

Sie war gerade beim Anfertigen einer Mitschrift der letzten Stunde, weil Seiketsu erkrankt war, da trat bereits ihr Klassenlehrer Togo Morisaki ein, der sie in Japanisch unterrichtete.

„Guten Morgen.“, begrüßte er die Schüler und wartete auf deren Verbeugung, „Ich stelle euch heute einen neuen Schüler vor – Tritt ein, Taiyo.“

Shiko´s Finger hielten den Bleistift nicht länger. Der Junge, der vorne an der Tafel stand, war jener, der sie vergangene Woche in der Stadt belästigt hatte. Woher kam nur diese Ungerechtigkeit? Sie rammte sich regelrecht die Zähne in die Unterlippe, während er sich mit seinen schwarzen Augen vollkommen perplex anstarrte.

Aber es kam noch schlimmer: „Setz´ den leeren Stuhl neben Yosogawa – ich habe Neue gerne im Blick. Aokawa soll sich einen anderen Platz suchen, wenn sie wieder gesund ist.“

Er tat wie ihm geheißen und sagte an Shiko gewandt: „Freut mich, dich wiederzusehen … Ich heiße Ohtah.“

Es war ihr furchtbar egal, wie der Name von diesem Kerl lautete! Sie hasste es, dass er nicht nur neben saß, sondern Seiketsu musste ihm auch noch weichen! Shiko knirschte mit den Zähnen und starrte ihr Papier beinahe zu Tode; alles damit sie nicht zufällig in seine Richtung sah.

Ohtah beeindruckte das nicht im Geringsten … Er spürte, dass er sie beschäftigte und das gab ihm zu denken. Er verstand zu wenig von den Menschen, um ihr Verhalten deuten zu können – ein Grund mehr jede Beobachtungsgelegenheit zu nutzen.

Während diese seltsame Anspannung in der Luft lag, ging der Unterricht seinem gewohnten Gang weiter. Togo rezitierte ein uraltes Gedicht und setzte dessen Interpretation zum Thema für die nächsten Stunden an.

Doch kurz vor der Pause meldete sich die Klassensprecherin zu Wort: „Entschuldigung, Morisaki-sensei, wir müssen noch das Ergebnis über die Abstimmung der Klassenfahrt bekanntgeben.“

Auf einen Wink Togo´s hin kam sie nach vorne und schrieb die Daten an die Tafel – mit einigem Abstand machte eine Reise nach Hakone, in ein dortiges Onsen die Runde. Shiko freute sich darüber, sie selbst hatte für dieses Ziel gestimmt – dabei wäre Seiketsu lieber nach Kyoto gefahren.

Allerdings trübte sich ihre Euphorie in Anbetracht der Tatsache, dass Ohtah nun ebenfalls an dieser Exkursion teilnehmen würde … und tatsächlich ließ ein Fauxpas seinerseits nicht lange auf sich warten: „Tja, diesmal können wir wohl eher heißes Wasser zusammen genießen.“

Ob sie das Klingeln überhaupt gehört hatte, konnte Shiko im Nachhinein nicht mehr sagen – sie stand auf und stürmte aus dem Klassenzimmer … geradewegs in die Mädchentoilette. Sie verschanzte sich, versuchte ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ihr Leben war ein einziger, riesengroßer Alptraum! Was wollte dieser Perversling nur ständig von ihr? Reichte es nicht, dass sie es mit blutrünstigen Elben zu tun hatte?

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken: „Ich glaube, wir sollten reden.“

Zorn ergriff Shiko, als sie die Kabinentür aufriss – Ohtah hatte es allen Ernstes gewagt, ihr hierher zu folgen!

„Was ist dein Problem?“, wollte er in seltsam ruhigem Tonfall wissen.

Die Rothaarige wollte ihm am liebsten gehörig die Meinung sagen, doch dazu kam es nicht – denn da wurde die Tür zur Toilette geöffnet und eine ziemlich schockiert wirkende Lehrerin stand darin und aufgerechnet Lee.

„Sind Sie sich eigentlich im Klaren darüber, dass Sie beide gerade gegen mindestens drei Schulregeln auf einmal verstoßen?“, schnaubte sie entsetzt, „Zum Direktor! Sofort!“

Shiko konnte es nicht fassen – wie viel Ärger brockte dieser Kerl ihr bloß noch ein? Vielleicht war es doch keine so gute Idee, sich mit ihm anzulegen … Wer wusste schon, was ihm einfallen würde, um ihr das Leben erst recht zur Hölle zu machen.

Nach der Schimpfparade des Schulleiters war Shiko an der Reihe: „Bitte, das alles ist nur ein Missverständnis. Taiyo-kun ist doch neu an unserer Schule und hat einfach die falsche Tür genommen – ich nehme an, im Eifer der Dringlichkeit hat er nicht auf das entsprechende Kanji geachtet.“

Er mustertet beide eine Zeit lang, dann sagte er: „Natürlich. Unsere Schule ist noch sehr ungewohnt für Sie, Taiyo. Belassen wir es dabei, dass Sie mir versprechen, in Zukunft besser Acht zu geben. Sicher kann Yosogawa Ihnen ja dabei helfen, sich hier einzufinden.“

Ohtah nickte beiläufig, sein Blick klebte an Shiko. Er hatte geglaubt, sie könne ihn nicht ausstehen – warum nahm sie ihn jetzt nur in Schutz? Die Rotharrige dagegen schlug sich innerlich gegen die Stirn; das auch noch!
 

An diesem Abend konnte Shiko nicht einschlafen. Wann immer sie ihre Augen schloss, sah sie das Gesicht von Ohtah vor sich. Dabei würde sie ihn nur zu gern auf der Stelle aus ihrem Kopf streichen, um nie wieder an ihn denken müssen. Doch es ging nicht …

Zehn Minuten später gab sie es auf und ging zum Fenster, ließ sich die kalte Brise durch das Haar wehen. Langsam legte sich der Sturm in ihrem Kopf, ihre Gedanken wurden klarer. Dafür trat es etwas anderes in den Vordergrund – ein leichtes Ziehen ihrer Ohren. Und als sie an sich herabsah, bemerkte sie erstaunt, dass sie zur Elbe geworden war … Die alte Magie hatte ihre Kräfte heraus gelockt. Ohne zu zögern machte sich Shikon an die Verfolgung der magischen Spur. Mit jeden Schritt wurde sie stärker …

Es war dieselbe Straße wie beim ersten Mal. Nur standen diesmal lediglich zwei Gestalten im Lichtpegel der Laterne. Alles in ihr schrie eine Warnung; Schmerz hastete durch ihren Körper und schon war sie wieder ein Mensch – wofür sie sehr dankbar war; denn sicher konnten sie ihre Gegenwart genauso fühlen.

„Bruder.“, grüßte der Größere von beiden – es war derjenige, der von ihrem Pfeil getroffen worden war, „Was machst du hier?“

Trotz Anstrengung konnte Shiko auf diese Entfernung nicht jedes Wort verstehen. Ihr Vater war wohl wegen irgendetwas wütend auf den Schwarzhaarigen …

„Glaubst du, ich bin zum Vergnügen hier? Ich bin ihr doch schon auf der Spur!“, antwortete er gereizt, viel lauter als sein Gegenüber.

Shiko schluckte hart. Sie konnte sich sehr genau vorstellen, nach wem er suchte … Vom Rest des Gesprächs bekam sie allerdings nichts mehr mit. Zu stark zitterte ihr Körper, als dass sie sich darauf hätte konzentrieren können.

Erst der schrille Schrei eines Mädchen ließ sie auffahren. Der Krieger hielt seine Schwerter auf eine Passantin gerichtet, die unglücklicherweise seinen Weg gekreuzt hatte – wohin der zweite Elb verschwunden war, konnte sie allerdings nicht ausmachen. Shiko verwandelte sich schneller als jemals zuvor und materialisierte Feuerblume in ihrer Hand. Den Schuss konnte sie sich diesmal allerdings sparen – sein Kopf wirbelte augenblicklich in ihre Richtung herum. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich; erst noch ganz ungläubig, dann schmerzverzerrt und schließlich wütend, durchwachsen mit Rachegelüsten. Ein stolzer Schwertkämpfer in seiner Vollendung … doch Shikon sah nur in seine Augen, das Rot und Schwarz nahm sie wieder gefangen.

„Da bist du endlich!“, meinte er überraschenderweise sehr sachlich, „Sieht aus, als sollte mein Bruder recht behalten – du tauchst wirklich auf, sobald wir einen Menschen auch nur bedrohen.“

„Die Erde ist mein zu Hause …“, gab sie ruhig zurück.

Eigentlich ging es ihm nur um sie … da konnte sie doch nicht länger andere in Gefahr bringen!

Im Nu stand der Krieger vor ihr auf der Brüstung. Shikon wollte den Bogen hochreißen, doch er versetzte ihr einen Tritt gegen den Arm. Klirrend fiel die Waffe zu Boden. Ihr Widerstand kam zum erliegen – seine übermächtige Kraft lähmte sie fast … Es hätte nicht mehr viel gefehlt und sie wäre vollkommen im Wirbel seiner Aura verloren gewesen, da hielt er ihr eines seiner Schwerter an die Kehle. Der kalte Stahl, der in der Nacht schon fast wie aus Eis wirkte, holte Shikon zurück in die Realität. Ein silberner Blitz zuckte auf, als sie ihm einen Pfeil in den Handrücken stach. Diesmal machte seine Waffe Bekanntschaft mit dem Boden.

Bevor er seine zweite Klinge auf Shikon richten konnte, warf sie sich zur Seite, um nach Feuerblume zu greifen. Ein Gefühl der Vollständigkeit durchströmte sie … Eilig stand sie auf und nahm die einzige Fluchtmöglichkeit – ein Sprung vom Dach! Der winzige Funke menschlichen Denkens in ihr hatte Todesangst. Doch überraschenderweise landete sie ganz sanft auf dem Asphalt und rannte die Straße entlang Richtung Stadtpark. Er war nachts geschlossen – das bedeutete, dort konnte sie keine Passanten in Gefahr bringen. Es war wohl die verrückteste, dümmste, wahnwitzigste Idee, die sie jemals gehabt hatte, und zugleich das einzig richtige … Auf einer freien Fläche, die nur vom Mond erhellt wurde, blieb sie stehen. Der Bogen ruhte in ihrer linken Hand, rechts hielt sie einen Pfeil. Der Krieger blieb in einigen Schritt Entfernung stehen. Während sie sich bemühte, nicht allzu schnell zu atmen, schien ihm der Sprint überhaupt nichts ausgemacht zu haben.

„Ich werde dich nicht noch einmal entkommen lassen.“, wollte er ihr seine Entschlossenheit klar machen.

Damit hätte Shikon auch nicht gerechnet … Es war reines Glück gewesen, dass er sie bislang nicht gefunden hatte. Mit dieser Erkenntnis kam auch die Angst zurück – sterben war nicht unbedingt das schlechteste; vielleicht sah sie dann ihre Mutter wieder … oder sie würde endlich als etwas ganzes wiedergeboren werden. Aber wer hielt ihn und seine Brüder in Zukunft davon ab, weiter Menschen zu ermorden?

„Was willst du überhaupt hier?“, sprach sie ihren Gedanken aus.

Es dauerte etwas, bis er antwortete: „Ich … Wir haben eine wichtige Mission.“

„Und dafür müssen unschuldige Menschen sterben?!“, fuhr ich ihn wütend an.

Er senkte den Blick. Allerdings nur für einen Moment – dann stürmte er auf sie zu. Feuerblume blockte den ersten Schlag, dem folgenden Hieb konnte sie ausweichen. Sie wehrte nur ab, kam aber nicht zum Schuss. Mit dem ersten, elbischen Wort auf den Lippen, das ihr in den Sinn kam, gehorchte ihr der Wind – er frischte auf, braute sich zu einem Sturm zusammen. Der Krieger wurde leicht zurückgedrängt, hielt dem brausendem Getöse jedoch stand. In einer wirbelnden Bewegung schlug er Shikon erneut den Bogen aus der Hand. Und damit brach auch der Zauber in sich zusammen. Den Unterarm gegen ihre Kehle gepresst, lag er nur einen Wimpernschlag später auf ihr und sein Gesicht schwebte nur Zentimeter über ihrem … Noch nie war ihr ein Fremder so nahe gekommen. Shikon´s Lippen öffneten sich leicht, als ich seinen Geruch einatmete. Die Geschwindigkeit ihres Herzschlages verdoppelte sich, das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sie war vollkommen bewegungsunfähig und konnte nicht aufhören, ihm in die Augen zu sehen. So völlig nicht-menschlich, magisch … und doch unglaublich anziehend.

Da fing er wieder an zu sprechen: „Warum setzt du dich so für die Bewohner dieses Planeten ein?“

„Weil ich zu ihnen gehöre …“, entgegnete Shikon schwach, „Ich wurde in diese Welt hineingeboren, obwohl das Blut deines Volkes in mir fließt.“

Der Druck von ihrem Hals verschwand, Shikon schnappte regelrecht nach Luft. Ein unverständlicher Ausdruck lag in seinen Zügen – er war wohl davon ausgegangen, dass es auf der Erde keine Elben gab.

„Wa-warum … hast du mich … nicht … getötet?“, stammelte ich zwischen dem Husten.

Ein abfälliger Laut folgte: „Wenn ich das wüsste, wäre ich um einiges schlauer!“

Er machte ein paar Schritte von ihr weg, in Richtung Ausgang.

„Warte!“, rief Shikon ihm nach, wobei sie erneut zusammenbrach, „Wie … wie heißt du? Ich will deinen Namen wissen.“

Der Krieger drehte sich halb zu ihr herum. Das nachtschwarze Haar glänzte. Ein spöttisches Grinsen zierte sein Gesicht.

„Ryuohtah.“, erwiderte er und verschwand.

Tonlos bewegten sich ihre Lippen: „Und ich bin Shikon …“
 

Wechselspiel

Ryuohtah lag wieder auf ihr. Nur ohne Schwerter – überhaupt wirkte seine Pose diesmal nicht bedrohlich. Wie jedes Mal erlag Shikon dem Zauber seiner Augen … Sie konnte nichts dagegen tun, selbst sie es gewollt hätte.

„Woran denkst du?“, wollte der Krieger mit rauchiger Stimme wissen, während er ihr über das Gesicht streichelte.

Ihr Kopf schaltete sich endgültig aus. Es interessierte sie im Augenblick nichts anderes, als seine Hände auf ihrer Haut. Es waren Hände, wie Shikon sie noch nie zuvor gefühlt hatte – Schwielen von den Kämpfen mit den beiden Klingen.

„An dich …“, hauchte Shikon zurück, „Die ganze Zeit über denke ich immer nur an dich.“

Er schenkte ihr ein schelmisches, aufreizendes Lächeln. Seine Lippen nur einen Fingerbreit von ihrem Mund entfernt. Shikon hielt die Luft an, bereit es zuzulassen …

Ein ohrenbetäubendes Klingel riss Shiko aus dem Schlaf. In einem Anfall von Wut schlug sie auf den Wecker ein, bis er endlich verstummte. Mehr erschöpft als ausgeruht sank sie noch einmal zurück in die Kissen. Was sollte dieser verdammte Traum? Shiko schluchzte, eine Träne stahl sich aus ihren Augenwinkeln. Es war vollkommen verrückt, das wusste sie …

Bevor Shiko der Versuchung, zu Hause zu bleiben, vollständig erlag, zwang sie sich aufzustehen und machte sich für die Schule fertig.
 

„Aokawa – Yosogawa – Taiyo, entschuldigt.“, hakte Togo die Anwesenheitsliste ab.

Shiko war zuvor bereits aufgefallen, dass ihr Lieblingsmitschüler an diesem Tag fehlte – ein Glück, wenigstens vor ihr hätte sie heute also ihre Ruhe, was ihr die Gelegenheit gab, ihren Tagträumen nachzuhängen – oder vielleicht besser doch nicht. Denn sofort kehrte Ryuohtah´s Gegenwart darin auf und sie fragte sich unwillkürlich, ob er auch an sie dachte. Heftig schüttelte Shiko den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden. Sie musste sich von ihm distanzieren! Diese … Gefühle durften nicht sein. Er war ihr Gegner, ein Feind der Menschen und sein Ziel war es, sie tot zu sehen. Auch wenn er sie beim letzten Mal verschont hatte … das machte alles nur schlimmer.

Während der ganzen Zeit wanderte ihr Bleistift wieder unaufhörlich über das Papier – ohne dass Shiko es recht mitbekam. Das war schon immer eine ihrer Eigenheiten gewesen; ihr Unterbewusstsein versuchte so wahrscheinlich, etwas Ordnung in das Chaos in ihrem Kopf zu bekommen.

„Yosogawa!“, sprach Togo sie zum wiederholten Male an, inzwischen stand er schon vor ihrem Pult, sodass sie zusammenzuckte, „Ich gehe davon aus, dass Sie an die Mitschriften für Taiyo denken.“

Die Rothaarige schluckte betroffen. Ihr Blick suchte sofort den von Seiketsu, die sich auf Anweisung ihres Klassenlehrers einen anderen Platz hatte suchen – dafür war Ohtah ihr Sitznachbar geworden. Und in ihrer Klasse herrschte die Regel, dass die Mitschüler ihrem fehlenden Tischnachbarn die Hausaufgaben nach Schulschluss vorbeibrachten … und jetzt musste es ausrechnet er sein!
 

In Ohtah´s Kopf ging es ähnlich katastrophal zu, wie bei Shiko. Alle seine Grundsätze, seine Einstellung zu den Elben und Menschen, die Übernahme der Erde – alles war durcheinander geraten. Sein … Leben in dieser Welt hatte alles verändert. Mhenlo, der ihn, ein wildfremdes … Wesen vollkommen selbstlos bei sich aufgenommen hatte. Der Umgang miteinander, den er in der Schule und in der Stadt erlebte – so voller Höflichkeit, Respekt, Wertschätzung. Es war so anders, als in Avalon, wo Eitelkeit und schon beinahe Furcht vor seinem Vater herrschten … von der gespenstischen Atmosphäre des Nebelsmeeres und des dunklen Waldes ganz abgesehen. Doch hier fühlte er sich wohl, zum ersten Mal seit seine Mutter Chunryu kurz nach der Geburt von Hoorgo ins Mondlicht gegangen war. Und dann gab es ja auch noch sie … dieses Mädchen, das er am allerwenigsten verstand und ihn dennoch so faszinierte, gar regelrecht anzog. Aber nicht nur sie beschäftigte ihn unaufhörlich – die Elbe spuckte ebenfalls in seinem Kopf herum … Während ihres Kampfes hatte es einen Moment gegeben, der in ihm ein fast animalisches Verlangen in ihm ausgelöst hatte. Beinahe hätte er sich vergessen und sie vollkommen besitzen wollen …

Da half nur noch eine eiskalte Dusche! Was ihn wieder an seine erste Begegnung mit Shiko erinnerte … Nie zuvor hatte er eine Auseinandersetzung verloren. Und heute? Er konnte nicht sagen, ob der Kampf im Park ein Sieg, eine Niederlage … oder milde ausgedrückt vielleicht ein Unentschieden gewesen war.

Kraftlos fiel er auf das Bett und rührte sich nicht mehr. Er war schon immer mehr Krieger als Magier gewesen … Es kostete ihn deutlich Kraft, die menschliche Gestalt die ganze Zeit über aufrechtzuerhalten. Noch dazu, dass die Wunde an seiner Hand nicht richtig heilen wollte. Es war, als hätte die Elbe ihr unauslöschliches Zeichen auf ihm hinterlassen … wobei so weit gefehlt wäre diese Überlegung nicht einmal gewesen.

Langsam glitten seine Gedanken in eine traumlose Schwärze über. Später bekam Ohtah am Rande noch mit, wie Mhenlo bei ihm vorbeischaute und irgendetwas wegen der Schule wissen wollte, doch nur wenige Sekunden später befand sich der Braunhaarige wieder im Tiefschlaf.

Erst als sich die Sonne bereits Richtung Abendwinkel neigte, erwachte er gestärkt. Überrascht bemerkte er, dass Mhenlo seine Hand versorgt hatte – ein leichter Mullverband lag darum und er spürte die Salbe darunter. Ein dankbares Lächeln erschien auf seinen Zügen.

In diesem Moment läutete es. Ohtah öffnete die Zimmertür und rannte die Treppen hinunter.

„Ich mach´ schon auf.“, meinte er – er wollte etwas von der Freundlichkeit zurückgeben, die Mhenlo ihm entgegen brachte, und sei es nur durch eine Kleinigkeit.

Ohtah staunte nicht schlecht, wer auf der anderen Seite der Haustür auf ihn wartete – Shiko!

„I-Ich …“, stotterte sie und räusperte sich – die geschlagenen zehn Minuten, die sie bereits vor dem Klingeln ausgeharrt hatte, hatten offenbar nicht gereicht, um sich genügend zu sammeln –, „Gu-Guten Abend, Taiyo-kun, Ich bin hier wegen der Hausaufgaben … und Morisaki-sensei hat mich gebeten, dir das neue Mathematikthema zu erklären. Wir schreiben nächste Woche einen Test darüber.“

„Willst du nicht erst mal reinkommen?“, fragte er etwas verwirrt.

Sie nickte leicht und folgte seinem Wink. Ihre Haltung sprach buchstäblich von Nervosität.

Mhenlo kam mit einem Lächeln aus der Küche und sagte: „Willkommen! Bist du eine Mitschülerin von Ohtah-kun, nicht wahr? Da hat mein Neffe ja ein Glück. Apropos hast du eigentlich dein Zimmer aufgeräumt, bevor du Damenbesuch empfängst?“

Sein Mund klappte auf. Ohtah schaute Mhenlo an, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. Er scherzte, als wären sie wirklich miteinander verwandt … Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, traf ihn allerdings der nächste Schock – aufräumen? Die Spuren seiner eigentlichen Identität lagen überall in seinem Zimmer verstreut – die ledernen Rüstungsteile, seine beiden Langdolche Daeadae, der »Schatten und Schatten«, und Amlugfae, die »Drachenseele«! Schnell blickte er an sich herunter und bekam einen hochroten Kopf. Er, ein Elben-Prinz stand gerade nur in Unterhemd und Boxershorts vor einer Dame … So schnell er konnte stürzte er zurück nach oben.

Wenige Minuten später rief Ohtah: „Kannst kommen, Shiko!“

Shiko blinzelte ein paar Mal. Hatte dieser Kerl auch nur die geringste Ahnung von japanischer Etikette?!

Ohne Mhenlo direkt anzusehen, verbeugte sie sich leicht und antwortete: „Danke für die Gastfreundschaft … Ja, Taiyo-kun, ich komme.“

Etwas unbeholfen musterte Shiko das Zimmer ihres Mitschülers. Sie hatte ja zuvor noch nie das Zimmer eines Jungen betreten, aber es wirkte überraschend ordentlich. Wie es gerade eben hier noch ausgesehen mochte? Vielleicht hatte er bloß irgendwelche Pornoartikel wegräumen müssen …

Ohtah kratzte sich verlegen an der Wange. Der Umgang mit Frauen war bislang ein Thema gewesen, welches er vorrangig gemieden hatte – Hoorgo war der Frauenheld bei ihnen in der Familie und Kamekle´s einzige Leidenschaft waren ohnehin seine Bücher.

„Sollen wir anfangen? Dann bist du mich schneller wieder los.“, schlug Ohtah vor und brachte Shiko damit noch mehr aus dem Konzept, „Also, mich stört deine Gesellschaft nicht … ich mein´ ja nur. Vergiss´ es einfach!“

Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht und er erwiderte es. Hastig stellte er ihr einen Stuhl bereit und bat sie, Platz zu nehmen. Als er sich neben sie setzte, streiften sich ihre Arme. Shiko und Ohtah sahen sich mit großen Augen an. Um die Situation aufzulösen, kramte Shiko ihren Schulblock aus der Tasche hervor und schlug ihn an einer willkürlichen Stelle auf.

Beiden entfuhr ein überraschter Laut. Ein chinesischer Drache mit ausgebreiteten Flügeln war auf das Papier gezeichnet … und daneben stand in verschlungen, lateinischen Buchstaben »O-H-T-A-H«! Shiko konnten ihren Blick nicht davon lösen … Sie hätte nicht gewusst, welche Kanji für seinen Namen richtig gewesen wären, stattdessen war hier ein Spiel entstanden. Drache … »Ryu« und »Ohtah« … der Name ihres Mitschülers, der das Bild gerade genauso fassungslos betrachtete.

„Hast … du das gezeichnet? Für … mich?“, fragte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte – zu gerührt, getroffen war er von dieser Geste.

Wie lange war es her, dass er etwas geschenkt bekommen hatte, außer den Strafen seines Vater?

Was sollte Shiko ihm allerdings darauf antworten? Nein, weil es eigentlich für einen feindlichen Elbenkrieger gedacht wäre, der Menschen angreift und zufällig einen ähnlichen Namen hat?

Innerlich sammelte Shiko genügend Kraft zum Sprachen, doch ihre Stimme blieb trotzdem ziemlich schwach: „Wenn … wenn es dir gefällt.“

Ohtah spürte, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Konnte aber wieder einmal nicht sagen, woran es lag – wollte sie es möglicherweise geheim halten? Oder war es für einen Hexenzauber gemacht worden? Unwahrscheinlich … dafür hatte sie sich zu sehr bemüht, es zu sehr verziert.

Um sie aus der Reserve zu locken, zog er sie in eine kurz Umarmung und sagte strahlend: „Vielen Dank, Shiko-chan!“

Die erneute Nähe ließ beide einen Moment erstarren. Doch wieder war es Shiko, welche die Szene abbrach und sich dem eigentlichen Grund ihres Besuchs zuwandte – den Hausaufgaben. Sie arbeiteten den Stoff so schnell herunter, dass Ohtah kaum mitbekam, wovon sie eigentlich sprach.

Als sie endlich fertig waren, klappte die Rothaarige das Buch demonstrativ zu und meinte: „Es ist spät. Ich muss jetzt wirklich nach Hause. Äh, Hausaufgaben – ja, Hausaufgaben machen.“

Wollte sie ihn veräppeln?! Was hatten sie denn die vergangen zwei Stunden getan? Eine Welle schlechter Laune schwappte über ihn hinweg und er wusste nicht, was passiert wäre, hätte Mhenlo nicht genau in diesem Augenblick den Kopf zur Tür herein gestreckt.

„Möchtest du mit uns zu Abendessen?“, fragte er höflich.

Bevor Shiko selbst antworten konnte, knirschte Ohtah mit den Zähnen: „Nein, sie will gerade gehen. Sie hat noch was zu tun.“

„Dann bring´ sie wenigstens nach Hause, Ohtah-kun. Ein junges Mädchen sollte zu dieser späten Stunde nicht mehr allein durch die Straßen laufen.“, entgegnete er, wobei sein Unterton keinen Widerspruch duldete.
 

Schweigend gingen Ohtah und Shiko nebeneinander her, ohne sich zu berühren. Seine Wut war verflogen, doch die Ereignisse beschäftigten ihn dennoch. Er kannte sich ja schon nicht mit den Frauen seines Volkes aus … woher sollte er also wissen, wie er mit einem Menschenmädchen umgehen sollte?

„Kommst du morgen wieder zur Schule, Taiyo-kun?“, wollte Shiko irgendwann wissen.

Er hob seine bandagierte Hand und versuchte so wenig wie möglich zu lügen: „Ja … ich bin eigentlich nur wegen meiner Verletzung zu Hause geblieben. Hat mich irgendwie ziemlich umgehauen.“

Die Rothaarige betrachtete den Verband. Es war dieselbe Stelle, wo sie auch Ryuohtah mit dem Pfeil getroffen hatte … Ob sie ihn sehr verletzt hatte? So völlig in Gedanken versunken achtete Shiko nicht auf den Weg und stolperte an einem der Bordsteine. Ohtah´s Arm schoss vor, packte sie am Handgelenk. Er zog sie zurück, dabei verloren beide das Gleichgewicht und Shiko landete auf seiner Brust auf dem Boden. Ihre Nasenspitzen nur wenige Millimeter voneinander entfernt … Viel zu nahe, um noch klar denken zu können – ihre Blicke klebten aneinander. Plötzlich jedoch, wie aus einem Instinkt heraus, rollte Ohtah mit Shiko auf die Seite, sodass sie unter ihm lag – was sie viel zu sehr an die Situation im Stadtpark und ihren Traum mit Ryuohtah erinnerte. Nur eine Sekunde später spürte Ohtah dagegen einen stechenden Schmerz in der Schulter – ein Pfeil hatte ihn gestreift; schon wieder. Schnell machte er sich von ihr los und sprang auf die Füße.

„Was ist los mit dir?“, fragte Shiko verletzt.

Sein Körper spannte sich an, während er knurrte: „Lauf weg! Bring´ dich in Sicherheit!“

„A-Aber-“, begann sie, verstummte jedoch sofort wieder, als sie den Grund für sein Verhalten entdeckte.

Ohtah sondierte die Umgebung und brüllte: „Geh´ endlich!“

Shiko schluckte, dann nickte sie. In ihrer jetzigen Gestalt konnte sie ihm ohnehin nicht helfen – denn dieses Geschoss war von Elbenhand gefertigt worden. Anders als ihre Pfeile war er allerdings nicht mit den Federn von Schneeeulen besetzt, sondern sie stammten von einem Waldkauz oder Uhu … dennoch erfüllte es denselben Effekt – geräuschloser Flug.

Erleichtert, dass Shiko wortwörtlich »aus der Schussbahn« war, nahm Ohtah seine elbische Gestalt an und beschwor seine beiden Langdolche. Er dankte Kamekle im Stillen dafür, dass er ihn regelrecht genötigt hatte, diesen Zauber zu erlernen und beinahe im Schlaf zu beherrschen – Hoorgo hatte sich strickt geweigert, Dúath kam auch nie außerhalb seiner Reichweite … nicht einmal wenn er bei einer Frau lag.

Von dem Angreifer fehlte allerdings jede Spur, der Pfeil auf dem Asphalt war das einzige Überbleibsel. Eine schwache, magische Präsenz war zwar noch zu spüren … aber nichts, dem man hätte folgen können. Ryuohtah beschloss dennoch die Gegend etwas abzusuchen. Er konnte und wollte nicht glauben, dass die Elbin plötzlich selbst Menschen angriff, wo sie sich bislang als deren Beschützer aufgespielt hatte. Oder … war etwa seine Tarnung aufgeflogen? Spekulationen brachten ihn nicht weiter, er brauchte Gewissheit!

Als Shikon, die sich hinter der nächsten Häuserecke verwandelt hatte, zum Schauplatz des Angriffs zurückkehrte, entdeckte sie Ryuohtah, wie dieser in der Ferne verschwand. Kein Ohtah, kein fremder Bogenschütze … Doch seit wann benutzte der Krieger Pfeil und Bogen? Und … warum hatte er ihren Mitschüler verschwinden lassen? Lag es an ihr – hatte er sie enttarnt? Wenn sie es gewesen war, die Ohtah in diese Gefahr gebracht hätte – das würde sie sich niemals verzeihen!

In ihr kämpften ihre Elbeninstinkte gegen ihr menschliches Herz – die eine Seite von ihr wollte Ryuohtah folgen und solange auf ihn einprügeln, bis er Ohtah herausgegeben hätte; die andere Hälfte von ihr konnte sich kaum rühren, schrie vor Schmerz und wusste, dass sie zu ihm nach Hause gehen musste, um seinem Onkel irgendwie beizubringen, warum er nicht auf dessen Neffen zu warten brauchte … So oder so, ihre beiden Herzen schienen gebrochen. Erst begann sie für einen Elben zu schwärmen, der die Menschheit angriff … und anschließend brachte sie ihren Mitschüler, dem sie sich gerade annäherte, durch eben genau diesen Elben in Gefahr. Als ob sie nicht schon genug Probleme durch die Abstammung gehabt hätte! Jetzt stürzte sie sich auch noch in ein regelrechtes Gefühlschaos …

Wie ferngesteuert kehrte sie in menschlicher Gestalt zu Ohtah´s Haus zurück. Mit Tränen überströmten Gesicht betätigte Shiko die Klingel, die in der nächtlichen Stille unnatürlich laut durch die Straße hallte. Es dauerte mehrere Minuten bis sich die Tür öffnete. Beinahe wäre Shiko in Ohnmacht gefallen – vor ihr stand Ohtah! Mit nacktem Oberkörper und verbundener Schulter.

Er war mindestens genauso verwirrt und fragte: „Shiko-chan? Was machst du denn noch hier?“

Das war das Tröpfchen, welches ihr Fass für diese Nacht zum Überlaufen brachte, dem ein donnernder Knall folgte – Shiko hatte Ohtah eine so saftige Ohrfeige verpasst, dass ihr die Hand brannte und sich ein roter Abdruck aus fünf Fingern sich auf seiner Wange bildete!

„Was glaubst du, was ich hier mache? Ich wollte zu deinem Onkel! Weil ich überall nach dir gesucht habe, du verdammter Mistkerl, und du nirgends aufzufinden warst! Warum hab´ ich mir eigentlich Sorgen um dich gemacht? Du … du bist so ein … Idiot!“, ließ sie ihre Schimpftirade auf ihn nieder prasseln, „Ich will nicht mehr von dir wissen, ist das klar?! Lass´ mich einfach in Ruhe!“

Damit drehte sie ihm den Rücken zu und rauschte davon.
 

Die Klassenfahrt

Seit einer geschlagenen Woche ging Shiko Ohtah aus dem Weg, ignorierte alle seine Versuche zur Kontaktaufnahme und stritt Seiketsu´s Theorie, sie würde etwas für ihn empfinden, vehement ab – allerdings konnte sie ihrer besten Freundin auch nicht wirklich erzählen, was genau vorgefallen war und dies war für beide ziemlich unbefriedigend.

Wenn Ohtah wenigstens ihr einziges Problem gewesen wäre, wäre das ja noch halbwegs erträglich gewesen – wobei er ihr vollkommen gereicht hätte, wie er immer wieder durch meine Gedanken spukte. Nein, da war zudem noch Ryuohtah, der wie vom Erdbogen verschwunden zu sein schien – und nicht zu vergessen der mysteriöse Bogenschütze. Jede Nacht wanderte sie durch die Stadt, teils als Elb, manchmal menschlich. Doch es kam zu keiner weiteren Konfrontation. Wie nur sollte sie mit all dem klarkommen? Und nebenbei noch das normale Leben einer Oberschülerin führen mit Unterricht, Hausaufgaben und Tests …

Apropos Test … in der letzten halben Stunde hatte Shiko es nicht geschafft auch nur eine der Aufgaben zu bearbeiten – geschweige denn zu lösen. Es war eben jene Arbeit, für die sie gemeinsam mit Ohtah gelernt hatte. Und so kam es, dass sie zum ersten Mal in ihrer kompletten Schulzeit ein leeres Blatt abgab. Natürlich blieb Togo diese Tatsache nicht verborgen … und er bat sie nach der Stunde zu einem Gespräch.

„Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen machen soll, Yosogawa …“, warf er ihr vor, „Sie waren zwar schon häufig im Unterricht abwesend, aber das? Seit wann interessieren Sie Ihre Noten nicht mehr? Sie hatten schließlich trotz Ihrer Träumerei stets gute Zensuren. Was würde … Ihre Mutter dazu sagen?“

Shiko antwortete nicht, konnte es nicht. An Kaira hatte sie seit Tagen nicht mehr gedacht.

„Um genügend Zeit für die Aufbesserung Ihrer Leistung zu haben, verhänge ich hiermit eine Ausgangssperre für die Abende der Klassenfahrt. Vielleicht verschafft Ihnen das ja die Möglichkeit, gründlich darüber nachzudenken, was gerade alles in Ihrem Kopf vor sich geht … und Prioritäten zu setzen.“, entschied Togo radikal.

Da kam Ohtah plötzlich zur Tür herein, der von der anderen Seite alles mitangehört hatte – eigentlich hatte er Shiko abfangen wollen. Shiko wandte sofort den Blick ab, kam aber nicht umhin ihn dabei zu beobachten, wie er den Papierstapel durchsuchte – sehr zu Togo´s Missfallen, der jedoch ebenfalls viel zu perplex für eine zeitnahe Reaktion war. Bei einem leeren Blatt angekommen, stoppte Ohtah.

„Wie Sie sehen, habe ich ebenfalls keine der Aufgaben gelöst.“, erklärte Ohtah mit einem arroganten Grinsen, „Wenn Sie Shiko bestrafen, Morisaki-sensei, werde ich mich ihr anschließen!“

Togo nickte grimmig und entließ beide damit.

Ohtah schlenderte gemütlich nach draußen, doch kaum außer Hörweite stellte Shiko ihn bissig zur Rede: „Bist du jetzt vollkommen durchgeknallt? Warum tust du das?“

„Du redest wieder mit mir.“, gab der Braunhaarige schief grinsend zurück, „Entschuldige … Aber ich musste dich nun einmal beschützen!“

Ihr klappte der Mund. Es fiel ihr nicht zum ersten Mal auf, dass ihr erster Eindruck von Ohtah wohl komplett daneben gelegen hatte … Was er getan hatte, war unglaublich mutig gewesen, kühn – na gut, wahrscheinlich eher tollkühn –, selbstlos und vor allem absolut süß!

„Wie … wie geht es deiner Schulter?“, fragte sie leise.

Er winkte ab: „Laut Mhenlo wird sie in ein paar Tagen wieder verheilt sein – ein lächerlicher Streifschuss eben. Allerdings gäbe es da etwas, das mich natürlich schneller kurieren könnte …“

Ohtah hob ihr Kinn mit den Fingerspitzen an, sodass sie unmöglich seinem Blick ausweichen konnte … wie an jenem Abend kurz vor dem Angriff. Seine Augen erinnerten sie an Ryuohtah … sie waren sich unglaublich ähnlich, ebenso atemberaubend, doch im Gegensatz zu denen des Elben zeigte sich in Ohtah´s Schwärze eine unbekannte Wärme. Wenn sie nur wüsste, was er wirklich von ihr wollte … Und warum Ryuohtah auf einmal so nachsichtig mit ihr gewesen war. Mit einem Mal kam Shiko sich schäbig vor. Sie befreite sich von ihm und ging ohne ein weiteres Wort. Zum wiederholten Male, seit sie ihn kannte, kamen ihr die Tränen.

Auch wenn sie beiden Völkern angehörte und zwei verschiedene Namen trug, war sie immer noch eine einzige Person, ihr Herz blieb dasselbe – wenn sie Shiko war und auch als Shikon. Dennoch musste sie sich gleichzeitig mit zwei so vollkommen verschiedenen Typen herumschlagen … Ryuohtah war geheimnisvoll – eben ein Elb. Seine Kampftechnik machte ihn zu einem gefährlichen Gegner, bei dem sie dennoch eine gewisse Verbundenheit spürte. Dabei war Ohtah derjenige gewesen, der sie vor dem Pfeil bewahrt hatte – wofür sie sich wieder nicht bei ihm bedankt hatte!

Shiko wischte sich über die feuchten Augen und raufte die Haare. Am sinnvollsten wäre es wohl, wenn sie unter beide einen Schlussstrich ziehen würde! Sie war ohnehin weder eine vollwertige Elbin, noch ein normaler Mensch. Wie könnte sich da überhaupt etwas entwickeln? Irgendwann käme die Wahrheit heraus … Also konnte Shiko sie sich auch gleich aus dem Kopf – und falls sie sich dort bereits unbemerkt eingenistet hatten – sowie aus ihrem Herzen verbannen!
 

Am Montagmorgen versammelte sich die gesamte Klasse mit gepackten Koffern, umhängenden Fotoapparaten und einem kleinen Handgepäck auf dem Schulhof. Shiko und Seiketsu hatte sich extra früh verabredet, um noch gemeinsam ein Bento für die Fahrt zusammenzustellen. Zum Schluss fehlte nur noch ein Schüler. Könnten Blicke töten, hätte Togo´s Uhr schon längst den Geist aufgegeben. Denn natürlich handelte es sich um Ohtah, der zehn Minuten nach vereinbarter Zeit im Laufschritt angerannt kam.

„Taiyo – vorbildlich wie immer.“, kommentierte ihr Klassenlehrer sein Auftauchen sarkastisch.

Ohtah ignorierte ihn und hüpfte regelrecht in den Bus, nachdem er seine Reisetasche dem Fahrer übergeben hatte. Und obwohl er es bereits geahnt hatte, war er etwas enttäuscht, dass Shiko´s beste Freundin den Platz neben ihr eingenommen hatte. Als er an ihnen vorbeigehen wollte, hielt Shiko ihn am Arm fest. Überrascht schaute er auf sie herunter. Verlegen drückte sie ihm eine in einem Tuch gebundene Box in die Hand. Seiketsu kicherte. Sie hatte natürlich mitbekommen, wie Shiko am Morgen nicht nur eine Lunchbox gerichtet hatte.

Mit einem Lächeln auf den Lippen nahm Ohtah in der hintersten Reihe Platz und entdeckte den kleinen Zettel, der unter den Knoten gesteckt war: „Verzeih´ mir … und danke. S“

Der einzelne Buchstabe ihres Namens war in derselben verzierten Weise dargestellt, wie auf dem Bild, welches sie für ihn gemalt hatte. Als ihm zudem der köstliche Duft des Essens in die Nase stieg, machte sein Herz einen gewaltigen Satz – es war also noch nicht alles verloren!

„Eigentlich müsste ich dir ziemlich böse sein …“, meinte Seiketsu anklagend, woraufhin Shiko resigniert seufzte, „Ich hab´ aufgehört zu zählen, wie oft ich dich nach ihm gefragt habe – du hättest mir sagen können, dass du wirklich auf ihn stehst! Ich versteh´ nämlich absolut nicht, was daran so schlimm sein soll.“

Davon abgesehen, dass Shiko trotzdem ständig an Ryuohtah denken musste – und genau genommen zielgenau darauf zusteuerte, sich in zwei Jungs gleichzeitig zu verlieben?!

„I-Ich … Selbst wenn, ich will nicht, dass das … tiefer geht, mehr wird. Verstehst du das, Sei-chan?“, fiel ihre Antwort sehr kleinlaut aus.

Seiketsu schüttelte den Kopf: „Ehrlich gesagt, Shiko-chan, nein … Und ich glaube, Taiyo-kun sieht das ebenfalls anders.“

Danach verlief die mehrstündige Fahrt auffallend ruhig. Viele ihrer Mitschüler hörten Musik über Kopfhörer, lasen in einem Buch oder holten etwas Schlaf nach. Seiketsu lenkte Shiko mit unablässigem Gesprächsstoff über alle möglichen Themen ab. Und dann kam der ländliche Teil Japan´s. Alles war so weit, überall Farben und Pflanzen … Fasziniert sogen die zwei Mädchen in sich auf. Genauso wie Ohtah. Solch wunderschöne Natur war er nicht gewohnt … Wie eine Flamme im Wind wurde sein Neid auf die Menschen neu angefacht. Es war ungerecht! Sie lebten in dieser wundervollen Welt und trotzdem gab es genügend von ihnen, die all das Schöne zerstören wollten!

Am späten Nachmittag erreichten sie Hakone. Eine schmale, rote Brücke führte in das Innere der kleinen Stadt, in dessen Zentrum sich mehrere heiße Quellen befanden. Der geordnete Ausstieg, welchen Togo angeordnet hatte, endete in einem furchtbaren Gedränge und Geschubse. Shiko, Seiketsu und Ohtah warteten, bis sich der Bus geleert hatte. Und natürlich überließ er ihnen mit einem verschwörerischen Augenzwinkern den Vortritt. Die Rothaarige rollte gespielt mit den Augen, was ihr ein Grinsen seinerseits einbrachte. Draußen gab Togo die Zimmerverteilung bekannt – Shiko und Seiketsu konnten wie gewünscht zusammenbleiben, Ohtah hatte er mit Absicht das Einzelzimmer zugeteilt – in der Hoffnung, er könne so nicht auch noch andere auf dumme Gedanken bringen.

Nachdem alle ihre Zimmer bezogen und zu Abend gegessen hatten, stand die erste Unterrichtsstunde auf dem Plan. Der Besitzer der Herberge leitete nebenbei noch ein Kendo-Dojo und bot ihnen eine kleine Vorführung an. Anschließend durften die Schüler die Utensilien genauer bestaunen und sogar in die Hand nehmen. Interessiert griff Ohtah nach dem Bokken. Es sah nicht so aus, als hätte er noch nie zuvor ein Schwert in Händen gehalten … Doch er hielt es nicht auf Samurai-Art, was Shiko einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Sie kannte diese Schwerthaltung nur allzu gut … der Winkel der Waffe stimmte genau überein – genauso hielt Ryuohtah seinen rechten Landdolch!
 

In dieser Nacht plagten Shiko Alpträume, in denen die Grenze zwischen Ohtah und Ryuohtah immer mehr verschwamm – einmal saß der Elb neben ihr in der Schule und fragte sie nach der Lösung für eine Aufgabe, dann bedrohte Ohtah sie mit zwei Bokken. Zum Schluss stand Shiko zwischen ihnen und jede Bewegung die der eine ausführte, vollführte der andere genauso. Derart mitgenommen schaffte sie es am nächsten Morgen nicht, ihn anzusehen.

Erst die erlösende Nachricht von Togo, dass sie nach dem Frühstück zum ersten Mal in den Genuss des Onsen kommen konnten, heiterte Shiko wieder auf. Obwohl das Becken mit ihnen allen ziemlich voll war, genossen die beiden Freundinnen das entspannende Bad. Und versuchten dabei so gut es ging, den Geräuschpegel von der anderen Seite der Trennwand zu ignorieren.

Ein Kichern entfuhr Shiko, als sie an die klischeehaften Szenen aus Büchern, Filmen oder Serien dachte, wenn die Jungs eine Räuberleiter bildeten oder Löcher in das Bambusholz bohrten, um die Mädchen begaffen zu können – allerdings musste sie nur zwei Minuten entsetzt feststellen, dass das echte Leben keine Ausnahme bildete!

„Lasst mich mal sehen!“, rief eine ihr äußerst bekannte Stimme, die Shiko schnaubten ließ – Ohtah.

Genau in dem Moment, als sein Gesicht über dem Rand der Trennwand erschien, traf ihn bereits das Seifenstück, welches sie mit voller Wucht nach ihm geworfen hatte, und er fiel nach hinten, punktgenau zurück ins Wasser.

Nach dieser Aktion war Shiko die Lust auf weitere Bäder vergangen, zumindest für heute. Daher beschloss sie die Gegend ein wenig zu erkunden – hatte sie sich doch extra einen Reiseführer aus der Bücherei ausgeliehen. Sie folgte einer leicht beleuchteten Straße, die ich durch den kleinen Ort schlängelte. In Hakone verschmolz der ländliche Charme mit der modernen Architektur. Es hätte chaotisch, durcheinandergewürfelt wirken können – Shiko allerdings gefiel es hier. Die Präfektur Kanagawa lag nur knapp hundert Kilometer von Tokyo entfernt und dennoch war es hier so anders, als in der Metropole. Die Häuser am Rand standen mit jedem weiteren Meter immer vereinzelter und der Asphaltboden wich einem steileren Trampelpfad, der auf einen bewaldeten Berg hinaufführte. Unterhalb des dichten Gehölz lag der Ashi-See dar wie ein glatter Spiegel, auf dem sich die Wolken abzeichneten. Shiko setzte sich auf eine freie Fläche zwischen den Bäumen, stützte die Ellenbogen auf den Knien ab und schloss die Augen. Der Wind fuhr durch die Äste, toste um sie herum. Für einen kurzen Herzschlag lang war sie versucht, ihre Elben-Gestalt anzunehmen und durch die Gegend zu streifen. Aber sie kannte die Gewohnheiten der hiesigen Menschen nicht, da wäre die Gefahr entdeckt zu werden einfach zu groß. Doch trotz ihrer menschlichen Form konnte Shiko die Präsenz der Elemente spüren. Es war wie eine sanfte Umarmung … und ihr fielen die Augen zu.
 

„Shikon! Du hast dich mir gegenüber verschlossen … Dabei hättest du schon längst eine Unterrichtsstunde in elbischer Geschichte gebraucht.“, hörte sie jenen Fremden aus ihren Träumen sagen und mit einem Mal tauchten verschiedene Bilder vor ihr auf, „Dies ist die Erde … vor über zweitausend Jahren, erkennst du sie? Damals wandelten Elben frei durch die Lande … und lebten mit der Macht dieser Welt in Einklang. Bis eine andere Lebensform die Herrschaft über die Erde an sich gerissen und sie vertrieben hat – die Menschen. Darum sind unsere Vorfahren nach Avalon geflüchtet. In die zerstörte Dimension … verloren im Nebelmeer von Raum und Zeit.“

A-Avalon?! Sofort schoss Shiko die erste Begegnung mit Ohtah durch den Kopf. Er hatte auf den Namen dieses Landes reagiert … oder nicht? Das konnte nicht sein! Wahrscheinlich hatte er sich einfach nur über die fremde Sprache gewundert …

„Diese drei Elben-Krieger Kamekle, Ryuohtah und Hoorgo sind die Söhne des amtierenden Königs von Avalon. Sein Name ist Torarien …“, erklärte er weiter, „Und er-“

BUMM! Shiko zuckte zusammen, riss die Augen auf und schrie. Ihre Kleider waren schon vollkommen durchnässt. BUMM! Donner hallte durch den Himmel, begleitet von einem unglaublich hellen Blitz. Ihr Schrei wollte nicht abbrechen – sie hatte schon immer schreckliche Angst vor Gewittern gehabt. BUMM! Sie presste sich die Hände auf die Ohren. Es half nichts – hier draußen in der Natur konnte sie dem Schrecken nicht entgehen!
 

Ausnahmsweise hatte Togo sie mit einer weiteren Unterrichtsstunde verschont, sodass die Schüler ihrem ersten, freien Abend in vollen Zügen genießen konnten. Von Ohtah einmal abgesehen – er musste die Zeit ja in seinem Zimmer fristen. Er wollte es sich gerade auf seinem Futon gemütlich machen, da wurde seine Zimmertür aufgerissen und Shiko´s Freundin stürzte herein, dabei wirkte sie vollkommen verstört und war kreidebleich im Gesicht.

„Was ist passiert?“, schoss es aus seinem Mund, eine Spur zu besorgt.

Seiketsu brach in die Knie und schluchzte: „Shiko-chan! Sie ist noch nicht zurück. Aber sie würde bei diesem Wetter niemals freiwillig draußen bleiben! Sie hat panische Angst vor Gewittern, verstehst du, Taiyo-kun? Es muss ihr etwas zugestoßen sein! Lehrer – ich sollte sofort Morisaki-sensei informieren! Warum bin ich eigentlich zu dir gekommen?“

Sie wollte schon wieder zur Tür hinaus, doch Ohtah packte sie am Arm und meinte entschieden: „Du bleibst hier! Wenn du dieser Witzfigur jetzt Bescheid sagst, komme ich hier nicht mehr weg. Wohin wollte sie gehen?“

„Ich weiß es nicht genau. Sich die Umgebung anschauen, glaub´ ich …“, antwortete die Brünette schwach.

Ohtah atmete einmal tief durch, bevor er erklärte: „Du musst dafür sorgen, dass ihr Verschwinden unbemerkt bleibt. Ich werde sie suchen – und ich werde sie finden, das verspreche ich!“

Sie nickte zaghaft. Der Braunhaarige schnappte sich eine Jacke und kramte in seiner Tasche nach etwas, das er wie einen Schatz hütete – die Zeichnung mit seinem Namen. Einen simplen Suchzauber sollte sogar er hinbekommen. Mit einem letzten Augenzwinkern in Seiketsu´s Richtung kletterte er aus dem Fenster und sprang auf das kleine Vordach knapp darunter. Sofort peitschte ihm der Wind ins Gesicht und der Regen prasselte unaufhörlich auf ihn nieder. Auf der Straße nahm er den Weg, der von der Stadt wegführte – er vertraute einfach darauf, dass sein Gespür ihn etwa in die richtige Richtung führen würde. Noch konnte er seine Gestalt nicht wechseln und seine magischen Kräfte einsetzen …

Erst zwischen dem Schutz der dichten Bäume erlaubte er es sich, als Ryuohtah auf den Plan zu treten. Tonlos flüsterte er ein paar Worte der Macht über dem Blatt Papier und richtete all seine Gedanken auf Shiko. Langsam leuchtete eine Spur auf dem Waldboden auf – sie war tatsächlich hier lang gekommen! Erleichterung durchströmte Ryuohtah und er hastete den Fußabdrücken hinter, die bis tief in den Wald hineingingen. Und plötzlich war sie da, ihre Präsenz, ihr Geruch. Wenige Schritte weiter lag sie zwischen zwei Bäumen auf dem Boden. Ryuohtah musste sich mit aller Gewalt bremsen, um nicht sofort zu ihr zu rennen. Noch nie war ihm die Verwandlung so lange vorgekommen … Doch dann konnte ihn nichts mehr halten.

„Shiko! Kannst du mich hören?“, hörte sie jemanden durch den trüben Schleier rufen, sodass sie langsam wieder zu sich kam.

Jemand rüttelte sie an der Schulter, umfasste ihren Kopf mit zwei Händen und drehte ihn, sodass Shiko in dessen Gesicht sehen musste. Schwarze Augen … braune Haare … Es kam ihr bekannt vor.

„Komm´ schon – rede endlich mit mir, Shiko-chan!“, flehte der junge Mann fast atemlos.

Das Mädchen blinzelte ein paar Mal und schließlich fand sie ihre Stimme wieder: „Ohtah …“

Unglaublich erleichtert fiel sie ihm den Hals. Er drückte sie fest an sich, sodass sie seinen Herzschlag an ihrer Brust spüren konnte. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie ihn ansah, und er streichelte ihr sanft über die Wange.

„Ach, kein >Taiyo-kun< mehr?“, grinste er auf seine typische Art.

Shiko zuckte nur mit den Schultern und musste niesen. Ihr war ziemlich kalt. Schnell hängte Ohtah ihr seine Jacke um – ganz Gentleman-like. Die Röte stieg in ihr auf. Nun hatte er sie bereits zum zweiten Mal gerettet … Wer brauchte schon einen Elben-Prinzen? Da war ihr ein ritterlicher Mitschüler mit leicht perverser Ader doch wesentlich lieber.

Während er ihr beim Aufstehen half, fragte sie: „Woher wusstest du, wo ich bin? Nein, viel wichtiger – warum hast du überhaupt nach mir gesucht?“

„Soll das ein Scherz sein?!“, entgegnete Ohtah beinahe ärgerlich, „Deine Freundin kam völlig aufgelöst zu mir und hat mir erzählt, du seist von deiner Erkundungstour nicht zurückgekommen. Glaubst du wirklich, ich hätte auch nur eine Sekunde gezögert? Inzwischen frag´ ich mich ernsthaft, ob du meine Gefühle mit Absicht ignorierst …“

Shiko wusste nicht, was ihr mehr die Sprache verschlug – seine Geständnis oder die Tatsache, dass er nur wegen ihr gegen ihre Ausgangssperre verstoßen hatte.

Ohtah, dem allmählich ebenfalls dämmerte, was ihm da herausgerutscht war, räusperte sich: „Wie auch immer – so kommen wir nicht mehr zurück. Auf dem Weg hierher habe ich eine Höhle zwischen den Felsen gesehen, dort ruhen wir uns erst mal aus.“

Perplex folgte Shiko ihm. Ohtah bückte sich alle paar Schritt, um passende Äste und Zweige für ein kleines Lagerfeuer aufzusammeln. In dem relativ engen Unterschlupf war es zum Glück trocken und windgeschützt. Er schichtete das Holz aufeinander, schlug zwei geeignete Steine gegeneinander und schon brannte das kleine Lagerfeuer. Beeindruckt klatschte Shiko in die Hände. Er drehte mit einem schiefen Lächeln zu ihr um und deutete eine Verbeugung an. Dabei verlor Ohtah sich erneut in der Tiefe ihrer funkelnden, braunen Augen … Wie ferngesteuerte trat er ganz dicht an sie heran und wickelte seinen Finger um eine ihrer nassen Haarsträhnen. Seine Stirn senkte sich gegen ihre und er kämpfte gegen den fast übermenschlichen Drang in seinem Innern an. So hatte er in dieser Welt schon einmal empfunden … als er die Elbe zu Boden gerungen hatte.

Doch die bläuliche Färbung ihrer Lippen fachte seine Selbstbeherrschung an und er erklärte: „Wir müssen aus diesen Klamotten raus, sonst holen wir uns noch den Tod.“

„Das … das ist doch nicht dein Ernst?!“, gab Shiko mit brüchiger Stimme zurück.

Ohtah zog sich bereits das Shirt über den Kopf. Shiko bedeckte das Gesicht mit ihren Händen – die Situation war ihr zu peinlich. Da holte sie der Schwindel wieder ein und ihr klappten die Beine zusammen. In einer einzigen fließenden Bewegung fing Ohtah sie gerade noch auf.

„Wow …“, flüsterte sie und fühlte sich mit einem Mal so sicher, wie nie zuvor, „Du bist wohl wirklich mein Held.“

Vorsichtig ließ er sie auf dem Boden nieder und antwortete: „Dann vertrau´ mir … Selbst wenn du es mir nicht glaubst – ich weiß, wie sich ein Edelmann zu benehmen hat.“

Sie nickte. Wenn sie etwas in den letzten zwei Wochen gelernt hatte, war es, ihm ihr Vertrauen entgegen zu bringen … Er setzte sich mit abgewendeten Blick ans Feuer und wohl es ihn mehr als reizte, drehte er sich nicht um, bis Shiko – nur in Unterwäsche kleidet – neben ihm Platz nahm.

BUMM! Das Gewitter kehrte zurück. Shiko stieß einen spitzen Schrei aus und klammerte sich an Ohtah fest. Ihr ganzer Körper zitterte, mehr vor Angst als aus Kälte. Behutsam zog er sie auf seinen Schoss und legte sie Arme schützend um ihn.

„Bitte … lass´ mich nicht allein.“, wimmerte die Rothaarige, die sonst so taff wirkte.

Ihre Stimme war so zerbrechlich und leise, wie er es noch nie zuvor gehört hatte. Er wagte es nicht, etwas zu sagen. Zu groß war seine Sorge, diesen Moment zu zerstören. Stattdessen fuhr er mit seiner Hand unablässig über ihren Rücken. Es war eine reine Impulshandlung – er wusste nicht, wie man jemanden tröstet, aber so hatte seine Mutter ihn als Kind oft im Arm gehalten.

Die Stunden flogen dahin, das Gewitter war längst vorbeigezogen. Aber keiner der beiden löste die Umarmung, sie schlossen einfach nur die Augen und schliefen nur dem Knistern des Feuers und dem Atem des anderen lauschend ein.
 

Der Haupteingang war verschlossen, genau wie von ihnen vermutet. Demnach blieb ihnen die Kletterpartie zurück über die Mauer leider nicht erspart. Ohtah nahm Anlauf und fand oben Halt – nachdem er sich selbst hochgezogen hatte, half er Shiko hinauf. Auf der anderen Seite wartete das Becken der heißen Quelle …

Er nahm ihre Hand und fragte: „Bereit?“

„Bereit … wenn du es bist.“, erwiderte sie, bevor ihr noch etwas einfiel, „Jetzt kommst du wohl doch in den Genuss, mit mir baden zu gehen.“

Bevor er etwas erwidern konnte, sprangen sie bereits. Das Wasser spritzte in alle Richtungen und sie kletterten schnell heraus. Anschließend schlichen sie zu den Schlaftrakts. Vor der Gabelung Richtung Mädchen- und Jungenabteil hielten sie inne. Und damit Shiko nicht mehr kneifen konnte, küsste sie Ohtah hastig auf die Wange – und rannte so schnell sie konnte in ihr Zimmer, wo Seiketsu ihr Bett mit irgendetwas als Alibi ausgestopft hatte. Ohtah stand einige Minuten vollkommen bewegungsunfähig im Flur. Seine Gedanken kreisten um Shiko – ihr rötliches Haar, die schokoladenbraunen Augen, der betörende Duft, ihre sinnlichen Lippen. Und schon wieder war seine Wange gebrandmarkt worden; doch den Kuss zog er dem Pfeil nicht nur wegen seiner verletzten Ehre vor …
 

Opfer der Liebe

Bislang hatte Shiko es ihrem Elbenblut zu verdanken gehabt, dass sie eigentlich nie krank geworden war. Doch die letzte Nacht war offenbar auch für ihre magischen Abwehrkräfte zu viel gewesen – noch dazu hatte es sie viel Mühe gekostet, Seiketsu davon abzuhalten, schon wieder zu Togo gehen zu wollen; das bisschen erhöhte Temperatur sollte sich nach einem Tag im Bett wieder verziehen.

Bevor ihre beste Freundin zum Unterricht ging, reichte Shiko ihr noch einen Umschlag. Sie musste ihr nicht sagen, für wen er bestimmt war … Unauffällig ließ Seiketsu ihn auf Ohtah´s Tisch fallen, als sie an ihm vorbei zu einem der letzten freien Plätze ging.

Ohtah, dem Shiko´s Fehlen natürlich sofort aufgefallen war, öffnete das Schreiben interessiert: „Ich bin nicht sehr gut darin, Leute näher an mich heranzulassen – du hast dich irgendwie an dieser Schutzmauer vorbei gedrückt. Und jetzt will ich, dass du die Wahrheit über mich kennst … sonst schaffe ich es nicht länger, dir offen in die Augen zu sehen. Wir treffen uns heute Abend an derselben Stelle wie letzte Nacht.“

Welche Wahrheit konnte sie nur meinen? Er war doch derjenige, der ihr etwas vorspielte … der vorgab, ein Mensch zu sein. Und das nicht mal nur wegen ihr. Er hatte die Elbe aufspüren und die Menschen studieren wollen. Wie konnte man nur so verlogen sein … Hatte er sie nicht gestern noch um ihr Vertrauen gebeten? Weil ihn seine Gefühle übermannt hatten … Durch sie vergaß er seine Pflicht, seinen Auftrag. Wo sollte das hinführen? Torarien würde seine Eroberungspläne sicher nicht wegen der Romanze seines verhassten Sohnes aufgeben … Ob er sich nun weigerte zu kämpfen oder nicht, es lief auf dasselbe hinaus.
 

Eine halbe Stunde vor Ende der letzten Unterrichtsstunde stahl Shiko sich davon. Sie wollte unbedingt vor Ohtah den ausgemachten Treffpunkt erreichen. Als sie in seinen Armen aufgewacht war, hatte sie gewusst, dass sie nicht länger so weitermachen konnte … Dafür waren ihre Gefühle für ihn zu stark. Shiko konnte sie nicht mehr ignorieren und sie konnte ihm nicht weiter ihr Geheimnis verschweigen. Er verdiente es, die Wahrheit zu erfahren …

Das Geräusch eines zerbrechenden Zweiges erregte Shiko´s Aufmerksamkeit. Aber anstelle ihres erwartenden Mitschülers, kamen die beiden Begleiter von Ryuohtah auf sie zu.

„Du bist also dieses widerliche Menschenmädchen, das unserem Bruder derart den Kopf verdreht hat … Da stellt sich mir doch ernsthaft die Frage, was er überhaupt an dir findet!“, meinte Hoorgo, der mit seinem hellroten Haar nicht zu verwechseln war, gespielt süffisant.

Sie machte einen halben Schritt rückwärts und stieß gegen die raue Rinde eines Baumes. Wovon sprach er bloß? Was hatte sie mit seinem Bruder zu schaffen? Wenn … wenn er von Ryuohtah und ihrem Zusammentreffen im Park sprach, bedeutete das unweigerlich, dass ihre Tarnung aufgeflogen war! Aber wie – was hatte sie verraten?

„Du hast dein Zeichen auf ihm hinterlassen.“, erklärte Kamekle nüchtern, „Zweimal – der Pfeil und dein Kuss haben ihn mit Magie gezeichnet. Gegen ein solches Indiz hilft nicht einmal mehr der stärkste Zauberglanz.“

Zauberglanz – eine Art magischer Schleier, der verhindern sollte, dass man jemanden oder etwas – zum Beispiel nach einem Gestaltwandlerzauber – erkennen konnte! Die Erkenntnis traf Shiko wie ein Faustschlag in die Magengegend. Jetzt begriff sie endlich …

„SHIKO!“, schrie eine ihr viel zu vertraute Stimme.

Keine Sekunde später stand Ohtah ebenfalls auf der kleinen Lichtung.

„Da bist du ja.“, meinte sein Bruder in arrogantem Ton, „Wir haben dich schon erwartet … Bruder.“

Ohtah ignorierte die beiden. Er suchte nach ihrem Blick, versuchte ihn festzuhalten, während das Wort »Bruder« durch ihren Geist tönte. Ohtah … Ryuohtah … Sie erinnerte sich an den Schriftzug seines Namens. War es ihr da zum ersten Mal aufgefallen? Nicht zu vergessen seine Reaktion auf Avalon, dem Königreich der Elben … und sein Umgang mit dem Bokken. Deshalb führte er auch diese altmodische Sprache. Die Verletzung an seiner Hand, sein schnelles Reaktionsvermögen, sein Mut und seine Augen … alles an ihm. Plötzlich ergab es Sinn … und irgendwo tief in ihrem Unterbewusstsein hatte Shiko es bereits geahnt. Sie konnte sich nicht zur selben Zeit in zwei Jungs verlieben. Ohtah und Ryuohtah waren ein und dieselbe Person – er war einfach nur ein Elb, der sich in einen Menschen verwandelt hatte!

„Shiko-chan, bitte, hör´ mir zu-“, sprach Ohtah sie an, doch sie hob abwehrend die Hand.

Ihre Stimme, erst zaghaft, wurde mit jedem Wort fester: „Ich wollte es nicht wahrhaben … Dabei hätte ausgerechnet ich diese Möglichkeit viel früher in Betracht ziehen müssen. Hast du dich denn nie gewundert? Habe ich dich nicht an sie erinnert … oder hast du mir einfach nicht misstraut, dich genauso vor der Wahrheit verschlossen?“

Ein Schatten glitt über seine Züge und Shiko nickte. Dann öffnete sie sich der Magie. Für einen Moment war es, als wären sie vollkommen allein … Doch der nackte Stahl an ihrer Kehle riss sie zurück in die Realität.

Kamekle, der bislang wie teilnahmslos in der Ecke gestanden hatte, hatte sein Rapier gezückt und fuhr seinen Bruder sichtbar wütend an: „Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich von dir enttäuscht! Hast du alles vergessen? Das Leid unseres Volkes, unsere Hoffnungen und Wünsche? Ich dachte … ich dachte, trotz allem wärst du Vater treu ergeben!“

„Von wegen! Egal wie sehr ich mich auch bemüht habe, Vater hat mich nie akzeptiert … Ich habe immer nur die Drecksarbeit für ihn erledigt!“, schnaufte Ohtah und kam einen Schritt näher.

Hoorgo packte den Knauf seines Zweihänders fester. Shiko kniff die Augen zusammen. Sie wusste, Ryuohtah war zwar ein talentierter Schwertkämpfer, aber ob er gegen zwei Elben gleichzeitig bestehen konnte – noch dazu gegen seine Bruder – war fragwürdig. Nein, diesmal war sie an der Reihe …

„Sofort aufhören!“, rief sie entschlossen und erntete dafür drei verwunderte Augenpaare, „Ich werde mich Torarien´s Befehl widerstandslos unterwerfen. Dafür verlange ich, dass er nichts von den Aktivitäten seines Sohnes als Mensch hier auf der Erde erfährt!“

Trotz der drohenden Klinge griff Ohtah nach ihrem Handgelenk, wollte sie aufhalten. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie den Kopf schüttelte.

„Es tut mir leid … Du hast mir mehr als einmal das Leben gerettet – in beiden Gestalten, nun bin ich an der Reihe.“, hauchte sie und sprach ein Wort der Macht, das ihn in einen tiefen Schlaf schicken sollte.

Obwohl er sich dagegen wehrte, hatte er in seiner menschlichen Gestalt keine Chance gegen ihre Magie. Zuletzt lösten sich seine Finger von ihr … Es war wie ein endgültiger Schlussstrich. Sie schritt durch das von Kamekle geöffnete Portal nach Avalon ohne zu wissen, ob sie den Jungen, den sie liebte, jemals wiedersehen würde … Nein, es müsste wahrscheinlich eher heißen »in der Hoffnung, den Jungen, den sie liebte, nie wiederzusehen«.
 

Nachdem Tod seiner Mutter hatte Ryuohtah sich gewünscht, er möge aus diesem Alptraum erwachen … Nun erging es ihm ähnlich. Ein kalter Schmerz erfüllte seine Brust, wie ihn keine Waffe dieser oder seiner Welt hätte zufügen können. Sie war fort … verschleppt von seinen eigenen Brüdern – freiwillig, um ihm eine Rückkehr in seine Heimat zu ermöglichen. Doch sie würde er dort nicht wiedersehen … denn für das Attentat auf ein Mitglied der königlichen Familie stand seit jeher die Todesstrafe. Und Torarien gewährte niemals Gnade! Er hatte sie verloren … nicht ausreichend beschützt. Sie, das erste Mädchen, welches ihm wirklich etwas bedeutete …

Er nahm seine wahre Gestalt an und sprach wie bei einem Mantra: „Ich bin Ryuohtah, zweiter Sohn des Torarien und der Chunryu, Prinz von Avalon. Meine Waffen sind die Langdolche Daeadae und Amlugfae. Zusammen mit meinen Brüdern Kamekle und Hoorgo wäre es meine Aufgabe gewesen, die Übernahme der Erde durch mein Volk vorzubereiten … Doch ich habe versagt. Durch die Elbe Shikon habe ich meine Ehre verloren … und mein Herz!“
 

Kamekle und Hoorgo führten Shikon durch einen dichten Nebel, der irgendwann in einen dunklen Wald überging. Kaum ein Lichtschein durchdrang die hohen Baumkronen. Von überall erklangen grässliche Laute, welche Shikon keinem ihr bekannten Tier zuordnen konnte. Bislang hatte sie geglaubt, das Land der Elben müsse förmlich vor Magie sprühen – in Wahrheit wirkte Avalon einfach nur kalt und öde. Ob diese Tatsache etwas mit ihrer Mission auf der Erde zu tun hatte?

Wie zur Ablenkung kam das Herrschaftsschloss in Sichtweite. Nach dieser Finsternis zwischen dem Gehölz, schien der weiße Steinbau beinahe zu leuchten. Elegante Spitzdächer schmückten die hohen Türme, kunstvolle Balustraden säumten den zweiten Ring, geschnitzte Fensterrahmen und Wachen. Überall, wohin Shikon schaute, entdeckte sie Elben in silberner Rüstung und Helmen, auf denen zwei verschlungene Bäume prangte. Es war das Wappen von Avalon – jene beiden Bäume Laurelin und Telperion aus denen die Licht- und Albenalben einst geboren worden waren, hoch oben auf dem Heiligen Berg der Göttin Gäa …

Ihr Weg führte durch ein hohes Portal, das den Blick auf einen langen Gang freigab, welcher schließlich in einen breiten Saal mündete. Auf einer Erhöhung mit mehreren Stufen standen zwei aus feinstem Silber gearbeitete Throne – einer leer, auf dem anderen Herschersitz saß der König der Elben. Sein Blick brannte sich regelrecht in Shikon … dies also war Torarien, der Vater von Ryuohtah! Hoorgo trat ihr die Füße weg, sodass sie unsanft auf den Knien landete.

„Das ist die Verräterin, von der ihr mir berichtet habt?“, fragte der König an Kamekle gewandt.

Der Kronprinz kniete vor ihm nieder und antwortete monoton: „Jawohl, Vater. Ryuohtah hat sie uns übergeben …“

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Im Stillen dankte Shikon ihm für diese Lüge. Hoorgo hätte sie zugetraut, dass er seinen Bruder verraten würde … doch er schwieg.

„Dieser Schwächling …“, kommentierte Torarien die Antwort seines Erstgeborenen abfällig, „Dafür wird es mir eine außerordentliche Freude sein, dieses Weib sterben zu sehen! Morgen bei Sonnenaufgang werde ich das Urteil offiziell verkünden … Hoorgo, du weißt, was ich bis dahin von dir erwarte!“

Der Schwertkämpfer packte sie knapp unterhalb ihres Haaransatzes und zog Shikon daran auf die Füße. Wie ein Stück Vieh zerrte er sie so weiter in einen angrenzenden Raum und dort auf ein hölzernes Podest. Lüsterne Freude lag in seinem Blick, als er ihre Hand- und Fußknöchel mit den harten Lederriemen festband.

„Dann wollen doch mal sehen, was für einen Körper du da unter deinem Kleid versteckst … Irgendeinen Grund muss es ja geben, dass Ryuohtah so scharf auf dich ist, nicht wahr? Wobei ich ja nur zu gern herausfinden würde, wie weit du ihn schon rangelassen hast.“, hauchte er dich neben ihrem Ohr.

Shikon schluckte die Galle hinunter, welche ihr die Kehle aufstieg. Und sie hatte Ohtah anfangs für pervers gehalten?! Gegen seinen Bruder war er ja ein echtes Unschuldslamm! Mit einem einzigen Ruck riss Hoorgo ihr den Stoff vom Leib. Der erste Schlag seiner Faust traf sie unterhalb der rechten Brust. Shikon krümmte sich vor Schmerz. Schon als Torarien ihm den Befehl gegeben hatte, war ihr klar gewesen, dass er sie nicht einfach nur bewachen sollte …
 

Später konnte Shikon nicht mehr sagen, wie lange Hoorgo auf sie eingeprügelt hatte. Jeder Zentimeter ihres Körpers schmerzte und einzig die ledernen Riemen hielten sie noch auf den Beinen, aus eigener Kraft hätte sie es nicht mehr vermocht …

Doch es gab noch etwas, das Shikon ihrem Peiniger zu sagen hatte: „Eigentlich sollte die Magie meines Bogens verhindern, dass … ich mein Ziel … verfehle. Hätte er damals doch nur dich getroffen …“

Verwunderung zierte sein Gesicht – es war also gar nicht ihre Absicht gewesen, seinen Bruder zu verletzen? Vielleicht … war sie gar nicht die verräterische Hexe, für die er sie gehalten hatte. Doch was hätte er sonst von ihr halten sollen? In Hoorgo´s Augen war der Pfeil ein Mordversuch an Ryuohtah gewesen und weil dieser missglückt war, machte sie sich an ihn heran, um eine neue Chance zu bekommen. Solche Schlüsse zu ziehen, war er gelehrt worden, kaum dass er stehen konnte. Und noch nie hatte er die Denkweise seines Vaters in Frage gestellt. Gut, er behandelte Ryuohtah nicht gerade väterlich … aber bislang hatte Hoorgo dies eher als »Erziehungsmethode« betrachtet. Konnte Torarien denn wirklich sein eigen Fleisch und Blut hassen? Hoorgo ballte erneut die Faust, schlug diesmal jedoch gegen die Wand. Im Grunde hatte er wohl sein ganzes Leben lang die Augen verschlossen und die Grausamkeit seines Vaters nicht sehen wollen – nein, das war gelogen … vielmehr hatte er ihm in seiner Art nachgeeifert. Kamekle war der Thronfolger, doch war er mehr Gelehrter denn Regent. Und sein Vater ließ sich keine Vorschriften machen – warum also die Erbfolge beachten, wenn der Erstgeborene nicht über die notwendigen Fertigkeiten verfügte? Aufgrund seiner Abneigung Ryuohtah gegenüber, war dieser als gewählter Nachfolger sehr unwahrscheinlich. Blieb nur noch Hoorgo, der sich beweisen konnte!
 

Es war für Ryuohtah ein eigenartiges Gefühl nach Avalon zurückzukehren. Dies war eigentlich sein Zuhause … und gleichzeitig fühlte es sich nicht so an. Vielleicht sorgten aber auch seine Schulgefühle für dieses Unwohlsein. Er ging auf direktem Weg in den Thronsaal. Außer seinem Vater war nur noch Kamekle anwesend – beide hielten den Blick fest auf eine Stelle in der linken Wand gerichtet. Ryuohtah wusste nur zu gut, was sich dort befand … Übelkeit ergriff seinen Magen, als er mithilfe von Magie ebenfalls durch das Gestein blickte. Shikon hing schlaff am Pranger, einzig von den ledernen Fesseln gehalten. Ihr nackter Körper war übersät mit blauen Flecken, an manchen Stellen blutete sie sogar … die deutliche Handschrift von Hoorgo. Torarien hatte ihn schon sehr früh zu seinem liebsten Folterknecht bestimmt.

„Vater!“, machte sich Ryuohtah bemerkbar, nachdem er sich von dem grauenhaften Anblick losgerissen hatte, „Hört auf mit diesem Wahnsinn!“

„Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen?! Aber keine Sorge … ich werde es beenden. In wenigen Stunden wird sie hingerichtet werden, dann ist es vorbei!“, höhnte Torarien.

Ryuohtahs Hände ballten sich die Fäusten, dann sank er auf die Knie und sagte: „Ich bitte Euch, Eure Majestät … Ich, Ryuohtah von Avalon, schwöre zu tun, was immer Ihr von mir verlangt – nur lasst sie am Leben!“

„Interessant, höchst interessant … Es gäbe da natürlich eine Möglichkeit, wie sich das Urteil mildern ließe.“, meinte der König schmeichlerisch, „Wenn die Anklage nicht auf >Hochverrat< lauten würde … Doch sie hat ja leider ein Mitglied ein Mitglied der königlichen Familie hinterhältig attackiert, wie schade.“

Der Braunhaarige starrte seinen Vater entsetzt an. Er schlug tatsächlich vor, dass sein eigener Sohn ins Exil ging – in ihrem Volk hieß das, den Wald in die entgegengesetzte Richtung von Schloss Edhelharn, den Elbenstein zu verlassen und sich in einem immer währenden Kampf den Bestien des Abgrunds zu stellen. Torarien hasste ihn nicht nur, er wollte seinen Tod – sein Leben für das von Shikon …

„Wenn dies Euer Wunsch ist … werde ich mich beugen.“, sprach Ryuohtah entschlossen.

Torarien schüttelte bedauernd den Kopf und sagte an Kamekle gewandt: „Die Zeit auf der Erde hat seinen Geist vergiftet. Wer so spricht, ist nicht mein Sohn! Los, entferne ihn aus meinen Augen – und lass´ ihn an die Grenze unseres Reiches bringen!“

Sein Bruder konnte glauben, was er da hörte. Den eigen Sohn in den sicheren Tod zu schicken … das war selbst für die Verhältnisse seines Vaters grausam. Und das nur, weil Ryuohtah seinen Vorstellungen nicht entsprach. Würde Torarien dasselbe mit ihm tun? Wartete er womöglich nur auf einen passenden Vorwand? Kamekle hatte ihn stets für einen harten Herrscher gehalten, der durch den Verlust seiner großen Liebe verbittert geworden war, aber dennoch nur das beste für sein Volk wollte … Sein Bruder dagegen lachte freudlos – es überraschte ihn so gar nicht. Aber wenn er schon sterben sollte, dann wenigstens bei dem Versuch, Shikon zu retten! Aus dem Nichts zückte er seine Langdolche und rannte in den angrenzenden Raum. Hoorgo war nirgends zu entdecken. Ryuohtah verriegelte die Tür, eilte zu der bewusstlosen Shikon und rüttelte sie kräftig. Nur langsam öffnete sie ihre Augen.

„Ohtah …“, krächzte sie schwach.

Ihr Innerstes kreischte auf, denn sie konnte nicht mehr schreien. Warum nur war er gekommen? Das durfte einfach nicht wahr sein! Schon wieder brachte sie ihn in Schwierigkeiten. Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange. Obwohl sie nur kurze Zeit getrennt gewesen waren, hatte es sich wie eine Ewigkeit angefühlt … Ihr Geliebter schnitt die Striemen durch und lud sie sich auf den Rücken. Nicht unbedingt die beste Haltung zum Kämpfen … Als hätten sie nur auf dieses Stichwort gewartet, brachen die Soldaten in diesem Moment durch. Fast gleichzeitig barst das Fensterglas – ein fremder, hochgewachsener Elb mit gezücktem Bogen hatte es mit seinem kraftvollen Sprung zerstört. Shikon war nur mäßig bei Bewusstsein, doch spürte sie eine vertraute Aura … nicht Ryuohtah oder seine Brüder. Nein, es war derjenige, der sie in seinen Träumen besucht hatte!

„Lauf´, Junge! Bring´ sie in Sicherheit!“, forderte er Ryuohtah drängend auf, während die Geschosse bereits von seiner Sehne schnellten.

Länger ließ sich der zweitgeborene Prinz nicht bitten – er hastete ins Freie und weiter über den Schlosshof. Die wenigen Wächter, die noch draußen postiert waren, machte er mit Hilfe einer Klinge kampfunfähig – sie hielten sich zurück, weil er immer noch ein Prinz war. Der Braunhaarige nahm denselben Weg zurück durch den Wald, der direkt zu einer Felsnadel führte – anders als in der Welt der Menschen konnte in Avalon nur hier das Portal geöffnet werden. Doch so leicht sollte ihnen die Flucht nicht gelingen … Hoorgo hatte damit gerechnet, dass sein Bruder nicht einfach so aufgeben würde. Bei seiner Ankunft hatte er ihn passieren lassen, nun stellte er sich ihm in den Weg.

Lässig auf Dúath gestützt meinte er: „Ich wollte schon lange gegen dich kämpfen.“

Ryuohtah nickte ernst. Es wurde wirklich höchste Zeit herauszufinden, wer von ihnen der Stärkere war … Sein Bruder trug nicht ohne Grund den Titel »Erster Kämpfer«. Vorsichtig legte er Shikon auf den Boden. Ihre Lider flatterten vor Erschöpfung.

„Keine Sorge, Shiko … es wird nicht lange dauern.“, flüsterte er ihr zu und berührte ihre Stirn mit seinen Lippen.

Hoorgo´s glühender Blick bohrte sich in ihn, sein mächtiger Zweihänder reflektierte das magerer Licht. Mit einem tiefem Atemzug zog auch Ryuohtah blank – er konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem er seine Waffe in Auftrag gegeben hatte … sie sollte ihn selbst widerspiegeln. Und der Hofschmied hatte sich für seine Dualität in Form von zwei Langdolchen entschieden; perfekt geeignet für Angriff und Abwehr, wild und elegant zugleich. Genauso unterschiedlich wählte er auch ihre Namen … Von da an waren Daeadae und Amlugfae beinahe so etwas wie seine besten Freunde geworden. All sein Vertrauen legte er in sie, nie war er enttäuscht worden. Ohne Vorwarnung fegte eine Böe über die beiden Kämpfer hinweg. Nur einen Wimpernschlag später klirrte das Metall wie Donnerhallen über das Gebiet. Alle drei Schneiden flogen in einem silbrig blitzenden Bogen durch die Luft und blieben mit der Spitze voran im Boden des jeweils anderen stecken. Sie standen in zirka drei Meter entfernt mit dem Rücken zueinander, vollkommen regungslos.

„Du hast nicht deine volle Stärke eingesetzt.“, sprach Hoorgo schließlich als erster.

Ryuohtah konnte ein schwaches Lächeln nicht unterdrücken, als er entgegnete: „Genauso wie du, kleiner Bruder.“

Sie nahmen ihre Klingen wieder an sich und der Braunhaarige lud sich die vollständig ohnmächtige Shikon erneut auf den Rücken, ohne dass die Rothaarige ihn länger aufhielt.

„Du kannst Vater´s Zorn nicht entgehen.“, sagte Hoorgo.

Schon im Weben des Zaubers antwortete Ryuohtah: „Da magst du Recht behalten … du aber auch nicht, du hast mich nicht getötet. Es tut mir leid – hättest du nicht Hand an Shiko gelegt, hättest du uns begleiten können.“

Damit trat er durch das Portal – unwissend was in diesem Augenblick in Shikon´s Innerem vor sich ging.
 

Seelensplitter

Ihr Herz hörte für einen Augenblick auf zu schlagen, die Zeit schien still zustehen und dann kam der Knall – es war, als würde Glas in Tausende von winzigen Stücken zerspringen. Shikon spürte den Ruck, ohne zu wissen, was er bedeutete … In einem grellen Licht explodierte die Magie in ihr und gleichzeitig zerbrach auch ihre Seele …

Ryuohtah bekam davon nichts mit – Shikon´s Körper lag weiterhin in tiefer Bewusstlosigkeit –, seine Gedanken kreisten um eine sichere Zuflucht. Wo nur könnten sie unterkommen? Mhenlo oder gar ihre Klassenkameraden aufzusuchen kam nicht in Frage; er durfte diese Menschen nicht länger in Gefahr bringen – vor allem da sie nun wahrlich Torarien´s Zorn auf sich gelenkt hatten und er ihnen sogar seine Truppen hinterher schicken könnte. Schlussendlich entschied sich Ryuohtah in die kleine Höhle zurückzukehren. Sie war zwar kaum zu verteidigen … doch hoffte er, man würde dort auch nicht nach ihnen suchen. Der Weg durch den Wald war beschwerlich – besonders da er, so gut es ging, versuchte seine magische Signatur zu unterdrücken; wenigstens hinterließ er als Elb keine verräterischen Fußspuren.

Die Höhle befand sich noch genau in demselben Zustand, wie die beiden sie vor kurzem verlassen hatten. Sogar ein wenig Holz war noch übrig, welches er diesmal wieder mit Hilfe der Feuersteine entzündete, nachdem er Shikon auf das Lager gebettet hatte. Je weniger Magie er benutzte, desto besser … diese Worte sprach er wie ein Mantra immer wieder.

„Halte durch, Shiko-chan.“, flüsterte er, „Und … verzeih´ mir.“

Bislang hatte er es nicht gewagt, ihren Körper genauer in Augenschein zu nehmen. Zum Glück bestätigte sich sein erster Verdacht, dass sämtliche äußeren Verletzungen nur oberflächlich waren – nicht einmal Knochenbrüche schien sie erlitten zu haben. Oder das Elbenblut tat bereits seinen Dienst. Eine ganz andere Sache waren allerdings ihre seelischen Wunden … Ryuohtah konnte nur erahnen, was sein Bruder ihr alles angetan hatte. Mit den Fingerspitzen fuhr er ihr zärtlich über die Wange. Ein Teil von ihm konnte es immer noch nicht fassen, wie blind er gewesen war – beziehungsweise wie er sich nur so vom Zauberglanz hatte täuschen lassen können.

„Komm´ zu mir zurück … ich bitte dich.“, sagte er leise, doch sie konnte ihn nicht hören.

Sie saß zusammen gekauert da. Die Arme um ihren bloßen Körper geschlungen. Das Zittern wollte einfach nicht aufhören. Sie hatte Angst … und es war so bitterkalt. Was war passiert? Sie konnte sich nicht erinnern, wie ich hierher gekommen war … in diese völlige Dunkelheit. Dunkel, dunkel, dunkel ... ein endloses Nichts, als wäre sie gefangen. Was war das nur für ein Ort?

„Dein Inneres …“, antwortete eine Stimme sanft, „Oder sollte ich besser sagen, unser Inneres?“

Die Rothaarige öffnete vorsichtig die Augen. Vor ihr stand ein Mädchen. Ebenso hochgewachsen, tiefbraunen Augen, aber mit längerem Haar. Auch sie trug keine Kleidung. Schon glaubte sie in einen Spiegel zu schauen – doch bei ihrer Gegenüber lugten zudem spitze Ohren hervor.

Langsam öffnete sie den Mund und fragte: „Wer … wer bist du? Warum bist du hier?“

„Ich bin immer da, wo du bist …“, gab sie mit einem kleinen, freundlichen Lächeln zurück, „Hast du mich denn noch nicht erkannt, Shiko?“

Shiko … Sie wiederholte das Wort einige Male stumm. Dieser … Name sagte mir etwas. Nur was?

„Wir haben zu schreckliches erlebt.“, stellte das andere Mädchen so leise fest, dass sie sie kaum verstehen konnte, „Sowohl für dich als Mensch … genauso wie ich als Elbe.“

Ein Stich fuhr durch ihren Kopf. Shiko presste die Hände dagegen, versuchte sich dagegen zu wehren. Gesichtslose Gestalten schwirrten vor ihrem Blick, zusammenhanglose Erinnerungen. Alles war so verworren und verdreht und durcheinander und grauenhaft.

Ihr Schrei hallte durch die finstere Weite: „Ich will das nicht wissen! Nein, nein, hör´ auf damit! Bitte, hilf mir! SHIKON!“

Sie riss die Augen auf, ihre Pupillen weiteten sich vor Schock und sie blieb schlaff liegen. Bereits im nächsten Moment streichelte ihre Besucherin ihr über den Rücken. Shikon … Natürlich! Auch das war ihr Name. Sie waren nicht zwei Seiten von etwas … sondern eines mit zwei Seiten. Zwei Formen, die verschiedener nicht hätten sein können, und dennoch gleich. Was die eine wollte, wollte die andere – was Shiko fühlte, das fühlte Shikon. Sofort begannen ihre Gedanken zur Ruhe zu kommen und sogar das Zittern erstarb vollends.

Shiko setzte sich auf, dann fragte sie: „Was ist mit mir … mit uns passiert?“

„Unsere Seele …“, begann mein Ebenbild und rang mit sich, „Unsere Seele ist … zerborsten. Wegen dem, was … was in Avalon geschehen ist und was wir für Ohtah … Ryuohtah empfinden.“

Plötzlich wirkte Shikon genauso gebrochen, wie Shiko. Ein Wrack … Erst jetzt begann Shiko zu begreifen … Und mit der anfänglichen Erkenntnis kehrte auch die Erinnerung auf äußerst schmerzhafte Weise zurück – was mich nach alle dem echt nicht wunderte!

Beginnend mit ihrer Abführung, bei der sie ihn zurückgelassen hatte … der Übertritt in die geschändete Welt Avalon … das Gegenüberstehen Torarien´s … die Folter durch Hoorgo … schließlich war er erschienen und hatte sie befreit, alles für sie riskiert, sich gegen seine Familie … sein Volk … seine Heimat gestellt – einzig wegen ihr.

Sie konnte nicht erahnen, wie viel Zeit vergangen war – geschweige denn, ob »Zeit« hier überhaupt existierte. Hier in der Dunkelheit ihrer geborsten Seele regte sich nichts. Es gab kein Ende, keinen Raum, keine Orientierung. Alles, was ihr wichtig war, hatte sie verloren …

„Was willst du tun?“, fragte die Elbe in die Stille hinein, „Wenn wir hier bleiben, werden die Splitter unserer Seele langsam verlöschen. Wir werden nicht wiedergeboren oder gar ins Mondlicht gehen … Wenn wir auf diese Weise verschwinden, wird jede Erinnerung an uns ausgelöscht – jeder, dem wir begegnet sind, wird uns vergessen.“

Ihr zweites Ich horchte auf: „Dann müsste niemand mehr wegen uns leiden. Sei-chan nicht und … er auch nicht. Ohne uns könnte er einfach wieder zu seinem Volk zurückkehren. Ich wünsche mir, dass er glücklich ist … Und wenn ich dafür ausgelöscht werden muss, soll es mir recht sein!“

Die Alternative dagegen würde sie nicht ertragen … ins Leben zurückkehren, sich der Realität stellen, die Wahrheit akzeptieren. Sie wollten nicht zurück … und sie wollten genauso wenig nicht hier bleiben. Was würde Shiko(n) dort erwarten? Es machte ihr Angst. Es stimmte, sie hatte genug Schaden verursacht – doch wenn Ryuohtah seine Erinnerungen verlor, würde die Invasion der Erde so nicht von neuem beginnen? Er war inzwischen nicht mehr der blutrünstige Elb – so fern er das überhaupt jemals wahrlich gewesen sein mochte –, der an seinem ersten Abend von meinem Pfeil getroffen worden war … Er besaß etwas menschliches. Ein Herz … ein menschliches Herz …

„Meine Shiko, bitte … komm´ zu mir zurück!“, sagte plötzlich eine Stimme, die nicht der Halbelbe gehörte … sondern Ryuohtah!

Tränen rannen über ihre Wangen. Er liebte sie als Shiko und Shikon gleichermaßen … Ohne es zu merken, fügte sich ihre Seele wieder zusammen. Unbewusst hatte sie ihre Entscheidung bereits getroffen … Selbst wenn Shiko verschwand, änderte das nichts an den Problemen der Realität … und sie in Wahrheit wollte auch nicht, dass Ohtah sie vergaß – nicht einmal, wenn sie nicht zusammen sein konnten.

„Es war von Anfang an egal, ob es Ryuohtah oder Ohtah gewesen ist … ob als Elb oder als Mensch, an meinen Gefühlen für ihn ändert das nichts.“, gestand sich Shiko endlich ein, „Trotzdem kann ich nicht weitermachen, wie bisher … gerade weil ich ihn liebe. Dass er sich für mich gegen Avalon und seine Familie gestellt hat … ich will so etwas nie mehr erleben! Es war das letzte Mal … Er wird nicht noch einmal sein Leben für mich riskieren! Lieber … lieber ziehe ich all seinen Hass auf mich, anstatt ihn sterben zu lassen. Als ich mich seinen Brüdern ausgeliefert habe, hatte ich sein menschliches Herz nicht bedacht. Dieser Fehler darf mir diesmal nicht passieren … Ich muss beide Seiten von ihm ausschalten!“

Entschlossen nahm sie ihre elbische Gestalt an, streckte den linken Arm aus und sprach: „Du bist genauso ein Teil von mir … Ich brauche deine Hilfe – Feuerblume!“

Unzählige Splitter sammelten sich um ihre Hand und formten ihren Bogen.

„Du weißt, was wir tun müssen …“, flüsterte Shikon schwach, „Wir dürfen ihn nicht noch mehr in Gefahr bringen – Torarien wird uns jagen. Selbst wenn er uns tötet … Ryuohtah ist nicht mehr derselbe. Er könnte keine Menschen mehr töten … und wahrscheinlich würde er nicht einmal zulassen, dass seine Brüder es tun. Unsere Welt ist so etwas, wie seine zweite Heimat geworden … Selbst wenn kein menschliches Blut durch seinen Körper fließt, er hat als Mensch gelebt! Und das verändert unweigerlich … Schließlich gibt es außer uns niemanden, der besser wusste, wie es ist, beiden Völkern anzugehören.“

Als Shikon diesmal die Augen aufschlug, starrte sie an eine steinerne Decke. Der Anblick wirkte auf gewisse Weise vertraut … die Höhle, in der sie mit Ohtah während des Gewitters übernachtet hatte! Das Gewicht ihres Bogens ruhte auf ihrer Brust, welche von ihrer üblichen Gewandung verhüllt war. Langsam setzte sie sich auf – da hörte sie mehrere, dumpfe Aufschläge. Ryuohtah stand gebückt im Eingang, vor ihm ein Haufen Äste. Sein Gesichtsausdruck wandelte von Verwunderung zu so etwas wie … Glückseligkeit. Einen winzigen Augenblick überdachte die Rothaarige ihr Vorhaben … dann spannte sie einen Pfeil in ihren Bogen und zielte auf sein Herz.

„Es ist alles in Ordnung, Shiko – wir konnten entkommen; weder Hoorgo noch Torarien werden dir jemals wieder weh tun.“, versuchte er sie zu beruhigen, wobei ihren römischen Sinne seine zahlreichen Verletzungen nicht entgingen.

Es kostete Shikon jedes Quäntchen Entschlossenheit zu fauchen: „Wage es nicht näherzutreten! Du kennst Feuerblume´s Macht – es wäre diesmal nicht deine Wange, die ich treffe!“

Ryuohtah hob abwehrend die Hände, während er perplex sagte: „Ich … ich verstehe nicht. Was ist los mit dir? Ich dachte, wir-“

„Wir waren vom ersten Moment an Feinde!“, unterbrach sie ihn scharf, „Ich schwöre, ich werde König Torarien von seinem Thron stoßen und jeden aus dem Weg räumen, der sich mir dabei entgegen stellt! Als wir das letzte Mal gegeneinander gekämpft haben, hast du mich verschont … heute bezahle ich meine Schuld. Sollten wir uns allerdings noch einmal wiedersehen, werde ich meinen Pfeil nicht wegstecken!“

Die Waffe gesenkt wandte sie sich von seinem Gesicht ab – Shikon konnte diesen seinen verletzten Blick nicht länger ertragen. Sie wusste, wie es sich anfühlte, wenn die eigene Seele zerbrach … und hatte soeben Ryuohtah´s Herz in winzige Teile zerschmettert. Dabei erahnte er nicht einmal im Entferntesten den Grund – geschweige denn, dass er überhaupt verstand, was gerade passierte. Kein Schlafzauber, kein k.O.-Schlag – dennoch rührte der Elb nicht einen einzigen Muskel, als Shikon an ihm vorbei nach draußen schritt. Sein ganzer Körper war wie erstarrt. Die Halbelbe begann zu rennen, bevor Trauer und Schmerz sie verraten hätten …
 

Vater und Tochter, Sohn und Mutter

Vielleicht war es unvernünftig, doch Shiko genügte es bei weitem einen geliebten Menschen zu verletzen – Seiketsu sollte nicht auch noch ihretwegen meiden müssen. Wenigstens verabschieden wollte sie sich … Also lief die Rothaarige den erdigen Pfad zurück in Richtung des Onsen. Dieser Ort machte ihr noch schmerzlicher bewusst, was sie soeben getan hatte … Obwohl es ihr bei jedem Atemzug mehr und mehr das Herz zerriss, fühlte sich Ryuohtah mit Sicherheit noch viel elender – er hatte sein Leben für sie riskiert und sie hatte ihn dafür zerstört. Um die Erde vor Torarien zu beschützen … Nur wie sollte ihr dies gelingen, noch dazu allein? Wo zwischen ihm und Shikon doch unzählige Wachen standen … Und als König von Avalon war er selbst sicher auch kein leichter Gegner.

Gerade, als sie die ersten Dampfschwaden erblicken konnte, fiel ihr eine Gestalt auf, die außerhalb des Scheins einer Laterne an der Außenverkleidung lehnte. Sofort schossen sämtliche Alarmsysteme in ihrem Kopf auf rot – Hoorgo konnte es aufgrund der Größe schon mal nicht sein, doch er hatte ja noch einen Bruder. Allerdings war es auch nicht Kamekle, der sie da erwartete … sondern ihr Lehrer!

Immer noch leicht angespannt, stammelte sie: „Oh, guten Abend, Morisaki-sensei. Sie fragen sich sicher, was ich hier draußen mache-“

„Du meinst, außer dich von deiner Flucht aus Avalon zu erholen?“, unterbrach er sie, worauf sich ihre Augen vor Schock weiteten, „Entschuldige … ich hätte es dir gern etwas schonender beigebracht – aber das geht nicht bei deinem Vorhaben, einen Putschversuch durchzuführen. Shikon, mein Name lautet Tetogo … ich bin dein Vater!“

Wie zur Unterstreichung seiner Worte nahm er die Gestalt eines Elben an. Er trug eine dunkle Lederrüstung, über der Schulter hing ein kurzer Jagdbogen und wie bei ihr selbst der Köcher an der Hüfte. Die spitz zulaufenden Ohren verursachten ihr eine Gänsehaut, während ihr Hirn versuchte, die Informationen zu verarbeiten.

Doch plötzlich trat ein neuer Aspekt in ihre Gedanken, der Shiko einen Schritt zurückweichen und ebenfalls die Verwandlung vollziehen ließ, wurde von kaum hörbaren Worten begleitet: „Du … du warst es … Du hast Ohtah auf der Straße angegriffen!“

Es stimmte, es waren haargenau dieselben Pfeile … Er hätte beinahe den Jungen umgebracht, den sie liebte! Ihr Vater … der, der sie und ihre Mutter als Kleinkind verlassen hatte!

„Ich wollte dich nur vor ihm retten … Ich habe seine Täuschungszauber fast von Anfang an durchschaut und … ja, ich habe dich benutzt, um ihn aus der Reserve zu locken. Aber nur, weil ich mir sicher war, dass er deine wahre Identität nicht kannte! Ich dachte, er wäre eine gefühllose Tötungsmaschine geworden, wie Torarien es gewollt hatte. Dabei liebt er dich … das habe ich in Avalon begriffen.“, versuchte er sich zu erklären und sein Blick wurde melancholisch, „Bitte, Shikon … verzeih´ mir.“

Noch nie hatte jemand ihren Namen so ausgesprochen, voll unerfüllter Sehnsucht. Und mit einem Mal wusste sie, dass er nicht von dem Zwischenfall sprach, den sie ihm gerade noch vorgeworfen hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen – ihr Leben lang hatte sie auf ihn, ihren Vater verzichten müssen … und Shikon warf sich ihm in die Arme. Mehrere Minuten hielt Tetogo sie ganz dicht an sich gedrückt. Die Halbelbe konnte nicht einschätzen, was merkwürdiger war – ihm plötzlich gegenüber zu stehen oder dass er ihr Lehrer war.

„Du hast mir einiges zu erklären.“, meinte sie leise.

Der Bogenschütze nickte. Er löste die Umarmung deutete auf das Dach des Onsen. Mit Leichtigkeit erklommen die beiden die Höhe und setzten sich, sodass man sie von der Straße aus nicht mehr erblicken konnte. Zur Sicherheit webte Tetogo einen schützenden Nebelschleier, der ihre Worte schlucken würde. Dann wandte er sich wieder seiner Tochter zu. Natürlich wollte und musste sie zuerst erfahren, wie es zu dieser Situation gekommen war – vor vielen Jahren war Tetogo Kommandant der Königlichen Armee von Avalon gewesen. Entgegen Torarien´s Gesetz hatte er sich häufig heimlich als Gestaltwandler in die Welt der Menschen geschlichen, ihre Kulturen sowie Sprachen kennengelernt und erfahren, dass die herrschenden Vorurteile über die Erdlinge vollkommen haltlos waren. Sie waren weder alle gut noch alle böse – ebenso wie die Elben. Über die Jahre hinweg wuchs in ihm der Zorn über die Lügen des Königs, der ihre angeblichen Feinde auslöschen wollte. Bereits damals ahnte der Elb, dass er seinen Söhnen eines Tages jenen Befehl erteilen würde … Allerdings erlebte er diesen Tag nicht mehr in seiner alten Position – denn bei einer seiner Rückkehren nach Avalon wurde Tetogo erwischt und vor Gericht gestellt.

Shikon schnaubte an dieser Stelle der Geschichte verächtlich; sie kannte Torarien´s Art von einem Prozess. Daher überraschte sie wenig, dass er ihren Vater für seinen Vertrauensbruch zum Tode verurteilt hatte. Doch er war nicht der einzige, der dem König nicht die Treue hielt – eine Handvoll Soldaten verhalfen ihrem ehemaligen Anführer zur Flucht.

„Das war vor gut zwanzig Jahren …“, sagte er traurig lächelnd, „Da ich das Portal vollkommen planlos geöffnet habe, landete ich orientierungslos in einem Wald. Dort hat mich deine Mutter gefunden … Kaira ahnte, dass ich kein Mensch sein konnte und hat mich dennoch bei sich aufgenommen. So habe ich mich in ihr gütiges Herz verliebt …“

Shikon überkam ein Zittern – die Liebe ihrer Eltern war nicht gut ausgegangen – und sie brachte nur mühsam über die Lippen: „Was ist … passiert? Warum hast du … sie verlassen?“

Schmerz legte sich wie ein Schatten über sein Gesicht, während er antwortete: „Du hast inzwischen sicher gemerkt, dass ich es war, der des Nachts im Schlaf zu dir gesprochen hat – diese Fähigkeit nennt sich >Traumgänger<. Und kaum, dass Kaira schwanger von mir war, sprach auch jemand zu mir auf diese Weise. Es handelte sich dabei um die Mutter unserer Vorfahren, den Alben … die Göttin der Natur, Gäa. Sie bat mich darum, zu ihr zu kommen – auf den Gipfel des höchsten Berges von Avalon … Calbentaen. Auf dem Albenhaupt hat sie einst unsere Welt betreten … und wer den Weg zu ihr bewältigt, der darf ihr in ihrer Funktion als Orakel eine einzige Frage stellen. Ich habe Gäa also das gefragt, was mich seit meinem ersten Besuch auf der Erde beschäftigt hatte … >Warum hat Torarien den Kontakt zwischen Elben und Menschen verboten?< Ich konnte nicht glauben, dass es nur an der Vertreibung lag. Während der Befragung haben sie mich regelrecht drangsaliert, um herauszufinden, ob ich … etwas mit einer Menschenfrau hatte. Was Gäa mir anschließend offenbarte … nun ja, es hat mein ganzes Weltbild in Frage gestellt und ist der Grundstein für all meine weiteren Entscheidungen.“

Torarien hatte Gäa am Tag vor seiner Krönung ebenfalls aufgesucht, um von ihr eine Weissagung zu erbitten … Er wollte wissen, wie er sich seinen Thron für alle Ewigkeit sichern könne. Laut der Göttin wäre es eine Peredhil, die Tochter eines Elben und eines Menschen, die eines Tages seine Herrschaft beenden würde – denn nicht Torarien gebührte der Thron Avalons … Er vergiftete die Magie der Welt mit seinem Hass und verwandelte sie.

Eine düstere Ahnung erwachte in Shikon, welche die Übelkeit in ihr hochsteigen ließ und sich noch verstärkte, als Tetogo weitersprach: „Du hast Avalon gesehen … Als ich geboren wurde, war es noch ein herrliches Land in voller Blüte. Doch Torarien´s Vater interessierte sich nicht davor. Er wollte die Erde unter allen Umständen zurückerobern und pflanzte diesen Rachedurst in seinen Sohn. Damit begann sich alles zu verändern … Das Nebelmeer verschluckte mit jedem Jahr mehr Land; die Tiere mutierten zu Monstern und unser Volk musste sich in die Region des heiligen Berges zurückziehen – allein Gäa´s Macht hält die Vernichtung dort noch auf. Aber selbst unsere Göttin ist nicht allmächtig! Ich fürchte, das Herzland wird schon bald verschwinden, wenn wir Avalon nicht von Torarien´s negativem Einfluss befreien.“

„Das heißt, sobald Torarien erledigt ist, muss ein neuer König her, habe ich das richtig verstanden?“, hakte die Rothaarige tonlos nach.

Ihr Vater nickte ernst: „Genauso ist es … und du musst ihn erwählen! Diese Aufgabe hat Gäa dir zugedacht … um die Welt zu retten, welche sie für ihre Kinder erschaffen hat.“

Nun da er es so deutlich wiederholt hatte, gab es keinen Zweifel mehr – Damit machte Ryuohtah´s Mission überhaupt keinen Sinn mehr – kein Mensch müsste mehr sterben; seine Welt, ihre wahre Heimat Avalon musste schlichtweg wiederhergestellt werden … Es ging nicht einfach darum, Torarien zu stürzen. Natürlich, er musste trotzdem aufgehalten werden! Dieser Entschluss brannte stärker in ihr, als jemals zuvor; Tetogo würde sie dabei sicherlich unterstützen.

„Deshalb konnte ich nicht bei deiner Mutter … und dir bleiben. Im Gegensatz zu dir, brauche ich unentwegt Magie, um die Gestalt eines Menschen zu halten. Es wäre zu gefährlich gewesen, eine Spur von Energie in Kaira´s Nähe zu hinterlassen. Sie wusste, ich ging, um euch zu beschützen … Aber es ist nicht ein Tag vergangenen, an dem ich euch nicht vermisst hätte! Ich wollte dich als Lehrer im Auge behalten, denn weißt du, seine Söhne sind nicht die ersten Spione, die er ausgeschickt hat … und ich hatte gehofft, du würdest mein Vermächtnis finden.“, erklärte Tetogo mit gequälter Stimme, dann begann er zu singen, „>Schreite durch die Zeit, mein Holder, zu der Insel im Nebelmeer, wo die mystischen Wesen wohnten, schon von jeher. Zu dem heiligen Berge folg´ mir, der auf alles die Antwort gibt, durch die Wälder der Fabelwesen, komm´ mit mir mit … Nach Avalon, Avalon … wo uns´re Träume wohnen. Nach Avalon, Avalon … wenn der rechtmäßige Herrscher thront. Nach Avalon, Avalon … wo unzählige Blumen für uns blühen. Nach Avalon, Avalon … folge mir ins wahre Avalon! In der Nacht sollst du bei mir liegen, wo uns samtene Luft umweht, auf den Mythen der Macht gebettet, die nie vergeh´n. Mein Held, lass' uns die Banner setzen, in dem Schloss vom Meer umspült, zu unserem schönen Heim, komm´ mit mir mit … Nach Avalon, Avalon … wo uns´re Träume wohnen. Nach Avalon, Avalon … wenn der rechtmäßige Herrscher thront. Nach Avalon, Avalon ... wo unzählige Blumen für uns blühen. Nach Avalon, Avalon … folge mir ins wahre Avalon!<“

Ja, Shikon kannte das Lied. Es war einer der Songs auf der Sindarin-CD, nach deren Kauf sie Ohtah zum ersten Mal begegnet war … Zuvor war es ihr nicht aufgefallen, dass sie darauf seine Stimme vernommen hatte. Eine neue Woge Tränen drohte die Rothaarige zu überrollen – genau wie ihr Vater hatte sie ihre große Liebe für das höhere Wohl verlassen … nur dass Ryuohtah im Gegensatz zu ihrer Mutter den Grund nicht kannte.

„Wie soll ich eigentlich den würdigen König erkennen?“, wollte Shikon wissen, doch schon währenddessen dämmerte ihr die Antwort, „Ryuohtah … er ist es, von ihm spricht das Lied …“

Es gab nur ihn, den sie derart betitelt hätte … Teilweise hatte sie ihn sogar bereits so genannt; damals in der Höhle hatte Ohtah als ihren Helden bezeichnet. Es fühlte sich an, als stünde ihre Seele kurz davor, erneut zu bersten. Sie hatte sich von ihm entfernt, um ihn nicht länger in Gefahr zu bringen und weil sie versucht war, zur Mörderin seines Vaters zu werden … Nun sollte ihn Shikon zum Kampf, zur Herrschaft rekrutieren – nachdem sie gedroht hatte, ihn zu töten? Dies ging weit über einfache Ironie des Schicksals hinaus …
 

Währenddessen kauerte Besagter noch immer in der kleinen Höhle. Die Kälte des steinernen Bodens war ihm längst in die Glieder gezogen, aber er störte sich nicht daran … es lenkte ihn zumindest ein wenig von dem hallenden Schmerz in seiner Brust ab. Gleichzeitig echote unentwegt die Frage nach dem Warum durch seinen Geist – ihm fiel einfach keine, plausible Erklärung ein; sie konnte ihn doch nicht plötzlich grundlos hassen, oder? Was nur war während dieser Bewusstlosigkeit mit ihr geschehen? In Avalon war sie noch so erleichtert über sein Kommen gewesen … Waren es irgendwelche seelischen Folgen durch die Folter, welche Shikon durch seinen Vater beziehungsweise jüngeren Bruder erlitten hatte? Machte sie ihm zum Vorwurf, dass er erst so spät eingetroffen war?

Ohne es recht zu merken, schwand die Kraft aus ihm und Ryuohtah klappte zusammen. Er begann zu träumen … Es musste ein Traum sein! Denn ohne Vorwarnung lag er in den Armen einer Frau, kuschelte sich an sie … Die hochgewachsene Elbin mit flammend rotem Haar wiegte ihn aufrichtig lächelnd. Wie lange war es her, dass seine Mutter ihn derart gehalten hatte? Jahrzehnte waren seit Hoorgo´s Geburt vergangen …

Ihr Mund öffnete sich und daraus erklang das Lied, mit dem sie ihn einst in den Schlaf gesungen hatte: „Dein Zuhause war das Reich der Göttin, doch dein Herz, es verlangte mehr und die Flammen verzerrten dich in deinem Zorn. Deine Träume erschufen Welten und dein Leben erschien dir leer … In den Dimensionen hast du dich verlor´n! In dem Sturm deiner wilden Seele wart der heilige Ort zerstört, deinem Weg folgten viele auf die Welt. Deine Worte vor´m Thron der Göttin, deinen Wunsch hat die Nacht erhört … und dein Volk wird leiden für die Ewigkeit!“

Schweißgebadet und keuchend schreckte Ryuohtah hoch. Die Worte klangen weiter in seinen Ohren – als Kind hatte ich dieses Lied so oft vernommen … erst jetzt begriff er, was mir seine Mutter ihm damit hatte sagen wollen! Nein, es war nicht ihre mütterliche Seite gewesen, die da aus ihr gesprochen hatte – stattdessen hatte sie ihn als Königin von Avalon um etwas gebeten … Die Elben gehörten nicht auf die Erde, Avalon war ihnen als Heimat geschenkt worden! Nur warum ging ihre Welt dann unter, wenn sie vor ewigen Zeiten schon dorthin zurückgekehrt waren? Auf all die Fragen in seinem Kopf würde Ryuohtah ohne Hilfe keine Antwort finden … und er betete, dass die Geschichten seiner Mutter nicht nur die Langeweile vertreiben sollten. Sie, die in jedem von ihnen leben sollte und ihnen allen den Weg weisen würde … Einzig ihr Rat könnte ihm nun noch weiterhelfen.
 

Ein flaues Gefühl erfüllte Shikon bei der Rückkehr nach Avalon. Sie hatte ihrem Vater nicht glauben wollen, dass das Portal nicht bewacht wäre … doch genauso war es. Laut Tetogo hielten sich die Elben nie lange in dieser Gegend auf – zu nah lag der Abgrund in das endlose Nebelmeer, dessen Verlockung schon zu viele gefolgt waren. Seltsame Laute hallten durch die Nacht, die hier ein ganz anderes Gesicht hatte. Ganze drei Monde leuchteten rund am Himmel und mir unbekannte Sternbilder, wie Dryade, Phönix und Drache wiesen Kundigen – so beispielsweise Tetogo – den Weg. Zuvor war ihr nicht bewusst gewesen, wie nützlich seine Kenntnisse als ehemaliger Kommandant für ihr Unterfangen wären; er kannte sämtliche Wege in und aus dem avalonischen Schloss heraus, vorzugsweise ohne gesehen zu werden. Die Rothaarige dagegen hatte während ihrer Gefangenschaft kaum etwas vom Palast gesehen und die Erinnerungen daran waren durch Qual verschleiert …

Für einen winzigen Augenblick fragte sie sich, wie wohl Ryuohtah´s Quartier aussehen mochte – sicher vollkommen anders als sein menschliches Zimmer. Was Shikon unwillkürlich an Mhenlo erinnerte, bei dem er gewohnt hatte … War dieser Mann etwa auch ein verwandelter Elb? Oder hatte Ryuohtah womöglich sein Gedächtnis mit einem Zauber beeinflusst? Sollte sie nach ihrem Auftrag noch die Möglichkeit dazu haben würde, musste sie der Sache genauer auf den Grund gehen … Wobei die Peredhil bislang nicht davon ausging, Avalon diesmal lebend verlassen zu können. Immerhin plante sie den König zu ermorden … Ein Schauer lief mir eiskalt den Rücken runter. Würde sie wirklich zu derselben Art Monster werden können?

„Und du bist dir wirklich ganz sicher, dass wir unbemerkt in seinen Schlafsaal gelangen können? Ich meine nur, es sind mehrere Jahrzehnte seit deinem letzten Aufenthalt vergangenen.“, hakte Shikon noch einmal nach, mehr um sich wieder zu fokussieren.

Ein kleines Lachen entwich ihrem Vater: „Du denkst wie ein Mensch – Elben mögen keine Veränderung. Torarien ist weit über achthundert Jahre alt … und damit hat er vielleicht gerade einmal die Hälfte seiner normalen Lebensspanne erreicht. Aber so wie ich ihn kenne, wäre er selbst dann noch zu stur zum Sterben.“

Es hatte kein Vorwurf in seiner Stimme gelegen … trotzdem kam sie sich irgendwie etwas dämlich vor. Auf derartige Gedanken war Shikon während der letzten Wochen gar nicht gekommen … nächsten Monat wurde sie achtzehn Jahre alt – in manchen Ländern galt man damit bereits als erwachsen. Für Elben bedeutete das allerdings gar nichts … aber was war mit ihr als Halbelbe? Und wie alt konnte Ryuohtah bloß sein – jünger als Kamekle und älter als Hoorgo, genauer konnte ich es nicht einschätzen.

Die Rothaarige schüttelte den Kopf, um alle Gedanken an ihn zu verdrängen und konzentrierte sich stattdessen wieder auf das Vorhaben, denn schon zeichnete sich die Silhouette der Burg gegen das dunkelblaue Firmament ab. Tetogo mahnte sie zur Vorsicht, da die Wachen natürlich über dieselbe Nachtsicht verfügten. An der Ostseite befand sich ein verborgener Eingang zu dem geheimen Tunnelsystem. Von dort aus konnte man überallhin gelangen.

„Bist du bereit?“, fragte der Elb leise, den Bogen etwas fester.

Entschlossen beschwor Shikon Feuerblume herauf und legte einen Pfeil an die Sehne. Was dieser … Angriff auch mit ihr machen würde – schlimmer als eine geborstene Seele zu ertragen, konnte die Last der Schuld nicht sein!

Die Gänge waren mit Fackeln beleuchtet, denen die zahlreichen Jahrhunderte – oder Jahrtausende – anhafteten. Dieser Ort war alt … zu alt, um es nach menschlichem Maßstab zu begreifen. Lange, bevor die Geschichtsschreibung der Menschen begonnen hatte, hatte diese Dimension voller Magie bereits existiert … Tetogo wirkte im Gegensatz zu seiner Tochter kein bisschen beeindruckt; er war hier aufgewachsen und erklärte ihr bei jeder neuen Weggabelung, wohin sie führten. Shikon fühlte die Kraft, welche in den unzähligen Steinen lag – diese Festung hatten keine Arbeiter errichtet, alles war von Zauberkundigen geformt worden, für die Ewigkeit gedacht.

Plötzlich hielt Tetogo so abrupt an, dass sie gegen seinen Rücken knallte. Er legte einen Finger an den Mund, dann zeigte er auf eine Treppe, die nach oben führte. Bevor ihr Vater den Fuß auf die unterste Stufe setzte, berührte sie ihn am Arm und schüttelte den Kopf. Gäa hatte sie ausgewählt … darum musste Shikon diesen Teil des Weges allein hinter sich bringen. Beginnend bei den über einhundert Stufen, die sich spiralförmig in ein weit höher liegendes Stockwerk wanden, verborgen von den dicken Mauern. Irgendwann erschien über ihr eine massive Steinplatte, die unverkennbar nicht zur Decke – oder von der anderen Seite zum Boden – gehörte, der Ausgang. Unter einem großen Kraftaufwand hob sie die Platte an, was ihr gleichzeitig eine Dusche aus Staub und Dreck bescherte. Weit schlimmer war allerdings das laute Schleifen, als Shikon sie zur Seite schob – wahrscheinlich hatte sie gerade das gesamte Schloss auf den Plan gerufen … Doch stattdessen es blieb unnatürlich still. Während sie aus dem Loch kletterte, unterdrückte die Halbelbe das aufkommende Zittern.

„Ich wusste, du würdest mir einen Besuch abstatten.“, begrüßte sie die arrogante Stimme von König Torarien.

Durch ein einziges Fingerschnippen leuchteten alle Kerzen im Raum auf. Er saß auf einem fein gearbeiteten Stuhl und im Gegensatz zum letzten Mal betrachtete sie gebannt seine Gestalt. Sein Haar glänzte silbern wie das Mondlicht … aber seine Augen wirkten unglaublich vertraut – dasselbe Rot wie bei Ryuohtah´s linkem Auge blickte ihr entgegen; nein, ganz stimmte das nicht, ihnen fehlte das flammende Leuchten, welches an die Farbe des Sonnenuntergangs erinnerte …

„Wenn Ihr mich erwartet habt … wisst Ihr sicher, warum ich gekommen bin.“, meinte die Peredhil herausfordernd, bevor sie mit dem Pfeil genau auf sein Herz zielte, „Entweder Ihr ergebt Euch freiwillig oder ich zwinge Euch abzudanken!“

Torarien lachte nur schallend: „Pah! Und wer soll dann mein Königreich regieren? Meine Frau ist tot. Kamekle hat nicht genug Mumm – da würde Avalon noch schneller untergehen als ohne Herrscher! Und Hoorgo … dieser Berserker würde unser ganzes Volk abschlachten, sobald ihm irgendetwas nicht passt! Von dieser widerlichen Missgeburt Ryuohtah will ich gar nicht erst anfangen … Du siehst, der Thron gehört ganz allein mir!“

Innerhalb eines Sekundenbruchteils zog die Rothaarige Feuerblume zurück in ihr Inneres und sie verpasste dem Elb eine so heftige Ohrfeige, dass sein Kopf zur Seite flog und alle fünf Finger deutlich auf seiner Wange leuchteten.

„Ihr habt absolut keine Ahnung von Euren Kindern!“, brüllte Shikon ihn an, wobei es ihr vollkommen egal war, ob sie sonst noch jemand hören konnte, „Einer ist Euch zu schwach, der andere zu stark? Ihr wolltet Eure Söhne formen … dressieren. Ich kenne Kamekle und Hoorgo zu wenig, um über sie zu urteilen. Aber ich kenne Ryuohtah! Als Gegner und Beschützer, als Elb und Mensch … Er hat sich von Eurem finsteren Einfluss gelöst – er wird nie mehr Eure Marionette sein! Glaubt, was Ihr wollt … Ich weiß, sein Herz schlägt genauso für unsere beiden Völker, wie das meine. Und allein dafür werde ich ihn immer lieben! Für heute ziehe ich mich zurück … aber mein Schwur bleibt bestehen – Avalon wird nicht mehr allzu lange unter Eurer Herrschaft leiden.“

Vor ihrem geistigen Auge erschien das Gesicht von Ryuohtah. Er lächelte sie an. Beinahe hätte Shikon die Hände ausgestreckt, um ihn festzuhalten … Doch das Bild löste sich auf und es waren wieder Torarien´s kalte Seelenspiegel, in die sie blickte. Und trotzdem sah sie nur noch seinen Vater vor sich … nicht mehr den grausamen Herrscher. So sehr Shikon ihn auch hasste, sie konnte ihm nicht das Leben nehmen … und sei es nur wegen diesen Augen.
 

Der Heilige Berg

Unverrichteter Dinge und sichtlich niedergeschlagen suchten Tetogo und Shikon an dem einzig halbwegs sicheren Ort, der ihnen in Avalon einfiel – eine Höhle auf dem Albenhaupt. Sie hatte es nicht über das Herz gebracht, ihrem Vater die volle Wahrheit zu sagen – nur, dass die Mission ein Misserfolg gewesen war … Darum machte er sich alsbald auf den Weg, die Lage auszukundschaften. Nun da Torarien von ihrem Vorhaben wusste, könnte alles Mögliche geschehen.

Vertieft in ihre Gedanken bemerkte die Halbelbe erst, dass sich ihr jemand näherte, als derjenige sprach: „Ich wusste, ich würde dir hier begegnen … denn wie versprochen, werde ich dich immer finden!“

Ryuohtah war ja eigentlich in der Absicht, die Göttin Gäa zu finden, um ihre Weisheit zu erbitten, nach Avalon zurückgekehrt … doch bereits am Fuße des Heiligen Berges hatte er gespürt, dass sich Shikon ebenfalls dort aufhielt. Alles andere war von einer Sekunde zur Sekunde unwichtig geworden – er wollte sie einfach nur noch wiedersehen, egal zu welchem Preis!

„Ich habe deine Worte nicht vergessen … aber ich werde nicht mehr gegen dich kämpfen. Mein Herz gehört dir ohnehin bereits – dann nimm auch mein Leben!“, sagte Ryuohtah ohne die Spur von Angst und warf ihr seine beiden Langdolche die Füße.

Ihr Blick klebte jedoch weiterhin auf ihm, wie in Trance kam sie langsam auf ihn zu. Feuerblume verbarg sich in ihrer Seele und selbst Daeadae sowie Amlugfae passierte sie, bis sie direkt vor ihm stand. Nur noch wenige Zentimeter trennten die beiden, ihr Atem streifte sein Gesicht. Im nächsten Moment senkte Shikon die Augenlider und schon lag der Druck ihrer Lippen auf seinem Mund. Ein Ruck ging durch Ryuohtah´s Körper; kein einziger Muskel bewegte sich mehr, sogar mein Herz setzte diesen einen Schlag lang aus. Genau wie bei ihrem Abschied … jedoch schien er dieses Mal davon nicht zu sterben, sondern zum Leben zu erwachen.

„Ist es wahr … liebst du mich wirklich, mein Holder?“, wollte sie von ihm wissen, während ihre Hand auf seiner Brust ruhte.

Die Augen des Elben weiteten sich vor Überraschung. Vorsichtig umfasste er ihr Gesicht, aus Angst dieses Etwas zwischen ihnen könnte wieder zerbrechen. Der nächste Kuss war das, was sich beide so lange gewünscht hatten und der sie all den Wahnsinn vergessen machte … Shikon drängte sich dichter an ihn heran, ihre Hände streichelten seinen Nacken, fuhren durch seine Haare. Ryuohtah umschlang ihren Körper mit seinen Armen, vertrieb jedes bisschen Luft zwischen ihnen. Es interessierte ihn nicht im Geringsten, wie ihr Sinneswandel zustande gekommen war – niemals zuvor hatte er eine Frau derart begehrt! Die Nächte, die er bei einer Elbe gelegen hatte, konnte man an nicht einmal einer Hand abzählen, und keine einzige davon bedeutete ihm etwas, geschweige denn dass er sie wahrlich genossen hatte. Einhundertachtundsechzig Jahre hatten nicht ausgereicht, dass der Prinz jemanden traf, den er wirklich wollte … sogar etwas für denjenigen empfand. Nur bei Shiko(n) war von Beginn an alles anders gewesen. Und genau deshalb würde er um sie kämpfen – nicht für eine gemeinsame Nacht, sondern für jeden weiteren Tag! Ryuohtah leckte mit der Zunge über ihre Lippen. In einem überraschten Keuchen öffnete Shikon ebenfalls den Mund und er nutzte die Gelegenheit, um dort hineinzugleiten. Das Gewicht in seinen Armen wurde größer, Shikon´s Knie wurden weich. Hitze pumpte durch ihre Adern, die Welt schien sich schneller zu drehen.

„Komm´ …“, hauchte sie zwischen zwei Küssen und zog ihn in die Richtung, aus der sie zuvor gekommen war.

Ein Grinsen breitete sich auf Ryuohtah´s Gesicht aus, als er entgegnete: „Oh … schon wieder eine Höhle.“

Ein Stich durchzuckte beide – einerseits erwärmte sie die Erinnerung an ihre Nacht im Wald, allerdings hatte sie ihn dort verlassen … Hastig schmiegte sich Shikon wieder an ihn und ihre Finger tasteten nach den Scharnieren, Schnallen sowie Schnürungen seiner ledernen Rüstung, die sie mit elbischer Geschicklichkeit löste. Ein leises Knurren entwich sich seiner Kehle – für gewöhnlich war das Lederrüstung das Lieblingsoutfit des Braunhaarigen; jetzt wünschte er sich nur eine einfache Hose und ein leichtes Oberteil zu tragen. Armschützer, Beinstulpen, Schulterpolster, Handschuhe, Stiefel fielen zuerst. Anschließend nahm er ihre Lippen begierig erneut in Beschlag und umfasste ihre Brüste. Ein zuckersüßes Stöhnen ihrerseits verstärkte den Druck um die Lendengegend in dem engen Leder. Länger hielt er es darin nun wirklich nicht aus, das Wams samt dem darunterliegenden Hemd folgten in hohem Bogen. Ryuohtah genoss es, wie Shikon ihn musterte … Ihre Wangen glühten förmlich, besonders als ihr Blick tiefer wanderte. Allerdings wollte er in denselben Genuss kommen … Seine Finger fuhren Zoll um Zoll ihre Seitenlinien nach, was sie erzittern ließ, bis der Elb schließlich die Knöpfe ihres Kleides erreichten. Er öffnete den ersten von ihnen, dann küsste er sie. So arbeitete sich Ryuohtah quälend langsam vorwärts – Knopf, Kuss, Knopf, Kuss. Unten angekommen schob er ihr den blauen Stoff von den Schultern, sodass dieser zu Boden fiel. Anders als beim letzten Mal nahm er sich nun Zeit, um sie zu betrachten. Den schmalen Körperbau der Elben gepaart mit dem ausgeprägten Busen, der selbst in dieser Gestalt von dem Menschenblut in ihren Adern sprach. Eine wilde Gier flammte in meiner Brust auf, über der der Schatten seines Zorns lag – er konnte nicht sagen, ob er seinem Bruder die Schändung an ihr jemals würde verzeihen können! Hart presste ich meine Lippen auf ihre, zwang sie hinab auf das Lager aus Decken und Moos. Innerlich schwor er sich, niemand außer ihm sollte sie jemals mehr so sehen … oder gar berühren. Shikon erwiderte seinen Kuss mit einer Heftigkeit, die ihn aufstöhnen ließ.

Ihr Mund wanderte über seine Wange … zu seinem Hals … und drüben wieder hinauf, bis er über seinem Ohr verharrte: „Ich vertraue dir …“

In seinem Kopf legte sich ein Schalter; er war nicht der einzige, der das hier wollte. Seine Zähne krallten sich in den Stoff der Brustbinde und rissen sie entzwei. Sofort fiel Ryuohtah über ihre Brustwarzen her – eine bearbeitete er mit Daumen und Zeigefinger, an der zweiten machte sich sein Mund zu schaffen. Shikon´s Stimme ging keuchend, verlangte nach mehr. Seine Zunge fuhr auf die andere Seite ihrer Brust, während er die Hand über ihren Bauch gleiten ließ. Kurz sog die Peredhil scharf die Luft ein, als er sie zwischen ihren Schenkeln berührte und ihr in einem Ruck das Tuch von ihrer Hüfte herunterriss. Noch einmal legte er meine Finger an jene Stelle, diesmal ohne den störenden Stoff zwischen ihnen. Eine Gänsehaut breitete sich bei ihr aus. Und ihn verzückte die Vorstellung zutiefst, dass all ihre Reaktionen durch ihn hervorgerufen wurden …

„Bitte … lass´ es nicht aufhören …“, bettelte seine Liebste.

Ryuohtah führte seinen Zeigefinger in die schlüpfrige Enge ein, streichelte ihr Inneres. Ein lustvoller Schrei klang in seinen Ohren. Ermutigt drang er etwas tiefer und stieß plötzlich auf Widerstand – bei der Göttin, er musste sich auf die Zunge beißen. Währenddessen bemerkte Shikon sein Zögern; ihre Hand legte sich um seinen Nacken, zog ihn wieder zu sich herab. Ihr Becken hob sich ihm entgegen und sein Finger bewegte sich in ihr. Mit der anderen Hand zog er den Lendenschurz herab. Sein Atem ging noch eine Spur schneller, Schweiß sammelte sich unter dem Ansatz seiner Haare. Das Blut pulsierte beinahe schmerzhaft unterhalb seiner Körpermitte. Er suchte Shikon´s Blick … Sehnsucht und Verlangen lagen darin, trotzdem fürchtete sie sich davor … und schloss mit einem Nicken die Augen. Sie spürte, wie sich Ryuohtah erst in Position brachte, dann verschränkte er ihre Finger miteinander und stieß in sie. Die Rothaarige schrie mit einem ächtenden Laut auf. Der Schmerz spülte wie eine Welle über sie hinweg, die ebenso schnell abebbte – Ryuohtah´s Lippen ergriffen heiß von ihr Besitz. Sie lächelte, grinste sogar in den Kuss hinein. So stark und unerschrocken er im Kampf sein mochte, hier zeigte er Zärtlichkeit … Die Fülle, die ihr noch etwas ungewohnt vorkam, begann sich zu bewegen. Nachdem er sich fast vollständig aus ihr zurückzogen hatte, folgte ein weiterer Stoß folgte – doch es kam kein Schmerz mehr; stattdessen erwachte ein uralter Instinkt und ihr Körper begann einen ganz neuen Rhythmus, dem sich Ryuohtah nur zu gern anschloss. Der Herzschlag dröhnte in ihren Ohren, Schweiß sammelte sich überall auf ihrer Haut, sie keuchte und stöhnte.

Vollkommen in seinen Empfindungen gefangen, flüsterte Ryuohtah immer wieder wie ein Mantra: „Shiko … Shiko … Shiko … Shiko …“

Die Muskeln unterhalb von Shikon´s Bauchnabels zuckten unkontrollierbar, als er sich stetig schneller in mir versenkte. Erneut sammelte sich ein Schrei in ihrer Kehle … und brach schließlich in seinem Namen heraus. Ryuohtah legte den Kopf auf ihre Brust, sein Geschlecht verschwand langsam aus ihr. Er rollte sich auf die Seite, Shikon fest in den Armen haltend. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie einfach nur seine Atmung beobachtete.

Irgendwann strich er ihr die angeklebten Haare aus dem Gesicht und sagte leise: „Shiko-chan … ich verstehe dich nicht. Erst verlässt du mich und jetzt … Es gibt keinen Feind, den ich fürchte – aber dass du mich hassen könntest … ja, davor hatte ich wirklich Angst.“

»Shiko-chan« … so nannte er sie nur selten. Als sie zum ersten Mal in sein Zimmer gewesen oder als er sie im Wald gefunden hatte. Nur wie sollte die Rothaarige ihm erklären, was über keinerlei Logik verfügte? Die Gründe, aus denen sie so gehandelt hatte … Die Tränen kamen ohne ihr Zutun. Sie stand auf, streifte das Kleid wieder über und schloss die Knöpfe mit Hilfe von Magie.

„Ich kann dich nicht hassen … niemals. Selbst, wenn ich es wollte.“, entgegnete die Halbelbe, nachdem sie das Schluchzen niedergerungen hatte, „Bevor ich zum Albenhaupt gekommen bin, wollte ich deinen Vater umbringen – doch dieses Reich kann mit Hass nicht gerettet werden … das Leid darf nicht noch mehr geschürt werden!“

Erst dachte sie, sie hätte Ryuohtah damit vollends verwirrt – zu ihrer Verblüffung fragte er allerdings: „Kennst du etwa den Grund für den Zerfall Avalon´s?“

Sie nickte, überrascht dass er tatsächlich die Wahrheit kannte, und erzählte ihm von den Prophezeiungen Gäa´s bezüglich Tetogo´s sowie Torarien´s Frage. Ein Teil von ihm erschrak, welchen Einfluss seine Familie auf diese Welt hatte. Ein anderer freute sich, dass Shikon ihren Vater gefunden hatte.

„Ich habe Torarien gehasst – vielleicht oder eher wahrscheinlich tue es sogar jetzt noch. Anderseits verstehe ich seinen Neid, seine Wut auf die Menschheit … Dein Großvater hat diese Gefühle wie ein Vermächtnis an ihn weitergegeben. Und es ist zu viel Wissen verloren gegangen.“, erklärte sie seufzend.

Der Schwertkämpfer hatte sich unterdessen ebenfalls angekleidet und meinte bitterlich: „Wir vergessen haben, dass Avalon unsere Heimat ist … das Land der Göttin Gäa.“

Mit einem Mal leuchtete ein heller Lichtstrahl in der Höhle auf, sodass beide die Augen zusammenkneifen mussten.

„Ihr habt mich gerufen, junger Prinz?“, sprach eine weibliche Stimme direkt in ihren Köpfen.

Erschrocken starrten sie die Gestalt an, die zwischen ihnen erschienen war. Das braune Haar, das ihr in sanften Wellen über den Rücken bis zum Boden fiel, wurde von einem Kranz aus bunten Blumen gekrönt. Die grünen Augen erinnerten mit den dunklen Einsprenkeln an einen tiefen Wald. An Hals, Hand- und Fußknöcheln trug sie zudem noch Bänder mit Türkisen. Ihr weißes Kleid war aus weichem Windleder gearbeitet. Bislang hatte Shikon nie versucht, sich die Göttin der Natur, die Mutter der Alben, das Orakel des Heiligen Berges vorzustellen … Und selbst wenn – es hätte nicht einmal annähernd herangereicht.

„Für gewöhnlich gehe ich jenen nicht entgegen, die auf der Suche nach mir sind …“, scherzte Gäa mit einem herzerwärmenden Lächeln, „Shikon, mein geliebtes Kind, ich bin so glücklich, dir zu begegnen – viele Jahre habe ich mich gesorgt, ob du den Weg zu mir finden würdest. Sage mir, konntest du mit der Prophezeiung über dich umgehen?“

Ryuohtah horchte überrascht auf – Shikon hatte ihm nicht gesagt, dass sie die auserwählte Peredhil wäre. Natürlich, es war naheliegend gewesen … gleichzeitig fragte er sich, warum sie darüber geschwiegen hatte.

„Dank meines Vaters … Ihr wisst sicher bereits, auf wen meine Wahl gefallen ist.“, antwortete Shikon und wandte sich besagtem Elben zu, „Ich erachte dich, Ryuohtah, Prinz von Avalon, zweiter Sohn des amtierenden Königs Torarien und der verstorbenen Königin Chunryu, als wahrhaftigen Regenten dieser Welt!“

Der Schock stand ihm überdeutlich ins Gesicht geschrieben, während er stammelte: „Du … Was? Ich … ich soll … Warum? Was ist mit Kamekle?“

„Weil ich in dein Herz geblickt habe – du bist mutig und stolz, gleichzeitig kennst du Leid und Verdruss … Ein wahrer Herrscher ist nicht nur ein Anführer, sondern ein Freund für sein Volk.“, antwortete sie mit einem strahlenden Lächeln, „Torarien hat Avalon vergiftet … Kamekle oder Hoorgo mögen ebenfalls einen guten Kern in sich tragen, das vermag ich nicht zu beurteilen. Du bist es, weil … ich die Wahl treffen musste und für mich gibt es nur dich.“

Die Göttin nickte, als würde sie die Entscheidung unterstützen, und meinte: „Avalon, die Welt, die ich erschaffen habe, und die Elben, ihr Kinder meiner Kinder, sind dabei zu sterben. Ich kann absolut nichts dagegen tun … nur zusehen … und hoffen! Einzig eine so tiefe Liebe, wie sie in dir lebt, kann meine Schöpfung noch retten und von dem Fluch des Hasses erlösen – der dichte Schleier grausamer Gedanken hat große Trauer verbreitet. Trotzdem bleibt es allein deine Entscheidung … du musst bestimmen, welchem Weg du folgen willst.“

Shikon erkannte Tränen in ihren Augen glitzern – ihnen machte der Zustand Avalon´s ja schon zu schaffen, wie musste sich da erst Gäa als Weltenschöpferin fühlen?

Nachdem er eine ganze Weile geschwiegen hatte, erklärte Ryuohtah: „Ich kann Avalon nicht untergehen lassen … Es ist meine Pflicht als Krieger und Prinz.“

Shikon's Herz machte einen Satz – sie hatte sich nicht in ihm geirrt! Gäa lächelte dankbar und breitete die Arme aus, um ihn an sich zu drücken, ehe sie im selben gleißenden Licht verschwand.
 

Von Liebe und Zukunft

Diesmal schlichen sich Tetogo, Shikon und Ryuohtah nicht an – entschiedenen Schrittes marschierten sie auf das Haupttor von Burg Edhelharn zu. Die Wachen wirkten auf eine Art verdutzt und hoben die Speere, hielten die drei jedoch nicht auf. Innerlich kämpfte der Braunhaarige gegen seine Scham an – die Wächter hatten einfach nur ihre Befehle befolgt und dennoch waren seine Klingen beim letzten Mal durch ihr Fleisch geschnitten, dabei waren sie nicht sein Feind … geschweige denn die restlichen Bürgen; es gab auch in Avalon Leute, die ihm stets gewogen gewesen waren. Es gab nur einen, der seinen Zorn wahrhaft verdiente – sein Vater!

Ihr aller Blick richtete sich auf die zwei Elben, der vor dem Eingang Stellung bezogen hatten; einer hochgewachsen und so unbewegt wie eine Statue, der andere mit flammend rotem Haar stand gestützt auf seinen Zweihänder. Ein Zittern überkam die Peredhil. Ihr Körper hatte sich inzwischen von Hoorgo´s Behandlung erholt, ihre Seele nicht … Die Anwesenheit von Kamekle beunruhigte sie allerdings nicht minder – für einen kurzen Moment spürte die Rothaarige erneut den kühlen Stahl seines Rapiers an der Kehle.

„Willst du mich auch noch zum Zweikampf bitten?“, wollte Ryuohtah mit leicht herausforderndem Unterton in der Stimme von ihm wissen.

Der Ältere trat näher, der ernste Gesichtsausdruck verzog sich zu einem halben Lächeln und er antwortete: „Nein. Du kennst mich – ich gehe den Weg des Schwertes nur äußerst ungern. Ich habe es nur Vater zuliebe getan … Das haben wir alle drei, oder? Versucht Vaters Liebe zu gewinnen.“

„Stimmt. Aber zum ersten Mal in meinem Leben weiß ich, wie ich ihm gegenüber treten muss.“, bestätigte der Dolchnutzer.

Die Brüder schienen ihr Gespräch auf mentaler Ebene fortzuführen. Kamekle hatte sein Vorhaben sofort durchschaut und machte keinerlei Anstalten, ihn daran zu hindern. Selbst er konnte die Augen nicht länger vor der Wahrheit verschließen.

Nur Hoorgo wirkte nicht vollkommen überzeugt und fragte: „Wirst du mich anschließend ebenfalls töten?“

Ryuohtah schwieg zunächst, bevor er entgegnete: „Es gab eine Zeit, da wollte ich es. Vor allem nachdem, was du Shiko angetan hast … Heute ist das anders; das heißt allerdings nicht, dass ich dir vergebe – geschweige denn Torarien.“

Er fasste den Unterarm des Jüngeren zum Kriegergruß und umarmte seinen älteren Bruder zum Abschied.

Dabei flüsterte Ryuohtah ihm so leise ins Ohr, dass nur er es verstand: „Wenn es … schlecht für mich ausgeht, bring´ Shiko und Tetogo von hier weg.“

Ein unmerkliches Nicken war die Antwort. Anschließend wandte sich der Braunhaarige erneut seiner Liebsten zu. Ob er sich auch ohne sie eines Tages gegen seinen Vater aufgelehnt hätte? Es scherte ihn nicht, wie die Begegnung mit Torarien ausgehen würde – diese Gefühle, die sie in ihm geweckt hatte, wären es wert gewesen. Flüchtig küsste Ryuohtah sie, ehe er sich mit gezogenen Langdolchen auf den Weg machte, der über die Zukunft von Avalon entscheiden würde …

Das Schloss wirkte wie ausgestorben – kein Diener oder gar patrouillierende Soldaten kreuzten seinen Pfad. Wie viele unzählige Male war er durch den großen Saal geschritten, um seine Befehle entgegen zu nehmen oder von ihm gedemütigt zu werden? Jede einzelne der Abbildungen an den neun Säulen zu beiden Seiten hatten sie als Kinder auswendig lernen müssen – Helden ihres Volkes, ehemalige Könige, wunderschöne Orte des einstigen Avalons. Sogar das einzige Porträt ihrer Familie hing hier, wobei Chunryu noch mit Hoorgo schwanger gewesen war … Und auf dem Podest am anderen Ende des Saals stand der Thron des Elbenkönigs. Sein Vater saß dort in vollkommener Regungslosigkeit in einem dunkelblauen Gewand, ein Reif aus Sternensilber auf dem Haupt – die Herrscherinsignie Avalon´s.

„Seit dem verfluchten Tag deiner Geburt wusste ich, dieser Augenblick würde irgendwann kommen.“, sprach Torarien mit überdeutlicher Abscheu.

In einer fließenden Bewegung erhob er sich, schlug seinen Mantel zurück und entblößte damit seine Waffen – das schwarze Breitschwert Moredhel und den weißen Wappenschild Caledhel, welche die Dunkel- sowie Lichtalben repräsentierten, ihre Ahnen. Sofort hob Ryuohtah ebenfalls seine beiden Waffen zur Verteidigung – und wehrte damit den ersten Schwertstreich ab. Selbst seinen Schild verwendete er wie eine Art Rammbock. Nun machte sich das jahrzehntelange Training mit Hoorgo und dessen riesiger Klinge bezahlt. Er hielt eisern seine Position, verlagerte beständig den Druck der Klingen – durch eine plötzliche Drehung zur Seite verlor Torarien kurzzeitig den Halt, fing sich aber in Sekundenschnelle wieder. Von da an schlug Metall in einem stetigen Rhythmus gegeneinander.

In einem kämpferischen Aufschrei schlug Ryuohtah mit gekreuzten Klingen zu und als würde es in Zeitlupe ablaufen, sah er die abgebrochene Spitze von Moredhel zu Boden fallen. Geschlagen sank sein Vater in die Knie – so grausam er auch sein konnte; er erkannte, wann er verloren hatte.

„Sag´ mir, wie hast du das geschafft? Du bist doch nur … Du bist …“, murmelte der König verwirrt vor sich hin.

Der Prinz steckte seine Schneiden zurück in die Holster an den Hüften und erklärte: „Du weißt nicht, wer ich bin – vielleicht weißt du nicht einmal, was ich bin. In mir fließt zwar dein Blut … doch das bedeutet nicht, dass du mich auch nur ansatzweise kennst. Ich habe mich selbst nicht gekannt … bis ich Shiko getroffen habe – erst durch sie konnte ich den wahren Ryuohtah in mir erkennen! Denn sie hat mein Herz gewandelt …“

Ein freudloses Lachen kam von Torarien und seine Augen suchten auf dem Gemälde seine verstorbene Mutter.

„Kein Wunder, dass Chunryu dich so sehr geliebt hat … Sie glaubte fest daran, du mögest mich eines Tages übertreffen.“, philosophierte er mit melancholischem Gesichtsausdruck, „Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, möchte ich dich im Mondlicht wiedersehen, meine Geliebte …“

Ein weißes Licht drang aus Torarien´s Körper, löste seine Gestalt auf und mit einem hellen Klirren fiel die silberne Krone zu Boden. Die Augen seines Sohnes weiteten sich vor Überraschung. Dies war also sein Schicksal gewesen – sich in all dem Hass wieder auf die Gefühle für die eine Person zu besinnen, die er wohl wahrhaftig geliebt hatte … Die Verbitterung über ihren Tod hatte Torarien so hart werden lassen. Nun da er selbst die Liebe erfahren hatte, konnte er seinem Vater zumindest stückweise zum ersten Mal nachempfinden … Eine einzelne Träne rann aus Ryuohtah´s linkem Auge, das für Torarien so verabscheuungswürdig gewesen war. So verharrte er, bis irgendwann Kamekle und Hoorgo in den Thronsaal gestürmt kamen und ihn aus seiner Starre rissen.

„Er ist in das Mondlicht gegangen … zu unserer Mutter.“, antwortete Ryuohtah noch immer etwas benommen, während ihm allmählich auffiel, dass jemand fehlte, „Aber das erkläre ich euch alles in Ruhe … Sagt, wo ist Shiko?“

Ein Schatten legte sich über das Gesicht des Ältesten und auch der Jüngste brauchte eine Weile, ehe er endlich mit der Sprache herausrückte: „Sie ist verschwunden, mit ihrem Vater. Wir waren so auf eure Auren konzentriert gewesen, da … Wir wissen nicht, wohin sie gegangen sind. Es … tut mir leid.“

Genauso gut hätte er seinem Bruder mit der Faust ins Gesicht schlagen können.
 

Unterdessen war Shikon in Begleitung ihres Vaters bereits auf die Erde zurückgekehrt. Tetogo hatte sich über ihr Vorhaben gewundert, jedoch nicht widersprochen. Während Kamekle und Hoorgo zu dem großen Fenster hinaufgestarrt hatten, das zum Thronsaal gehörte, waren sie unbemerkt davon geschlüpft, erneut durch das Portal getreten und schafften es gerade noch rechtzeitig zur Abfahrt in ihre Heimatstadt – ein Zauber Tetogo´s hatte dafür gesorgt, dass weder er noch Shikon vermisst wurden. Und einen weiteren Zauber webten sie gemeinsam, um eine Ausrede für Ohtah Taiyo´s Verschwinden in die Köpfe der anderen zu pflanzen.

Seiketsu redete die ganze Fahrt darüber, wie schön die Klassenfahrt gewesen wäre, bis sie schließlich sagte: „Aber dass Taiyo-kun mittendrin von seinen Eltern abgeholt und auf eine andere Schule geschickt wird, verstehe ich nicht. Er war doch noch gar nicht so lange bei uns … Das ist wirklich schade. Findest du nicht, Shiko-chan? Ich meine, gerade als ihr … nun ja, angefangen habt, eine Verbindung zueinander aufzubauen, etwas für einander zu empfinden.“

Ihr Gesicht war zum Fenster hinaus gerichtet, sodass ihre Freundin nicht sehen konnte, wie ihr Tränen stumm über die Wangen rannen. Ihre Mission war erfüllt – Ryuohtah saß nun auf dem Thron von Avalon … da konnte er keine Halbelbe an seiner Seite gebrauchen, wodurch möglicherweise seine Position geschwächt werden würde. Sie fragte sich, ob er seinen Vater getötet oder Torarien sich ergeben hatte …

Ein paar Stunden später, die sie unablässig mit Grübelei verbracht hatte, kam der Bus ruckelnd zum Stehen. Sicherheitshalber wischte sich Shiko mit dem Arm über das Gesicht, aber die salzige Flüssigkeit war längst getrocknet. Beim Aussteigen tauschten sie und Togo einen raschen Blick – er ahnte, dass hinter ihrer Flucht kein Heimweh steckte … Draußen verabschiedeten sich die Schüler voneinander, die Rothaarige wartete etwas abseits auf ihren Vater.

Gedanken versunken bemerkte sie nicht, wie sich ihr von hinten jemand näherte und so ließ sie seine Stimme überrascht herumwirbeln: „Ich sagte doch, ich würde dich immer finden …“

Shiko hatte kaum Zeit zu reagieren, da lagen seine Lippen bereits auf ihren und er zog sie näher an sich heran. In ihrer Brust erwachte eine heimelige Wärme, welche die Trübsal vollkommen auslöschte.

„Ohtah, was … was machst du hier, warum bist du nicht in Avalon?“, fragte sie fassungslos, „Du bist der König, verdammt nochmal! Was ist mit deiner Verantwortung?“

Ein mildes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während Ohtah antwortete: „Ohne dich kann ich nicht der König sein, den Avalon braucht! All meine Liebe gehört allein dir …“

Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen und sie schluchzte: „A-aber ich … ich habe …“

„Gräme dich nicht, Shiko-chan – es ist nicht wichtig. Ich kann dich nicht verlassen, dich nicht gehen lassen … niemals. Verstehst du? Was du auch tust, nichts wird mich dauerhaft von dir fernhalten – weder eine geborstene Seele noch ein gebrochenes Herz. Ich liebe dich!“, erklärte der Braunhaarige bestimmt.

Shiko weinte und lachte gleichzeitig. Ihr Handeln war einfach nur dumm gewesen … Wie hatte sie auch nur eine Sekunde an ihrer gemeinsamen Liebe zweifeln können?

„Ich habe einen Krieger aus Avalon namens Ryuohtah kennengelernt … sowie den Jungen Ohtah Taiyo – und in beide habe ich mich verliebt! Von ersten Moment an habe ich mein Herz an dich verloren …“, gestand sie ihm und diesmal ging der Kuss von ihr aus.

Er konnte sein Glück kaum glauben – allerdings wollte er noch einen draufsetzen. Kaum hörbar schwebte ein Wort der Macht um sie herum; Zauberglanz, der sie vor den Blicken der Menschen schützte. Ohtah nahm die Gestalt seines elbischen Selbst an. Obwohl ihr die Verwunderung ins Gesicht geschrieben stand, folgte die Rothaarige seinem Beispiel. Während er ihre Hände in seine nahm, kniete er nieder und sprach: „Bleib´ bei mir … für immer – werde meine Frau … meine Königin!“

Shikon sank ebenfalls auf die Knie und nickte. Ryuohtah atmete auf. In einer einzigen Bewegung sprang er zurück auf die Füße, hob seine Liebste hoch und wirbelte sie lachend durch die Luft. Die Peredhil stimmte in seine Freudenbekundung ein.
 

Shikon hätte nicht sagen können, wer aufgeregter sein mochte – sie selbst oder Seiketsu. Es hatte einiger Gespräche mit dem neu gegründeten Beraterstab benötigt; natürlich waren Kamekle, Hoorgo und Tetogo die ersten, berufenen Mitglieder gewesen. Doch weder Shikon, welche den Wunsch hierfür geäußert hatte, noch Ryuohtah, der ihre Vorstellung ebenfalls teilte, ließen sich umstimmen. Zu lange war ihre einstige Verbindung negativ ausgelegt worden, zu sehr war das künftige Königspaar mit der Erde und den Menschen verbunden … Beide wussten natürlich, dass ihre Welten nicht von heute auf morgen würden zusammen leben können – doch irgendwie, irgendwo mussten sie beginnen. Und so waren Seiketsu, der Shiko die Wahrheit etwas schonender beigebracht hatte, und Mhenlo nach Avalon eingeladen worden. Noch vollkommen überwältigt wurden sie direkt in die Vorbereitungen für die große Festlichkeit einbezogen – die Hochzeit von Ryuohtah und Shikon, bei der beide gleichzeitig offiziell gekrönt werden sollten!

„Ich kann es immer noch nicht recht glauben … und damit meine ich nicht nur diese Welt – ihr heiratet!“, sagte Seiketsu zum wiederholten Male, was die Nervosität ihrer besten Freundin nur weiter anstachelte.

Der Schneider nahm gerade Maß und Shikon durfte sich nicht rühren, während er unablässig auf sie einredete: „Ihr werdet bezaubernd aussehen! Ich werde höchstpersönlich einige Edelsteine aussuchen, um dem Kleid den letzten Schliff zu gehen – Ihr mögt die Farbe Rot, nicht wahr? Ach, der Prinz wird begeistert sein!“

„Ich brauche auch ein Teil in blau.“, meinte die Rothaarige so unvermittelt, dass der Elb sich leicht in den Finger stach, „Also … auf der Erde trägt eine Braut traditionell etwas Altes, etwas Blaues, etwas Geliehenes und etwas Neues. Oh- … Ryuohtah sagte, die Krone wäre bereits von der ersten Königin getragen worden.“

Seiketsu merkte sofort, wie merkwürdig sie sich dabei vorkam, sich selbst als Königin zu betrachten. Die Freundinnen hatten sich lange darüber unterhalten – Shiko war zwar stets aufgefallen, doch nie mit Absicht; eher wollte sie in Ruhe vor sich hin träumen. Ohtah oder besser Ryuohtah hatte alles verändert; nun machte sich Shikon darüber Sorgen, ob sie den Vorstellungen des Volkes entsprach und der Aufgabe gewachsen wäre.

„Und als deine beste Freundin ist es an mir, dir etwas zu borgen.“, erklärte Seiketsu entschieden und Überraschung trat auf Shikon´s Gesicht, als sie ihr ein goldenes Armband überreichte, „Geborgt wie das Leben … Alt wie die Welt … Blau wie die Treu … Wie der Tag so neu … Eine Braut, die bei ihrer Hochzeit die zauberhaften Vier trägt, wird für alle Zeit glücklich sein – das wünsche ich dir von ganzem Herzen, Shiko-chan!“

Tränen benetzten die Wangen der Rothaarigen, als sie – die Proteste des Schneiders ignorierend – ihr um den Hals fiel.
 

Im Thronsaal waren eine Vielzahl von Bankreihen aufgestellt worden, wobei der Mittelgang mit dem samt roten direkt zum erhöhten Podest führte. Weiße Rosen, Tücher sowie Kerzen schmückten den Raum. Die Wachen trugen ihre besten Uniformen, die Gäste waren aus allen Himmelsrichtungen der neu ergrünten Welt angereist. Als sanfte Harfenklänge den Raum erfüllten, verstummten sämtliche Gespräche und alle Augen richteten sich zur großen Flügeltür. Zwei Gardisten hatten sie geöffnet, um Ryuohtah Einlass zu gewähren, der in ein mitternachtsblaues Seidengewand gehüllt und in Begleitung seiner Brüder war. Seitlich vor den Stufen blieb er stehen, Hoorgo an seiner Seite, während Kamekle den ersten Absatz erklomm.

„Man könnte meinen, du kippst gleich um.“, witzelte der Jüngste so leise, dass nur der Braunhaarige ihn hören konnte.

Das stimmte sogar – Ryuohtah hatte wirklich das Gefühl, beinahe den Boden unter den Füßen zu verlieren. Der Atem stockte ihm, da sich die Tür ein weiteres Mal öffnete … Zuerst kam Seiketsu, die weiße Blütenblätter über den Weg streute. Ihr folgte Mhenlo, der zwei Ringe aus Mondsilber auf einem Kissen hereintrug. Und hinter ihnen trat Tetogo ein, der ihm Shikon entgegenführte. Ihr weißes Kleid schien in Flammen zu stehen – eine dünne Schicht roten Stoffs, der sich nach oben hin verjüngte, zahlreiche Rubine und der Wasserfall-Blumenstrauß, aus roten Rosen, die sich auch in ihrem hochgesteckten Haar wiederfanden. Auf ihren Lippen lag ein strahlendes Lächeln, während Seiketsu und Mhenlo Hoorgo gegenüber Stellung bezog. Für einen Moment nahm Ryuohtah nur noch Shikon wahr, der es ganz ähnlich erging, ehe Tetogo nach seinem Arm griff und ihre Hand in seine bettete.

Da begann Kamekle mit klarer Stimme zu sprechen: „Seien wir heute Zeuge dieser Verbindung zweier Seele, die sich für die Liebe entschieden haben … Darf ich um die Zeichen ihres Schwurs bitten?“

Mhenlo kniete vor dem Paar nieder, hielt ihnen die Kleinods hin.

Ryuohtah nickte ihm dankbar zu, dann nahm das kleinere Stück und sprach: „Am heutigen Tag verspreche ich dir meine ewige Liebe … Mein Herz gehört allein dir – selbst durch Wiedergeburt oder Mondlicht!“

Damit streifte er ihn ihr über den rechten Mittelfinger.

Nun war es an Shikon das Wort zu ergreifen: „Du bist derjenige, zu dem ich gehöre, der mich vollständig werden lässt … Niemals wieder werde ich dich verlassen, denn du bist meine einzig wahre Liebe!“

Shikon zitterte, als sie ihm den Ring ansteckte. Noch bevor Kamekle etwas sagen konnte, küssten sie sich bereits unter tosendem Applaus. Glücklich sahen Ryuohtah und Shikon sich an. So lange hatten sie nicht mehr recht an einen derartigen Ausgang glauben können …

Kamekle räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden wieder einzufangen: „Seid ihr bereit, ein weiteres Versprechen abzulegen? So nehmt jene Plätze ein, der euch zustehen …“

Hand in Hand stiegen beide die wenigen Stufen des Podestes empor und setzten sich auf die Throne.

„Im Namen unserer Göttin, Weltenschöpferin und Mutter frage ich dich, Ryuohtah, Sohn des Torarien und der Chunryu … und ich frage dich, Shikon, Tochter des Tetogo und der Kaira … wollt ihr feierlich geloben das Reich ohne Willkür gerecht zu regieren?“, wollte er von ihnen wissen.

Entschlossen antworteten sie wie aus einem Mund: „Wir schwören es!“

Diesmal trat Hoorgo zu ihnen heran, zwei fein gearbeitete Stirnreifen auf einem bestickten Kissen präsentierend.

„Durch Gäa´s Gnaden, Wahl, Verordnung und Sieg ernenne ich euch hiermit zu König und Königin von Avalon!“, sprach Kamekle, wobei er sie mit den Insignien ihrer Regentschaft schmückte.
 

Was ist ein Wunder? Diese Frage hätte sich Shiko früher niemals gestellt … Doch ein einziger Pfeil hatte ihr Leben für immer verändert; erst hatte Ryuohtah und kurz darauf auch Ohtah ihr Herz gestohlen – der mysteriöse Kämpfer mit den zwei Langdolchen und ihr frech-fröhlicher Mitschüler. Für diese beiden wollte sie entweder ganz Shikon oder Shiko sein … Aber anstatt sich entscheiden zu müssen, war ein Wunder geschehen!

Ein Wunder kann vieles und für jeden etwas anderes sein … Nichtsdestotrotz ist es etwas außergewöhnliches – vielleicht auch etwas, mit dem man schon gar nicht mehr gerechnet oder noch nie in Betracht gezogen hat. Die Liebe zwischen einem Elb und einem Menschen … das Kind, das aus einer solchen Verbindung entsteht … wenn in einem Elb ein menschliches Herz erwacht … wenn Liebe alle Hindernisse überwindet, eine Welt neu entstehen lässt … wenn neues Leben entsteht – wie jene beiden, die Shikon unter ihrem Herzen trägt!

Ach und ganz sicher galt es sogar als Wunder, dass Kamekle aus eigener Motivation zur Erde reiste, um dort die Menschen zu studieren, und auf diese Weise Seiketsu ebenfalls näher kam …

Fanfiction 01: Die Legende und ihr Krieger

Die Energie des Feuers

Shikon Dale spürte den sengend heißen Schmerz in der Mitte ihrer Stirn. Sie klammerte sich am Waschbeckenrand fest und versuchte ein scharfes Bild zu bekommen. Die schattenhafte Gestalt, der sie die Qualen zu verdanken hatte, war bereits verschwunden – ein Späher. Wieder versuchte sie verzweifelt sich zu konzentrieren. Endlich schaffte die Schülerin es, klar zu sehen. Ein Mädchen mit nicht ganz schulterlangem, rotblondem Haar und tiefbraunen Augen. Und dann noch etwas völlig neues in ihrem Gesicht ... Der Umriss einer blutroten Mondsichel, das Symbol eines gezeichneten Jungvampyrs. Der Beginn eines völlig anderen Lebens ...

„Ich komme von hier weg ...“, flüsterte Shikon kaum hörbar.

Sie hob ihre Tasche vom Boden auf, bekämpfte dabei den leichten Schwindel. Sie musste ihre Sachen zusammenpacken und ins House of Night ... Es blieb ihr nicht viel Zeit. Aber ganz gewiss würde sie nicht in London bleiben, nicht hier. Es gab einen anderen Ort, der sich in ihre Gedanken schlich. Ein abgeschiedenes House of Night mit eigenen Traditionen. Und was noch viel wichtiger war – dort würde sie niemand kennen, keiner als »Freak« abstempeln. Sie konnte ihre Vergangenheit, schlichtweg einfach alles hinter sich lassen.

„Nyx ... Göttin der Nacht, Schutzpatronin der Vampyre.“, sprach Shikon es aus, als fürchtete sie sich vor dem Klang, „Ich weiß nicht, warum du ausgerechnet jemanden wie mich als dein ... Kind gezeichnet hast. Damit hast du mich erlöst. Danke!“
 

Ein überwältigender Anblick bot sich ihr, als sie vor dem steinernen Torbogen stand, welcher als Eingang zur Island of Skype fungierte. Ein Vampyr trat ihr entgegen, mit einem offenbar traditionellen schottischen Kampfanzug in verschiedenen Brauntönen.

„Wer bist du, Maid?“, fragte er mit diesem einmaligen Akzent.

Shikon lächelte leicht über die altertümliche Betitlung und antwortete: „Shiko ... Mein Name ist Shiko. Ich will in dieses House of Night eintreten.“

„Dann stelle dich dem Urteil der Insel ...“, erwiderte er geheimnisvoll, „Schaffst du es hindurch zu treten, bist du bei uns aufgenommen und Skype hat dich akzeptiert.“

Shiko, die ihren Kosenamen von nun an als ihren »wahren« Namen trug, atmete tief ein. Ihr Blick huschte kurz zu den kleinen Feuerschalen und ein vertrautes Gefühl durchströmte sie. Damit schritt sie auf den Vampyr zu. Keine Schutzbarriere hielt sie auf oder schadete ihr.

„Unsere Königin wird dich willkommen heißen.“, sagte er mit einer Spur Stolz in der Stimme.
 

Sgiach, die Herrscherin der Island of Skype, war atemberaubend. Einzig an ihrer Aura konnte man die unzähligen Jahrhunderte erkennen, die sie bereits auf dieser Welt wandelte – ansonsten wirkte sie eher zart, beinahe zerbrechlich. Majestätisch saß sie auf ihrem Thron aus feinem, weißen Marmor und lächelte. Neben ihr stand ein Krieger, der ebenso alt wirkte – es schien, als bewachte er jede ihrer Bewegungen. Später sollte Shiko erfahren, dass sein Name Sioras lautete und bereits mehr als ein halbes Jahrtausend an der Seite seiner Einen stand.

„Frohes Treffen, Shiko ...“, sagte sie mit einer weichen, machtvollen Stimme, „Es freut mich, dich auf meiner Insel begrüßen zu dürfen. Ich fühle eine seltsame Kraft ... Sag´, mein Kind, weißt du etwas über besondere Fähigkeiten, die in dir ruhen?“

Shiko zögerte einen Augenblick, dann erklärte sie leise: „Ich kann ... Kraft schöpfen. Aus dem Feuer. Das ... das war bereits so, als ich ... noch ein Mensch war.“

„Beeindruckend.“ erwiderte Sgiach und wollte gerade weitersprechen, da öffnete sich das Tor erneut.

Ein männlicher Jungvampyr trat ein und kniete vor ihr nieder, während er sagte: „Ihr habt mich rufen lassen. Ich stehe Euch zu Diensten ...“

„Danke, dass du so schnell gekommen bist, Ohtah.“, meinte die Königin, „Ich möchte dir jemanden vorstellen – das ist Shiko, der neuste Schützling unseres Hauses.“

Ohtah erhob sich und richtete seine Aufmerksamkeit auf Shiko. Sein Blick weitete sich für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er die Faust über sein Herz legte und sich verbeugte – die vampyrische Geste des Respekts. Derweil musterte das Mädchen ihn; er trug zwei Langdolche an beiden Seiten seiner Hüften, seine Kleidung war großteils schwarz, bestand aber aus einer gewöhnlichen Jeans und Shirt, das braune Haar war fransig, umrahmte sein markantes Gesicht. Und natürlich trug er meine Mondsichel auf der Stirn, in blau.

„Würdest du Shiko bitte herumführen?“, bat Sgiach ihn mit einem Lächeln, „Und ... sie soll unter allen Umständen die Lichtung des Feueropals sehen. Frohes Treffen, frohes Scheiden, frohes Wiedersehen!“

Der junge Kämpfer nickte ernst und bedeutete Shiko ihm zu folgen.
 

Er führte sie aus dem Schloss, wandte sich in Richtung Wald. Während der ganzen Zeit sprach Ohtah kein einziges Wort – auf einer freien Fläche vor einem kleinen Felsen hielt er inne. Shiko bemerkte verblüfft, dass aus dem Brocken ein orangeroter Edelstein gewachsen war.

„Der Feueropal.“, erklärte der Jungvampyr, „Einer der alten Schätze von Skype.“

Es war, als schrumpfte Shikos ganze Welt auf einen einzigen Punkt zusammen – gerade so groß, wie das ovale Juwel. Überall um sie herum hörte sie es knisternd knacken, wie von einem Lagerfeuer, und kleine Flammen tanzten umher. Sie holte hörbar Luft, versuchte die Wesen zu berühren.

„Du ... kannst sie sehen.“, hauchte Ohtah vollkommen perplex.

Shiko war sich nicht im Klaren darüber, ob er es als Frage gemeint hatte oder es eine Feststellung gewesen war, darum antwortete sie: „Ja ... Feuergeister, nicht wahr?“

Er nickte und erklärte: „Sgiach nennt sie Hinotama-Seelen. Es gibt nur wenige Personen, die die alte Magie noch wahrnehmen können ... Nyx hat dich gesegnet! Genauso wie Seiketsu. Komm mit, ich bringe dich zu ihr.“
 

In einer großen Bibliothek, deren Regale bis zur Decke reichten, saß eine braunhaarige Vampyrin und war in unzählige Bücher vertieft. Als beiden Schüler näher traten, richtete die hiesige Geschichtslehrerin ihre klaren, blauen Augen auf sie. Seiketsu bemerkte sofort, dass Shiko dieselbe Gabe mit ihr teilte; ihr fielen selbst die aller kleinsten Kleinigkeiten auf.

Nach Ohtah sie einander vorgestellt hatte, kam auch schon die heiß ersehnte Erklärung: „Es ist keine gewöhnliche Affinität zum materiellen Element. Wir beherrschen die magische ... Essenz von Luft und Feuer. Jene Energie, welche etwas zu dem macht, was es ist.“

Die Rothaarige verstand sofort, was sie damit meinte. Alles hatte ein wahres Innenrestes, das seine Eigenschaft festlegte – Shikos Feuer beruhte beispielsweise auf Kraft, während die Luft von Seiketsu für Ruhe stand.

Und obwohl sie es noch nicht wussten, würde Seiketsu schon sehr bald nicht nur Shikos Mentorin werden, sondern auch deren beste Freundin. Eine Vertraute für die Ewigkeit, die mit Nyx Gnaden vor ihr lag ...
 

Des Schattens Schwur

Und auch Ohtah wich nicht mehr von ihrer Seite. Bis zu jenem schicksalhaften Tag ... knapp ein halbes Jahr nach Shikos Zeichnung. Die beiden spazierten wie so häufig durch den Wald – am liebsten hielten sie sich natürlich in der Nähe des Feueropals auf. Plötzlich fuhr ein gewaltiger Ruck durch Ohtahs Körper. Er wurde blass, ein kehliges Husten schüttelte ihn.

„NEIN!“, schrie Shiko wie von Sinnen.

Sie kannte die Symptomatik von ein paar ihrer Mitschüler, welche die ersten Wochen der Untersekunda nicht überlebt hatten. Um jeden, wirklich jeden hatte es ihr leidgetan – aber bei der Göttin, warum musste sich ausgerechnet Ohtah der Wandlung widersetzen?

Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Boden ab. Blut lief ihm aus dem Mund, weichte die Erde unter ihnen auf. Shiko hatte ihren Arm um seine Schultern gelegt und weinte. Sie spürte seine Hustenanfälle, das Zittern und Würgen ... Gab es etwas Schlimmeres, als hilflos zusehen zu müssen wie jemand starb?

„Du kannst ihm helfen, meine geliebte Tochter der Nacht ...“, hallte eine warme, unglaublich gütige Stimme durch ihren Geist.

Shiko wusste sofort, wer zu ihr gesprochen hatte – die Personifikation der Nacht, Nyx höchstselbst.

Hastig wischte sie über das Gesicht und kramte in ihrer Tasche. Ohtah brach unterdessen vollends zusammen. Ihre Finger ertasteten das schmale Armband aus rotem Samt und Leder, welches sie beim letzten Vollmond geknüpft hatte. Sie band es um sein rechtes Handgelenk und drehte ihn auf die Seite. Seine Augen suchten ihren Blick. Ein schwaches Lächeln spielte um seine blutverschmierten Lippen.

„Shiko ...“, flüsterte er, „Ich ... ich bin dankbar, dass ... ich dich ... Danke, dass ich ... dich kennenlernen durfte. Ich-“

Seine Stimme erstarb, ein letzter rasselnder Laut kam aus seiner Kehle. Dann lag er vollkommen entspannt dar. Shiko fuhr die saphirblaue Silhouette auf seiner Stirn nach, die sie nie zur Gänze ausgefüllt sehen würde.

„Wir sehen uns wieder, hörst du, Ohtah?“, sprach sie ihn an, „Du hast mich nicht verlassen, das weiß ich. Egal, wo du auf mich wartest – ich werde dich finden!“

Schwärze hüllte Shiko ein, als sie kraftlos auf seiner Brust zusammensank.
 

Als Shiko das nächste Mal erwachte, lag sie in einem Bett der Krankenstation. Sie spürte Schwere an ihrer rechten Hand und folgte der Verbindung mit den Augen.

Erst sah nur ein rotes Armband, dann schaltete sich ihr Verstand wieder ein und sie rief: „Ohtah!“

Der Jungvampyr erwiderte ihren Blick ruhig. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht.

„Du hast mich gerettet.“, gestand er leise.

In diesem Moment betrat Sgiach das Zimmer. Eine eine Aura der Macht hüllte sie ein wie steter Mantel.

„Er hat recht, mein Kind.“, erklärte sie überaus stolz, „Es war deine Gabe! Die Energie des Feuers hat seinen beinahe toten Körper wiederhergestellt ... ihn zurückgeholt.“

Ein fragender Ausdruck trat in ihre Züge. Sie deutete wortlos auf Ohtahs Stirn – sein Mal war rot, scharlachrot genauso wie ihres. Das Zeichen der Untoten Vampyre, die eine tiefere Bindung zum Jenseits, zur Anderwelt hatten.

„Ich wünschte, ich könnte euch jetzt ruhen lassen. Aber es gibt etwas, das ihr beide wissen solltet ... Nur des Feuers Kraft hält dich noch am Leben, Ohtah ... Bis zu deiner Wandlung wirst du darauf angewiesen sein. Unter der Voraussetzung, dass Shiko eure Verbindung jeden Tag mit neuer Energie speist.“, sprach die Vampirkönigin mit einem Fingerzeig auf das Geflecht aus Samt und Leder.

Sie drückte seine Hand, während sie entschossen entgegnete: „Natürlich! Ich werde alles tun, was notwendig ist!“

Sgiach nickte. Sie hatte gewusst, dass sich ihr Schützling so entscheiden würde. Es war ihr schon früher aufgefallen ... diese Ähnlichkeit von Shiko und Zoey Redbird, Hohepriesterin aller Vampyre und Oberhaupt des Hohen Rats. Vielleicht, nur vielleicht hatte sie ja diesmal die Nachfolgerin gefunden, welche sie sich schon so lange wünschte. Denn das Feuer allein hätte nicht ausgereicht, um einen Jungvampyr zu retten, dessen Körper sich gegen die Wandlung zur Wehr setzte. Nicht einmal die Göttin konnte einem ihrer Kinder dann noch so ohne weiteres helfen.

„Vielleicht hat euch Nyx deshlb zueinander geführt ...“, hauchte die uralte Vampyrin ehrfürchtig, dann ließ sie ihre Stimme erstarken, „Ich glaube, dies ist ein guter Zeitpunkt ... Shiko, mein Kind, ich möchte dir hiermit offiziell anbieten, dich zur Hohepriesterin der Nyx auszubilden. Es ist eine große Ehre ... und gleichzeitig ebenso eine Bürde. Darum denke in Ruhe darüber nach, bevor du dich entscheidest ...“

Damit verließ sie den Raum, bevor Shiko überhaupt zu einer Regung fähig war und die Zeit schien im wahrsten Sinne des Wortes kurz stillzustehen.

„Shiko.“, ergriff Ohtah wieder das Wort, schloss die Augen und machte die vampyrische Geste des Respekt in ihre Richtung, „Im Namen der fünf Elemente und unserer großen Göttin der Nacht ... höre meinen Eid. Ich werde von dieser Stunde an bis zu dem Tag, an dem Nyx mich zu sich ruft oder du mich aus meinem Schwur entbindest, dein wachender Schatten sein! Ich gebe dir meine Treue, meine Klingen und wenn nötig auch mein Leben, um dich als dein Krieger auf ewig zu beschützen! So frage ich dich, Mylady, nimmst du mein Gelöbnis an?"

Mit offenem Mund starrte sie ihn an. Wie viele Entscheidungen wurden ihr an diesem Tag denn noch abverlangt? Doch diesmal zog sich etwas in ihrer Brust schmerzhaft zusammen. Es gab einen Grund, warum er gerade jetzt ihr schützender Krieger werden wollte – weil sie ihn am Leben erhielt! Und das bedeutete, sie musste ebenfalls am Leben bleiben ... Trotzdem neigte sich ihr Kopf zu einem Nicken.
 

Wandlungen aus Liebe

Es war in der vergangenen Zeit zur Gewohnheit geworden, dass Shiko und Ohtah Hand in Hand gingen. Auch wenn es der Priesterin in Ausbildung – denn natürlich hatte sie Sgiachs Wunsch entsprochen und blühte seitdem regelrecht auf – in ihren Augen mehr bedeutete, wollte sie sich wenigstens der Illusion einer glücklichen Beziehung hingeben.

Ohtah berichtete ihr gerade von den mehr als spannenden Themen aus Vampyrsoiologie Vier der Oberprima. Mitten im Satz brach er ab, fasste sich an die Brust. Shiko wollte schreien, doch Ohtah drückte ihre Hand so fest, dass sie keinen Laut herausbekam. Sie kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an und rief stattdessen die Energie des Feuers – alle Flammen, die irgendwo auf der Island of Skype brannten, gehorchten ihrem Ruf. Die Jungvampyrin leitete die Kraft durch ihren Arm direkt in ihren Krieger hinein.

In einem letzten Aufbäumen keuchte erschöpft, dann war alles vorbei. Ohtah atmete wieder völlig normal. Doch gleichzeitig war irgendetwas anders. Wie in Zeitlupe hob er den Kopf. Shiko schlug sich die Hände vor den Mund. Nicht nur, dass seine Gesichtszüge irgendwie ausgeprägter wirkten – die Mondsichel war vollständig ausgefüllt! Und auf beiden Seiten prangten Dolchen, aus denen Flammen schossen. Noch vollkommen überwältigt zog sie einen kleinen Spiegel aus ihrer Tasche und hielt ihn ihm aufgeklappt entgegen.

„Das ist dein Feuer ...“, flüsterte der gewandelte Vampyr nicht minder sprachlos.

Er zog sie näher an sich heran und presste seine Lippen auf ihren Mund. Shiko war derart perplex, dass sie den Kuss nicht erwidern konnte.

„Es wird Zeit.“, riss eine unverkennbare Stimme mit unverwechselbarem Akzent sie auseinander – Seoras, der Krieger der Königin, „Ich werde dich zu deiner rituellen Reinigung geleiten, mein Freund. Die Göttin erwartet dich im Tempel ...“

Ohtah berührte Shikos Wange und flüsterte kaum hörbar: „Ich komme nach Sonnenuntergang wieder ... Warte bei unserer Lichtung auf mich.“

Eine einzelne Träne stahl sich aus ihren Augen, als ihr Krieger mit dem Wächter in die Nacht verschwand. Sie selbst machte sich ebenfalls auf den Weg – sie musste dringend mit Seiketsu reden.
 

Kaum dass die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, schlug Shiko die Augen auf. Sie konnte es nicht verhindern – bei Tagesanbruch schlief sie ein, ob sie wollte oder nicht. Dabei hätte sie noch so viel mit Seiketsu zu bereden gehabt. Ihre Freundin hatte ihr zugehört, sie beraten und aufgebaut. Trotzdem fühlte sich Shiko überhaupt nicht bereit, Ohtah wieder gegenüberzutreten.

Warum nur hatte er sie geküsst? All die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten ... nie hatte er sich ihr gegenüber anders verhalten, als es für einen Krieger angemessen wäre. Aber woher sollte sie wissen, was man in der Euphorie der Wandlung nicht alles tat.

Shiko ging den vertrauten Pfad entlang, der genau ins Herz des feurigen Heiligtums von Skype führte. Das Glühen begrüßte sie. Die Jungvampyrin würde wohl niemals müde werden, die Hinotama-Seelen bei ihren Tänzen zu beobachten.

Von Ohtah war nichts zusehen, aber das wunderte sie nicht. Der Vampr hatte bereits vor seiner Wandlung mit den Schatten verschmelzen können – Nyx´ Geschenk. Er trat aus der Dunkelheit heraus, wie durch eine Tür. Sioras hatte ihm schwarze Gewänder in der typisch schottischen Wickelart angelegt.

„Ohtah.“, sprach sie ihn an, wobei ihre Stimme leicht zitterte.

Er berührte sanft ihre Wange. Wieder war Shiko fasziniert von seinem neuen Tattoo.

„Dieses Leben verdanke ich dir, Mylady ...“, sagte er leise.

Die Jungvampyrin schluckte schwer und erwiderte: „Ja ... und genau vor diesem Moment habe ich mich die ganze Zeit gefürchtet. Ich ... ich will dich nicht verlieren! Weil du mich jetzt nicht mehr brauchst.“

Ohtah ergriff ihre Hand, bevor er antwortete: „Ob als Jungvampyr oder Vampyr ... mein Schwur bleibt bestehen. Ich bin dein Krieger - für immer! Willst du wissen, warum ich geschworen habe, dich zu beschützen? Weil ich dich liebe, Shiko! Ich will alles für dich sein ... dein Krieger, dein Wächter, dein Geliebter, dein Gemahl!“

Er wollte das Armband von seinem Handgelenk lösen, doch Shiko hielt ihn auf: „Warte! Bitte ... behalt es. Ich habe es einst für den Jungen gemacht, der mir mein Herz gestohlen hat ... Auch wenn er jetzt zum Mann geworden ist.“

Ein brennender Schmerz fuhr durch Shikos Kopf. Ein Feuer breitete sich über ihre Stirn aus, legte sich um ihre Augen. Ihr Krieger hielt sie fest, als ihre Beine den Halt verloren. Und da war noch etwas tief in ihrem Bewusstsein ... ein Bild. Eine schlanke Frauengestalt, die von unzähligen Sternen begleitet wurde – Nyx. Die Göttin strahlte und Shiko fühlte ihre unglaubliche Freude. Das Brennen verschwand genauso schnell, wie es über sie hereingebrochen war.

„Shiko, du ...“, hauchte Ohtah fassungslos, „Du bist ein vollwertiges Kind der Nacht!“

Noch bevor sie ihr Spiegelbild sah, kannte sie das Aussehen ihrer Tätowierung genau – ein Meer aus Flammen, das beinahe ein Herz bildete.
 

Damit beginnt das vampyrische Leben einer legendären Hohepriesterin - Shiko, welche nicht nur über die Fähigkeit verfügte, die Energie des Feuer für sich und andere zu nutzen ... Sie versammelte auch die Repräsentanten der anderen Elemente, um gemeinsam mit ihnen unzähligen Jungvampyren durch die Wandlung zu helfen.

Fanfiction 02: Die Legende der Verwunschenen Verliese

Willkommen in Hogwarts

Auf dem Bahnhof King´s Cross in London herrschte reger Betrieb – Geschäftsleute, Reisende und sonstige Pilger strömten über die Bahnsteige. Beinahe minütlich fuhren neue Züge ab oder trafen ein. Zwischen Gleis neun und zehn herrschte allerdings der größte Andrang. Vor allem an Familien mit Kindern, die alle einen oder sogar mehrere Gepäckwagen bei sich hatten, auf denen sich Koffer und zumeist auch Käfige mit Kröten, Katzen oder Eulen stapelten. Ein Anblick, der sich jedes Jahr am ersten September wiederholte. Denn an diesem Tag begann das neue Schuljahr in Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei in Schottland. Allerdings fuhr natürlich keiner der regulären Züge diesen Zielort an – nicht auszudenken wäre ein Muggel, ein Nicht-Magier aus Versehen eingestiegen. Deshalb verbarg sich hier bei der dritten von vier Säulen der Zugang zum geheimen Gleis neun dreiviertel, auf dem pünktlich um elf Uhr der Hogwarts-Express abfahren würde. Eine der neuen Schüler war Nadeshiko Yosogawa. Ihr schulterlanges, leuchtend rotes Haar verwehte wild vom Dampf der Lokomotive. Ihre braunen Augen leuchteten vor Begeisterung. Beim letzten Mal hatte sie nur ihre Schwester begleitet – vor drei, langen Jahren …

„Oneechan … endlich darf ich an jenen Ort … und ich werde dich nicht enttäuschen, das verspreche ich dir.“, murmelte Nadeshiko so leise, dass ihre Eltern sie nicht hören konnten.

Ihr Vater Togo Yosogawa – ein leicht grimmig wirkender Japaner – machte sich gerade auf den Weg, ihr Gepäck aufzugeben. Shirayuki, ihre schneeweiße Schleiereule, warf ihr einen traurigen Blick zu, doch Nadeshiko nickte aufmunternd.

Ihre Mutter Kai Yosogawa, eine Engländerin dagegen kämpfte beim Sprechen mit den Tränen: „Pass´ gut auf dich auf, ja? Hör´ immer auf deine Lehrer. Und schreib´ mir – ob du Freunde gefunden hast, wie der Unterricht ist und wann du uns besuchen kommst. Ja, Shiko?“

Eigentlich bedeutete ihr Name ja »Nelke« und sie liebte ihn sehr, aber diesen besonderen Spitznamen hatte ihre Schwester ihr einst gegeben.

„Es wird alles gut werden, Okasan.“, antwortete die Rothaarige lächelnd und umging damit absichtlich das eigentliche Versprechen, welches sie sich von ihr gewünscht hatte, „Ich muss los.“

Nadeshiko löste die Umarmung ihrer Mutter, als ihr Vater zurückkam. Leicht neigte sie das Haupt vor ihm – ihre japanische Erziehung hatte sie selbst hier in England nicht abgelegt – und er legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Bereite uns keine Schande.“, sagte er mit einem scharfen Unterton.

Sie sah ihn an und entgegnete: „Ich werde mir Mühe geben, Otosama.“

Bevor Nadeshiko in den Zug stieg, drehte sie sich noch einmal um und winkte ihren Eltern zum Abschied. Sie erinnerte sich noch genau an eine Zeit, da die beiden weder Trauer noch Verbitterung auf den Gesichtern getragen hatten. Sie war es gewesen, die traurig, sogar wütend gewesen war – weil Seiketsu ohne sie nach Hogwarts gefahren war … und dass nur, weil sie acht Jahre älter gewesen war. Doch nun war Nadeshiko selbst endlich an der Reihe, mit einem festen Ziel vor Augen!
 

Ein paar Stunden später entspannte sich Nadeshiko etwas in dem fast leeren Abteil. Weil sie einen Platz ganz am Ende des Zuges gewählt hatte, kam der Servierwagen zu ihr zum Schluss. Sie drängte in den engen Flur und überflog die Auslage, da knallte plötzlich jemand gegen sie, der sie zum Taumeln brachte. Ein Hand packte Nadeshiko am Arm, um sie vor einem Sturz zu bewahren. Der Junge, der sich erst angerempelt hatte und nun festhielt, hatte fransiges, braunes Haar und durchdringend smaragdgrüne Augen.

„Oh, entschuldige.“, meinte er etwas verlegen, wobei er sich mit der freien Hand am Hinterkopf kratzte, „Ich bin wohl ein bisschen aufgeregt. Meine Familie lebt dermaßen abseits von allem, dass ich eigentlich noch fast gar keinen Kontakt zu jemandem hatte, der nicht zu meiner Verwandtschaft gehört.“

Das überraschte sie im Grunde nicht weiter – es gab viele magische Familien, die sich vor der Welt verbargen. Das internationale Statut der Geheimhaltung wurde stetig verschärft, je weiter die Muggel ihre Technologien entwickelten.

Lächelnd erwiderte sie: „Mein Name ist Nadeshiko Yosogawa, aber man nennt mich Shiko. Wenn du möchtest – in meinem Abteil ist noch ein Platz frei.“

„Danke!“, gab der Braunhaarige sichtlich überrascht zurück, „Ich bin Ohtah … Ohtah Shadowdragon. Kennst du eigentlich schon jemand in Hogwarts?“

Ein kaum merklicher Schatten huschte über ihr Gesicht: „Nicht wirklich … das hat sich ja gerade geändert.“

Sie suchten sich eine riesige Menge Süßkram aus und teilten ihre Beute miteinander. Während der gesamten restlichen Zugfahrt unterhielten sie sich über allerlei – bis die einsetzende Dämmerung von einer baldigen Ankunft kündete und sie ihre Umhänge überstreiften.

„Was glaubst du, in welches Haus du eingeteilt wirst?“, fragte Ohtah, nachdem sie sich wieder gesetzt hatten.

Die Rothaarige schwieg kurz, bevor sie knapp entgegnete: „Gryffindor.“

Für das, was vor ihr lag, brauchte sie den Mut von Godric Gryffindor; Seiketsu dagegen war eine Anhängerin Rowena Ravenclaws gewesen.

Ohtah wirkte leicht mitgenommen, als er erklärte: „Ich befürchte, mich wird es wie alle aus meiner Familie nach Slytherin verschlagen. Shiko … selbst wenn wir in unterschiedliche Häuser kommen, können wir doch Freunde sein, oder nicht?“

Ein glockenhelles Lachen drang aus ihrer Kehle: „Natürlich! Was dachtest du denn? Und außerdem ist kein Haus verwerflich – wir können weit mehr sein, als ihr Ruf.“

In diesem Moment geschah es – Ohtah´s Herzschlag erhöhte sich und er errötete. Den Grund dafür würde er aber erst sehr viel später wirklich begreifen …
 

Kaum waren sie am Bahnhof von Hogsmeade angelangt, rief ein mehr als hünenhafter Mann die Erstklässler zusammen. Er trug einen dicken, braunen Pelzmantel, der ihn so breit wie hoch wirken ließ. Sein Gesicht wurde von zotteligen Haaren auf dem Kopf und von Ohr zu Ohr eingerahmt. Auf einen dicken, roten Wangen lag ein breites Lächeln. Es war Rubeus Hagrid, ein Halbriese, der Hüter der Schlüssel und Ländereien von Hogwarts sowie Professor für Pflege magischer Geschöpfe. Er geleitete die Schüler des ersten Jahrgangs zum Anlageplatz am Schwarzen See, wo sie in kleinen Grüppchen in Boote mit Laternen stiegen. Nadeshiko hielt sich dicht bei Ohtah, damit sie nicht schon jetzt getrennt wurden. So schipperten sie über das Wasser auf das gewaltige Schloss zu, dessen Silhouette sich schwarz gegen das Mondlicht abhob. Kein Wunder, dass sie Hogwarts auf diese Weise zum ersten Mal zu sehen bekamen – es war ein magischer Anblick, der nicht von besonderen Fähigkeiten geschaffen worden, sondern einzig ein Schauspiel der Natur war. Nun begriff Nadeshiko, was Seiketsu ihr hatte begreiflich machen wollte … warum Hogwarts ein so besonderer Ort war, mehr als nur eine Schule. Im Stillen dankte sie den Kami, japanischen Shinto-Göttern dafür, dass sein Vater ins englische Konsulat versetzt worden war – Mahoutokoro befand sich im Innern eines Vulkans und hatte ein vollkommen anderes Schulsystem. Allerdings wäre ihr dort vielleicht mancher Schicksalsschlag erspart geblieben …

Auf der anderen Seite machten sie in einem kleinen Bootshäuschen fest und stiegen zickzackförmige Treppe hinauf zum Eingangsportal, das von selbst aufschwang. Die Wände im Innern waren unglaublich hoch, es gab unzählige Treppen und an jedem Fleckchen hingen Gemälde, die sich bewegten. Nichts zeugte mehr davon, dass das Schloss vor zehn Jahren bei der sogenannten »Schlacht von Hogwarts« fast vollkommen zerstört worden war – damals hatte Harry Potter den finalen Kampf gegen den bösesten aller schwarzen Magier angeführt. Ihre Familie hatte zu diesem Zeitpunkt noch in Japan gelebt, doch selbst dort war die Angst vor Lord Voldemort deutlich spürbar gewesen. Kein Wunder, schließlich war ihre Mutter genau deshalb nach Asien ausgewandert …

„Hinter mir befindet sich die Große Halle; sie ist das Zentrum von Hogwarts, die Speisen werden dort eingenommen und zwischenzeitlich auch als Aufenthaltsraum und für schriftliche Prüfungen genutzt.“, erklärte Hagrid und deutete auf ein weiteres, hölzernes Tor ihrer Rechten, „Aber ich will euch gar nicht damit langweilen – die anderen Schüler sitzen bereits auf ihren Plätzen. Ach, für jedes Haus gibt es einen eigenen Tisch und wenn der Sprechende Hut gewählt hat, setzt ihr euch einfach entsprechend. Um den Rest werden sich dann die Vertrauensschüler kümmern.“

Er kehrte ihnen den Rücken, stieß die Tür auf. Sofort drang Stimmengemurmel an ihre Ohren, welches jäh verstummte. An der Stirnseite stand der Tisch für die Lehrer quer im Raum auf einem Podest. Davor entdeckten die Neuankömmlinge einen Hocker mit einem uralten Filzhut und einen Stuhl. Daneben stand eine ältere Hexe in grüner Robe, in Händen hielt sie ein zusammengerolltes Pergament.

„Ich heiße Sie willkommen in Hogwarts! Wie Sie sicher wissen, gibt es bei uns vier Häuser – Gryffindor, Ravenclaw, Huffelpuff und Slytherin; eines davon wird für die nächsten sieben Jahre Ihre Familie sein.“, berichtete Professor Minerva McGonagall mit schneidender Stimme.

Da begann sich der zerknautschte Hut zu bewegen und zu singen: „Familie und Freunde, das ist fein – große Hexen und Zauberer wollt ihr sein. Als Lernstätte einst erbaut, ich bin schon ganz ergraut, so viel Zeit ist vergangenen, seit im Zeichen der Schlangen, Dachsen, Löwen und auch Raben, die Gründer unterrichtet haben. Wer geht hier ein und aus? Schüler – frisch von zu Haus´. ZAG und UTZ sie bekommen, dabei haben sie noch gar nicht vernommen, Geheimnisse sich noch immer verbergen und Verliese unerkannt beherbergen.“

Nadeshiko erstarrte und hörte nicht mehr, was der Sprechende Hut noch so alles von sich gab – nicht einmal als die ersten Namen aufgerufen wurden, bekam sie es wirklich etwas mit. So unglaublich oft hatte sie in unzähligen Artikeln über die angeblichen Lügengeschichten ihrer Schwester gelesen, weil die Verwunschenen Verliese nicht existierten würden … Tränen standen in ihren Augenrändern. Niemals hatte Nadeshiko daran gezweifelt und damit auf verlorenem Posten gestanden, kaum war sie dagegen in Hogwarts wurde ihr ein erster Hinweis präsentiert!

„Shadowdragon, Ohtah.“, rief die Direktorin, wobei der Klang seines Namens Nadeshiko wieder in die Realität verfrachtete.

Sie erwiderte Ohtah´s Blick und nickte entschieden, um ihre Worte im Zug nochmals zu bekräftigen, was ihn lächeln ließ.

Die Hutkrempe berührte nur für wenige Sekunde sein Haupt, da verkündete er bereits: „Slytherin!“

Ja, so hatte er es bereits geahnt … alle Mitglieder seiner Familie waren im Namen von Salazar Slytherin unterrichtet worden, so sehr er ihre Traditionen auch verabscheute, nun erfüllte er sie ebenfalls … Doch das würde nichts ändern, daran glaubte Nadeshiko fest und auch Ohtah setzte sein Vertrauen darauf!

Da die Schüler alphabetisch nach ihren Nachnamen geordnet waren, musste Nadeshiko bis zum Schluss warten. Sofort brach lautes Getuschel an den Tischen los, nach sie aufgerufen worden war – dabei hatte die ganze Zeit Schweigen geherrscht –, selbst einige der Lehrer steckten die Köpfe zusammen. Nadeshiko biss sich auf die Unterlippe, ballte die Fäuste. Ja, sie war eine Yosogawa … und stolz darauf! So marschierte sie auf Professor McGonagall zu, die ihr unbeeindruckt von der übrigen Reaktion den Sprechenden Hut aufsetzte.

Sofort hörte sie seine nachdenkliche Stimme: „Oh, wieder mal ein ganz schwieriger Kandidat … Tapferkeit, Einfallsreichtum, Hilfsbereitschaft, Intelligenz – ich sehe Eigenschaften aller in dir. Hm, und einen Wunsch … Ich verstehe, es ist dir also ernst. Nun gut – Gryffindor!“

Anders als bei ihren Vorgängern applaudierten die Schüler diesmal nicht. Geschockte Gesichter starrten ihr entgegen. Einsamkeit war für Nadeshiko kein neues Gefühl … Seit drei Jahren kam es ihr so vor, als würde ihr ein Teil fehlen. Ein stummes Seufzen verließ ihre Kehle. Von Ohtah´s wachsamen Blick begleitet, setzte sie sich zu ihren Hausgenossen.

„Willkommen in Gryffindor, schöne Frau!“, begrüßte sie zu aller Überraschung ein junger Mann, der mindestens zwei Jahre älter sein musste, „Ich heiße Argo Turtles.“

Er lächelte charmant und Nadeshiko freute sich über seine Worte, aber gleichzeitig verspürte sie merkwürdigerweise ein schlechtes Gewissen. Daher nickte sie nur knapp. Kurze Zeit später eröffnete Professor McGonegall das Bankett, in dessen Anschluss die Erstklässler von ihren Vertrauensschülern in die jeweiligen Gemeinschaftsräume und dort in ihre Schlafsäle geführt wurden. Immer fünf Mädchen oder Jungen teilten sich einen; doch es gab nur eines, dessen Anblick Nadeshiko´s Herz berührte – ihre Schleiereule saß neben ihrem Bett auf einer Metallstange. Sofort eilte sie zu ihrer gefiederten Freundin und streichelte sie, woraufhin Shirayuki einen wohligen Laut von sich gab. Mit einem Mal fühlte sich Nadeshiko unglaublich erschöpft und fiel mehr ins Bett, als dass sie sich hineinlegte.
 

Kaum war Nadeshiko am nächsten Morgen zum Frühstück in die Große Halle zurückgekehrt, hielt sie nach Ohtah Ausschau. Da legte ihr jemand von hinten die Hand auf die Schulter. Gesuchter Slytherin stand mit einem leicht verlegenen Lächeln vor ihr, da umarmte sie ihn auch schon stürmisch. Obwohl die beiden einander gerade erst getroffen hatten, kam es ihr – und auch ihm – so vor, als kannten sie sich bereits viele Jahre oder sogar ihr ganzes Leben lang.

„Wie sieht dein Stundenplan für heute aus?“, wollte er interessiert wissen.

Ein Grinsen trat auf ihr Gesicht, als sie antwortete: „Erst Geschichte der Zauberei, dann Kräuterkunde. Wir haben zusammen Verteidigung gegen die dunklen Künste und nach dem Mittagessen sogar noch … Fliegen.“

Der Unterricht in Hogwarts wurde stets in Doppelstunden und von zwei Häusern aus einem Jahrgang zusammen abgehalten. Jeder Lehrer durfte sämtlichen Schülern Hauspunkte verleihen oder natürlich abziehen – und jenes Haus, welches am Ende des Schuljahres die meisten Punkte gesammelt hatte, gewann den Hauspokal.

Nach einer kurzen Verabschiedung setzten sich Nadeshiko und Ohtah schließlich an ihren jeweiligen Tisch, auf denen ein reichhaltiges Frühstück bereitstand. Es war wohl die geschäftigste Zeit und es herrschte von zahlreichen Gesprächen eine ziemlich hohe Lautstärke. Die Rothaarige schottete sich dagegen ab; von dem kleinen Hinweis des Sprechenden Hutes einmal abgesehen, half ihr das nicht dabei ihre Vorgehensweise zu planen, und die übrigen Schüler, welche ohnehin nur verächtliche Vorurteile hegten, interessierten sie ebenfalls nicht. Fast wäre die junge Hexe derart in ihrem Grübeln über die Verliese abgedriftet, dass sie die erste Stunde verpasst hätte! Und ausgerechnet Geschichte der Zauberei … das langweiligste Fach von allen, unterrichtet von einem der Schlossgeister, Professor Cuthbert Binns – einst war er in der Nacht gestorben und am nächsten Morgen trotzdem ganz normal zum Unterricht gegangen. Wenn er nicht gerade einen monotonen Vortrag hielt, hielt er ein Nickerchen – was auch die schlechten Zensuren fast aller Schüler erklären konnte. Nadeshiko erinnerte sich, dass Seiketsu eine der wenigen Ausnahmen gewesen war … Ihr Gehirn hatte schier mühelos sämtliche Jahreszahlen und verdrehten Namen abgespeichert.

Einige ihrer Mitschüler waren bereits eingeschlafen und auch sie überkam ein Anflug von Müdigkeit, da sagte Professor Binns: „Ja, ja, so war das … die vier Gründer haben dieses Schloss komplett selbst erbaut – dennoch gibt es Gerüchte, dass auch andere Kräfte in Hogwarts wirken wie in den Verwunschenen Verliesen, was natürlich vollkommener Unfug ist. Geschichte hält sich einzig an Fakten! Wir sind hier sicher und-“

Sofort fuhr ihr Kopf hoch, doch der Geist beachtete sie gar nicht. Er war mitten im Satz abgebrochen und schlief selig. Das war etwas neues … ihre Macht entstammte einer fremden Quelle. Wenn sie selbst im Unterricht zur Geschichte von Hogwarts erwähnt wurden, würde Nadeshiko in der Bibliothek vielleicht noch mehr herausfinden! Dieser Gedanke beherrschte ihre völlige Aufmerksamkeit – bis sie Ohtah vor dem Klassenzimmer von Verteidigung gegen die dunklen Künste traf.

„Also … ich wollte dich fragen … Shiko, sollen wir zusammen sitzen?“, stammelte der Braunhaarige etwas unbeholfen.

Sie lachte, als wäre dies eine Selbstverständlichkeit, und nickte zustimmend. Die anderen Schüler wunderten sich sehr darüber – Gryffindor und Slytherin zusammen sah man wirklich nicht jeden Tag. Besonders einer Schülerin passte dieser Umstand ganz und gar nicht – Livia Daggerhood, denn sie selbst hatte ein Auge auf Ohtah geworfen. Professor Ramon Rien ließ sich dagegen davon nicht aus der Ruhe bringen.

„Was bedeutet >Verteidigung gegen die dunklen Künste<?“, begann er mit wanderndem Blick, „Es ist nicht nur der direkte Kampf gegen Schwarze Magier – sondern genauso die indirekte Auseinandersetzung mit den finsteren Kräften in uns selbst. Sie mögen jetzt vielleicht noch zu jung sein, um meine Worte zu verstehen … Jeder von uns besitzt innere Dämonen und wir können jederzeit Gefahr laufen von ihnen übernommen zu werden.“

Bei den meisten Schülern bildete sich nur ein einziges, großes Fragezeichen in ihren Köpfen – anders in Nadeshiko´s und Ohtah´s Fall. Während auch ein kleines Lächeln auf das Gesicht der Gryffindor geschlichen hatte, war der Gesichtsausdruck des Slytherins finster … so als läge ein Schatten darüber, welcher sich für den Rest der Zeit nicht mehr verzog. Stattdessen stürmte Ohtah beim Klingeln regelrecht aus dem Klassenzimmer.
 

Nach dem Mittagessen, dem der Braunhaarige ferngeblieben war, versammelten sich die Schüler zur ersten Flugstunde auf dem Trainingsgelände. Natürlich war Nadeshiko seine Reaktion nicht verborgen geblieben … Und wäre sie jemand anderes, hätte sie diese wahrscheinlich nicht zu deuten gewusst – Ohtah trug ebenso wie sie ein dunkles Geheimnis mit sich herum.

Allerdings lenkte ein weiteres Problem ihre Aufmerksamkeit auf sich … Ein knorriges Ungetüm mit widerspenstigem Reisig – der Schulbesen, welchen Madame Roland Hooch vor sie abgelegt hatte. Ein kalter Schauer überlief Nadeshiko. Sie fürchtete sich vor dem Fliegen … abzustürzen. Sie besaß keinerlei Vertrauen in diese Art der Fortbewegung.

„Strecken Sie Ihre rechte Hand aus und rufen >auf<“, erklärte die Professorin erwartungsvoll.

Einem einzigen Schüler gelang es, dass der Besen ihm gleich beim allerersten Mal gehorchte – Ohtah. Madam Hooch bedachte ihn mit einem anerkennenden Nicken. Nadeshiko dagegen traute sich noch nicht einmal das Wort laut auszusprechen.

„Du musst keine Angst haben.“, flüsterte jemand hinter ihr – Ohtah war an sie herangetreten, ohne dass sie etwas bemerkt hatte, „Es ist im Grunde genommen ganz leicht und … die Magie kommt ganz allein von dir, nicht aus dem Holz.“

Er nahm ihre Hand, um sie zu positionieren, und Nadeshiko hauchte kaum hörbar: „Auf …“

Trotz der geringen Lautstärke regte sich der Besen, er erhob sich und sie schloss ihre Finger fest um den Stiel. Dankbar drehte sie sich um, doch Ohtah war bereits zu seinem Platz zurückgekehrt und folgte der nächsten Anweisung – sich auf den Besen zu setzen. Die Halbjapanerin wusste, dass sie ganz dringend das Gespräch mit ihm würde suchen müssen …

„Na, muss dir Ohtah immer helfen oder schaffst du mickrige Gryffindor auch mal was selbst?“, kam es provokant von einer andere Slytherin.

Verblüfft starrte sie ihre Gegenüber an. Ihr beinahe schwarzes Haar glänzte rötlich im Sonnenlicht und wenn Nadeshiko es nicht besser gewusst hätte, hätte sie dieses Mädchen niemals auf gerade einmal elf Jahre geschätzt … Von der Anfeindung gegen ihre Person gefiel ihr aber vor allem nicht, wie sie den Namen von Ohtah betont hatte. Und so blieb dies in den kommenden Jahren nicht die einzige Auseinandersetzung zwischen Nadeshiko und Livia.
 

Jedoch ging Ohtah der jungen Hexe in die nächsten Tagen – mit großer Sicherheit absichtlich – aus dem Weg. Also wartete Nadeshiko nach dem Unterricht täglich an dem Ort, welchen er früher oder später aufsuchen musste – die Bibliothek. Als er eintrat, versperrte sie ihm den Weg … da er ahnte, sie würde keine Ruhe geben, ergab er sich und folgte ihr in einen leeren Gang.

„Freunde müssen einander vertrauen … Aber dafür muss man sich kennen und … aufeinander zugehen. Also … Ohtah, es gibt etwas, das du über mich wissen solltest. Ich … bedeute Ärger. Noch habe ich gegen keine Regel verstoßen – was wirklich ein Wunder ist –, das wird sich wohl sehr schnell ändern und nicht mehr aufhören, bevor ich diese Schule verlasse. Und ich kann noch nicht mal behaupten, dass ich dies mit einem Abschluss tun werde …“, sprach Nadeshiko und setzte sich resigniert auf den Boden, „Hast du schon mal von >Seiketsu Yosogawa, der Lügnerin< gehört? Sie ist meine ältere Schwester … und vor Jahren verschwand sie, irgendwo hier in Hogwarts – auf der Suche nach den sogenannten Verwunschenen Verliesen. Aber ich weiß, dass sie immer noch am Leben ist, ich spüre es einfach! Auch wenn unsere Eltern sie für tot erklärt haben … Ich werde sie eines Tages finden!“

Schweigen legte sich über die beiden. Nadeshiko rechnete damit, dass Ohtah jeden Moment anfangen würde, sie auszulachen oder für verrückt zu erklären.

Doch er berührte ihre Wange, während er entgegnete: „Und ich helfe dir dabei! Dafür sind Freunde schließlich da, nicht wahr? Ich verspreche es dir, Shiko – wir werden es schaffen, zusammen!“

Perplex schaute sie ihn an. Tränen stiegen in ihr auf. Zum ersten Mal seit Seiketsu´s Verschwinden wollte sie jemand unterstützen, glaubte ihr! Es hatte geschmerzt, als ihre Eltern das Zimmer ihrer Schwester leer geräumt hatten … und die Todesanzeige geschaltet worden war … Nun gab es eine Chance für Nadeshiko allen zu beweisen, dass sie unrecht hatten.

„Haben wir schon einen Plan?“, wollte Ohtah wissen.

Sofort wurde Nadeshiko ernst: „Nein, nicht wirklich. Ich habe absolut keine Ahnung, wie sie auf die Verliese gestoßen ist oder was es überhaupt mit ihnen auf sich hat …“

Ein schiefes Grinsen erschien auf Ohtah´s Lippen und erzog Nadeshiko zurück auf sie Füße. Sie verstand sofort, worauf er hinaus wollte – sie hätten eine Menge Arbeit vor sich … Und so kam es, dass Nadeshiko und Ohtah den größten Teil ihrer Freizeit mit der Nase in Büchern verbrachten. Je nach Wetterlage verlagerten sie ihre Studien nach draußen an den Schwarzen See, zeitweise auch in die Große Halle, wenn die Bibliothek zu überfüllt war … oder umgekehrt. Neben den zahlreichen Sticheleien, die sich allesamt auf Seiketsu bezogen, bereitete es Livia weiterhin ein ganz besonderes Vergnügen Nadeshiko herauszufordern und zu sabotieren – bei jeder Gelegenheit warf sie etwa falsche Zutaten in ihren Kessel oder forderte sie zu einem Duell heraus.

„Dieses Mal bist du fällig, Rotschopf! Locomotor Mortis!“, rief Livia und schwang den Zauberstab.

Nadeshiko wich dem Beinklammer-Fluch aus, erwiderte mit einer Ganzkörperklammer. Die Schwarzhaarige fiel bewegungsunfähig sowie erneut geschlagen zu Boden, eine neue Drohung zischend – denn die Gryffindor verlor nie ein Duell. Ab und zu wurden sie allerdings von Lehrern oder Vertrauensschülern erwischt, was Strafarbeiten bedeutete … sprich Zeitverzögerung für die Recherche – Pardon die bislang ohnehin erfolglose Recherche. Bis zu jenem beinahe schicksalhaften Tag, da Nadeshiko auf dem Rückweg vom Polieren im Pokalzimmer wie durch Zufall ein Gespräch zwischen Professor Horace Slughorn und Argus Filch belauschte.

„Wenn ich es Ihnen doch sage – verfluche Bälger, alle samt! Der ganze Korridor ist voll davon und keines meiner Mittel kann es auflösen. Sie müssen einen Trank brauen, der wieder Ordnung macht – und am besten verteilen Sie gleich noch ein wenig Veritaserum unter diesen verfluchten Rotzgören!“, beschwerte sich der schon weit, weit in die Jahre gekommene Hausmeister, während er seine Katze streichelte.

In der Hoffnung nicht entdeckt zu werden, lugte Nadeshiko um die Ecke. Das Gesicht des Meisters der Zaubertränke war unnatürlich blass … und gleichzeitig wirkte es grünlich, so als wäre ihm unsagbar schlecht. Irgendetwas war geschehen, das selbst für die Verhältnisse in Hogwarts nicht normal war … Und sie würde herausfinden, worum es sich dabei handelte! Wie ein Ninja aus den japanischen Sagen schlich sie den beiden Männern hinterher. Filch lief vorbei an seinem Büro, erklomm einen kleineren Treppenaufgang in der Nähe und blieb vor einer Holztür stehen. Professor Slughorn trat hinein, jedoch zog er Klinke hinter sich wieder ins Schloss. Da seine Aufgabe beendet schien, trottete der Hausmeister in Begleitung von Mrs. Norris davon. Die Rothaarige wartete hinter einer Skulptur – es verging wohl mindestens eine halbe Stunde, bis der Meister der Zaubertränke wieder herauskam und für sein Alter recht eilig davon spurtete, in Richtung von Professor McGonegall´s Büro! Da sich sonst niemand hier herumtrieb, kam Nadeshiko aus ihrem Versteck und wollte sich den Korridor ebenfalls ansehen. Eigentlich hätte sie sich ja denken, dass etwas, das für solchen Wirbel sorgte, nicht unverschlossen zurückblieb … Enttäuscht schlurfte sie zu ihrem Gemeinschaftsraum.
 

Ungefähr zwei Wochen später hatte Nadeshiko diesen ominösen Zwischenfall schon fast wieder vergessen. Langweilig wurde einem in Hogwarts schließlich nur selten.

Bis Professor Flitwick seinen Schüler eröffnete, dass sie einen Zauber lernen würden: „Mit >Alohomora< wird es Ihnen möglich sein, beinahe jedes verschlossene Schloss zu öffnen – von magischen Barrieren einmal abgesehen. Missbrauchen Sie ihn daher nicht!“

Sofort überlegte Nadeshiko, ob sie so wohl in den Korridor gelangen könnte … Doch wenn Professor Slughorn wirklich die Direktorin eingeschaltet hatte, käme sie mit diesem Zauber sicher nicht weit. Wobei … hieß es nicht »probieren geht über studieren«? Ohtah wäre sicher auch dafür, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Und im Grund sollte es ja nicht verboten sein, wenn man für den Unterricht übte …

Falsch gedacht – denn an diesem Abend hielt Professor McGonegall vor dem Abendessen eine kurze Ansprache: „Ich habe eine wichtige Information für Sie – ab sofort ist es Ihnen strickt untersagt, sich dem unbenutzten Korridor im zweiten Stock des Westturmes zu nähern. Ein Verstoß gegen diese neue Schulregel wird hart bestraft!“

Durch die Große Halle schaute Nadeshiko zum Tisch der Slytherins und begegnete Ohtah´s wachsamem Blick. Auf ein kaum merkliches Nicken ihrerseits, weiteten sich seine Augen. Um sich selbst machte er sich eher weniger Sorgen – Nadeshiko war diejenige, die es zu beschützen galt und er würde sein Versprechen halten. Nicht, dass es sie davon abgehalten hätte, wenn er versuchte, es ihr auszureden … Also neigte er ebenfalls zustimmend mit dem Kopf. Die übrigen Schüler bemerkten nichts von diesem stummen Gespräch – nur einer der Lehrer begann die Stirn zu runzeln; es war Professor Rien, dessen Lippen sich langsam zu einem Lächeln verzogen.

Bereits am nächsten Tag nach dem Unterricht schlichen die beiden zur verschlossenen Tür.

„Ich gehe hinein – du wartest hier auf mich. Wenn jemand kommt, klopfst du zweimal an.“, wiederholte Nadeshiko ihren Plan.

Es widerstrebte Ohtah, sie allein gehen zu lassen, trotzdem bestätigte er: „Ja … und wenn du in einer Viertelstunde nicht zurück bist, hol´ ich dich da raus.“

Die Gryffindor wandte sich der Tür zu. Die Stärke eines Zaubers hing vom Willen des Zaubernden ab … Sie dachte an ihre Schwester, die ihr versichert hatte, aus Nadeshiko würde einmal eine großartige Hexe werden. Und mit dieser Entschlossenheit hob sie den Zauberstab, sprach das Wort der Macht. Klickend fuhr das Schloss zurück und die Tür öffnete sich. Die beiden Schüler tauschten noch schnell einen überraschten Blick, dann huschte Nadeshiko in den Korridor. Der Gang lag vollkommen im Dunkeln, kein Fenster war in das Mauerwerk eingelassen.

„Lumos!“, ließ sie die Spitze ihres Stabes aufleuchten und sah sich um.

Zunächst konnte sie nichts ungewöhnliches entdecken … bis irgendetwas weiter hinter den Schein zu reflektieren schien. Langsam ging Nadeshiko darauf zu. Es war eine Ansammlung von bläulichem Eis, welche den Boden und die Wände spickte. Im ersten Impuls wollte sie die Hand danach ausstrecken, hielt jedoch inne und entschied sich stattdessen für einen harmlosen Fluch. Als wolle es sich verteidigen, schwoll das Häufchen ab, welches sie getroffen hatte. Die Rothaarige zuckte zurück und hastete hinaus. Ohtah wollte schon fragen, was vorgefallen sei, da schüttelte sie den Kopf. Sie rannten regelrecht ins Freie und suchten sich ein abgeschiedenes Plätzchen. Dort berichtete Nadeshiko von ihrem eigenartigen Fund.

„Dieses Schloss gilt als einer der sichersten Orte der Welt. Es ergibt keinen Sinn, dass der Korridor erst jetzt verboten worden ist – es sei denn … dieses Eis war bislang gar nicht da, weil aus einem Verwunschenen Verlies stammt! Wer weiß … vielleicht hat deine Anwesenheit es aktiviert; immerhin war deine Schwester die letzte Person, die es betreten hat.“, überlegte Ohtah.

Diese Möglichkeit hatte Nadeshiko noch gar nicht in Betracht gezogen … Jeder Magier verfügte über eine eigene Signatur, etwa wie ein magischer Unterton. Es wäre gut denkbar, dass sich die von Seiketsu und ihr ähnelten.

„Wir brauchen einfach viel mehr Informationen!“, grummelte sie in dem Wissen, beinahe die gesamte Bibliothek auf den Kopf gestellt zu haben.
 

Ihre Nachforschungen blieben allerdings weiterhin erfolglos und für die Verbotene Abteilung erhielten sie als Erstklässler keinen Zugang. Nadeshiko suchte noch einige Male mehr den Korridor auf, in dem sich das Verwunschene Eis erschreckender Weise stetig ausbreitete. Die Lehrer wirkten verändert … besorgt, doch verschwiegen sie den Schülern, was vor sich ging. Dafür mussten diese sich mit den Prüfungen herumschlagen. Dank Ohtah´s Nachhilfe bestand Nadeshiko sogar den Flugtest, fiel aber in Geschichte der Zauberei wie erwartet durch. In den restlichen Fächern hielten sich beide mittelmäßig bis gut. Der Notenschluss hatte einen schalen Nachgeschmack – die Sommerferien standen vor der Tür. Während sich die anderen auf ihr Zuhause freuten, wurden Ohtah´s Gedanken besonders trübsinnig. Er wusste, er konnte nicht fahren, ohne seiner besten Freundin endlich die Wahrheit zu gestehen … Die Familie Shadowdragon hatte sich bereits vor Jahrhunderten der schwarzen Magie verschrieben – allerdings gehörten sie nicht zur Gefolgschaft des Dunklen Lords. Sein Vater, Shiro Shadowdragon hätte niemals jemanden geduldet, der ihm Befehle erteilt hätte. Bei seiner Geburt war seine Mutter gestorben … doch ihr Anwesen wimmelte von Tanten, Onkeln, Cousinen, Cousins und so weiter. Ohtah war stets ein Außenseiter gewesen und hatte sich geweigert, die dunklen Rituale zu lernen. Und hier nach Hogwarts hatte es nur geschafft, weil er Professor McGonagell einen Brief geschickt und um die Aufnahme gebeten hatte … er hatte seinen Vater als überfürsorglich dargestellt, labil und ein wenig kritisch gegenüber dem Schulsystem – daher war bei ihnen ein sehr überzeugender Brief vor Beginn des Schuljahres angekommen, indem sie sogar einen persönlichen Besuch angeboten hatte. Natürlich wollte Shiro Shadowdragon nicht riskieren, dass ausgerechnet ein Mitglied des ehemaligen Ordens des Phönix vor seiner Haustür stand … und hatte seinem Sohn widerwillig die Zustimmung erteilt.

Nadeshiko hatte während seines gesamten Berichts geschwiegen. Sie ahnte, dass ihn dieselben Sorgen quälten, wie sie … als sie ihm zum ersten Mal von Seiketsu erzählt hatte. Und sie waren ebenso unbegründet.

„Du glaubst jetzt aber nicht ernsthaft, dass das irgendetwas ändert, oder? Ohtah, es ist mir vollkommen egal, was dein Vater ist – für mich zählt nur, wer du bist!“, entgegnete sie lächelnd und nahm seine Hand, „Du bist mein bester Freund … und deshalb musst du mir unbedingt schreiben! Shirayuki vertraut dir – sie wird auf deine Antwort warten, bevor sie zu mir zurückkehrt.“

Er war sprachlos. Ihm war zuvor bereits bewusst geworden, welches Glück ihm die Freundschaft mit Nadeshiko bescherte … Nun da er in die finstere Einsamkeit seiner Familie zurückkehren sollte, noch einmal umso mehr. Er konnte nicht anders, als sie fest zu umarmen. Damit endete Nadeshiko´s und Ohtah´s erstes Jahr in Hogwarts – doch ihr gemeinsames Abenteuer hatte noch gar nicht richtig begonnen …
 

Das Verlies von Eis und Schnee

Nadeshiko zählte die Tage bis zu ihrer Rückkehr zum Bahnhof King´s Cross. Neben dem ständigen Briefwechsel mit Ohtah, hatte sie sämtliche Schriftstücke von Seiketsu erneut durchforstet. Immer wieder las sie die aufmunternden Worte, die Beschreibungen des wundersamen Hogwarts und … der merkliche Hinweis, dass sie einem großen Geheimnis auf der Spur sei. Jedoch keinerlei Informationen über die Lage oder sonst irgendetwas über die Verwunschenen Verliese. Bislang hatte sie die magische Schatulle, in der Nadeshiko sie aufbewahrte, zu Hause in ihrem Zimmer verborgen gehalten … diesmal lag sie ganz unten in ihren Koffer. So hatte die Rothaarige das Gefühl ihre Schwester wäre bei ihr …

„Hey, Shiko!“, begrüßte sie eine ihr überaus vertraute Stimme am Bahngleis.

Nadeshiko räusperte sich verhalten und wies auf ihre Eltern: „Otosama, Okasan … darf ich euch Ohtah Shadowdragon vorstellen? Er ist mir in Hogwarts ein guter Freund geworden.“

„Deshalb habe ich Shirayuki in den Ferien so selten gesehen.“, sagte ihre Mutter lächelnd, „Danke, dass Sie meine Tochter unterstützen, Ohtah-san.“

Ihr Vater schwieg, neigte jedoch wenigstens leicht sein Haupt. Für den Moment genügte Nadeshiko diese Reaktion. Sie verabschiedete sich von ihnen und stieg mit Ohtah ein. Sie suchten sich wieder eines der unbeliebteren Abteile ganz hinten. Für ein paar Stunden war ihre Mission vergessen …

Jedenfalls bis Professor McGonegall die Schülerschaft erneut ermahnte: „Die Schulordnung ist strickt einzuhalten – vor allem der Wald und der verschlossene Korridor im zweiten Stock des Westturmes dürfen nicht betreten werden.“

Den Rest ihrer Rede ignorierte Nadeshiko so gut es ging, Ohtah dagegen verfolgte die anschließende Auswahl der neuen Erstklässler wie gebannt. Ein blonder Huffelpuff erregte seine Aufmerksamkeit; der Junge wirkte eingeschüchtert, beinahe fehl am Platz. Sein Tisch stand genau zwischen dem der Gryffindors und Slytherins. Als er sich setzte, bemerkte er die Musterung und mit einem zaghaften Lächeln auf dem Gesicht, winkte er. Ohtah jedoch sah zur Seite. Verwirrt hatte Nadeshiko das Schauspiel beobachtet …
 

Die Antwort darauf erhielt sie nach einigem Herumdrucksen in der Bibliothek: „Er … ist mein Halbbruder. Mein Vater hat seine Mutter früher manchmal … besucht. Zumindest hat er das so formuliert … Den Rest seiner Tirade erspare ich dir.“

Es war nicht das erste Mal, dass er Nadeshiko nicht die brutale Wahrheit an den Kopf schleuderte, sondern ihr nur in abgespeckter Form von seiner Familie berichtete. Nicht dass er an ihrer Loyalität zweifelte … er wollte sie nur vor der Grausamkeit seines Vaters beschützen.

„Weiß dein Bruder von dir? Wie heißt er eigentlich?“, wollte Nadeshiko interessiert wissen.

Ohtah zuckte leicht mit den Schultern, als er antwortete: „Klerus Monko. Ich weiß nicht so genau – wir haben uns nie vorher getroffen. Ich … habe vor ein paar Jahren einen Brief von seiner Mutter an meinen Vater … entgegen genommen und darin war ein Foto von ihm. Deshalb habe ich ihn erkannt.“

Wäre die Situation nicht so grotesk gewesen, hätte Nadeshiko über Ohtah´s Streich gegenüber seinem Vater gelacht – so meinte sie: „Dann musst du es ihm sagen!“

Der Braunhaarige starrte sie an, als wären sie von allen guten Patroni verlassen, und entgegnete leicht spöttisch: „Und ihm die Kunde über die Identität seines großartigen Vaters überbringen? Wer weiß, was ihm erzählt wurde … oder was er sich selbst zusammen gereimt hat. Soll diese Illusion wirklich zerstören?“

„Aber du bist doch nicht dein Vater!“, widersprach sie.

Natürlich hing ihre Hartnäckigkeit mit Seiketsu zusammen … Sie vermisste ihre Schwester an jedem einzelnen Tag und plötzlich hätte Ohtah die Chance, einen kleinen Bruder zu haben – sie konnte nicht nachvollziehen, wie er da zögerte.

„Ich … werde erst mal abwarten. Ihn beobachten – dann sehen wir weiter.“, entschied Ohtah.

Er kannte Nadeshiko inzwischen gut genug, um zu ahnen, dass sie es darauf nicht würde beruhen lassen … Außer sie stürzte sich auf etwas anderes.

„Wir müssen zurück in den Korridor.“, flüsterte der Braunhaarige, während er sich näher zu ihr herüberbeugte, „Am besten sofort.“

Nadeshiko wurde ernst, ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Den ganzen Sommer hatte sie sich Gedanken über das Verwunschene Eis gemacht. Natürlich wusste sie, dass Ohtah sie mit der Erwähnung von Klerus ablenken wollte … aber dennoch blieb es Realität – und so klappte Nadeshiko das Buch zu, welches auf magische Weise zurück an seinen Platz flog.

Um Unauffälligkeit bemüht liefen beiden Schüler fröhlich plaudernd durch das Schloss. Ihre Route beinhaltete einige Umwege – nicht zuletzt horchten sie kurz an der Tür zu Filch´s Büro, der drinnen wie üblich Mrs. Norris von seinen Plänen über mögliche Bestrafungen berichtete. Schließlich richtete Nadeshiko ihren Zauberstab auf das Schloss, ließ es magisch aufspringen und huschte hinein. Als sie ihren Lumos-Zauber wirkte, erschrak die Gryffindor – der halbe Gang war während der Sommerferien vom Verwunschenen Eis überwuchert worden. Draußen packte sie Ohtah´s Hand und rannte mit ihm hinaus zum Schwarzen See, wo sie ungestört waren.

„So kann das nicht weitergehen, Ohtah – wir müssen etwas unternehmen! Bevor noch jemand zu schaden kommt.“, schloss Nadeshiko ihren Bericht.

Er stimmte ihr zu, hatte jedoch auch Bedenken: „Aber wie sollen wir das anstellen? Wir müssten den Korridor noch genauer untersuchen können …“

Die Rothaarige schwieg, ihr Blick wanderte über den See. Das Schloss spiegelte sich darin.

Und mit einem Mal kam ihr ein Geistesblitz: „Ob verwunschen oder nicht – Eis kann gegen Feuer nicht bestehen!“

Ohtah blinzelte. Warum waren sie nicht eher darauf gekommen? Im Kopf ging er Band eins des Lehrbuchs der Zaubersprüche durch … keine Elementarzauber.

„Wieder in die Bibliothek?“, fragte Nadeshiko schon beinahe belustigt – wahrscheinlich hatte es in Hogwarts noch nie Schüler gegeben, die so viel Zeit dort verbrachten.
 

Die Wochen zogen dahin – aus September wurde Oktober, der Oktober wich November und ehe sie sich versahen, standen die ersten geschmückten Tannen in der Großen Halle. Wie bereits im vergangenen Jahr hatte sich Nadeshiko entschieden, über die Ferien bei Ohtah in der Schule zu bleiben – für Japaner war dies ohnehin kein Fest der Familie, sondern der Liebenden und von daher machte es weder ihr noch ihren Eltern etwas aus. Nur eine Handvoll anderer Schüler blieb ebenfalls. Alles wurde lockerer, eine einzige Tafel genügte und die beiden gönnten sich eine kleine Pause von ihrem heimlichen Training. Bei ihren Streifzügen durch den Schnee, flog Shirayuki über ihnen, fing vereinzelt Schneeflocken mit dem Schnabel. Als sie nach einem besonders langen Ausflug, der in einer heftigen Schneeballschlacht geendet hatte, durchgefroren ins Schloss zurückkehrten, hörten sie einen Tumult im Krankenflügel.

Die Tür stand offen und Professor McGonegall´s energische Stimme drang heraus: „Wie konnte es nur soweit kommen? Und wieso nur nach all diesen Jahren?“

„Wer weiß, Minerva … Hoffen wir nur, dass nicht noch mehr diesem Fluch zum Opfer fallen.“, antwortete Madame Poppy Pomfrey in ihrem französischen Akzent.

Nadeshiko und Ohtah starrten sich blass geworden an. Das Eis hatte jemand Schaden zugefügt … die Zeit lief ihnen davon! Anstatt also wie geplant eine Tasse heißen Kakao zu schlürfen, rannten sie wieder hinaus auf das Gelände zum See.

„Incendio!“, rief die Gryffindor und ein dünner Faden aus Flammen schlängelte sich daraus, der verpuffte, noch ehe er das Wasser berührte.

Fast eine Stunde lang versuchten sie sich an dem Zauber. Die Kälte zog ihnen immer tiefer in die Glieder. Dann legte Ohtah seine Hand auf Nadeshiko´s und schüttelte den Kopf. Obwohl sich Protest in ihr breit machte, wusste sie, dass er recht hatte … Für heute hatten sie ihre magischen Kräfte einfach zu erschöpft.
 

Das neue Jahr brachte weitere Schneefälle – Pflanzenkunde war für unbestimmte Zeit auf Theorie verlegt worden und die Schüler durften das Schloss nicht mehr verlassen, selbst Quidditch wurde ausgesetzt. So gab es für Nadeshiko und Ohtah keine Möglichkeit mehr, ungestört üben zu können; immerhin wollten sie nicht irgendetwas abfackeln. Doch kaum standen die Zwischenzeugnisse vor der Tür, gab es ein weiteres Opfer … Diese Schülerin hatte sich nicht wie jener in den Weihnachtsferien heimlich in den Korridor geschlichen, um dem Grund für das Verbot auf den Grund zu gehen – sie war im Westturm nur zufällig auf so etwas wie einen Splitter getreten und schon überzog das Eis ihren Körper. Natürlich waren Nadeshiko und Ohtah nicht wie angeordnet in ihren Gemeinschaftsräumen geblieben. Der Slytherin, der inzwischen fast sämtliche Geheimgänge auswendig kannte, führte sie zu einem Hohlraum in der Wandvertäfelung des Lehrerzimmers. Alle redeten wild durcheinander – die meisten besorgt, andere wütend.

„Das ist sicher wieder die Schuld von Yosogawa! Sie gehört der Schule verwiesen!“, empörte sich der Lehrer für Muggelkunde.

Nadeshiko schlug sich die Hände vor den Mund. Sie hatte es gewusst … die Blicke waren schon deutlich genug gewesen. Man machte ihre Schwester für die vergangenen Vorfällen verantwortlich, nun war sie an der Reihe.

„Nein.“, ergriff Professor McGonegall das Wort, die ganz ruhig sprach, „In Hogwarts gilt seit jeher >unschuldig, bis die Schuld bewiesen ist<. Dennoch ist die Gefahr aktuell zu groß … die Schüler müssen nach Hause, bis Hogwarts wieder ein sicherer Ort ist – am besten noch heute!“

Diese Nachricht schockierte noch mehr. Weder Nadeshiko noch Ohtah ahnten, dass Professor McGonegall schon einmal diese Entscheidung getroffen hatte … vor vielen Jahren, als ein Basilisk eine Schülerin in die gefürchtete Kammer des Schreckens entführte. Damals war ein tapferer Gryffindor aktiv geworden, um seine Freundin und die Schule zu retten.

„Überspringen wir also die Testphase …“, flüsterte die Rothaarige kaum hörbar, „Wir müssen sofort in das Verlies!“

Ohtah nickte grimmig. Im Schatten der Gänge schlichen sie in den zweiten Stock des westlichsten Turmes. Nadeshiko öffnete die Korridortür, verharrte jedoch davor. Das Verwunschene Eis war beinahe vollständig verschwunden – wahrscheinlich hatten die Lehrer es zurückgetrieben. Doch genau auf einen der winzigen Splitter trat der Slytherin, als er sich umsah. Zügig breitete es sich über seine Beine

„Lumos Maxima!“, beschwor die Rothaarige einen kraftvollen Lichtstrahl, der vor ihr in der Luft schwebte, „Beweg´ dich nicht, Ohtah … Incendio!“

Das Eis wich vor den Flammen zurück und Ohtah war wieder frei – wenn auch mit einer leicht angesenkten Hose. Nadeshiko setzte schon zu einer Entschuldigung an, aber er winkte ab. Sie hatte ihn gerettet! Und nun wussten sie immerhin, dass ihr Plan soweit schon mal funktionierte … Also wandten sie sich erneut der Spurensuche zu. Wie bei ihrem ersten Besuch gab es nichts außergewöhnliches zu entdecken. Durch ein einziges Buntglasfenster fiel etwas Zwielicht, eine Bank stand darunter. Da erinnerte sich Nadeshiko, dass das Verwunschene Eis sich zuerst an einer Stelle der Wand gesammelt hatte. Zögernd streckte sie den Arm aus, strich über den rauen Stein – er war bitter kalt, was innerhalb dieser Mauern allerdings überall der Fall gewesen wäre.

„>Nichts ist wie es scheint – vor allem in Hogwarts.<“, murmelte die Gryffindor plötzlich und hob wie hypnotisiert den Zauberstab, „Revelio!“

Ein donnerndes Krachen hallte durch die Räumlichkeit; eine Platte fuhr in den Boden, hinter der eine blass blaue Treppe zum Vorschein kam. Nadeshiko und Ohtah stockte der Atem, der kleine Wölkchen bildete. Entschlossen setzte der Braunhaarige einen Fuß auf die unterste Stufe … kein Eis griff auf ihn über.

Er machte noch einen Schritt und stieg beinahe ein gesamtes Geschoss hinauf, ehe er rief: „Alles in Ordnung – wenn man davon absieht, dass wir gerade ein Verwunschenes Verlies gefunden haben.“

Sie folgte ihm. Auf dem oberen Treppenabsatz erstarrte Nadeshiko. Ein gewaltiges Tor aus massivem Eis befand sich dort … der Eingang zum Verlies von Eis und Schnee! Sie tauschten einen Blick, bevor Ohtah den Feuer-Zauber sprach – die bläuliche Schneeflocke, die als Schloss fungiert hatte, schmolz in sich zusammen. In einem Geräusch wie Fingernägel, die über eine Tafel kratzten, schwangen die mächtigen Flügel auf. Ein mit Eiszapfen übersäter Ritter trat zwischen ihnen hervor, das eisige Schwert drohend erhoben. Zunächst jagten Nadeshiko und Ohtah ihm abwechselnd die verschiedensten Flüche auf den Hals, die sie bislang gelernt hatte – jeder einzelne prallte an der kalten Rüstung ab und er kam unaufhörlich näher. »Incendio« traf … doch aufzuhalten oder gar ihn zu besiegen schien er nicht.

Panisch umklammerte Nadeshiko den Arm ihres besten Freundes, der beruhigend erklärte: „Hab´ keine Angst, Shiko … Gemeinsam können wir es schaffen!“

Sofort fühlte sie sich stärker. Solange Ohtah bei ihr war, konnte ihr nichts geschehen – daran glaubte sie fest. Synchron sprachen die beiden Zweitklässler das Wort der Macht. Ihre rot züngelnden Flammen schossen auf den Ritter zu, er versuchte der Hitze zu widerstehen … Zuerst brach die Klinge, anschließend knickten seine Beine ein. Gerade als Nadeshiko dachte, ihre magische Energie gehe zur Neige, löste sich der Eisritter in einem nebligen Dunst auf. Im ersten Moment noch ungläubig, sprangen sie hoch und klatschen sich in einem euphorischen High Five ab.

Weiterhin auf Vorsicht bedacht, wollte Ohtah durch das Tor treten, doch die Gryffindor sagte: „Die Verwunschenen Verliese sind in erster Linie meine Bürde … Sei hat mir diese Aufgabe übertragen.“

Den Zauberstab erhoben trat sie durch das gefrorene Tor, hinter dem ein gleißendes Licht blendend aufleuchtete. Der Raum in Form eines Heptagon barg kaum noch Verwunschenes Eis … vielmehr schien er aus Glas zu bestehen. Und keine Spur von Seiketsu … Dafür zog eine verzierte Säule im Zentrum Nadeshiko beinahe magisch an – sie tippte mit dem Zauberstab dagegen. Die Hülle glitt herab und darin befand sich nichts weiter, als ein zusammengefaltetes Stück Pergament. Neugierig griff die Rothaarige danach, klappte es auseinander. Darauf war fein säuberlich ein Drache gezeichnet.

„Was soll das denn?“, fragte Ohtah, der sich über ihre Schulter beugte.

Nadeshiko kam nicht mehr zum Antworten – das Leuchten an den Wänden erlosch, das Gestein erzitterte und die Flügeltüren begannen sich zu schließen.

„Sofort raus hier!“, schrie Nadeshiko.

In dieser Angelegenheit ließ sich der Slytherin nicht zweimal bitten – er packte ihre Hand und rannte hinaus, die Stufen hinunter, zurück in den verbotenen Korridor. Schnaufend kamen Die beiden dort zum Stehen.

Bevor sie sich allerdings darüber freuen konnten, erklang eine schneidende Stimme: „Was tun Sie denn hier, Miss Yosogawa und Mister Shadowdragon?“

Professor Minerva McGonegall, Professor Fillius Flitwick, Professor Horace Slughorn sowie Professor Ramon Rien starrten sie entsetzt an.

Nadeshiko wurde blass, während Ohtah stammelte: „Wir … Also … Der Fluch … Wir haben ihn gebrochen.“

„In mein Büro!“, wetterte die Hauslehrerin der Gryffindors.

Dort angelangt berichtete Nadeshiko allen Anwesenden, wie ihr bereits letztes Jahr durch das Verbot der Gedanke gekommen war, das Verwunschene Verlies würde sich in besagtem, zweiten Stock befinden und dass sie auf Feuer als Gegenkraft zum Eis gekommen waren. Den Kampf gegen den Eisritter schmälerte sie etwas ab.

„Haben Sie Kontakt zu Ihrer Schwester?“, wollte der Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste wissen.

Sie schüttelte den Kopf, ihre Augen wurden feucht. Eineinhalb Jahre hatte sie gehofft, das Lösen dieses Rätsels würde sie Seiketsu näher bringen … stattdessen stand ihr und noch viel schlimmer Ohtah nun vermutlich der Rauswurf aus Hogwarts bevor. Die Direktorin schwieg, ihr Blick ruhte unverwandt auf den beiden Schülern. Man konnte ihr ansehen, dass sie angestrengt nachdachte.

Irgendwann wandte sie sich an den Meister der Zaubertränke: „Mister Shadowdragon ist in Ihrem Haus, Horace … Was halten Sie von einhundert Hauspunkten pro Person und besondere Auszeichnungen für Verdienste um das Wohl der Schule?“

Es war schwer zu sagen, wer verblüffter drein schaute – Nadeshiko, Ohtah oder gar Professor Slughorn, der beinahe zaghaft nickte.

„Wunderbar – also einhundert Punkte für Gryffindor und Slytherin.“, bestätigte sie, bevor ihr Tonfall ernster wurde, „Sie waren sehr leichtsinnig … dennoch komme ich nicht umhin zuzugeben, dass Sie etwas geschafft haben, was die Lehrer nicht vermochten, aber dass mir das nicht noch einmal vorkommt. Und jetzt schleunigst in Ihre Gemeinschaftsräume!“

Immer noch perplex erhoben sich die beiden, verließen das Büro. Um die überraschende Mildtätigkeit von Professor McGonegall folgten sie ihrer Anweisung. Ohtah begleitete Nadeshiko bis zum Porträt der Fetten Dame, die den Zugang zum Gryffindor-Turm bewachte.

„Ist … alles in Ordnung, Shiko? Wir haben zwar keinen Ärger bekommen, aber … über Seiketsu haben wir auch nichts neues erfahren.“, meinte Ohtah besorgt.

Ein trauriges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie entgegnete: „Diese Zeichnung … zeigt Seiketsu´s größte Angst. Und das hat irgendetwas mit dem nächsten Verlies zu tun.“

Innerhalb eines Sekundenbruchteils zog er sie in seine Arme, endlich brachen die zurückgehaltenen Tränen aus ihr heraus.

„Wir finden sie …“, versprach er, während seine Hand beruhigend über ihr Haar streichelte.
 

Ein paar Tage später, während sie in der Bibliothek gerade für ihre Prüfungen den Stoff aus Zauberkunst wiederholten, kam Ohtah plötzlich ein Gedanke: „Wie bist du eigentlich auf >Revelio< gekommen?“

Nadeshiko stockte in ihrer Arbeit und erklärte lächelnd: „Mir ist eingefallen, was Seiketsu in ihrem letzten Brief geschrieben hat. Es ist fast ein wenig albern … seit jenem Tag trage ich ihn und das Stück Pergament ständig mit mir herum.“

Da ihr Ohtah´s interessierte Miene auffiel, zog sie das Papier aus der Innentasche ihres Umhangs und reichte es ihm.

In säuberlicher Handschrift stand darauf: „>Meine geliebte Shiko, ich weiß, es wird noch einige Jahre dauern, bis du mich verstehen wirst … Aber ich weiß nicht, ob ich dir diese Worte dann noch persönlich sagen kann. Nichts ist, wie es scheint – vor allem in Hogwarts! Vergiss´ das niemals … und verzeih´ mir. In Liebe, Sei<“

„Es ist, als hätte sie gewusst, was mit ihr passieren würde … und dass ich nach ihr suchen würde.“, murmelte die Gryffindor etwas nachdenklich.

Der Slytherin dagegen blieb stumm, las die Zeilen erneut. Dieser eine Satz, der Nadeshiko auf die zündende Idee gebracht hatte, beschäftige ihn.

„>Nichts< …“, wiederholte er und zückte seinen Zauberstab, „Revelio!“

Ihr entsetzter Blick wanderte von Ohtah zu dem Brief, der sich langsam ausdehnte und schließlich als ledernes Notizbuch zwischen ihnen lag. Noch vollkommen sprachlos schlug Nadeshiko es auf.

Nach einer kurzen Widmung »Für das Wohl der Zaubererschaft und die Zukunft meiner kleinen Schwester« kam der erste Eintrag: „>Meine geliebte Shiko, wenn du mein Notizbuch in Händen hältst, hast du bereits mindestens ein Verwunschenes Verlies überwunden. Ich schreibe dies für den Fall, dass mein Unterfangen scheitert – dann wirst du es sein, die es zu Ende bringt! Ich weiß nicht, wie viele genau es von ihnen gibt … drei, vier, fünf oder sogar noch mehr? Im letzten von ihnen soll sich etwas unglaubliches befinden, das die Zaubererwelt auf den Kopf stellen könnte, wenn es in die falschen Hände geraten würde. Die Welt hat genug schwarze Magier gesehen – was auch immer die Verwunschenen Verliese verbergen, es muss unbedingt beschützt werden! Du fragst dich jetzt sicher, warum ich mich überhaupt danach auf die Suche mache, wo sie doch Jahrhunderte geheim gehalten worden waren … und ich frage dich, warst du denn für das erneute Ausbrechen des Fluches verantwortlich? Nein … genauso wenig wie ich. Aber irgendjemand sucht nach den Verliesen. Wann immer ihnen jemand auf die Spur kommt, bricht ein Fluch aus, um denjenigen aufzuhalten. Verzage nicht, Shiko – in dir brennt ein Feuer, mit dem du jedes Hindernis überwinden kannst! Ich liebe dich, kleine Schwester. Deine Sei<“

Nadeshiko´s Kehle war wie ausgetrocknet. Dies war der Hinweis, nachdem sie gesucht hatte … natürlich hatte sie niemals an der Unschuld ihrer Schwester gezweifelt – es war kein eigennütziges Handeln gewesen. Mit zittrigen Fingern blätterte sie weiter.

Der folgende Abschnitt lautete: „>Das nächste Verlies versetzte mich in Angst und Schrecken … Du bist sicher eine Gryffindor geworden, nicht wahr? Doch du wirst mehr als nur ein wenig Mut brauchen … das Wissen, das ich als Ravenclaw schätze, ist ebenso nützlich.<“

„Ist das alles?“, entfuhr es dem Braunhaarigen, woraufhin Nadeshiko den Kopf schüttelte – alles schien rätselhaft formuliert, aber etwas mehr hatte Seiketsu ihnen dennoch hinterlassen.

Sie zog den zweiten Zettel aus ihrem Umhang, legte es daneben und flüsterte: „Danke, Schwesterherz … jetzt wissen wir wenigstens, was uns erwartet.“
 

Nach dem Frühstück des letzten Schultages wartete Ohtah wie üblich vor der Großen Halle auf Nadeshiko. Alle Zweitklässler hatten keinen Unterricht mehr – dafür Berufsberatung bei den Hauslehrern, um sich für passende Wahlpflichtfächer zu entscheiden – obwohl Nadeshiko ihre Ängste großteils abgelegt hatte, würde aus ihr nie eine große Besenfliegerin werden und sie war erleichtert, den Flugunterricht überstanden zu haben.

„Was wirst du Slughorn nachher erzählen?“, wollte die Gryffindor interessiert wissen.

Der Braunhaarige seufzte: „Meine Zukunftsplanung geht genauso weit wie deine – die Verliese stehen an erster Stelle. Und danach? Wer weiß, wohin es uns verschlägt.“

Nadeshiko blieb unvermittelt stehen und sagte: „Ohtah … du bist mein bester Freund und ohne dich wäre ich mehr als aufgeschmissen – trotzdem hast du immer noch ein eigenes Leben! Was ist mit deinen Träumen? Es reicht schon, dass du es abgelehnt hast, Teil des Quidditch-Teams zu werden.“

Denn genauso war es gewesen – ungefähr zum Halbjahr hatte Nadeshiko zufällig mitgehört, wie Ohtah angesprochen worden war … doch er hatte den Kapitän der Slytherins rigoros vor den Kopf gestoßen.

„Und mein Schwur?“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Ihre Stimme klang belegt, als sie gequält erwiderte: „Endet spätestens nach dem letzten Verlies …“

Ohtah stand mit dem Rücken zu ihr, sodass sie den wütenden Gesichtsausdruck nicht hatte sehen können. Ohne ein weiteres Wort marschierte er in Richtung der Kerker davon, zu seinem Gemeinschaftsraum. Vollkommen perplex schaute die Rothaarige ihm nach. So konnte er auch sein, unglaublich bockig, verschlossen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ebenfalls den Gemeinschaftsraum aufzusuchen – ihrer lag bekanntlich im höchsten Turm des Westflügels – und auf das Gespräch zu warten. Dabei ahnte die schöne Rothaarige gar nicht, was in ihm vorgegangen war … Sie hatte es nicht begriffen. Sein eigenes Leben, wie sie es so schön genannt hatte, ergab erst Sinn, seit er ihr begegnet war – wenn Ohtah mit Nadeshiko zusammen war, sah er sich nicht als Spross einer schwarz-magischen Familie … nicht als Schwächling oder nutzlos, was sein Vater ihm ja so gern vorwarf, wenn er mal wieder ein uraltes Ritual absichtlich ruinierte oder er sich weigerte irgendwelche dunklen Zauber auswendig zu lernen. Sie allein ließ ihn die Narben auf seinem Rücken vergessen, von denen er ihr vielleicht eines Tages erzählen würde … Solange würde er die Zeit mit ihr in Hogwarts vollkommen genießen, egal welche Schwierigkeiten die beiden schulisch und in Sachen Verliese auch erwarten möge! Wie sollte er sich da eine Zeit danach vorstellen?

Am frühen Nachmittag suchte Nadeshiko schließlich das Klassenzimmer von Verwandlung auf, nachdem sie einige Stunden ihren trüben Gedanken nachgehangen und sich über sich selbst geärgert hatte. Allerdings zog die Tatsache, dass jemand anderes als ihre Hauslehrerin sie erwartete, ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich.

Verwundert fragte Nadeshiko: „Äh … Professor Rien? Wo ist Professor McGonegall?“

„Ich habe Minerva gebeten, in Ihrem Fall dieses Gespräch übernehmen zu dürfen. Bitte setzen Sie sich, Miss Yosogawa, und erzählen mir, was Ihnen so durch den Kopf geht.“, meinte der Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste mit einem herzlichen Lächeln.

Sie tat wie ihr geheißen und sagte: „Ich … Um ehrlich zu sein, habe ich mir noch nicht allzu viele Gedanken über meine Zeit nach Hogwarts gemacht. Wissen Sie, mein Vater arbeitet für das japanisch-magische Konsulat … aber ich denke nicht, dass ein Bürojob etwas für mich wäre.“

„Damit können wir doch schon einmal arbeiten. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten – haben Sie gehört, wie manche Schüler Sie nennen?“, antwortete Professor Rien und redete einfach weiter, ohne ihre Antwort abzuwarten, „>Fluchbrecher< … Das ist allerdings nicht nur einfach eine Bezeichnung für das, was Sie getan haben – es ist ein äußerst angesehener Beruf. Nur hochqualifizierte Hexen und Zauberer bestehen die fünfjährige Ausbildung bei Gringotts und erhalten im Anschluss daran dort eine Anstellung – oder Sie arbeiten, wie ich einst, freiberuflich. Wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen ein wenig mehr darüber berichten – falls dies denn für Sie als Beruf in Frage käme.“

Die Gryffindor dachte über diese Aussicht nach. Im Grunde war die Suche nach dem Verlies nicht nur irgendeine Plackerei, eine Bürde für sie gewesen – es hatte ihr auch Spaß gemacht, das Geheimnis zu lüften. Also nickte sie und lauschte seinen Ausführungen. Als Nadeshiko über eine Stunde später den Raum verließ, hatte sie sich entschieden; sollte sie entgegen aller Vermutungen Hogwarts nicht mit einem Rauswurf, sondern einem Zeugnis verlassen, würde sie ein professioneller Fluchbrecher werden! Professor Rien nach waren Arithmantik und Alte Runen damit auf jeden Fall Pflicht bei der Entscheidung ihrer neuen Fächer; Pflege magischer Geschöpfe könnte ebenfalls nützlich sein, sollte sie zum Beispiel auf ein zur Bewachung abgerichtetes Tierwesen stoßen. Diese Gedanken begleiteten sie noch während sie in den Gryffindor-Turm zurückkehrte, um ihre Sachen für die Abreise zu packen. Dann musste die junge Hexe schon wieder zum Abendessen hinunter in die Große Halle, wo Professor McGonegall wenig später ihre Abschlussrede hielt. Und zum zweiten Mal in Folge wehten die Löwenbanner zum Zeichen, dass ihr Haus den diesjährigen Hauspokal gewonnen hatte. Kein Wunder – bei der Punktzahl, die Nadeshiko durch das Brechen des Fluches erhalten hatte; Slytherin lag ganz knapp natürlich auf Platz zwei, da Ohtah dieselbe Belohnung erhalten hatte. Apropos Ohtah – er fehlte das komplette Bankett über. Nadeshiko machte sich Sorgen, doch wen sollte sie nach seinem Verbleib fragen? Von seinem Haus stand er niemandem nahe … Professor Slughorn saß ebenfalls nicht an seinem Platz. Ob sie noch in ihr Gespräch vertieft waren?

Erst am nächsten Tag auf der Heimfahrt sollte sie erfahren, dass Ohtah an einem privaten Abendessen des Meisters der Zaubertränke teilgenommen hatte, die er gelegentlich für ein paar ausgewählte Schüler veranstaltete. Spontan bei der Berufsberatung hatte er ihn eingeladen, noch dazu zu stoßen.

„Ich habe mir Sorgen gemacht …“, gestand die Gryffindor.

Er zog kurz eine Augenbraue hoch und meinte: „Ach, ich hatte eher das Gefühl, als wolltest du mich loswerden.“

Sie biss sich auf die Unterlippe, ehe sie antwortete: „Das stimmt so nicht … Sei ist meine Schwester und ich muss alles riskieren, um sie zu retten – du dagegen hast eine Wahl.“

„Und ich habe sie bereita vor zwei Jahren am ersten September getroffen.“, entgegnete er etwas milder gestimmt, „Erzähl´, was hast du zusammen mit Professor McGonegall für die Zukunft ausgetüftelt?“

Das Lächeln kehrte in ihre Züge zurück, während sie von dem Gespräch berichtete.

„Du bist ja nicht gerade freiwillig zum Fluchbrecher geworden …“, entgegnete Ohtah leise.

Im Stillen dankte sie ihm, dann sagte sie: „Weißt du, ich halte es nicht nur für einen Spitznamen … ich glaube, diese Arbeit würde mir nach Professor Rien´s Ausführungen echt liegen. Durch die Verliese besitze ich ja eine gewisse Vorerfahrung. Natürlich, sähe die Lage anders aus, wäre ich vermutlich nicht darauf gekommen. Jetzt bist du dran!“

„Na ja, es war ja schon von vornherein klar, dass ich unter keinen Umständen das Erbe meiner Familie antreten werde … das kann mein Vater echt vergessen, nie und nimmer werde ich wie er sein – sobald wie möglich bin ich eh weg von da! Manchmal hasse ich es sogar, hier ständig mit diesem Namen angesprochen zu werden, der uns verbindet …“, grummelte der Braunhaarige völlig vom Thema abgekommen.

Sie zog ihn näher an sich und meinte: „In Japan gilt der Drache als heilig – er steht für Glück, Reichtum, Intelligenz, Güte und repräsentiert unter den vier Elementen das Wasser … Deine Familie ist diesem Namen nicht würdig, anders als du – du wirst ihm Ehre machen!“

Ohtah löste die Umarmung nicht, damit sie seine Tränen nicht sehen konnte. Dass sie sein wild klopfendes Herz bemerkte, konnte er dagegen nicht verhindern …
 

Irrwichte und andere Schreckgespenster

Je tiefer ihre Freundschaft im vergangen Jahr geworden war, desto trostloser machte es die Zeit ohne Ohtah. Zwar hatte er beinahe täglich Briefe geschrieben … Doch kaum, dass Nadeshiko ihn auf dem Bahngleis erspäht hatte, war sie auf ihn zugerannt, um ihn zu umarmen. Vielleicht hätte die hübsche Rothaarige sich das nicht getraut, wenn ihr Vater dabei gewesen wäre, doch er war geschäftlich verreist. Ihre Mutter störte sich nicht daran – sie kannte ihre Tochter einfach zu gut und wusste, dass der junge Mann einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen ausfüllte.

„Ich wünsche euch ein tolles Schuljahr!“, sagte sie zum Abschied mit einem Lächeln, „Pass´ bitte gut auf Shiko auf, Ohtah-san. Lass´ sie nicht allein nach Hogsmeade gehen, ja? Ich habe es nur unter dieser Bedingung erlaubt.“

Ohne auf Nadeshiko´s schockierten Blick zu achten, bestätigte er: „Natürlich, Misses Yosogawa, Sie können sich auf mich verlassen!“

Um keine weitere Peinlichkeit ertragen zu müssen, schnappte Nadeshiko sich ihren Gepäckwagen und winkte zum Abschied. Ohtah folgte ihr, ein Grinsen auf den Lippen. Wenig später war alles verstaut, das Abteil gefunden und die Lokomotive setzte sich dampfend in Bewegung.
 

Die ersten zwei Monate vergingen ohne irgendwelche Zwischenfälle – besonders die neuen Fächer fesselten ihre Aufmerksamkeit; jedenfalls von Ohtah´s Muggelkunde abgesehen … Er hatte es gewählt, falls er sich als Auror eines Tages inkognito unter Menschen mischen musste – denn auf diesen Beruf waren er und Professor Slughorn während ihres ausführlichen Gesprächs gekommen; natürlich hätte auch für ihn Fluchbrecher nahegelegen, allerdings wollte der Braunhaarige lieber schwarze Magier und Hexen zur Strecke bringen … allen voran seinen Vater. Nadeshiko dagegen war von Arthimantik und Alte Runen unglaublich begeistert, obwohl es gleichzeitig sehr schwierig war. Und Pflege magischer Geschöpfe bei Rubeus Hagrid, der ja zudem noch den Posten des Wildhüters auf den Ländereien inne hatte, faszinierte absolut – wobei manche Kreaturen, die er ihnen in der ersten Stunde vorgestellt hatte, eher fragwürdig wirkten. Während einer Stunde Kräuterkunde, in der sie in Kleingruppen das überwucherte Gewächshaus auf Vordermann bringen sollten, hallte ein Schrei durch das gläserne Klassenzimmer. Professor Pomona Sprout eilte zu der Gryffindor, die geschockt auf eine gigantische Schlange starrte, die sich aus einem Erdhügel heraus schlängelte.

„Der Unterricht ist beendet – gehen Sie sofort in ihre Gemeinschaftsräume!“, befahl die Hauslehrerin von Hufflepuff harsch.

Sofort ließen die Schüler ihre Utensilien fallen, packten in Hast noch ihre Schultaschen und rannten dann hinaus. Auf dem Rückweg zum Schloss redeten alle wild durcheinander – woher die Schlange gekommen war, ob es noch mehr von ihnen gäbe und so weiter.

Doch all ihre Sorgen wurden bereits zu Beginn der nächsten Stunde von Professor Rien beschwichtigt: „Ich habe gehört, sie haben ein … erschreckendes Erlebnis hinter sich. Nun, ich kann sie auf gewisse Weise beruhigen – es handelte sich nicht um eine echte Schlange, sondern um einen Irrwicht. Kann mir jemand sagen, was das ist?“

Eine Ravenclaw meldete sich: „Ein dunkel-magisches Geschöpf, das die Gestalt dessen annimmt, wovor man sich am meisten fürchtet.“

„Sehr gut, zehn Punkte.“, bestätigte er, „Niemand weiß, wie die wahre Gestalt eines Irrwichts aussieht – aber Sie werden schon sehr bald herausfinden, wie er für jeden von Ihnen aussehen wird. Es gibt jedoch einen Zauber, mit dem er sich vertreiben lässt … Das >Riddikulus< allein genügt jedoch nicht; Sie müssen ihm eine Form aufzwingen, über die Sie von Herzen lachen können. Schön, schön … stellen Sie sich bitte in einer Reihe auf und kommen Sie nacheinander mit erhobenem Zauberstab in mein Büro.“

Ramon Rien ging mit dem ersten Schüler voraus und befreite den Irrwicht aus einem alten Holzschrank. Er benötigte mehrere Versuche, bevor sein Zauber anschlug. Anschließend ging er hinaus und der nächste trat ein. So ging es weiter, bis Ohtah schließlich das Büro betrat. In seinem Kopf erschien zunächst ein Bild seines Vaters, wütend und grausam … dann musste der Braunhaarige allerdings an jemand anderen denken. Keine Sekunde später lag ein Mädchen vor ihm auf dem Boden – die Augen starr, das rote Haar mit Blut verklebt … Er wusste, dass sie tot war, weil er sie nicht beschützt hatte. Sein Blick verschleierte von aufsteigenden Tränen.

„Konzentrieren Sie sich, Mister Shadowdragon, das ist nur eine Illusion!“, hörte er die Stimme seines Lehrers wie aus weiter Ferne.

„Riddikulus!“, schrie Ohtah, einen schmerzlichen Unterton in der Stimme, und verwandelte den Irrwicht in tanzende Feuerbälle.

Kein Lachen kam ihm über die Lippen, aber Professor Rien nickte trotzdem, da er die Freude auf seinen Zügen erkannt hatte. Erleichtert wandte sich Ohtah zum Gehen – obwohl er gesehen hatte, wie sich der Irrwicht gewandelt hatte, musste er sich versichern, dass es ihr gut ging. Doch Nadeshiko, die eigentlich direkt hinter ihm gestanden hatte, war verschwunden … Erst beim Klingeln zum Ende der Stunde tauchte sie wieder auf, marschierte stur an ihren Mitschülern vorbei und wartete darauf, dass Professor Rien aus seinem Büro kam.

Ihre Augen klebten auf dem Boden, während sie kleinlaut sagte: „Ich … Es tut mir leid. Ich konnte es nicht ertragen, sie zu sehen … also das, was der Irrwicht mir zeigen würde.“

„Ich mache Ihnen keine Vorwürfe … Die eigene Angst zu überwinden, ist keine leichte Aufgabe. Lassen Sie sich etwas Zeit.“, antwortete er milde, „Wissen Sie, manchmal vergessen Erwachsene – besonders Zauberer – was es bedeutet, in Ihrem Alter zu sein und dennoch schon ein solch schweres Schicksal zu tragen. Wenn Sie jemanden brauchen, dem Sie sich … anvertrauen möchten, ich bin jederzeit für Sie da, Miss Yosogawa.“

Gerührt über sein Verständnis bedankte sich Nadeshiko, ehe sie zu Ohtah eilte. Der Slytherin wirkte erleichtert und zu ihrer Verwunderung schloss er sie wortlos in die Arme – nicht dass er sie nicht des Öfteren umarmte, nur das feuchte Glitzern in seinen Augen hatte sie kalt erwischt.
 

Von diesem Tag an begegneten auffallend vielen Schülern an den ungewöhnlichsten Orte irgendwelchen Schreckgespenstern, obwohl Irrwichte verborgene, dunkle Plätze schätzten und nicht hell erleuchtete Flure oder belebte Klassenzimmer. Nach dem mindestens zehnten Zwischenfall schlug sich Nadeshiko anklagend an die Stirn und ließ ihr Astronomiebuch dabei fallen – sie hatten in der Bibliothek gerade an ihren Hausaufgaben gearbeitet.

„Was ist los, Shiko? Sinistra´s eigentümliche Aufgaben sind doch nichts neues.“, meinte Ohtah, bei dem der Groschen offenbar noch nicht gefallen war.

Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern: „Das ist der nächste Fluch! All diese merkwürdigen Irrwichte, das ist nicht mehr normal – nicht einmal für Hogwarts. Erinnere dich, was Seiketsu geschrieben hat … >Angst und Schrecken<!“

Nun dämmerte es auch dem Braunhaarigen … und er klatschte sich mit der Hand ebenfalls gegen die Stirn: „Du hast recht – das bedeutet, wir sind in Level zwei. Schon irgendwelche Vermutungen, wo es sich befinden könnte?“

Dies war natürlich eine rhetorische Frage gewesen. Beide dachten seit Ende des letzten Schuljahres darüber nach … Noch konnten sie mit Seiketsu´s Hinweis nichts anfangen. Vergessen war der Aufsatz über die Monde des Merkur – sie sammelten mehrere Bücher über Begegnungen mit Irrwichten ein, sogar ein Buch über die Gewächshäuser, wo der erste von ihnen aufgetaucht war.
 

Nachdem Nadeshiko und Ohtah am folgenden Montag von Professor Sinistra und Professor Binns Rüge samt Strafarbeiten aufbekommen hatten, weil sie ihre Abgabetermine nicht eingehalten hatten, mussten sie ihre Recherchen auf außerhalb ihrer schulischen Verpflichtungen verschieben; es war ja ein Wunder, dass sie nicht vom Astronomieturm hängen mussten. Währenddessen trafen immer mehr auf ihre schlimmsten Alpträume … und jeden Abend brütete die Gryffindor über dem Eintrag im Notizbuch. Es war merkwürdig, es enthielt sonst nur Informationen über das Verlies von Schnee und Eis sowie über das aktuelle der Angst. Hatte Seiketsu es etwa so verzaubert, dass es erst nach dem Brechen des nächsten Fluches weitere Seiten füllen würde? So sehr es Nadeshiko auch beschäftigte, diesmal klammerte sie sich jedoch an ein anderes Schriftstück, welches bei ihrer Rückkehr in den Schlafsaal auf ihrem Bett gelegen hatte. Shirayuki´s vorwurfsvoller Miene nach zu urteilen, hatte sie es nicht überbracht und einzig ihr Stolz hielt die wunderschöne Schleiereule wohl davon ab, es nicht zu zerfetzen.

Wer auch immer ihr den Brief hatte zukommen lassen, wollte Nadeshiko anscheinend einschüchtern: „>Miss Yosogawa, Ihre Suche wird zusehends schwieriger, nicht wahr? Angst ist nicht greifbar … und genau deshalb sollten Sie sich in Acht nehmen. Stellen Sie sich selbst die Frage, ob Sie bereit dafür sind, was kommen möge! Und was es für alle Beteiligten bedeutet, wenn sie es nicht sind …<“

Nein, bereit war sie nun wirklich nicht – sie hatte es als einzige in ihrem Jahrgang nicht geschafft, ihrem Irrwicht gegenüberzutreten. Diese grauenhafte Vorstellung verfolgte sie dafür bis in ihre Träume … Niemals könnte sich Nadeshiko verzeihen, wenn sie Wirklichkeit werden würde.

Da sich außer ihr noch niemand in den Schlafsaal zurückgezogen hatte, wagte sie es ihre Gedanken mit Shirayuki zu teilen: „Sei … ist schon so lange verschollen. Würde sie mir Vorwürfe machen, weil ich es noch nicht geschafft habe, sie zu retten? Vielleicht ist sie enttäuscht von mir …“

Aufmunternd knabberte das weiß gefiederte Geschöpf an ihrer Hand, die noch immer das Pergament hielt. Mit einem knappen Lächeln dankte Nadeshiko es ihr. Und richtete ihre Gedanken wieder auf die Frage nach dem Urheber …

Als sie erfolglos nach dieser beinahe durchwachten Nacht vollkommen ermattet zum Frühstück geschlurft kam, erhob sich Argo und sagte strahlend: „Hallo, schöne Frau.“

Stirnrunzelnd betrachtete sie den Becher mit Kürbissaft, den er ihr entgegen hielt. Inzwischen war sie seine Annäherungen ja gewohnt, doch etwas an seinem Blick ließ sie innehalten … Dann schüttete die Nadeshiko den Inhalt dennoch die Kehle hinab.

Ein süßlicher Nachgeschmack lag auf ihrer Zunge, während sie säuselte: „Argo … ich muss dir etwas gestehen … Kein Liebestrank der Welt wird mich jemals die Gefühle in meinem Herzen vergessen lassen. Gib´ es endlich auf!“

Sie gab dem geplätteten Argo das Gefäß zurück und setzte sich an den Tisch. Unwillkürlich wanderten ihre Augen zum Tisch der Slytherins, was ihrem ungebetenen Verehrer nicht entging … Ohtah begegnete ihrem Blick mit leicht hochgezogenen Augenbrauen – ihm schmeckte Argo´s Interesse genauso wenig, wie Nadeshiko darauf eingehen wollte. Dennoch mussten sie sich dringend in ihrer Ecke der Bibliothek treffen. Nadeshiko hatte ihm einiges zu berichten …
 

Allerdings sollten es zwei weitere Tage dauern, bis Nadeshiko und Ohtah endlich Zeit hatten, um ungestört miteinander sprechen zu können. Nämlich während ihres ersten Ausflugs nach Hogsmeade, dem kleinen Zaubererdorf, welches zum einen den Bahnhof des Hogwarts-Expresses beherbergte sowie als einziger Ort im ganzen Vereinigten Königreich ausschließlich von magischen Familien bewohnt wurde. Neben den Läden, die denselben offenherzigen Charme versprühten wie jene in der Winkelgasse, war besonders das Gasthaus »Die Drei Besen« berüchtigt, nicht zuletzt für sein ausgezeichnetes Butterbier. In diesem lauten und sehr vollen Rahmen erzählte die Hexe ihrem besten Freund von dem mysteriösen Brief.

„Ich finde, es klingt ein wenig nach einer Drohung.“, meinte der Slytherin nachdenklich.

Nadeshiko stimmte ihm im Stillen zu. Irgendjemand hatte schon zu Seiketsu´s Zeiten von den Verliesen gewusst … Doch warum fiel den Lehrern nur ihre Detektivarbeit auf?

Fluchend raufte sich der Slytherin die Haare: „Schon klar, warum sie in ihrem Buch keinen Lageplan hinterlassen hat … trotzdem hätte Seiketsu-“

„Oh, Ihr sprecht von Seiketsu Yosogawa, nicht wahr?“, fragte Madame Rosmerta, die Wirtin, welche gerade ihre Bestellung an den Tisch brachte, „Ich erinnere mich gut an sie … einsames, kleines Ding. War häufig ganz allein unterwegs und wurde von anderen Schülern böse beschimpft, trotzdem hatte sie immer ein Lächeln im Gesicht. Sie interessierte sich für alle möglichen Legenden rund um Hogwarts und das Dorf, keine Geschichte war ihr zu schaurig oder gar langweilig und jedes Mal, wenn ich sie gesehen habe, hat sie in ein kleines Büchlein geschrieben. Da fällt mir ein, dass sie einmal irgendwas von Irrwichten in der Bibliothek gefaselt hat … Ihr habt in der Schule gerade sehr viele, nicht wahr?“

Fast hätte sich die Gryffindor an ihrem Getränk verschluckt, was Madame Rosmerta aus ihrem Monolog riss: „Ach, ich wollte Euch nicht langweilen – entschuldigt mich, die anderen Gäste warten.“

Damit schlenderte sie davon.

„Meinst du, der Zugang befindet sich dort?“, sprach Ohtah leise ihren Gedanken aus.

Nadeshiko zog das Notizbuch aus der Falte ihres Umhangs und las den zweiten Eintrag über das Verlies der Angst vor: „>Bücher über Bücher, doch nur eines führt zum Ziel – verzage nicht, Shiko, fürchte dich nicht. Es gibt einen Zauber, der dich leiten kann …<“
 

Aus den Wochen wurden Monate, das Weihnachtsfest ging und das neue Jahr kam – der Erfolg blieb allerdings aus. Nicht immer konnten sie einfach Regal für Regal die Bibliothek durchforsten, andere Schüler und vor allem Madame Pince waren ihnen dabei sehr im Weg. Schlussendlich schmolz im März bereits der letzte Schnee, als sich die beiden zu ihrem kleinen »Kriegsrat« trafen.

„Es gibt nur einen Teil, den wir noch nicht durchforstet haben … weil wir es nicht dürfen. Wenn sich der Zugang zum Verlies der Angst wirklich in der Bibliothek befindet, dann in der Verbotenen Abteilung!“, meinte Nadeshiko entschieden, „Aber da wir noch keine UTZ-Schüler sind, wird uns kein Lehrer die Erlaubnis ausstellen … Wir bräuchten ein Ablenkungsmanöver für Madame Pince.“

Ohtah schwieg einen Moment, ehe er entgegnete: „Wie sollen wir das anstellen? Wir können nicht beides gleichzeitig machen – und ich werde dich garantiert nicht allein gehen lassen.“

„Hm, im Grunde gibt es niemanden, dem wir vertrauen können, um ihn in die Sache mit hineinzuziehen – außer vielleicht … Wie wäre es mit Klerus?“, verkündete sie ihren Einfall.

Seine Gesichtszüge entgleisten ihm und er fragte: „Fängst du schon wieder damit an? Ich dachte, wirklich das Thema wäre durch … Abgesehen davon – bedeuten Familienbande für dich gleichzeitig eine Vertrauensbasis?“

Schmerz hatte in seiner Stimme gelegen; sie wusste, er spielte damit auf seinen Vater an. Noch heute staunte er, dass sie weiterhin etwas mit ihm zu tun haben wollte – trotz seiner Familiengeschichte.

Plötzlich sprach eine neue Stimme, die beide zusammenzucken ließ: „Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob du es weißt … und mich nicht getraut, dich danach zu fragen.“

Keine Sekunde später trat ein Hufflepuff-Schüler um das Regal herum; das blonde Haar hatte er hinten zurückgebunden … Nadeshiko war ihm bislang nie so nahe gewesen und hatte daher seine verräterischen Augen vorher nicht betrachten können – dasselbe tiefe Grün wie bei Ohtah starrte an ihr vorbei und sie musste sich ein Lächeln verkneifen. Dem Braunhaarige dagegen fehlten bei der Offenheit seines Halbbruders die Worte.

Klerus kratzte sich verlegen am Hinterkopf und sagte: „Ich sollte mich wohl entschuldigen, dass ich euch belauscht habe … und, na ja, das nicht zum ersten Mal. Ich würde euch empfehlen, nächstes Mal den >Muffliato< zu benutzen …“

Während Ohtah stocksteif da saß, erhob sich die Gryffindor und schüttelte ihm die Hand: „Hallo, Klerus. Ich bin Shiko – freut mich, dich kennenzulernen. Und … Ohtah?“

Endlich erwachte er aus seiner Starre, kam ebenfalls zu ihnen und sie erkannte, wie nervös er war, als er sprach: „Ich weiß nicht, was du über mich … oder unseren Vater gehört hast-“

„Schon gut, ich habe die Geschichte von meiner Mutter gehört.“, unterbrach der Jüngere ihn und versuchte zu lächeln, „Allerdings bestimmt das ja nicht, wer wir sind … Bitte, Ohtah – gib´ mir einfach eine Chance!“

Mit der Gesamtsituation überfordert, überschlugen sich Ohtah´s Gedanken – genau deswegen hatte er Klerus im vergangenen Jahr nicht angesprochen. Zwischenmenschliche Beziehungen waren definitiv nicht sein Fachgebiet … Doch konnte, wollte er seinen Halbbruder nun wirklich noch ignorieren? Sein Zögern warf einen Schatten über das Gesicht von Klerus – genau in diesem Moment begriff Ohtah, er fürchtete sich ebenso sehr auf Ablehnung zu stoßen …

„Nur … nur wenn auch ich dir beweisen darf, dass ich nicht wie er bin.“, brach der Slytherin endlich die angespannte Stille.
 

Nachdem sie Klerus in ihr Vorhaben und dessen Hintergrund eingeweiht hatten, wollte er ihnen unbedingt helfen – sein Herz schlug voll Mitleid für Seiketsu, die nur auf den Erfolg ihrer Unternehmung hoffen konnte … Sie vertraute ihrer kleinen Schwester bedingungslos; er wünschte sich so sehr, Ohtah würde sich ebenso auf ihn verlassen … dass sie richtige Brüder werden würden.

Am letzten Tag der Osterferien lockte die strahlende Sonne selbst die Dauerbesucher der Bibliothek zum Lernen – oder Entspannen – hinaus auf das Gelände. Auf eine solche Gelegenheit hatten Nadeshiko und ihre beiden Verbündeten gewartet. In einem unbeobachteten Moment, in dem sich Irma Pince in der Stille und Schönheit der aufgeräumten Bücherregale verlor, schlich sie sich mit Ohtah zum Eingang der Verbotenen Abteilung, während Klerus seinen Zauberstab zückte und eine Stinkbombe in die entlegene Ecke der Bibliothek schickte. Sofort stürmte die um die Ordnung bemühte Hexe davon.

„Alohomora!“, murmelte die schöne Gryffindor und schlüpfte anschließend mit dem gewitzten Slytherin hinein, während dessen Halbbruder draußen Wache hielt.

Die Verbotene Abteilung unterschied sich optisch erst mal gar nicht vom Rest der Bibliothek. Nur die Titel verrieten ihre weit aus höhere Magie, als der Stand eines Drittklässlers es vermochte. Kurz flammte die Versuchung auf, sich gründlich umzusehen – dann jedoch holte Nadeshiko die Zeichnung des Drachens aus dem ersten Verlies hervor, legte sie auf ihre linke Handfläche und den Zauberstab darauf.

Mit geschlossenen Augen flüsterte sie: „Weise mir den Weg …“

Der Orientierungszauber, welcher den Zauberstab stets nach Norden ausrichtete, ließ ihn diesmal auf ein pechschwarzes Buch ohne Titel zeigen.

„Ich weiß nicht, ob ich bereit bin … und ja, ich habe Angst. Aber ich werde nicht davonlaufen!“, sagte Nadeshiko entschlossen und berührte den Buchrücken.

Die Wand klappte nach vorne auf, gab eine Treppe frei. Ohtah wollte hineingehen, da hielt ihn sie ihn plötzlich zurück. Diesmal wollte … musste sie selbst vorausgehen. Um sich, dem Verlies und vermutlich auch Seiketsu, dass sie dieser Mission gewachsen war.

„Ich bin direkt hinter dir.“, versprach ihr Ohtah, ehe sie den Fuß auf die unterste Stufe setzte.

Sofort schlug die Bücherwand zurück, verschloss den Zugang. Der Braunhaarige schrie, hämmerte mit den Fäusten dagegen, berührte das Buch, sprach dieselben Worte … nichts geschah. Das Bild des Irrwichts erschien vor seinem geistigen Auge und seine Beine versagten ihm den Dienst. Sie würde ganz sicher sterben … und es wäre allein seine Schuld! Er sollte ihr Beschützer sein – stattdessen ließ er sie offenkundig in die Gefahr rennen – wie bescheuert konnte man eigentlich sein?

Auf der anderen Seite ruhte Nadeshiko´s Hand an der hölzernen Vertäfelung. Seine verzweifelten Rufe konnte sie zwar nicht hören, doch wusste sie genau, welche Vorwürfe er sich nun machte. Was sie erwarten mochte, sie musste unbedingt zu ihm zurückkehren!

„Warte auf mich …“, flüsterte die Gryffindor und machte sich mit erhobenem Zauberstab an den Aufstieg.

Solange sie es im Unterricht durchgenommen hatten, war Nadeshiko der Begegnung mit ihrem Irrwicht aus dem Weg gegangen. Weil sie genau gewusst hatte, welche Form er annehmen würde … ihr Blick fiel zuerst auf die braunen Augen, die ein wenig dunkler waren als ihre eigenen und das braune Haar wehte von dem kalten Zug, der durch die Ritzen pfiff. Sie trug nicht die schwarz-blaue Schuluniform eines Ravenclaw, wie es in Hogwarts angemessen gewesen wäre, denn so hatte Nadeshiko ihre Schwester nicht in Erinnerung … Seiketsu trug einen hellblauen Yukata mit weißen Fächern und dunkelblauem Obi. So war sie mit ihrer kleinen Schwester während ihrer letzten Sommerferien, welche sie alle gemeinsam in Japan verbracht hatten, zu einem kleinen Schreinfest gegangen. Damals war sie der achtjährigen Nadeshiko wie eine Prinzessin aus den Sagen vorgekommen …

Doch an ihre Stelle war eine furchterregende Furie getreten, die wilde Beschimpfungen brüllte: „Wie kannst du es wagen, mir noch unter die Augen zu treten? Nachdem du mich einfach im Stich gelassen hast – es ist deine Schuld, dass ich noch immer gefangen bin! Ich habe dir vertraut … aber du hast mich enttäuscht, Shiko. Ich verfluche dich! Du wirst mit mir zusammen hier festsitzen und niemals mehr das Licht des Tages sehen.“

Tränen rannen über die Wangen der Rothaarigen. Professor Rien hatte seine Schüler davor gewarnt, in Panik oder Verzweiflung zu verfallen – einmal nachgegeben, konnte man sich nicht mehr aufraffen, dem Irrwicht entgegen zu treten.

„Oneechan, ich … Erinnerst du dich noch daran, wie du in den Gartenteich gefallen und die Seerose auf dem Kopf hattest? Damals haben wir so gelacht …“, sagte sie mit zitternder Stimme, „Riddikulus!“

Die Kleider klebten nass an ihrem Körper und die Blüte samt grünem Blatt hing Seiketsu ins Gesicht, sodass sie Nadeshiko´s trauriges Lächeln nicht mehr sah. Nichtsdestotrotz hatte sie die Ausgeburt ihrer Angst besiegt. Und damit den Zugang noch einmal geöffnet. Ohtah spurtet die Treppe hinauf – er erreicht sie gerade, als sie vor eine identische Säule trat, wie sie bereits im ersten Verlies gefunden hatten. Darin wurde ein wunderschön gearbeiteter Pfeil mit juwelenbesetzter Spitze aufbewahrt. Bewundernd griff die Gryffindor danach. Sie spürte das Erbeben der Macht, welches vom Brechen des Fluches kündete.

„Du hast es geschafft …“, hauchte Ohtah beinahe ehrfürchtig.

Sie lächelte und meinte: „Nur weil du immer bei mir bist.“

Er nahm ihre Hand und gemeinsam machten sie sich auf den Rückweg zurück in die Verbotene Abteilung. Lauschend legte der Slytherin ein Ohr an die Tür und klopfte zweimal. Von draußen wurde das Zeichen erwidert. Klerus war auf seinem Posten geblieben und Dank einiger raffinierter Tricks hatte er Madame Pince ferngehalten. Ohtah und Nadeshiko traten hinaus in die Bibliothek, bevor sie zum Innenhof rannten, dicht gefolgt von dem Hufflepuff. Er wollte alles wissen, was passiert und wie das Verwunschene Verlies gewesen war.
 

In den folgenden Wochen herrschte in den Fluren des Schlosses nur ein einziges Gesprächsthema – Fluchbrecher Nadeshiko Yosogawa hatte ein weiteres Mal zugeschlagen! Obwohl es keinerlei Beweise oder gar Hinweise darauf gab, dass sie involviert gewesen wäre, gab es keinen Zweifel daran.

Und so wunderte sie sich nicht weiter, weil Professor McGonegall sie und Ohtah in ihrem Büro zu sprechen wünschte: „Niemand weiß, von wo aus die Irrwichte über Hogwarts gekommen sind – aber inzwischen sind sie verschwunden. Ich bin sicher, Sie wissen sehr genau, was die Schülerschaft vermutet … und Teile des Lehrkörpers. Hier also noch einmal ein Wort der Warnung und hoffentlich zum letzten Mal – die Verwunschenen Verliese sind gefährlich! Sollte sich eines Tages ein weiterer Fluch zeigen, werden die Lehrer sich darum kümmern.“

Auf ihren Wink wandten sie sich zum Gehen. Da bemerkte Nadeshiko, dass der Sprechende Hut gar nicht schlief, wie es sonst der Fall gewesen wäre – nein, er schaute sie direkt an und schien beinahe anerkennend zu nicken.

Da Professor McGonegall sie von da an besonders im Auge zu behalten schien, warteten die drei bis zu ihrer Fahrt im Hogwarts-Express, um das Notizbuch mit der Pfeilspitze anzustupsen.

Langsam breitete sich Seiketsu´s geschwundene Handschrift über einer weiteren Seite aus: „>Du hast es wieder geschafft, Shiko, ich bin so stolz auf dich! Das ganze Jahr habe ich mir – neben meinen eigenen Recherchen – den Kopf darüber zerbrochen, was du wohl wegen der sehr … hm, mauen Informationen denken wirst. Es tut mir leid, aber ich kann nichts genaueres niederschreiben; es wäre zu gefährlich, sollte es jemand anderes in die Hände bekommen. Ich bin mir sicher, du wirst meine Hinweise dennoch entschlüsseln können. Folge dem Zentauren zum Spinnen-Tor! Und sicher hast du inzwischen herausgefunden, wie dieses Buch funktioniert – je mehr du selbst herausfindest desto weiter gehen meine Ausführungen. Ich glaube ganz fest an dich!<“
 

Von Acrumantulas, Zentauren und Liebe

Schon so einige Schulregeln waren von Nadeshiko und Ohtah gebrochen worden – noch wussten sie allerdings nicht, dass dies erst der Anfang gewesen war … Ein neues Schuljahr, ein weiteres Verlies und eine Prüfung der ganz anderen Art erwartete die beiden, die im Hogwarts-Express bereits ihre nächsten Schritte planten und versuchten Seiketsu´s eigentümliche Notizen zu entschlüsseln.

„Also eines sag´ ich dir, Shiko – sobald wir Seiketsu gerettet haben, werde ich sie erst mal für ihre kryptische Ausdrucksweise zur Rede stellen.“, scherzte der Braunhaarige, „>Folge dem Zentauren zum Spinnen-Tor!< Ich meine, wovon genau spricht sie denn da – von einem Sternbild, einer Statue oder was? Na ja, wir werden es auf jeden Fall herausfinden und ihr wieder einen Schritt näher kommen …“

Nadeshiko war ebenso ratlos. Dennoch musste sie ein wenig schmunzeln. Ohtah schaffte es stets, ihr neuen Mut zu geben … Und mehr noch – die Rothaarige rückte etwas näher an ihn heran, lehnte den Kopf gegen seine Schulter. In seiner Nähe fühlte sie sich unglaublich wohl – die Ferien waren erneut ein Graus gewesen; natürlich verschwieg Nadeshiko weiterhin eisern die Suche nach ihrer Schwester, sie fürchtete sich vor der Reaktion ihrer Eltern. Sicher wären sie keineswegs begeistert, erneut ihre Tochter in Gefahr zu wissen … Einzig er verstand, was ihr diese Mission bedeutete; nein, ganz stimmte das auch wieder nicht – Klerus öffnete die Abteiltür und reichte ihnen jeweils einen Kesselkuchen mit einem Becher Kürbissaft. Seit er und Ohtah sich einander angenähert hatten – von ihrer Suche nach den Verwunschenen Verliesen hatte er ja auf eigene Faust erfahren –, war der Huffelpuff ein enger Vertrauter geworden. Er kannte diese Sehnsucht aus erster Hand … Es war seltsam gewesen zu seiner Mutter zurückzukehren, ohne ihr von ihm zu erzählen; doch die Brüder hatten es besser gefunden, wenn sie erst einmal nichts davon wusste. Vor allem ihr Vater sollte es nicht erfahren – nicht dass Ohtah ihm überhaupt jemals etwas über die Schule berichtete; ja, nicht einmal von Nadeshiko hatte er Kenntnis. Nun da er endlich wieder bei ihr und Klerus sein konnte, blühte der Braunhaarige geradezu auf, nur hier bei ihnen konnte er er selbst sein – die Ferien hatte er vorrangig damit verbracht, tagelang irgendwie durch Wiesen, Felder und Wälder zu streifen …
 

Der erste Monat verlief ohne größere Zwischenfälle – von dem Berg Hausaufgaben der Viertklässler und den Vorträgen über die ZAG-Prüfungen einmal absah, die ihnen allerdings erst nächstes Jahr bevorstanden und trotzdem von jedem einzelnen Lehrer erwähnt wurden. Was es mit dem Pfeil auf sich hatte, konnten Nadeshiko, Ohtah und Klerus immer noch nicht sagen. Ihnen war nur der Gedanke über einen möglichen Zusammenhang mit dem Sternzeichen des Schützen gekommen, welcher häufig als Zentauren mit gespanntem Bogen dargestellt wurde; leider gab es nirgendwo im Schloss eine solche Darstellung oder ähnliches. Trotzdem suchte sich die Rothaarige die dazu passende Lektüre aus der Bibliothek und las zumeist vor dem Einschlafen darin, auf der Suche nach Verbindung zu Spinnen.

Während einer Stunde Verwandlung geschah es – die Tür wurde ohne vorher anzuklopfen aufgerissen und ein Vertrauensschüler Gryffindor´s stürmte zu Professor McGonegall ans Pult, die lediglich seine totenbleiche Miene an einer Schimpftirade hinderte.

Stattdessen fragte sie scharf: „Wo?“

„Im rechten Korridor des vierten Stocks.“, kam die Antwort kaum mehr als ein Windhauch.

Nadeshiko drehte es den Magen um, als ihre Hauslehrerin den Unterricht beendete und die Schüler bis zum Beginn der nächsten Stunde in den Gemeinschaftsraum schickte. Im Grunde hatte der Gesichtsausdruck des Fünftklässlers genügt, um ihr begreiflich zu machen, was geschehen war – ein neuer Fluch war in Kraft getreten! Einen kurzen Moment erwog sie, ihnen zu folgen, doch damit würde sie sich nur Ärger einhandeln; mit Ohtah und Klerus konnte sie sich ebenfalls nicht sein treffen, ihr Unterricht lief ja noch; blieben nur ihre üblichen Studien. Im Gemeinschaftsraum hielten sich lediglich einige UTZ-Schüler, die über ihren Hausaufgaben brüteten.

Als Nadeshiko überlegte, welches Buch sie sich vornehmen sollte, hörte sie einen von ihnen sagen: „Professor Hagdrig hat angekündigt, uns das nächste Mal ein kleines Exemplar der Acrumantula-Kolonie aus dem Verbotenen Wald vorzustellen! Kannst du dir das vorstellen? Ich meine, die Biester sind doch vollkommen gefährlich – das Ministerium hat ihnen die höchste Gefahrenstufe verpasst!“

Acrumantula … Etwas klingelte im Hinterkopf der Rothaarigen. Sie ging hinauf in den Schlafsaal und nahm »Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind« von Newt Scamander zur Hand.

Gleich nach dem einleitenden Text fand sie in dem alphabetisch geordneten Buch den entsprechenden Eintrag: „>Die Acrumantula ist eine monströse, achtäugige Riesenspinne, die der menschlichen Sprache mächtig ist. Sie hat ihren Ursprung im dichten Dschungel von Borneo. Auffällige Merkmale sind ihr dichtes, schwarzes Haar, das den ganzen Leib überwuchert, die bis zu drei Meter langen Beine, die Klauen, die ganz eigentümlich klicken, wenn die Acrumantula erregt oder wütend ist, und schließlich ihr giftiges Sekret. Die Acrumantula ist eine Fleischfresserin und bevorzugt große Beutetiere. Ihre Netze spinnt sie als Kuppeln über dem Erdboden. Das Weibchen ist größer als das Männchen und legt in einem Wurf bis zu hundert weiche und weiße Eier, die so groß sind wie Strandbälle. Nach sechs bis acht Wochen Brutzeit schlüpfen die Jungen. Die Abteilung zur Führung und Aufsicht Magischer Geschöpfe stuft die Eier der Acrumantula als 'Nicht verkäufliche Güter der Klasse A' ein, das heißt, Einfuhr und Verkauf dieser Eier werden mit schweren Strafen geahndet. Dieses Tierwesen ist vermutlich von Zauberern gezüchtet worden, wahrscheinlich, um Behausungen oder Schätze zu bewachen, wie es bei den auf magische Weise geschaffenen Ungeheuern häufig der Fall ist (Der menschlichen Sprache fähigen Tierwesen erlernen diese nur selten von allein; eine Ausnahme ist der Jarvey. Das Verbot experimenteller Zucht trat erst im [Edit] 21. Jahrhundert in Kraft, lange nach der ersten verbürgten Sichtung einer Acrumantula im Jahre 1794.). Trotz ihrer fast menschenähnlichen Intelligenz lässt sich die Acrumantula nicht abrichten und stellt eine große Gefahr für Zauberer und Muggel gleichermaßen dar. Gerüchte, wonach sich eine Kolonie von Acrumantulas in Schottland niedergelassen habe, wurden [Edit] im Jahr 1993 offiziell betätigt.“

Eine Spinne … Und wenn sie sich nicht sehr täuschte, lebten nicht nur Acrumantulas im Verbotenen Wald, sondern dort lag auch irgendwie ein Zentauren-Dorf!
 

„Also, wie kommen wir am besten dorthin?“, fragte Nadeshiko, als sie am nächsten Tag Ohtah und Klerus geschützt durch den »Muffliato«-Zauber in ihrer Bibliotheksecke alles über ihre Erkenntnis berichtet hatte.

Der Hufflepuff zählte sofort verschiedene Möglichkeiten sowie deren Machbarkeit auf – Professor Hagdrig nach einer Exkursion zu fragen oder gleich Professor McGonegall, sorgten bei ihnen trotz der ernsten Situation für einen kleinen Lachanfall. Außer bei dem gewitzten Slytherin, der eisern schwieg – ihm gefiel es ganz und gar nicht, welche Risiken ein solcher Ausflug für sie mit sich brächte. Nicht dass er nicht mit Gefahren gerechnet hätte …

„Hast du dir das gut überlegt?“, warf Ohtah plötzlich ein, seine Miene zeigte keine Regung.

Sein Halbbruder verstummte und die Gryffindor meinte verwirrt: „Wieso diese Frage? Erde an Ohtah – hier geht es um Sei.“

Diese Antwort wunderte ihn keineswegs, eigentlich ärgerte er sich sogar über seine Worte – als ob seine oder irgendwelche anderen Bedenken Nadeshiko jemals umgestimmt hätten. Nichtsdestotrotz wären die Acrumantulas nicht zwingend das gefährlichste Problem – außer dem übrigen, was im Verbotenen Wald keuchte und fleuchte, machten ihm vor allem die Zentauren Sorgen. Im Allgemeinen verachteten sie die Zauberschaft, die ihr Volk nicht als gleich oder sogar höher gestellt betrachteten. Es würde ziemlich schwierig werden, sie zu überzeugen, ihnen zu helfen … noch dazu sie überhaupt erst mal trotz ihrer erstklassigen, waldläuferischen Fähigkeiten aufzuspüren, ohne vorher aus dem Dickicht von einem ihrer Pfeile erschossen zu werden.

„Immerhin steht >Arania Exumai< im Lehrplan der Viertklässler.“, sagte Ohtah, ohne auf den aktuellen Gesprächspunkt geachtet zu haben, „Du lernst ihn dann einfach, während wir ihn üben, Klerus.“

Nadeshiko sah ihn verdutzt an. Es war nicht zu übersehen gewesen, dass er ihr nicht zugehört hatte – und dennoch hatte er sich mit dem Thema beschäftigt.

Mit dem Thema beschäftigte sich auch der Lehrkörper und so kam, dass Professor McGonegall sämtliche Schüler in der Großen Halle versammeln ließ, um ihnen mitzuteilen: „Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit … Aufgrund der neuerlichen Zwischenfälle haben die Lehrer beschlossen, Ihnen ein wohl gehütetes Geheimnis anzuvertrauen. Hogwarts birgt sechs sogenannte Verwunschene Verliese … Jedes von ihnen trägt einen anderen Fluch in sich – Sie erinnern sich sicher an das sogenannte Verwunschene Eis und diese ganzen merkwürdigen Irrwichte. Niemand weiß heutzutage mehr, warum es die Verliese gibt – nur dass sie aktiv werden, wenn sich ihnen jemand nähert; ich beschwöre daher Sie alle … halten Sie sich von den Verwunschenen Verliesen fern und sollte Ihnen irgendetwas verdächtig vorkommen, scheuen Sie nicht, einen Ihrer Lehrer zu informieren – spielen Sie nicht den Helden, dies ist unsere Aufgabe!“

Besonders zwei Schüler ahnten, dass die Warnung besonders an sie gerichtet war. Zudem horchte Nadeshiko bei der neuen Information auf – endlich wusste sie, mit wie vielen Verliesen sie es zu tun hatten! Und Seiketsu befand sich mit großer Wahrscheinlichkeit im letzten von ihnen, vermutlich gefangen … Gleichsam spürte die schöne Gryffindor einen Stich schlechten Gewissens – es schmerzte Nadeshiko, ihre Hauslehrerin enttäuschen zu müssen; sie mochte die weise Hexe, bewunderte sie sogar. Aber nichts auf der Welt würde sie davon abhalten, weiter nach ihrer Schwester zu suchen! Dennoch beunruhigte sie dieser Fluch mehr, als die vorherigen … Die Betroffenen fielen in einen Schlaf, aus dem sie sich nicht mehr wecken ließen – bislang hatte keine Aktion, Zauber oder eingeflößter Trank geholfen.
 

Selten hatte in Hogwarts während der Adventszeit ein derart betrübte Stimmung geherrscht … Madame Pomfrey war zusammengebrochen. Jeden verunglückten Zauber hätte sie heilen können, aber der Schlaffluch trieb sie an den Rand ihrer Kräfte und seelischen Belastbarkeit, dabei brachte sie sonst nie etwas aus dem Konzept. Viele Eltern forderten eine Verlegung ihres Kindes in das Sankt Mungo Hospital für magische Krankheiten und Verletzungen, wovon das Krankenhaus zunächst jedoch noch abriet – die Ursache lag innerhalb der Schlossmauern und es war nicht abzusehen, was mit jenen geschehen würde, die sich nicht dort befanden, sobald diese verschwand – allerdings stimmten sie zu, die Verfluchten in einem gesonderten Bereich unterzubringen, sollte sich ihr körperlicher Zustand so weit verschlechtern, dass Lebensgefahr bestand. Zudem rückte ein kleines Team aus Heilern an, um Madame Pomfrey und die betroffenen Schülern zu versorgen.

Häufig trieb sich Nadeshiko in der Nähe des Krankenflügels herum, denn ein Teil von ihr fühlte sich schuldig. Sie war ihre Bestimmung die Flüche der Verwunschenen Verliese zu brechen! Und zur Zeit schien sie einfach nur zu versagen – viele der anderen begannen inzwischen einen ähnlichen Psycho-Terror, wie einst bei Seiketsu. Davon war mit dem Finger auf sie zu zeigen und sie als »Fluchmacher« zu beschimpfen noch das harmloseste.

Einmal hatte Ohtah gehört, wie sie Shirayuki ihre Sorgen anvertraute: „Manchmal habe ich Angst, sie könnten recht haben … dass ich durch meine Anwesenheit ganz Hogwarts in Gefahr bringe. Bislang ist alles noch relativ glimpflich ausgegangen – aber was, wenn eines Tages jemand durch meine Suche ernsthaft zu schaden kommt? Dieser Fluch … ist viel gefährlicher. Wer weiß, wie lange sie diesen Zustand … überstehen.“

„Das lassen wir nicht zu – glaub´ mir, ich werde dir und allen anderen beweisen, dass du nicht der Auslöser für all diese Flüche bist!“, versuchte er sie aufzubauen, doch es half nicht.

Ihr Glaube lag brach. Verzweiflung legte sich über ihre Gedanken … und so kam es, dass sie noch jemand auf ihr Unterfangen ansprach – nach einer Stunde Verteidigung gegen die dunklen Künste, in der Nadeshiko nicht einmal den simpelsten Zauber zustande gebracht hatte, rief Professor Rien sie zu sich in sein Büro.

„Sie können es abstreiten … doch wir beide wissen, dass ganz Hogwarts glaubt, Sie seien gleichsam für das Ausbrechen … und Brechen der Flüche verantwortlich, Miss Yosogawa. Sie haben bei den ersten beiden Verliesen sehr gute Arbeit geleistet – einem künftigen Fluchbrecher würdig. Und dennoch habe ich meine Bedenken, ob Sie es diesmal wieder schaffen werden … Damit bin ich nicht allein, nicht wahr? Vor allem da die Direktorin Ihnen im Nacken sitzt … und mich gebeten hat, eine Lösung zu finden.“, meinte er, nachdem sie sich ihm gegenüber gesetzt hatte.

Professor Rien hatte ihr bereits erzählt, dass er vor seinem Lehramt als Fluchbrecher aktiv gewesen war. Wenn gerade er ihr die Sache nicht recht zutraute, gab es wohl keine Chance mehr für sie …

„Das heute … nun, Ihre magische Energie wird blockiert. In Wahrheit sind Sie viel stärker … und sturer.“, fuhr er lächelnd fort, „Sie werden Ihre Suche nicht einstellen, selbst wenn Sie dafür sämtliche Schulregeln brechen müssten. Aber da auch ich um Ihre Sicherheit besorgt bin, werde ich Sie wenigstens vorbereiten. Natürlich unter der Voraussetzung, dass Sie von mir überhaupt in höherer Magie unterrichtet werden möchten – und was sonst noch zu einem echten Fluchbrecher dazu gehört.“

Perplex starrte Nadeshiko ihren Lehrer an. Er wollte ihr tatsächlich helfen, sie trainieren?

„Was … was ist mit Professor McGonegall? Sie werden sicher Ärger bekommen.“, fand die Rothaarige doch noch ihre Stimme.

Jetzt lachte er richtig: „Gut möglich. Allerdings müssen wir unsere Sitzungen ja nicht mit den Verliesen in Verbindung bringen – ich bin sicher, ich kann Minerva davon überzeugen, wie gut es Ihnen täte, etwas über die … sagen wir, echte Arbeit eines Fluchbrechers zu erfahren und Sie dementsprechend hinsichtlich Ihres Berufswunsches vorzubereiten; schließlich schafft es gerade einmal die Hälfte aller Teilnehmer die Ausbildung abzuschließen.“

Nadeshiko staunte immer mehr und hauchte ungläubig: „Wie kann ich Ihnen jemals dafür danken?“

Er winkte ab, stattdessen schwang er seinen Zauberstab und eine Reihe von Fotografien, Büchern sowie verschiedener Gegenstände kamen aus einem Koffer in der Ecke auf den Schreibtisch geflogen.

„Fangen wir gleich an – was glauben Sie, ist die wichtigste Eigenschaft, über die ein Fluchbrecher verfügen sollte?“, fragte Professor Rien mit strengem Unterton.

Einen kurzen Moment dachte sie darüber nach, wie es ihr während den Prüfungen der Verliese ergangen war und antwortete entschieden: „Konzentriert bleiben zu können … im Angesicht von Gefahr.“

Ihr Gegenüber nickte zufrieden. Anhand der zahlreichen Dinge, die er herbeigezaubert hatte, klärte er sie über die Grundzüge des Berufes auf; auch erzählte er von seinen eigenen Erlebnissen.

„Neben dem ganzen Wissen über Arithmantik und Alte Runen, müssen Sie vor allem in der Lage sein, sich selbst und das Ziel Ihres Auftrages zu beschützen – das setzt natürlich ein hohes Level der Schutzzauber voraus, aber auch den passenden Gegenfluch und -zauber parat zu haben. Niemand wird Ihnen jemals vorher sagen können, mit was Sie es zu tun bekommen werden – magische Rätsel, Feinde, Fallen, Bannkreise … es gibt unzählige Möglichkeiten.“, mahnte der Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste, „So wie bei den Verliesen …“

Unwillkürlich zuckte Nadeshiko zusammen; vor allem das Verlies von Eis und Schnee hatte ihr durch ihre Unerfahrenheit erhebliche Schwierigkeiten bereitet – allgemein hatte sie mehr Glück gehabt, als alles andere. Vielleicht hätte sie früher, um Hilfe ersuchen sollen …
 

Es war Nadeshiko unmöglich gewesen, Ohtah nichts von ihrem fast geheimen Fluchbrecher-Training zu erzählen. Allerdings vermied sie es, ihm von Professor Rien vorzuschwärmen – dafür musste ihre Schleiereule Shirayuki herhalten. Es beeindruckte sie ungemein, was er bereits erlebt und erreicht hatte. Je länger sie von ihm Einzelunterricht erhielt, desto sicherer wurde sie, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Und es wurde Zeit, dass sie die ganze Sache wahrhaft ernst anging! Die Spuren führten zum Verbotenen Wald und genau dorthin schlich sie sich bei Abbruch der Dämmerung – zunächst hinaus auf den Innenhof, dann an den Gewächshäusern vorbei. Sie wagte es erst im Schutz der Bäume, das Licht an der Spitze ihres Zauberstabes zu entzünden. Das Dickicht wirkte vollkommen undurchdringlich … einerseits schienen es tausend verschiedene Wege zu sein und gleichzeitig kein einziger.

„Wer seid Ihr, was wollt Ihr hier in diesem Wald, Mensch?“, sprach sie plötzlich eine Gestalt an, welche mit gespannten Bogen direkt auf ihre Brust zielte.

Erstarrt stotterte Nadeshiko: „I-Ihr … Ihr seid ein Zen-Zentaur …“

Er wollte schon da Sehne loslassen, da rief sie: „Bitte, wartet – ich bin auf der Suche nach dem Verwunschenen Verlies! Mein Name lautet Shiko, Nadeshiko Yosogawa.“

Voller Erstaunen ließ der junge Zentaur seine Waffe sinken und fragte: „Yosogawa wie … Seiketsu Yosogawa?“

„Ja, sie ist meine ältere Schwester. Kennt Ihr Sei?“, hakte nun ihrerseits die Rothaarige verwundert nach.

Ein schauerliches Lachen hallte von den Baumstämmen wieder: „Kennen … ist ein wenig milde ausgedrückt. Ich würde fast behaupten, wir wären so etwas wie Freunde gewesen; so fern das zwischen unseren beiden Rassen überhaupt möglich ist – bis sie mich eines Tages verraten hat! Seiketsu Yosogawa ist dafür verantwortlich, dass ich aus meinem Rudel verbannt wurde … Weil sie mir die Insigne des Oberhauptes gestohlen hat … Ihr mögt nicht Eure Schwester sein, doch empfehle ich Euch, mir nicht noch einmal unter die Augen zu treten!“

„Sei soll …“, versuchte sie ihre Gedanken auf die Reihe zu bekommen, „Das … das kann ich nicht glauben; sie hätte doch nie … Was genau war es denn, was sie … was Euch abhanden gekommen ist?“

Grummelnd antwortete der Zentaur: „Ein Pfeil mit juwelenbesetzter Spitze … Er gehörte einst meinem Vater. Als er zu den Sternen ging, war ich noch Fohlen, deshalb ging der Posten an seinen Bruder, bis ich alt genug wäre.“

Nadeshiko traute ihren Ohren kaum; das konnte kein Zufall sein … und so berichtete ihm die schöne Gryffindor von dem Gegenstand, welchen sie aus dem Verlies der Angst erhielt. Das magische Geschöpf starrte sie an, unfähig etwas zu erwidern.

Daher schlug sie ihm einen Handel vor: „Ihr kennt sicher, den Weg zum Verlies des Waldes, nicht wahr? Wenn Ihr mich und meine Freunde ebenfalls dorthin bringt, gehört der Pfeil wieder Euch.“

„Ich habe einst Seiketsu zu jener Stelle geführt …“, kam es recht widerwillig von ihm, da er sich eigentlich geschworen hatte, niemals mehr einem Menschen zu vertrauen … doch die leise Hoffnung, die sich in ihm regte, ließ ihn nicken, „Ich, Torvus Toramason, werde Euch helfen!“

„Ich danke Euch.“, antwortete sie mit einer Verbeugung.

Euphorisch machte sich Nadeshiko auf den Rückweg zum Schloss, was sie leider auch etwas unaufmerksam machte und damit wäre sie fast den patrouillierenden Lehrern in die Arme gelaufen, da legte sich auf einmal von hinten eine Hand über ihren Mund und zog sie in eine dunkle Ecke. Ihr erster Impuls war es, ihrem Angreifer einen Tritt zu verpassen – nur dass es sich gar nicht um einen Angreifer handelte. Alles an ihm war ihr getraut … seine Statur, sein Geruch, selbst seine Finger auf ihrer Haut. Ein flaues Gefühl hatte Ohtah aus dem Bett getrieben – er ahnte, dass Nadeshiko in Schwierigkeiten steckte … wie so häufig nicht grundlos. Ohne ein Wort nahm er ihre Hand, führte sie geschickt und vollkommen unentdeckt durch die dunklen Gänge zurück zum Gryffindor-Gemeinschaftsraum.

„Ohtah …“, flüsterte sie kaum hörbar und gleichzeitig überglücklich, „Wirst du es ebenfalls zurückschaffen, ohne erwischt zu werden?“

Er lehnte sich mit seinem typisch schiefen Grinsen und antwortete: „Die Schatten sind ein Teil von mir, das weißt du doch …“

„Gute Nacht, mein Held.“, sagte Nadeshiko und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Dann kletterte sie unter dem Murren der Fetten Dame durch das Loch hinter dem Porträt in den Turm. Der Slytherin stand noch für einige Minuten wie erstarrt da, während seine Haut unaufhörlich kribbelte.
 

Am nächsten Tag trafen sich die beiden am Schwarzen See und Nadeshiko brachte ihn auf den neuesten Stand über Torvus sowie den juwelenbesetzten Pfeil. Ärger flammte in Ohtah auf, weil sie ihn nicht in ihre Unternehmung eingeweiht geschweige denn eingebunden hatte.

„Ich verstehe es nicht – warum, Shiko? Das Risiko ist mir doch vollkommen gleichgültig! Ich habe geschworen, dir zu helfen … stets an deiner Seite zu sein.“, meinte er mit abgewandtem Blick.

Sie sah ebenfalls zur Seite und sagte: „Das war dumm, ich weiß … Ich hatte das Gefühl, ich müsste es schaffen, ohne mich ständig auf dich zu verlassen. Ich wollte mir selbst beweisen, auch alleine stark sein zu können … Aber ich habe mich geirrt – ich brauche dich.“

Der geschickte Slytherin setzte sich neben sie, ihr Kopf lehnte sich an seine Schulter und er entgegnete sanft: „Du bist nicht schwach … ganz und gar nicht. Shiko, ich-“

Ohtah brach ab und schaute ihr direkt in die Augen. Für einen kurzen Moment waren sämtliche Verliese vergessen … Bis ein Schrei von Shirayuki sie wieder in die Realität riss; die Schleiereule brachte einen Notizzettel von Klerus. Eine sechsköpfige Gruppe Huffelpuffs war dem Schlaffluch erlegen … Offenbar wurde er stärker, je länger er aktiv war. Und das Schuljahr schlitterte bereits seinem Ende entgegen – jetzt oder nie, wie man so schön sagte.

Die folgenden Stunden verbrachten die drei mit letzten Vorbereitungen – begonnen damit ihre Betten mit Kissen als Doubles auszustatten. Die schwarzen Schuluniformen würden für die perfekte Tarnung in der aufziehenden Dunkelheit bieten … Von ein paar einfachen Tränken abgesehen, gab es nicht wirklich viel, das ihnen einfiel, was noch hätte nützlich sein können, und einen Besen, den sich Ohtah auf den Rücken band, und Nadeshiko hatte Shirayuki hinausgelassen, um sie notfalls schnell zu sich rufen zu können. Da Ohtah von ihnen die feinste Intuition besaß, was das Schleichen anging, fiel ihm die riskanteste Aufgabe zu – zunächst von den Kerkern aus einen Stock nach oben zu gehen und Klerus einzusammeln, anschließend mit diesem gemeinsam hinauf zum Westturm zu steigen. Und dann mussten sie noch alle unentdeckt zum Verbotenen Wald gelangen … Allerdings wäre er sicher kaum ein »Schattendrache«, wenn ihm ein solches Unterfangen nicht gelingen könnte. Die Ausläufe ihres Ziels war ein beliebter Aufenthaltsort von Professor Hagdrig, weswegen der Slytherin in Richtung seiner Hütte lauschte – der aufsteigende Rauch allein hätte ihm nicht genügt … sehr wohl jedoch das Bellen seines Hundes Fang. Der Wildhüter befand sich demnach in seinem trauten Heim und sollte ihnen erst mal nicht in die Quere kommen.

„Die Sterne haben mir bereits von Eurer Ankunft berichtet.“, begrüßte sie die ernste Stimme von Torvus, der bei ihrer Ankunft zwischen den Bäumen hervortrat, „Habt Ihr meinen Pfeil?“

Nadeshiko zog ihn aus der Tasche ihres Umhangs und erklärte: „Ich muss ihn bei mir haben, wenn ich das Verlies betrete – anschließend gebe ich Euch Euren Besitz zurück.“

Der Zentaur nickte, ehe er, gefolgt von den Schülern, die ihre Leuchtzauber aktiviert hatten, tief in den Verbotenen Wald vordrang. Eigentümliche Geräusche begleiteten ihren Weg. Der Braunhaarige ergriff die Hand der schönen Gryffindor, deren Wangen plötzlich heiß wurden, was aufgrund der Dunkelheit allerdings niemand sehen konnte … Außerdem waren sie ziemlich mit der Umgebung beschäftigt – das Areal war nicht gerade für Wanderungen geschaffen. Nachdem sie bereits eine gute Stunde unterwegs gewesen waren, entdeckte Klerus eine Tür, welche sich unter einem dichten Wurzelwerk befand.

„Dies ist der Eingang zum Verlies des Waldes … Seid vorsichtig – ich weiß nicht, was euch drinnen erwarten wird.“, bestätigte Torvus.

Als die drei näher traten, regte sich eine Gestalt in den Wipfeln der Bäume. Erst jetzt bemerkten sie die hauchfeinen Fäden, die sich überall zu gigantischen Netzen zusammensetzten und vier Augenpaare spiegeln sich im Licht, welches von den Zauberstäben ausging – es war tatsächlich eine Acrumantula!

Ihr behaarter Körper glitt auf sie zu und man konnte eine unheilvolle Stimme vernehmen: „Es ist ewig her, dass ich frisches Menschenfleisch genießen konnte … Mit wem fange ich nur an?“

„Wage es nicht, Shiko auch nur zu nahe zu kommen!“, schrie Ohtah und ging sofort in Angriffsposition.

Er kämpfte tapfer gegen das Tierwesen, schleuderte ihr einen Fluch nach dem anderen schleuderte entgegen. Schließlich richtete er »Expelliarmus« gegen die klickenden Zangen und verjagte sie endgültig mit »Arania Exumei«. Vor Erleichterung fiel ihm die hübsche Rothaarige um den Hals, drückte sich an seine Brust. Manchmal verfluchte sie ihn dafür, dass er sich zu ihrem persönlichen Beschützer erklärt hatte … denn was sollte sie nur machen, wenn seine Fähigkeiten eines Tages mal versagen würden? Daran durfte sie im Moment jedoch nicht denken – überhaupt hätte Nadeshiko diesen Gedanken gerne für immer aus ihrem Kopf verbannt. Also löste sie sich von ihm und wandte sich dem Eingang zu. Gemeinsam mit Ohtah und Klerus trat sie ein – drinnen war alles von Pflanzen überwuchert. »Diffindo« schlug ihnen dafür den Weg frei; es war ein Zauber, der fast alles zerschneiden konnte. An ein paar besonders schwierigen Stellen nutzte die Gryffindor sogar ihre Flammen. An ihrem Ziel angekommen, zog Nadeshiko den Pfeil erneut und berührte damit die Säule. Die drei staunten, als sie darin ein kleines, handliches Porträt von Seiketsu und Nadeshiko fanden.

„Das ist Seiketsu? Sie ist wunderschön …“, entfuhr es Klerus, der sich verlegen räusperte, „Äh, ich wollte sagen, ein wunderschönes Bild von euch beiden. Ihr wirkt sehr glücklich.“

Traurigkeit lag in ihrer Stimme, als sie entgegnete: „Das waren wir … Ohne Sei fehlt ein Teil von mir selbst.“

Die Rothaarige warf noch einen Blick zurück, ehe sie sich auf den Rückweg machten und vor dem Verlies von einem ziemlich nervösen Torvus erwartet wurden. Wie vereinbart überreichte sie ihm seinen Stammesschatz.

Er deutete eine leichte Verbeugung an und sprach beinahe ehrfürchtig: „Ich danke Euch – dies wird mein Exil beenden … Wenn die Sterne es wünschen, werden sich unsere Wege erneut kreuzen – Shiko, bis dahin seid gewiss, Ihr besitzt die Freundschaft eines Zentauren.“

„Und jede Menge Ärger!“, donnerte eine ihnen sehr bekannte Stimme.

Kreidebleich fuhren die Schüler herum – vor ihnen stand eine äußerst erboste Professor McGonegall.

„Miss Yosogawa, Mister Shadowdragon, Mister Monko, da das Schuljahr so gut wie zu Ende ist, werden Sie das nächste Schuljahr mit Nachsitzen verbringen – getrennt! Mir fehlen wirklich die Worte … keinerlei Achtung vor den Schulregeln … Abmarsch zurück ins Schloss und in Ihre Schlafsäle!“, befahl die Leiterin von Hogwarts und marschierte voraus.
 

Das Donnerwetter verrauchte etwas, als die verfluchten Schüler einer nach dem anderen erwachten und relativ schnell wieder auf die Beine kamen. So mussten sich wenige Tage später alle Schüler nach dem Abendessen direkt in ihren jeweiligen Gemeinschaftsräumen einfinden.

Jeder Hauslehrer hielt dort in etwa dieselbe Ansprache: „Der Lehrkörper hat entschieden, die Rettung der verfluchten Schüler mit einem Ball in der Großen Halle zu würdigen. Am letzten Samstag vor den Sommerferien, sprich heute in zwei Wochen – gesittet und ohne dem Ansehen des Hauses Gryffindor zu schaden! Das bedeutet unter anderem, Abendgarderobe ist obligatorisch und ich werde eine Liste mit den Sperrzeiten der verschiedenen Altersstufen aushängen, von denen ich erwarte, dass diese ausnahmslos eingehalten werden. Gibt es noch irgendwelche Fragen?“

Das folgende Stimmengewirr ignorierte Nadeshiko. Sie hatte sich absichtlich in eine Ecke des Raumes verzogen, um dem Blick der Direktorin zu entgehen. Gerade als sie sich dennoch den Besuch des Balls vorstellen wollte, bekam sie unerwartet Gesellschaft.

Argo hielt ihr eine gezauberte Rose entgegen und sagte überheblich: „Nicht einmal die schönste Blume kommt dir gleich – du wirst alle anderen überstrahlen. Mehr noch, wenn du als meine Begleiterin dort erscheinen würdest …“

Es war ja nicht das erste Mal, dass Argo ihr Avancen machte, daher antwortete sie bestimmt: „Dieses Angebot muss ich leider ablehnen. Es tut mir leid, Argo.“

Ohne ihn noch weiter zu Wort kommen zu lassen, eilte sie in den Schlafraum und warf sich auf ihr Bett. Neugierig beäugte Shirayuki dieses seltsame Verhalten.

„Ich könnte es nicht ertragen …“, murmelte die Rothaarige halb zu ihrer schneeweißen Gefährtin, halb in ihr Kissen, „Allein es mir vorzustellen, bringt mich fast um den Verstand! An der Seite eines anderen Mannes … oder schlimmer noch – eine andere bei ihm. Ach, Shirayuki, ich wünsche mir, dass er mich fragt …“

Die Schleiereule schlug mit den Flügeln, als wollte sie Nadeshiko aufmuntern natürlich gab es keinerlei Zweifel, von wem sie gesprochen hatte … Doch genau dieser Besagte ging eben einer solchen Situation mehrfach aus dem Weg. Ohtah machte Nadeshiko keinerlei Andeutung – geschweige denn dass er den Ball ihr gegenüber überhaupt erwähnte. Hätte sie nicht einige Slytherins darüber tuscheln hören, hätte sie gedacht, sie wären von Professor Slughorn erst gar nicht erst informiert worden. Wollte er etwa vor ihr verheimlichen, dass er bereits ein anderes Mädchen gefragt hatte – womöglich sogar Livia? Kaum hatte sich dieses Bild in ihr Gedächtnis gebrannt, mied Nadeshiko die Große Halle so gut es ging und sah beim Essen nicht mehr von ihrem Teller auf. Dem Gemeinschaftsraum und der Bibliothek blieb sie ebenfalls fern; stattdessen verbrachte sie noch mehr Zeit als sonst mit Shirayuki auf Streifzügen um den Schwarzen See. Ein Teil von ihr wollte nicht zugeben, wie sehr sie dieser Umstand verletzte … welche Hoffnungen sie sich noch gemacht hatte.

In Wahrheit waren Nadeshiko´s Wünsche gar nicht so abwegig – nur Ohtah´s mangelndes Selbstvertrauen stand ihnen im Weg. Für ihn gab es keine intelligentere und schönere Hexe auf der Welt, nur wer war er dagegen? Der Abkömmling eines dunklen Zauberers … ein Schatten in der Dunkelheit, ihrer nicht würdig. Er konnte ein Freund für sie sein, ein Beschützer ... solange sie seine Gegenwart wünschte … Und gleichzeitig kam er nicht umhin die Veränderung Nadeshiko´s zu bemerken, seit der Ankündigung der Hauslehrer … wie hätte ihm auch ihr leidender Blick entgehen können. Derselbe Schmerz, den er selbst empfand, wenn er sich Nadeshiko mit einem anderen Mann an ihrer Seite vorstellte. Schließlich ertrug er es nicht länger und nahm die Schreibfeder zur Hand. Anschließend wartete er in der Eulerei auf Shirayuki – keiner anderen hätte er diesen Brief anvertraut.

„Flieg´ zu ihr …“, murmelte er ihr Federkleid kraulte, „Beenden wir diesen Zwist.“

Die Augen der Tytus funkelten verschwörerisch. Bevor Ohtah nach Hogwarts gekommen war, hatte er die Verbindung von manchen Zauberern mit ihren tierischen Gefährten für übertrieben gehalten – Nadeshiko und Shirayuki hatte ihn eines besseren belehrt. So fand die Schleiereule ihre Herrin problemlos am Ufer des Schwarzen Sees sitzend.

„Was bringst du mir denn da, meine Schöne?“, wollte sie verwundert wissen, denn das Kuvert trug weder Absender noch Empfänger.

Kaum hatte sie das Pergament jedoch entfaltet, erkannte Nadeshiko die Handschrift sofort und begann zu lesen: „>Liebste Shiko, verzeih´ mir. Ich bin echt ein ziemlicher Feigling, das weiß ich jetzt – ich habe mich nicht getraut, dich nach dem zu fragen, was ich mir so sehnlich wünsche … und nun da ich endlich diese Zeilen schreibe, befürchte ich, es ist ohnehin zu spät. Doch wenn dem nicht so ist … möchte ich dich bitten, mir die große Ehre zu erweisen, dich zum Ball begleiten zu dürfen. Dein Ohtah“

Nadeshiko hatte viele Schriftstücke von ihm in Händen gehalten – Mitschriften des Unterrichts, Aufsätze ihrer Hausaufgaben, Notizen zu den Verliesen oder auch kurze Nachricht. In keiner davon hatte er diese Anrede verwendet … Dieser Brief war nicht ohne Plan aufgesetzt worden und diese Tatsache berührte ihr Herz, an welches sie das Schreiben fest presste. Seine Schritte waren für ihre Ohren unverwechselbar – davon abgesehen dass Shirayuki bei jedem anderen Alarm geschlagen hätte. Langsam näherte Ohtah sich ihnen, nahm neben ihnen Platz.

„Direkt nachdem Professor McGonegall uns vom Ball berichtet hatte, hat Argo mich zu seiner Begleiterin auserkoren …“, berichtete Nadeshiko, den Blick unverwandt auf den Schwarzen See gerichtet, „Tja, ich habe natürlich abgelehnt – es gibt nur einen Jungen, mit dem ich diesen Abend verbringen möchte … Ohne ihn hätte ich diesen oder überhaupt einen Fluch niemals brechen können.“

Als hätte ihm jemand einen Schockzauber verpasst, starrte er sie perplex an. Sie lächelte und lehnte den Kopf gegen seine Schulter. Wie nur konnte er überhaupt an ihren Gefühlen für ihn zweifeln …
 

Die restliche Zeit verging, wie im Flug. Und Ohtah war nervös. Gut, genau genommen war das eher die Untertreibung des Jahrtausends. Unruhig lief er vor einer Säule neben dem Treppenaufgang hin und her. Und wenn sie gar nicht kam? Bereits eine Sekunde später schallte er sich einen Idioten … er vertraute Nadeshiko. Sie bedeutete ihm alles … Niemals hätte er es für möglich gehalten, solche Gefühle empfinden zu können.

Plötzlich ließ ihn sein sechster Sinn aufschauen. Ein Schauer lief ihm durch den ganzen Körper. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn ihn jemand gekniffen hätte – Nadeshiko war immer wunderschön, besonders in seinen Augen … doch nun gab sie dem Adjektiv eine völlig neue Dimension. Sie trug ein bodenlanges Kleid im asiatisch geschnitten Stil mit hohen Stehkragen aus einem tiefblauen Satin mit aufgedruckten, silbernen Sternenkonstellationen. Ihr Haar hatte sie zu einem eleganten Knoten hochgesteckt, abgerundet wurde ihre Frisur von einer mit Sternen geschmückten Tiara. Würdevoll schritt sie die Stufen hinab auf ihn zu und musterte dabei auch sein Outfit, bestehend aus einem weinroten Frack mit schwarzer Fliege und passendem Hemd sowie Weste. Als ihr Blick auf die rote Nelke in seiner Knopfleiste fiel, errötete Nadeshiko.

„Mir fehlen die Worte …“, hauchte der Slytherin und hielt ihr seinen Arm hin, „Prinzessin, darf ich Euch hineinführen?“

Sie lächelte ihn strahlend an, während sie sich bei ihm einhakte. Schon unzählige Male hatten sie einander berührt … und dennoch schlug ihr heute das Herz bis zum Hals. Sie wusste es schon lange, aber nie schien der sagenumwobene Moment gekommen. Die Suche nach den Verwunschenen Verliesen hatte im Grunde ihre gesamte Aufmerksamkeit gefordert – als sie nach Hogwarts gekommen war, hätte sie nicht damit gerechnet, jemandem wie Ohtah zu begegnen …

„Alles in Ordnung?“, fragte er leise.

Nadeshiko erwachte aus ihren Tagträumen und antwortete: „Ja, entschuldige. Weißt du, ich musste nur gerade daran denken, dass ich mir mein Leben ohne dich gar nicht vorstellen kann …“

Nun gebührte die verräterische Farbe Ohtah´s Wangen. Bevor er allerdings noch etwas erwidern konnte, erreichten sie den Eingang zur Großen Halle, die nicht mehr wiederzuerkennen war – die Haustische waren verschwunden und an der Stirnseite befand sich die Tanzfläche. Statt den Kerzen schwebten Lichtkugeln durch die Luft. Ohtah und Nadeshiko staunten über die aufwendige Dekoration, die definitiv auf Professor Flitwick´s Konto ging, und setzten sich an einen der runden Tische, auf denen Essen sowie Getränke aufgebaut waren.

In diesem Augenblick begann Professor McGonegall bereits mit ihrer Eröffnungsrede: „Langeweile ist ein Begriff, den Hexen und Zauberer nicht wirklich kennen – vor allem in Hogwarts. Leider kann das Gegenteil davon auch schreckliche Gefahren bergen … Es gleicht einem Wunder, dass wir diesen Abend gemeinsam begehen mit jenen, die dieses Schuljahr dem Schlaffluch erlagen. Daher sei dieser Ball ein Ausdruck der Freude und Mahnung – das Leben ist kostbar und sollte keineswegs leichtfertig riskiert werden, seien die Absichten auch noch so edelmütig.“

Die Rothaarige ahnte, dass dieser letzte Satz ihr galt … Ganz Hogwarts glaubte, die Flüche wären ihretwegen erneut aktiv. Ohtah drückte ihre Hand und Nadeshiko schüttelte kaum merklich den Kopf – dies war nicht die Zeit für trübe Gedanken. Mit einem Wink gab die Direktorin die Tanzfläche frei. Sofort sprangen die beiden auf und bewegten sich rhythmisch zur Musik. Der Großteil der Schüler folgte ihnen. Doch für Nadeshiko und Ohtah war es beinahe so, als wären sie allein im Saal. Die ersten Stunden vergingen wie im Flug und irgendwann zogen sie sich nach draußen zurück, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Unerwartet hielt Ohtah inne, sah zu Boden. Er hatte sich diesen Schritt fest vorgenommen …

„Shiko, es gibt da etwas, das ich dir sagen muss …“, erklärte er bedächtig und suchte den Blick ihrer schokoladenbraunen Augen, „Ich bin in dich verliebt … seit unserer ersten Begegnung!“

Vollkommen überrumpelt von dieser Offenbarung, schlug sich die Hände vor den Mund und Freudentränen liefen ihr über die Wangen. Wann hatte sie angefangen, von diesen Worten zu träumen? Und gleichzeitig sich davor gefürchtet, er könnte sie abweisen …

„Und ich liebe dich, Ohtah … von ganzem Herzen!“, schluchzte sie überglücklich, während sie ihm um den Hals fiel.

Im ersten Moment konnte Ohtah es nicht glauben, dass sie seine Gefühle wirklich erwiderte – eher hätte er damit gerechnet, sie würde ihm erklären, dass sie nur Freunde sein könnten … Um jeden Zweifel auszulöschen, überwand er den Abstand zwischen ihnen und berührte zärtlich ihre Lippen mit seinen. Ihre Arme zogen ihn noch näher an sich heran, sodass er ihren beschleunigten Herzschlag spüren konnte. Er lächelte in den Kuss hinein. Zum ersten Mal seit sie ihre Schwester verloren hatte, fühlte sich Nadeshiko wieder vollkommen lebendig …

Als sie sich etwas voneinander lösten, sah die Rothaarige dieselbe Empfindung auch in seinen Augen und flüsterte: „Sag´ mir, dass das wirklich kein Traum ist …“

Auf seinem Gesicht erschien das schiefe Grinsen, welches maßgeblich mitverantwortlich für ihre Gefühle ihm gegenüber war, als er sie leicht in den Arm zwickte. Unter gespielten Protest ihrerseits, begannen beiden zu lachen und Ohtah hob sie hoch, wirbelte Nadeshiko herum. Er war einfach nur unsagbar glücklich! In seiner Familie hatte er stets nur Disziplin und die Lehren der dunklen Magie zu spüren bekommen – sie befreite ihn von dieser Bürde. Für sie wollte er jemand gutes … besseres sein.

„Ich würde gerne noch einen Tanz wagen … mit meinem Liebsten.“, sagte Nadeshiko zwinkernd.

Elegant verbeugte er sich vor ihr und hielt ihr erneut den Arm hin, um sie wieder hineinzuführen.
 

Am nächsten Morgen stellte Shirayuki einen weiteren Brief an Nadeshiko zu – allerdings von Professor McGonegall, die sie unverzüglich zu sich ins Büro zitierte.

Die Direktorin erwartete sie an dem gewaltigen Schreibtisch sitzend, die Finger ineinander verschränkt und einem strengem Unterton in der Stimme: „Sie ahnen sicher, was ich Ihnen zu sagen habe, Miss Yosogawa. Es stimmt, ich bin Ihnen in gewisser Weise dankbar dafür, dass Sie erneut einen Fluch gebrochen haben … aber ich habe Ihnen letztes Jahr bereits gesagt, dass meine Mildtätigkeit eine Ausnahme sein wird. Ihre Tapferkeit würde wahrscheinlich selbst Godric Gryffindor mit Stolz erfüllen … doch Ihre Unvernunft und Naivität bringen Dutzende von Schülern in Gefahr! Daher kann ich Ihre Suche nach weiteren Verliesen nicht dulden – stattdessen können Sie Ihre überschüssige Energie beim Nachsitzen verbrauchen und hoffentlich beim Lernen für ihre ZAGs.“

Nadeshiko blinzelte ein paar Mal. Die ältere Hexe wusste, warum sie sich so verbissen voran kämpfte – und dennoch hatte sie die Rotharrige nicht der Schule verwiesen oder zumindest suspendiert, was ihr allerdings durchaus noch blühen konnte, wenn sie ihre nächsten Worte nicht weise wählte.

„Professor, es stimmt, ich bin eine Gryffindor … von ganzem Herzen.“, antwortete Nadeshiko und zog ihren Zauberstab aus der Umhangtasche, „Ebenholz, elfeinviertel Zoll, unnachgiebig und der Kern aus Phönixfeder – er hat mich erwählt … Ich werde das Vertrauen nicht enttäuschen, das in mich gesetzt wird!“

Professor McGonegall nickte nur. Es hatte keine Lüge darin gelegen … jedoch auch keine Zustimmung.
 

Vertrauensschüler beim Nachsitzen

Wenige Tage bevor Nadeshiko und Ohtah endlich wieder gemeinsam mit Klerus im Hogwarts-Express saßen und Pläne schmiedeten, bekamen die beiden Fünftklässler Briefe von ihren jeweiligen Hauslehrern. Statt der erwarteten Ermahnung bezüglich ihres Nachsitzens oder einer Erinnerung an das bevorstehende Prüfungsjahr, beinhalteten diese ihre Ernennungen zu Vertrauensschülern. Nadeshiko´s Mutter tanzte mit dem Abzeichnen durch die Wohnung und ihr Vater nickte anerkennend. Ohtah dagegen hatte seinem Vater natürlich wie üblich nichts davon erzählt – wahrscheinlich bekäme er ohnehin nur vorgeschlagen, seine neue Macht zu nutzen, um die Erstsemester zu tyrannisieren, anstatt auf sie zu achten … Allerdings stellten sich die Gryffindor sowie der Slytherin dieselbe Frage – warum war die Wahl ausgerechnet auf sie gefallen, wo sie doch selbst für ziemlichen Ärger in der Schule sorgten?

Professor McGonegall hatte wohl scherzeshalber sogar ein P.S. angehängt: „Ich glaube, in der Geschichte von Hogwarts sind Sie die einzigen Vertrauensschüler mit einer derartigen Strafarbeit … Ich weiß, Sie werden Ihre Sache gut machen.“

Ihr Vertrauen ehrte sie … doch brachte es, Nadeshiko nicht von ihrem Ziel ab. Zunächst einmal wollte sie Ohtah davon berichten – die Wochen ohne ihn schmerzten diesmal umso mehr, nun da sie sich einander endlich ihre Liebe gestanden hatten … Neben dem bevorstehenden Nachsitzen, der Prüfungen, ihrer neuen Vertrauensschülerarbeit, dem Fluchbrecher-Unterricht und der Suche nach einem weiteren Verlies ganz zu schweigen, war es jedoch vor allem das erste Jahr, welches sie als richtiges Paar verbringen würden … Manchmal erschien es der Rothaarigen noch immer wie ein Traum – ein Traum, von dem sie kaum zu träumen gewagt hatte.
 

Und so schwebten die beiden am ersten Schultag erst mal vollkommen auf Wolke sieben – nur abgelenkt von den zahlreichen Vorträgen über die ZAG-Prüfungen wie etwa dem von Professor McGonegall: „Sie wissen sicher, welche Bedeutung diesem Schuljahr für Ihr zukünftiges Leben inne wohnt – da einige Berufe bestimmte UTZ-Noten erfordern, entscheiden die Ergebnisse Ihrer ZAG-Prüfungen, welche Karrieremöglichkeiten Ihnen nach Hogwarts offen stehen. Daher kann ich nur jeden einzelnen von Ihnen beschwören, diese Sache ernstzunehmen – und überdenken Sie noch einmal rechtzeitig, wo Ihre Schwerpunkte liegen.“

Kannte man einen, kannte man alle. Dennoch zumindest ein kleiner Teil von ihr ging ihre Prioritäten für den Beruf des Fluchbrechers durch – als aller erstes Arthmantik und Alte Runen, dann natürlich Verteidigung gegen die dunklen Künste, Verwandlung und Zauberkunst, wobei Pflege magischer Geschöpfe ihr ja ebenfalls hilfreich sein konnte und im Grunde auch Zaubertränke. Bei Ohtah sahen die benötigten Noten nicht sonderlich anders aus. Hinzu kam noch, dass manche Lehrer sogar den höchsten ZAG, anstatt nur bestanden, für ihre UTZ-Klassen verlangten. Es würde eine Art Glücksspiel werden – denn ohne weiterführenden Unterricht, gab es keine Berechtigung in Hogwarts bleiben zu dürfen und damit nicht weiter nach Seiketsu suchen zu können …

Nadeshiko dachte erneut an den Hinweis zum vierten Verlies: „>Ich gratuliere dir … und will dich gleichzeitig warnen – die Verliese werden immer gefährlich, selbst wenn dir das gar nicht so erscheint. Und die nächste Lösung liegt im Fluch selbst versteckt!<“

Bedeutete das sobald sie den Fluch kannte, wusste sie, wo sie nach dem Zugang suchen musste?
 

Beim abendlichen Festessen fielen sowohl Nadeshiko, als auch Ohtah auf, dass Klerus fehlte – wie auf Kommando erhoben sich beide von ihren Plätzen und traten unter den verwunderten Blicken der restlichen Schülerschaft an den Lehrertisch.

Der Slytherin richtete sich an die Hauslehrerin seines Bruders: „Professor Sprout, verzeihen Sie unsere Unhöflichkeit, nur … wissen Sie, wo Klerus ist?“

Die Meisterin der Pflanzen sah zu ihrem Haus und antwortete: „Mister Monko? Also … nein, es tut mir leid. Sind Sie sicher, dass er nicht irgendwo zwischen den Schülern sitzt?“

Die beiden Vertrauensschüler schüttelten den Kopf. Von der Geschichte mit dem Verliesen einmal abgesehen, war Klerus die Korrektheit in Person – grundlos würde er der Begrüßungsfeier sicher nicht fernbleiben.

Professor McGonegall, die seine Abwesenheit ebenfalls beunruhigte, winke den Fetten Mönch, den Hausgeist von Hufflepuff zu sich: „Ein Schüler wird vermisst – Klerus Monko, viertes Jahr. Bitte, suchen Sie nach ihm und holen sich gern bei den anderen Geistern Unterstützung, diskret. Noch sehe ich keinen Grund, die restlichen Schüler in Panik zu versetzen. Das gilt übrigens auch für Sie, Miss Yosogawa und Mister Shadowdragon, halten Sie diese Situation für den Moment noch geheim. Ich denke, Sie wissen, warum …“

Nadeshiko sah zu Ohtah. Er wirkte blass – Angst hatte ihn ergriffen. Verschwundene Schüler bedeuteten in Hogwarts selten etwas gutes … Sie griff nach seiner Hand und kehrte mit ihm auf ihre Plätze an den Haustischen zurück, wo ihnen jedoch der Appetit vergangen war.

Die Schülerschaft bemerkte nicht, wie die Schulgeister die Nacht damit verbrachten, Klerus auf dem gesamten Gelände zu suchen. Kurz vor Sonnenaufgang alarmierte Peeves die Schulleiterin sowie die übrigen Hauslehrer – schockiert versammelten sie sich auf beim großen Treppenaufgang und betrachteten eines der zahlreichen Porträts, das nicht mehr nur eine einfache, schottische Landschaft zeigte ... ein in einem schwarzen Umgang mit gelben Applikationen gekleideter, blonder, junger Mann hämmerte gegen von innen gegen die Leinwand. Klerus war darin gefangen!

„Wir … haben es hier wohl mit einem neuen Fluch zu tun …“, hauchte Professor McGonegall, wobei sie die Tränen nur mühevoll unterdrücken konnte, „Die Vertrauensschüler sollen alle aus ihren Häusern in den Gemeinschaftsräumen versammeln.“

Und so kam es, dass die vier Hausgeister unter anderem Nadeshiko und Ohtah weckten. Die Botschaft war wie ein Schlag ins Gesicht – der Slytherin wollte am liebsten hinausstürmen und Klerus sehen, doch etwas hielt ihn zurück. Sein Bruder wäre sehr enttäuscht, wenn er die Pflicht seiner Anstecknadel vernachlässigen würde … Von den Lehrern wusste niemand von ihrem verwandtschaftlichen Verhältnis, daher konnten sie darauf keine Rücksicht nehmen. Dabei hätte er sich unbedingt bei ihm entschuldigen müssen … Im Hogwarts-Express hatte es keine Gelegenheit gegeben, da er Nadeshiko nichts von ihrem Streit erzählen wollte. Es war in den Sommerferien gewesen, da Klerus auf die Idee gekommen war, Ohtah könne ihn jetzt doch mal bei sich zu Hause besuchen … und so unter anderem die Mutter seines Halbbruders kennenlernen. Allerdings hatte sich alles in ihm gegen diese Begegnung gesträubt – jene Frau, die ihr Vater nur ausgenutzt und anschließend fallen ließ, konnte für ihn doch nur Abscheu empfinden … und er wollte die Verbindung mit ihm unter keinen Umständen negativ belasten. Natürlich war Klerus entsprechend beleidigt gewesen … In einem kurzen Moment der Schwäche schlug Ohtah die Faust gegen die Wand. Er hätte ihn beschützen müssen, irgendwie … Er war schließlich der Ältere! Egal zu welchem Preis – diesmal ging es nicht nur darum Nadeshiko zu helfen … dieser Fluch musste schnellstmöglich gebrochen werden!

Besagte war zu demselben Schluss wie ihre Hauslehrerin und ihr Liebster gekommen. Die Schüler von Hogwarts schwebten erneut in Gefahr … und sie wusste immer noch nicht, wer anstatt ihrer selbst der »Fluchmacher« sein könnte … Selbst wenn jemand aus Versehen in die Nähe des Verlieses von Eis und Schnee gekommen wäre, ein älterer Schüler zufällig das Buch in der Verbotenen Abteilung berührt und Professor Hagdrig im Verbotenen Wald ausgerechnet auf jene Acrumantula gestoßen wäre … Was könnte so kurz nach Schulbeginn zufällig den nächsten Fluch auslösen? Nein, irgendjemand innerhalb dieser Mauern kannte immer noch Seiketsu´s Geheimnis – alle Standorte und womöglich, was sie bewachten, warum sie existierten … jemand, der Nadeshiko weder behinderte noch unterstützte … und dennoch schien sie beinahe wie eine lebendige Schachfigur zu sein … Dieser grauenhafte Gedanke war ihr in den vergangenen Wochen bereits mehrfach gekommen – dass jemand die Suche nach ihrer Schwester ausnutzte, um die Rothaarige aus dem Weg zu räumen, sobald sie alle Drecksarbeit erledigt hätte …

Nachdem Professor McGonegall den Gryffindors die schreckliche Neuigkeit verkündet hatte, nahm sie Nadeshiko noch zu sich auf die Seite: „Ihren ersten Einsatz als Vertrauensschülerin haben Sie gut gemeistert. Ich hoffe doch sehr, Sie forschen nicht entgegen meiner Anordnung weiter nach den Verwunschenen Verliesen – Sie sollten Ihre verbliebene Zeit in Hogwarts besser dem Studium der Zauberei widmen. Und … sich nicht unnötig in Gefahr bringen. Überlassen Sie die Auswirkungen der Verliese Ihren Lehrern, Miss Yosogawa, und konzentrieren Sie sich auf Ihre Wiederholungen sowie das Nachsitzen – jeden Donnerstag um halb sieben werden Sie sich in der Küche einfinden. Der Zugang befindet sich im ersten Untergeschoss hinter dem Porträt mit dem Stillleben – Sie müssen nur die Birne kitzeln.“

Die Fünftklässlerin nickte. Sie musste dringend mit Professor Rien sprechen, wie es mit der Fluchbrecher-Nachhilfe weitergehen sollte und entgegen dieser Anweisung musste sie den Fluch schnellstmöglich aufheben, um Klerus zu retten! Allerdings sollte sie bald feststellen, dass die Meisterin der Verwandlung ihr mit der zusätzlichen Arbeit sogar einen Gefallen getan hatte – denn als sich Nadeshiko der Anweisung nach in der Küche eingefunden und ein rundlicher Hauself namens Pitts in die Arbeit, die hauptsächlich durch Geschirr spülen bestand, eingewiesen hatte, spitze sie sofort die Ohren. All die vielen Kreaturen, die hier unten arbeiteten, waren ebenso für die Instandhaltung und Ordnung im Schloss verantwortlich, wodurch sie vieles hörten, was zum Beispiel nicht für Schüler bestimmt gewesen wäre.

Eine der Hauselfen, die gerade unweit von ihr entfernt das Porridge mit Waldbeeren für das Frühstück vorbereitete, murmelte vor sich hin: „Es passiert immer wieder und wieder … kein Ende, arme Schüler … Das letzte Verlies müsste gefunden werden! Von dort kommen alle Flüche.“

„Woher weißt du davon?“, entfuhr es Nadeshiko, ehe sie sich beherrschen konnte, „Ach und kochst du die Grütze eigentlich immer? Das ist nämlich mein Lieblingsfrühstück!“

Lob war der Lohn eines Hauselfen, das wusste die junge Gryffindor nur zu gut – Mimi diente ihrer Familie seit vielen Jahren mit großem Eifer und als Kinder hatte es ihnen Spaß gemacht, sie so lange mit Komplimenten zu überhäufen, bis sie schamrot zu ihrer nächsten Aufgabe geflüchtet war.

„Oh, Ciri arbeitet so gern für die Schüler von Hogwarts! Miss Yosogawa´s ältere Schwester hat einmal dasselbe zu Ciri gesagt.“, entgegnete die Hauselfe mit einer tiefen Verbeugung, „Ciri hört immer zu – aber mehr weiß Ciri auch nicht, sehr geheimnisvoll die Verliese sind. Keiner ihren Ursprung kennt. Miss Yosogawa, muss sehr, sehr gut auf sich aufpassen, jawohl!“

Die Sorge ließ Nadeshiko schmunzeln. Zudem erfreute es sie, wieder etwas über Seiketsu´s Schulleben erfahren zu haben – ob ihr Vater davon wohl wusste? Seine beiden Töchter waren eben alles andere als perfekt.

„Danke, Ciri. Wenn … wenn du oder die anderen Hauselfen ganz zufällig etwas über die Verwunschenen Verliese erfahren, könntest du mir dann davon berichten? Damit ich … na ja, damit ich entsprechend auf mich und die anderen Gryffindor Acht geben kann, schließlich bin ich ja Vertrauensschülerin.“, meinte sie weiterhin lächelnd.

Ciri nickte eifrig: „Oh ja, selbstverständlich wird Ciri das tun. Miss Yosogawa ist so ein nettes Mädchen!“

Da musste die Rothaarige ihrer Professorin für die Strafarbeit wirklich dankbar sein. Wäre die Sache nicht so schrecklich, könnte man möglicherweise darüber lachen, auf welch kontroverse Weise Klerus dem entgangen war … Wobei einem Ohtah genauso leid tun konnte – er musste Argus Filch, dem gefühlt uralten, Katzen vernarrten und Schüler hassenden Hausmeister als Hilfskraft zur Hand gehen; was vor allem stundenlanges Polieren im Pokalzimmer beinhaltete. Apropos Klerus – er konnte ebenso wie die sonstigen Gemäldeabbilder von Rahmen zu Rahmen spazieren. Und so erschien er ein paar Tage später im jeweiligen Klassenzimmer, in dem sein Jahrgang unterrichtet wurde. Allerdings bleib der Hufflepuff dabei nicht allein – nach und nach verschluckten die Porträts immer mehr Schüler. An einem weiteren Donnerstag in der Küche wäre Nadeshiko beinahe zusammengebrochen, weil der Küchenchef Pitts den anderen Hauselfen verkündigte, dass bereits siebenundvierzig Schüler nicht mehr an den Mahlzeiten teilnehmen konnten. Von Jahr zu Jahr schienen die Flüche mehr Opfer zu fordern … und niemand vermochte zu sagen, wie sich die Gefangen auf sie auswirken würde. Kurz vor Ende ihrer Schicht kam Ciri in die Küche geeilt. Die Rothaarige hatte sich bereits gewundert, wo ihre geheime Verbündete wohl stecken mochte.

„Ciri hat Neuigkeiten gehört, als Ciri den Kamin im Lehrerzimmer gereinigt hat! Professor McGonegall hat sich mit Professor Rien unterhalten – über den Fluchmacher. Miss Yosogawa wird von vielen verdächtigt, aber nicht von den Professoren! Sagen, sie hätten beim letzten Mal schon den Fehler gemacht, Miss Yosogawa´s Schwester in die Enge zu treiben … und für ihr Verschwinden mitverantwortlich zu sein.“, berichtete das kleine Wesen so leise, dass sie niemand sonst hörte, „Miss Yosogawa muss wirklich sehr, sehr vorsichtig sein! Gefährlich ist die Macht der Verliese, verlockend … ja, ja.“

Nadeshiko drückte kurz ihre Hand, bevor sie erwiderte: „Ja, Ciri, ich weiß … Es muss einen Grund für ihre Existenz geben – etwas, das sie beschützen. Und was es auch sein mag, es darf nicht in falsche Hände geraten!“

„Miss Yosogawa ist eine wahrhafte Gryffindor!“, lobte die Hauselfe sie bewundernd.

Mit einem Lächeln dankte Nadeshiko ihr. Es wurde höchste Zeit für neue Nachforschungen! Und so verbrachte sie die nächsten Nachmittage erneut in der Bibliothek mit Studien über die hiesigen Porträts. Hinzu grübelte die Rothaarige über Seiketsu´s Beschreibung – beim letzten Wort blieb sie hängen. Auf einen Wink ihres Zauberstabs rief Nadeshiko Buchpassagen zu sich, welche sich mit Verstecken in Hogwarts beschäftigten.

„>Es befindet an jenem Ort, an dem alles versteckt ist – wer danach fragen muss, der wird es nie wissen … wer es weiß, für den genügt eine Frage.<“, las sie einen merkwürdigen Absatz, „Wo könnte man denn hier im Schloss >alles< verstecken? Sei … ich weiß einfach nicht, wo ich nach vier Jahren immer noch suchen soll …“
 

Es sollte angesichts der Umstände nicht recht verwunderlich sein, dass sich auch Ohtah´s Laune stetig verschlechterte – sein Halbbruder von einem Fluch malträtiert, seine Freundin kaum Zeit für ihn … Er selbst war ja neben den zahlreichen Hausaufgaben schon ständig mit seinen Aufgaben als Vertrauensschüler beschäftigt, hinzu kamen die wöchentliche Strafarbeit. Doch für das kommende Wochenende war wieder ein Ausflug nach Hogsmeade angesetzt und er wollte endlich mal ein paar unbeschwerte Stunden mit Nadeshiko verbringen …

Zu früh gefreut, denn einen Tag zuvor eröffnete sie ihm: „Es tut mir total leid – ich hab morgen eine Extrastunde bei Professor Rien. Du weißt ja, ProfessorMcGonegall nach London geflogen und da-“

„Soll das heißen, du verbringst deine Zeit lieber mit ihm?“, unterbrach der Braunhaarige sie wütend, „Warum, Shiko? Was will der Kerl eigentlich ständig allein mit dir?“

Im ersten Moment konnte die Gryffindor nur erstaunt blinzeln, ehe sie sich verteidigte: „Er ist ein Lehrer, verdammt nochmal, und riskiert trotzdem so viel, damit ich Sei finde! Was soll denn jetzt diese Unterstellung? Dabei weiß ich schon gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht – Fluchbrecher-Training überhaupt mal auf die Reihe bekommen, jede Woche Nachsitzen, wir sind Vertrauensschüler, suchen nach dem Verlies, ach und ZAG-Prüfungen haben wir auch noch vor uns! Ich … ich dachte wirklich, du würdest mich verstehen …“

Ihre Augen wurden feucht und sie wandte sich ab. Vielleicht hätten sie seinen Zorn besänftigt, so stapfte er einfach davon in Richtung Kerker. Zusammengesponnene Bilder von seiner Liebsten und ihrem Möchtegern-Nachhilfelehrer im Kopf.

Nadeshiko dagegen ging hinaus auf das Schlossgelände, um ihren Tränen freien Lauf zu lassen … nahe der Gewächshäuser setzte sich sich auf die Wiese. Es hatte bereits mehrfach Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben … doch niemals zuvor war Ohtah mit ihr im Streit auseinander gegangen – es entsprach partout nicht seiner Art. Aber seit sie ein Paar waren, schien alles anders zwischen ihnen. Er liebte sie … war eifersüchtig auf Professor Rien. Und ja, wahrscheinlich trug sie eine Mitschuld an der ganzen Situation. Dass sie den Ärger mit Professor McGonegall am Hals hatte und in Sachen Verlies nicht weiterkam, trug nicht gerade zu einem harmonischen Liebesleben bei.

„Tränen stehen einer solch schönen Frau aber ganz und gar nicht … Wenn du mir verrätst, wer dafür verantwortlich ist, fordere ich denjenigen sofort zu einem Duell heraus und mache ihn in deinem Namen fertig.“, sprach sie jemand an, gewohnt eine Spur zu überheblich.

Die Rothaarige wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und erwiderte: „Was soll das, Argo? Seit Jahren weise ich dich ab, dann sei jetzt gefälligst nicht so nett zu mir!“

Unbeeindruckt setzte er sich neben sie, um sie an sich zu ziehen, was sie geschehen ließ. Argo´s warme Arme trösteten sie.

„Ich kann nicht anders … meine Gefühle für dich sind einfach zu stark. Ich … wünschte, du würdest mir eine Chance geben, dir das zu beweisen, Nadeshiko …“, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Nadeshiko« … das waren nicht der Name und die Stimme, die sie hören wollte. Dieser Körper gehörte nicht ihrem Geliebten … Ihn wollte sie in Wahrheit bei sich haben, sich wieder mit ihm vertragen. Hastig löste sie sich von dem verblüfften Argo und stand auf, wandte sich zum Gehen.

Da rief er ihr hinterher: „Ich gebe dich nicht auf!“
 

Währenddessen erging es Ohtah nicht gerade viel besser. Im Gemeinschaftsraum – genauer gesagt aufgrund Livia´s Aufdringlichkeit – hatte er es nicht mehr ausgehalten und war durch das Schloss gewandert. Ein Teil von ihm wünschte sich, Nadeshiko zu begegnen … und gleichzeitig wusste er, musste er sich zuerst abreagieren. Nur wo? Im Duellierclub würde Ohtah momentan noch aus Versehen einen seiner Mitschüler verletzen und im Klassenzimmer von Verteidigung gegen die dunklen Künste zu üben, kam erst recht nicht in Frage. Als er bereits im siebten Stock angelangt war, lief er vor einem überaus hässlichen Wandteppich, der einen Zauberer sowie zwei Trolle in rosafarbenen Kleidchen zeigte, unruhig hin und her, wie eine eingesperrte Raubkatze. Es musste doch irgendwo eine Möglichkeit geben, seiner Wut unbeschadet Ausdruck zu verleihen! Hogwarts wäre nicht Hogwarts, wenn es nicht unzählige Geheimnisse bergen würde … So erschien in der Wand, vor der Ohtah gerade auf- und abtigerte, mit einem Mal eine seltsam verzierte Tür, die sich klickend öffnete. Ohne dieses Geräusch hätte der Braunhaarige sie wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen – verwirrt betrat er den fremden Raum, der voll gepackt war mit Übungspuppen, beweglichen Zielen, Büchern für Flüche und Gegenflüche. Ohtah staunte nicht schlecht. Von diesem Ort hatte er noch nie etwas gehört. War dies etwa so etwas wie ein geheimer Raum für die Lehrer? Doch wie und warum hatte er dann Zugang dazu erhalten? Als wären seine Gedanken gelesen worden – und das wurden sie, wie Ohtah gleich erfahren sollte –, flog eines der Bücher aus den zahlreichen Regalen auf ihn zu.

Seine Augen wanderten über die aufgeschlagene Seite: „>Der Raum der Wünsche kann jede mögliche Gestalt annehmen, ganz nach den Bedürfnissen desjenigen, der ihn aufsucht. Irgendwo in Hogwarts verborgen, zählt er zu dessen größten Mysterien.< Ich verstehe … Wow, Sei hatte wirklich recht – in Hogwarts ist nichts, wie es scheint.“

Da kam ihm plötzlich eine Idee.
 

Es war so etwas wie sein sechster Sinn, der ihn zielgenau zu Nadeshiko führte – in der Eulerei hatte sie die Nähe zu Shirayuki gesucht und sie mit Eulenkeksen gefüttert. Ebenso wie er, spürte sie sofort seine Gegenwart.

„Shiko …“, sprach Ohtah sie, was ihr eine sanfte Gänsehaut verursachte, „Ich möchte dir etwas zeigen.“

Die Ernsthaftigkeit in seinem Tonfall ließ die schöne Gryffindor ihren Streit beinahe vergessen, sie nickte und folgte ihm zurück ins Schloss, ohne ein weiteres Wort. Erneut an jener Stelle angelangt, schloss der Braunhaarige die Augen, visualisierte seinen Wunschvorstellung, ehe er dreimal auf- und ablief. Nadeshiko erschrak, als die massive Tür urplötzlich in der Wand erschien. Ohtah lächelte mild und bat sie voranzugehen. Beinahe kam es ihr so vor, ins Freie zu treten – nur der blaue Himmel fehlte; der Boden war mit saftigem Gras bedeckt, an den Seiten entlang standen japanische Zierkirschbäume. Manche der strahlend rosafarbenen Blüten lagen bereits auf der Erde, andere tanzten in der Luft. Wie lange war es her, dass sie einen solchen Anblick erlebt hatte? Ein Jahr vor Seiketsu´s Einschulung in Hogwarts waren ihre Eltern mit ihnen von Japan nach England gezogen … in ein Land, in dem sich diese empfindlichen Pflanzen nicht wohl fühlten.

Nun trat Ohtah in ihr Gesichtsfeld, nahm ihre Hand und sagte: „Dies ist meine Entschuldigung. Verzeih´ mir … Ich war wie von Sinnen aus Verzweiflung über Klerus´ Zustand und vor Eifersucht auf Rien. Weil ich liebe dich, Shiko! Dir allein gehört mein Herz, für immer …“

„Schönheit, Vergänglichkeit und Liebe – die Lektion der Kirschblüte …“, entgegnete sie, während sich eine leichte Röte auf ihre Wangen legte, „Ich war auch nicht gerade fair zu dir. Und natürlich liebe ich dich auch!“

Ihre Augen hielten einander gefangen, bevor sich ihre Lider schlossen und ihre Lippen sich berührten.

Lange lagen die beiden Hand in Hand im Gras und beobachteten, wie die Kirschblüten zu Boden sanken. Irgendwann setzte sich Nadeshiko auf, Sorgen warfen einen Schatten über ihre Züge.

„Diesmal sind wir – und besonders du – mehr von dem Leid des Fluchs betroffen …“, meinte sie schweren Herzens, „Ohtah, hältst du dem Druck dieser Mission in Zukunft wirklich stand?“

Er ergriff erneut ihre Hand, als er antwortete: „Klerus könnte ernsthaften Schaden nehmen, wenn wir ihn nicht befreien … vielleicht sogar sterben. Zum ersten Mal kann ich nachvollziehen, wie du dich die ganze Zeit fühlst – ich habe dir versprochen, dass wir es gemeinsam schaffen werden; ich lasse dich nicht im Stich, niemals!“

Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Ohne Ohtah hätte die Gryffindor sicher nicht die Kraft, mit all dem fertig zu werden … Und nun brauchte er sie genauso.
 

Die Monate verflogen – immer wieder ertappte sich Nadeshiko dabei, wie sie manchmal sogar tageweise gar nicht an das Verlies dachte; stattdessen stand Lernen häufig auf der Prioritätenliste, zumindest einige Fächer, andere ignorierte sie vollkommen. Selbst beim Strafdienst ging sie Formeln der Arithmantik durch oder malte mit dem Spülschaum Runen auf die Töpfe. Pitts, der Küchenchef beobachtete ihr Verhalten auf Anweisung der Direktorin.

So geschah es, dass er sie vier Wochen vor Beginn der Prüfungen zu sich rief: „Nadeshiko Yosogawa hat ihren Strafdienst in der Küche abgeleistet … Aber Professor McGonegall warnt sie, sich weiterhin nicht mit den Verwunschenen Verliesen zu beschäftigen, sondern an ihre ZAGs zu denken.“

Verwundert betrachtete sie den rundlichen Hauself, ehe die Gryffindor breit grinste: „Vielleicht handle ich mir ja nochmal Nachsitzen ein – ich bin froh, euch alle kennengelernt zu haben, wo ihr euch doch sonst vor den Schülern versteckt haltet.“

Damit machte Nadeshiko auf dem Absatz und erstarrte. In Hogwarts gab es viele Orte, welche verborgen lagen – die genaue Lage beziehungsweise den Zugang der Gemeinschaftsräume kannten nur die jeweiligen Hausmitglieder … die Küche konnte nur durch einen Trick betreten werden … und ein Raum bot einem alles, was man sich wünschte oder anders gesagt danach fragte … Wie vom Donner gerührt, rannte sie nun zur Tür hinaus – Richtung Eulerei. Vor dem Tür blieb sie nach Luft ringend stehen und rief nach ihrer geliebten Schleiereule.

Da die Gryffindor während ihrer Strafarbeit natürlich keine Schreibutensilien dabei gehabt hatte, erklärte sie: „Du musst Ohtah finden! Es ist sehr dringend – bring´ ihn in den siebten Stock zum Wandteppich. Bitte, Shirayuki, beeil´ dich!“

Einen kurzen Moment starrte das schlaue Tier ihrer Herrin noch in die Augen, ehe sie lautlos davonflog. Nadeshiko biss sich auf die Unterlippe – Shirayuki würde es schaffen! In all den Jahren war auch Ohtah ihr vertraut geworden …
 

Der Slytherin rannte so schnell, ihn seine Beine trugen. Shirayuki flatterte aufgeregt kreischend vor ihm her, peitschte ihn an. Ein Teil von ihm befürchte bereits das Schlimmste … Keuchend erklomm er die letzten Stufen zum höchsten Stockwerk und sofort warf sich Nadeshiko ihm in die Arme. Erst unfähig die Berührung zu erwidern, presste er sie anschließend nur umso enger an sich.

„Entschuldige, dass du dir Sorgen gemacht hast – aber ich weiß es jetzt!“, sagte die Rothaarige ebenfalls ganz aufgeregt.

Ohtah wusste augenblicklich, wovon sie sprach und beide sahen zur gewebten Abbildungen von »Barnabas dem Bekloppten«, welcher Trollen das Ballett tanzen hatte beibringen wollen … Und nachdem sie sich bei Shirayuki bedankt hatten, die daraufhin zu einem äußerst verdienten Nickerchen aufbrach, gingen die Vertrauensschüler gemeinsam dreimal davor auf und ab.

„Wo ist alles versteckt? Wir brauchen den Ort, an dem alles versteckt ist … Alles, alles, alles!“, murmelte Nadeshiko kaum hörbar.

Als die geheime Tür erschien, meinte der Braunhaarige entschlossen: „Für Seiketsu und Klerus!“

„Für unsere Geschwister!“, bestätigte sie und beide traten ein.

Ohtah kannte den Raum der Wünsche auf zwei Arten, Nadeshiko nur als japanisches Paradies – nun glich er allerdings einer riesigen Abstellkammer voller in Pyramiden ähnlicher Form aufgeschichteten Aschenhaufen … ein Überbleibsel der Schlacht von Hogwarts; hier hatte ein alles verzehrendes Dämonenfeuer gewütet. Ehrfürchtig erhob die Hexe ihren Zauberstab und schickte eine Lichtkugel voran, der sie folgten. Der Raum hatte unglaubliche Maße angenommen, daher dauerte es, bis Ohtah ein Stück Wand auffiel, welches anders als der Rest nur von Staub bedeckt war.

„Aquamenti!“, nutzte Nadeshiko einen Elementarzauber, um die Stelle zu reinigen.

Staunend betrachteten die zwei Schüler das fast Zimmer hohe Porträt eines Drachens, der vor einem verschlossenen Tor angekettet Wache hält.

„Wer stört meine Ruhe?“, fauchte eine Stimme, die nicht menschlich sein konnte – Macht schwang in ihr mit, alte und sehr mächtige Macht.

Mutig, wie ihr Haus es verlangte, trat sie der mystischen Bestie entgegen, welche sie kritisch beäugte, und antwortete: „Ich … ich bin Nadeshiko Yosogawa, das ist mein Begleiter Ohtah Shadowdragon – wir wollen den Fluch brechen, der von diesem Verlies ausgeht.“

„>Yosogawa< … schon wieder? Und ich dachte dieses einfältige Mädchen wäre Lektion genug gewesen.“, brummte der Drache.

Wie aus der Pistole geschossen entgegnete sie: „Was weißt du über Sei?“

„Außer, dass sie mich ebenfalls gestört?“, spottete er und bleckte die messerscharfen Zähne, „Wenn du wirklich den Wunsch hegen solltest, dasselbe Schicksal zu erleiden, musst du mein Rätsel beantworten … >Es gibt nur eines, das einen Drachen bezwingt … ist mächtiger als jede Feste und zerstört jegliches Leben.< Also, junge Hexe, wie lautet deine Antwort?“

Ihr erster Gedanke galt dem Feuer … aber gerade dieses würde den meisten Drachen nichts anhaben. Dafür würde eher das Wasser sprechen, geballt könnte keine Festung ihm standhalten … allerdings nahm es nicht sämtliches Leben, sondern schenkte es. Luft und Erde schloss sie ebenfalls aus – der Tod wäre auch einfach zu leicht als Antwort. Nervosität stieg in der Rothaarigen auf, da legte Ohtah ihr eine Hand auf die Schulter und sofort entspannte sie sich. Richtig, so lange er an ihrer Seite war, konnte sie alles überstehen!

„Die Zeit.“, sagte Nadeshiko entschlossen.

Mit einem quietschenden Geräusch öffnete sich das Tor auf dem Porträt, welches wenig später zur Seite aufschwang und einen dunklen Durchgang freigab. Im Verlies selbst war es stockfinster, was Ohtah mit »Lumos« zu beheben wusste. Ungewöhnlich kam ihnen zum einen die Länge des Weges vor, andererseits dessen Wände starren Abbildungen geplatzt – als wären sie … tot; kein lebendiges Geschnatter der Porträtierten, kein Gewandere. Kälte ergriff Nadeshiko´s Herz; für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie darüber nach umzukehren – hier herrschte nicht die Magie … etwas ganz anderes gab den Verliesen seine Energie … Wenn sich so die Verfluchten fühlen mochten, der Quelle ihres Seins beraubt, verstand sie endlich, warum einige von ihnen nicht nach Hogwarts zurückgekehrt waren … Die Grausamkeit oder besser gesagt Gefahr, sich hierher zu wagen, lag nicht unbedingt in den Gegner, die möglicherweise lauern könnten – sondern darin, sich in diesen fremden Kräften zu verlieren. Warum war ihnen das nur vorher nie so bewusst aufgefallen? Vielleicht weil Klerus zu den Opfern gehörte? Oder wurde diese Ausstrahlung von Mal zu Mal stärker? Ohtah gingen ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf. Ein undefinierbarer Ausdruck lag auf seinem Gesicht – die Rothaarige öffnete schon den Mund, um ihn zu ermutigen, da lächelte er. Keine Macht dieser oder jeder anderen Welt würde ihn jemals dazu veranlassen, seine Liebste zu verlassen, im Stich zu lassen! Erleichtert gingen beide weiter und fanden endlich das Herzstück – auch hier starrten leblose Darstellungen sie an. Aus der Innentasche ihres Umhangs zog Nadeshiko das Bild, welches sie und ihre Schwester zeigte, und hielt es vor der sechskantigen Säule hoch, woraufhin diese einen fein gearbeiteten, goldenen Dreizack preisgab.

„Wo sollen wir den denn verstecken?“, meinte Nadeshiko gespielt ernst.

Ohtah begann schallend zu lachen und hauchte einen Kuss auf ihre Lippen.
 

In den folgenden Stunden fand man sämtliche Schüler an jenen Stellen, an denen sie verschwunden waren – bewusstlos. Professor McGonegall organisierte mit den übrigen Lehrern schnellstmöglich den Abtransport ins Sankt Mungo Hospital. Währenddessen sollten die Vertrauensschüler ihre Häuser beruhigen und ihnen die frohe Kunde überbringen – die beiden heimlichen Helden waren dafür gerade rechtzeitig in ihre Gemeinschaftsräume zurückgekehrt. Erleichtert vernahmen sie bereits am nächsten Tag, die positive Nachricht des Krankenhauses, dass sich keiner der Schüler in Lebensgefahr befand. Der Slytherin konnte nicht verhindern, in die Knie zu sinken und Freudentränen zu vergießen. Doch so sehr sich das Schloss auch in Feierlaune befand – das Ende des Schuljahres stand ins Haus und so tummelte sich die halbe Schülerschaft dicht gedrängt in der Bibliothek, während Nadeshiko und Ohtah ganz gemütlich den Raum der Wünsche zum Lernen bevorzugten, der sämtliche, benötigen Bücher ebenfalls ausspuckte. Erst am Vorabend gönnten sie sich eine romantische Pause – Ciri hatte für das liebende Paar ein paar Kleinigkeiten zubereitet und in einem Picknickkorb verpackt neben Nadeshiko´s Bett gestellt. So lagen sie auf einem Meer von Kissen gebettet, fütterten sich gegenseitig und schwelgten in Plänen für die Zukunft.

„Ich weiß nicht, wie ich nur einen einzigen Tag ohne dich sein soll …“, gestand Ohtah und dachte an die nahenden Sommerferien.

Sie hob den Kopf, um ihn zu küssen, und murmelte: „Ich glaube, es wird Zeit dich meinen Eltern nochmal vorzustellen.“

Verwunderung spiegelte sich auf seinem Gesicht, dann verzogen sich die Lippen zu seinem typischen Grinsen. Diesmal zog er sie an sich.

„Ich liebe dich, Shiko …“, flüsterte der Braunhaarige nahe ihrem Ohr.
 

Die Jahresabschlussprüfungen waren nicht mit denen für die ZAGs zu vergleichen … In jedem Hauptfach gab es am Morgen eine schriftliche Prüfung von jeweils drei Stunden und nach dem Mittagessen noch einen praktischen Teil, der von einem Mitglied des Zaubereiministeriums abgenommen wurde – abgesehen von Geschichte der Zauberei und Astronomie, dort dauerte die Prüfung ganze vier Stunden, aber ohne Praxisteil. Und genau für diese beiden Fächer hatten Nadeshiko und Ohtah so gut wie überhaupt nichts gelernt. Zaubertränke war ein Fall für sich … die Gryffindor hoffte, dass ihre schriftlichen Ausführungen genügten, um den katastrophalen Plappertrank zumindest weitestgehend wieder auszubügeln. Ähnlich – beziehungsweise genau umgekehrt – war es ihr am vierten Prüfungstag mit Kräuterkunde ergangen; die Fragen hatte sie nur mau beantworten können, dafür schaffte sie einen relativ guten Umgang mit der ihr zugewiesen Fangzähnigen Geranie. Eine der schwersten Prüfung galt es in Verwandlung zu bestehen; unter den wachsamen Augen ihres Prüfers mussten die Fünftklässler ein Säugetier komplett verschwinden und wieder auftauchen lassen. Von Freitag bis Sonntag hatten die Schüler Pause – oder eher noch etwas Zeit zum Lernen. Direkt montags ging es mit Zauberkunst weiter, wobei ihnen diese praktische Prüfung schon fast Spaß machte – ein Ball wurde dabei in die Luft geworfen und sie musste ihn mit »Arresto Momentum« ganz sacht aufkommen lassen, zudem sollten sie ihren beeindruckendsten Zauber vorführen – Nadeshiko beeindruckte den Prüfer mit der perfekten Kontrolle über ihre »Inflamarae«-Flammen. Von den Hauptfächern fehlte nur noch Verteidigung gegen die dunklen Künste, bei dem sie sich am wenigsten Sorgen machten – selbst beim schriftlichen Part; zu zaubern galt es je einen beliebigen Fluch zum Angriff und einen Zauber zur Verteidigung, dessen Schwierigkeitsniveau über die Punktzahl entschied. Das erste, geprüfte Wahlfach war Pflege magischer Geschöpfe und sehr zu ihrer Überraschung hatte Professor Hagrid tatsächlich ein ordentliches Thema zu Stande gebracht – geflügelte Tierwesen, wobei die Schüler ihr Können beim Striegeln sowie Abreiten eines Abraxaner unter Beweis stellen sollten. Danach mussten Nadeshiko und Ohtah in verschiedene Prüfungen – Arithmantik und Alte Runen wurden ebenfalls nur schriftlich geprüft, hierbei strengte sich die Rothaarige besonders an; Ohtah´s Prüfung in Muggelkunde war der fehlenden Priorität zum Opfer gefallen. Nach diesen zwei mörderischen Wochen hätten die Fünftklässler am liebsten erst mal mindestens drei Tage durchgeschlafen … stünde nicht bereits am nächsten Tag die Heimfahrt mit dem Hogwarts-Express auf dem Plan.
 

Am vorletzten Abend lag der Gemeinschaftsraum in Gryffindor beinahe verlassen dar – die meisten Schüler waren mit Packen beschäftigt und feierten ein letztes Mal für dieses Schuljahr in ihren Schlafsälen. Nur ein einziger Absolvent wartete auf einem der gemütlichen Sessel vor dem prasselnden Kaminfeuer auf die schöne Vertrauensschülerin, deren Amtszeit mit der Rückfahrt nach London enden würde. Als Nadeshiko eintrat, um sich ebenfalls dem Inhalt ihres Koffers zu widmen, erhob er sich und wies auf den Platz neben sich. Sie wusste natürlich, dass er bereits seine UTZ-Prüfungen abgelegt und Hogwarts damit für immer verlassen würde …

„Willst du die verbliebene Zeit nicht lieber mit deinen Freunden nutzen?“, fragte sie und setzte sich.

Argo´s Miene wirkte unergründlich, während er weiterhin in die Flammen starrte: „Du hast meine Gefühle nie richtig ernst genommen, nicht wahr? Vielleicht hätte ich mich dir einfach mehr beweisen müssen … aber wahrscheinlich hätte das auch nichts geändert. Du hast ihn bereits geliebt, bevor du die Mauern dieses Schlosses zum ersten Mal betreten hast … Ist es nicht so?“

„Es tut mir leid, Argo … Ich dachte, wenn ich deiner Annäherung aus dem Weg gehe, würde dich das weniger verletzen und du alsbald das Interesse an mir verlieren – denn ja, ich wusste damals bereits, dass ich sie nicht würde erwidern können, weil mein Herz bereits Ohtah gehörte.“, antwortete die Rothaarige, „Trotzdem bin ich dir dankbar für diese Momente, in denen du für mich da warst. Und ich hoffe … nein, ich weiß, du wirst ein Mädchen finden, das dich ebenso liebt.“

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und er stand auf, ehe er meinte: „Danke, Nadeshiko. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns ja in ein paar Jahren bei Gringotts wieder – ich werde dort demnächst die Aufnahmeprüfung zur Fluchbrecherausbildung ablegen.“

„Oh, dann viel Erfolg! Und … wenn es so sein sollte, wie du sagst, nenn´ mich beim nächsten Mal >Shiko< – das tun alle meine Freunde.“, gab die Gryffindor zurück.

Er nickte und stieg die Treppe zu seinem Schlafsaal hinab.
 

Im Bann der Bande

Nadeshiko hätte nicht sagen können, wie ihre Mutter ihrem Vater die Zustimmung abgerungen hatte – zwei Wochen nach Beginn der Sommerferien hievte Ohtah seinen Schrankkoffer für Hogwarts sowie einen kleinen Trolley durch ihren an das Flonetzwerk angeschlossen Kamin. Entgegen all ihrer Erwartungen durfte er bis zum Schuljahresbeginn bei ihnen wohnen; natürlich im Gästezimmer und mit entsprechendem Benehmen – wenn sie nicht riskieren wollten, dass er wieder nach Hause geschickt würde … Trotzdem waren sie zusammen und das war alles, was zählte!

„Ryu-sama, willkommen zu Hause!“, begrüßte ihn Mimi, die hiesige Hauselfe mit einer tiefen Verbeugung.

Während sie, gefolgt von dem schwebenden Gepäck, davon tribbelte, schaute der Braunhaarige ihr verständnislos hinterher.

Nadeshiko schmunzelte und erklärte: „Mimi hat für jeden von uns Spitznamen – nach ihrer Geburt hat sie Sei als >Tenshi-sama< bezeichnet … das bedeutet Engel. Ich bin in ihren Augen eine Fee, >Yosei-sama< und du eben ein Drache. Otosama nennt sie übrigens >Oyakata-sama<, so nennt man seinen Meister und Okasan ist für sie >Kisaki-sama<, eine Königin.“

Nun umspielte seine Lippen ebenfalls ein Lächeln, als er antwortete: „Das ist auf jeden Fall etwas ganz besonderes. Was Klerus wohl für einen Namen von ihr bekommen würde?“

„Hmm … gute Frage – eine freundliche, höfliche Seele …“, grübelte sie kurz nach, „Ich weiß! >Monku-sama< – schließlich passt es zu seinem Nachnamen und er will ja auch Heiler werden, da passt Mönch sehr gut. Aber jetzt führe ich dich erst einmal herum!“

Noch nie hatte der Slytherin die Zeit außerhalb von Hogwarts so sehr genossen … sonst musste er sich in den dunklen Kammern des Anwesens herumtreiben, ging den anderen Familienmitgliedern aus dem Weg. Nun konnte er die Tage mit seiner Liebsten im Garten verbringen, gemeinsam erarbeiteten sie ihre Hausaufgaben und ihre Mutter freute sich ebenfalls über die Hilfe des jungen Mannes im Haushalt. Nach knapp einem Monat, seit Ohtah bei den Yosogawas eingezogen war, brachte Shirayuki zum Frühstück zwei dicke Briefe.

„Das müssen eure Zeugnisse sein!“, rief Nadeshiko´s Mutter aufgeregt und nahm der Schleiereule den Ballast ab.

Einen davon reichte sie Ohtah, den anderen übergab sie allerdings an ihren Mann. Dieser öffnete ihn und begutachtete die Ergebnisse mit strengem Blick, während Nadeshiko auf die Tischplatte starrte.

„Hm.“, machte er, „Genauso viele ZAGs wie erwartet, aber nur ein >Ohnegleichen< … das ist gerade noch so annehmbar. Ich erwarte bei den UTZs in zwei Jahren etwas mehr Einsatz von dir.“

Die Gryffindor nickte kaum merklich und las nun selbst – sie hatte gehofft, dass Verteidigung gegen die dunklen Künste ihr bestes Fach sein würde; wobei es bei Arithmantik und Alte Runen sicher knapp gewesen war. Dass sie in Geschichte der Zauberei durchgefallen war, überraschte sie natürlich keineswegs, ebenso wenig in Astronomie. Die beiden »Annehmbar« in Kräuterkunde und Zaubertränke bedeuteten, dass sie trotzdem beides in den höheren Klassen nicht mehr belegen würde. Ihr Zaubergrad insgesamt lag bei neun, genauso wie bei Seiketsu. Die Augen ihres Vaters wanderten zu Ohtah, der nun auch sein Kuvert öffnete.

„Zaubertränke, Verwandlung, Zauberkunst, Kräuterkunde und Pflege magischer Geschöpfe >Erwartungen übertroffen<. Und ebenfalls ein >Ohnegleichen< in Verteidigung gegen die dunklen Künste. Puh, alles geschafft!“, berichtete er Nadeshiko, die sofort zu lächeln begann.

Natürlich hatte Ohtah genauso weder bei Professor Binns noch Professor Sinistra bestanden – geschweige denn in Muggelkunde. Togo Yosogawa schnaubte leicht, doch die beiden Fast-Sechstklässler übergingen es – ihre Berufswünsche waren ein Stück realistischer geworden; zumindest falls Professor McGonegall sie nicht doch noch vor ihrem Abschluss vor die Tür setzten würde …
 

Auf dem Bahnsteig verabschiedete sich Nadeshiko von ihren Eltern und Ohtah bedankte sich herzlich für die Gastfreundschaft. Ihre Mutter zwinkerte kaum merklich. Als die beiden eingestiegen waren, suchten sie nach Klerus – ohne Erfolg. Sofort wurde ihnen unwohl zumute, bis sie endlich in der Großen Halle ankamen und ihn unter den restlichen Hufflepuffs an deren Haustisch erspähten. Wahrscheinlich waren sie irgendwie aneinander vorbei gelaufen … jedenfalls versuchte sein Bruder sich das einzureden. Allerdings blieb der Blonde die komplette Woche auf Distanz … Er mied jene Plätze, an denen sich die drei getroffen hatten und blieb stets von anderen umringt.

Irgendwann hielt es Ohtah aufgrund einer beunruhigenden Neuigkeit nicht mehr aus und fing ihn ab: „Warte, ich muss mit dir reden – Professor Sprout kam gestern auf mich zu. Sie … sie sagte, du würdest dein Nachholungsunterricht vernachlässigen. Klerus, du solltest froh sein, dass die Professoren auf die Idee kamen, mit euch den Stoff von letztem Jahr aufzuarbeiten.“

Deshalb hatten er und Nadeshiko sich bislang zurückgehalten – immerhin stand er nun als Fünftklässler vor seinen ZAG-Prüfungen. Seine Hauslehrerin ahnte zwar immer noch, dass sie sogar verwandt waren – doch hatte sie gehofft, er als sein Freund würde ihm schon ins Gewissen reden.

„Ich soll froh darüber sein? Ist das dein Ernst? Ich war in verdammten Portrait gefangen! Glaub´ mir, es hätte mich viel glücklicher gemacht ganz normal dem Unterricht zu folgen.“, keifte er vollkommen untypisch aggressiv.

Geschockt über seine Worte, wollte er sich erklären: „Wir könnten dir auch helfen, wenn-“

„Ihr?“, unterbrach Klerus ihn verärgert, „Ausgerechnet ihr … Ist diese ganze Situation nicht gerade eure Schuld? Diese widerwärtigen Flüche … alles nur, weil Shiko nach den Verliesen sucht!“

Wie im Affekt verpasste Ohtah seinem Halbbruder eine Ohrfeige und sagte: „Ich verstehe, dass du Angst hast … Diese Flüche sind furchtbar, absolut – aber Shiko ist unschuldig! Sie hat dich und alle anderen gerettet, Klerus! Seit fünf Jahren tut sie nichts anderes, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie all dem Einhalt gebieten kann. Ja, dieses Gerücht hält sich hartnäckig, Shiko würde die Flüche auslösen – trotzdem ist es einfach nicht wahr und ich dachte, du wüsstest das!“

„Denk´, was du willst … Dich hat sie längst um den Finger gewickelt – du bist ihre Marionette! Ich bin durch mit dem Thema.“, entgegnete er unbeeindruckt und wandte sich ab, „Ach, noch etwas – sprich´ mich erst wieder an, wenn du dich aus ihrem Bann gelöst hast.“

Niedergeschlagen schlurfte der Slytherin zu seiner Verabredung mit Nadeshiko am Ufer des Schwarzen Sees. Sie wollten die Magie des Raums der Wünsche schließlich nicht überstrapazieren – und bevor sie ihn gefunden hatten, war dies einer ihrer Lieblingsorte gewesen. Außerdem genoss es Shirayuki im Freien zu sein.

Als er sich neben die Gryffindor gesetzt hatte, fragte sie: „Hast du Klerus erwischt?“

Ohtah sah auf das Wasser. Die Wahrheit würde ihr hart zusetzen … vor allem da Klerus diese Worte gebraucht hatte. Sein Halbbruder war ihr beider Freund, Vertrauter geworden und nun wollte er nichts mehr mit ihnen zu tun haben …

„Er … er ist ziemlich im Stress. Also das mit der Unterrichtsteilnahme vom Porträt aus hat leider nicht so gut geklappt und jetzt muss er Nachhilfestunden nehmen.“, redete er sich heraus.

Nadeshiko nickte und meinte: „Wir könnten ihm doch auch beim Lernen helfen. So schlecht waren unsere ZAG ja doch nicht!“

„Nein!“, rief er erschrocken aus, wobei der Braunhaarige sich nur mühevoll wieder fangen konnte, „Also, Klerus möchte, dass wir unsere komplette Freizeit für das nächste Verlies nutzen.“

Enthusiastisch holte Nadeshiko das Notizbuch ihrer Schwester hervor und sagte: „Ja, da hat er vermutlich recht … Sicher will er, dass es so wenig Opfer wie möglich gibt. Gut, dann frisch ans Werk! Wo haben wir denn den nächsten Eintrag … >Meine geliebte Shiko, nun da du das hier liest, bist du alt genug, um die Wahrheit zu erfahren … Als ich von den Verwunschenen Verliesen erfuhr, wollte ich diese Macht unter allen Umständen ergründen – ich war blind! All diese Schüler werden nur unnötig in Gefahr gebracht und wer weiß, wie lange ich Hogwarts noch vor ernsthaften Verlusten bewahren kann. Würde nur ich ihr Geheimnis kennen, könnte ich meine Nachforschungen einfach sofort einstellen – aber so ist es nicht, nicht wahr? Bitte, sei sehr vorsichtig, wem du vertraust, Shiko! Der Schatz des letzten Verlieses darf niemals in falsche Hände geraten!< Schon wieder eine Warnung … Wenn ich bedenke, dass Sei ganz allein war …“

„Aber, Shiko, da steht nichts über den neuen Fluch oder sonst was!“, bemerkte Ohtah kritisch, „Ein Dreizack … Als wir Hinweise auf die Zentauren gesucht haben, wäre mir nichts zum Sternbild des Wassermanns aufgefallen.“

Sie schwieg. In ihrer Welt gab es unzählige Geschöpfe und Dinge, welche für die Muggel als Fiktion abgetan wurde … Vor ihren Füßen lag ein undurchschaubares Gewässer – wer konnte schon sagen, was sich alles daran verbergen mochte. Im Bad der Vertrauensschüler gab es eine Buntglas-Darstellung einer Meerjungfrau … Warum also nicht an ein mit Dreizacken bewaffnetes Meervolk glauben? Allerdings besaßen sie nicht die Fähigkeit unter Wasser zu atmen – und vielleicht lag Nadeshiko ja auch vollkommen daneben.

Dennoch meinte sie: „Wir sammeln Informationen über den Schwarzen See! Vielleicht können wir wenigstens einmal dem nächsten Fluch einen Schritt voraus sein …“
 

Montagmorgen brachten die Eulen wie üblich die Post. Nadeshiko rechnete nicht mit Shirayuki – stattdessen landete genauso unerwartet ein kleines Käuzchen neben ihrem Lieblingsfrühstück, das wie so häufig von der Hauselfe Ciri zubereitet worden war. Zur Belohnung fischte sie eine der Beeren auf ihrem Haferbrei und löste anschließend die Nachricht von ihrem Bein. Sofort erkannte die junge Gryffindor die tiefgrüne Tinte, welche nur von Minerva McGonegall benutzt wurde, die sie nach dem Unterricht in ihrem Büro sprechen wollte. Den ganzen Tag über plagte sie die Sorge, jemand hätte sie und Ohtah am Schwarzen See belauscht. Nichtsdestotrotz fand sie sich pünktlich bei der Direktorin ein.

„Guten Abend, Miss Yosogawa. Bitte setzen Sie sich.“, begrüßte die Lehrerin für Verwandlung ihre Schülerin, „Ich habe die Ferien genutzt, um noch einmal intensiv über Sie nachzudenken. Ich weiß inzwischen, Sie werden nicht auf mich hören, selbst wenn man Sie der Schule verweisen würde – auch wenn ich mir wünsche, Sie würden diese Sache Ihren Lehrern überlassen, komme ich dennoch nicht mehr umhin, Ihrem Erfolg Respekt zu zollen … Sie erinnern mich an einen ganz besonderen Schüler, der genau wie Sie eine … Mission hatte. Genau deswegen mache ich mir Sorgen um Sie. Macht ist verführerisch … und niemand ist gegen die Finsternis in seinem Herzen gefeit. Ich habe gesehen, wie Ihre Schwester mit dieser … Besessenheit nicht umgehen konnte, weil sie allein war – bei Ihnen ist das anders, nicht war?“

Noch konnte Nadeshiko nicht sagen, woraufhin dieses Gespräch hinauslaufen würde, dennoch nickte sie. So sehr sie sich wünschte, Seiketsu zurückzubekommen, könnte sie es nicht ertragen, Ohtah dadurch zu verlieren … Ihr Streit im vergangenen Jahr, der ihn zum Raum der Wünsche geführt hatte, war schrecklich gewesen. Urplötzlich flammte in ihr eine Erinnerung an ihre Schwester auf. Es war in den Sommerferien, bevor sie verstand …

Damals hatte sie nicht verstanden, wovon die Ravenclaw gesprochen hatte: „Shiko … irgendwann einmal wirst du mit den Erwartungen anderer an dich konfrontiert werden. Frage dich selbst, ob sie es wert sind … und verlier´ dich nicht selbst dabei.“

Ob es Argo´s Annäherungsversuche gewesen waren, die Sticheleien von Livia oder gar die Gerüchte über die Fluchmacher-Schwestern … all das hatte die schöne Rothaarige verdrängen können. Ja, manchmal war sie davon getroffen gewesen, doch sie hatte sich auf Ohtah stützen können und später sogar Klerus als Unterstützung bekommen.

„Egal, ob Glück oder Leid – ich bin daran gewachsen. Die Flüche zu bekämpfen, hat mich zu der gemacht, die ich heute bin.“, meinte Nadeshiko wie zu sich selbst.

„Dann vertraue ich darauf … Und ich kann kaum glauben, dass ich das wirklich sage – ich werde Ihnen helfen.“, sagte die Professorin und lächelte.

Sprachlosigkeit erfüllte die schöne Gryffindor, die nur mehrfach blinzeln konnte.

„>In Hogwarts wird jedem Hilfe zuteil, der sie redlich verdient.< Ich verstehe, dass ich Sie damit ziemlich schockiere … Allerdings ist dieses Schloss nicht nur das Zuhause der Lehrer – jedem sollte das Recht zuteil werden für das zu kämpfen, was er liebt. Diese Lektion musste ich bereits beim letzten, großen Kampf lernen …“, antwortete sie auf ihre entgleisten Gesichtszüge.

Die Schlacht von Hogwarts … dieser eine bestimmte Schüler … Alle Kinder der Zaubererwelt waren mit den Geschichten über den Jungen, der überlebt hatte aufgewachsen … den sagenumwobenen Auserwählten. Er war eine lebende Legende! Niemals hätte Nadeshiko gewagt, sich selbst im gleichen Atemzug zu nennen, wie Harry Potter – doch Minerva McGonegall hatte es getan, vollkommen ernst gemeint.

Gerührt betrachtete sie ihre Hauslehrerin und verbeugte sich tief, während sie entgegnete: „Ich werde Euch nicht enttäuschen, Professor! Habt vielen Dank.“
 

Um ihr Versprechen einzuhalten, begannen die beiden Sechstklässler ihre Recherche im Raum der Wünsche. Es war seltsam, Klerus nicht bei ihnen zu haben – obwohl Ohtah alles dafür getan hatte, damit Nadeshiko nicht die Wahrheit erfuhr, kannte sie ihren Geliebten einfach zu gut … Seine Lüge wäre ihr selbst mit geschlossenen Augen nicht verborgen geblieben. Daher hatte sie eigens eins und eins zusammengezählt. Und nur der pure Egoismus ließ die Rothaarige schweigen – würde der Slytherin zu seinem Halbbruder halten, käme das einem Scheitern ihrer Unternehmung gleich.

„Sieh´ dir das mal an.“, unterbrach Ohtah ihre trüben Gedanken, „Es gibt eine Theorie, nach der der Schwarze See ein Portal für spezielle Zauberkünste ist. Damit könnte genauso gut ein Verlies gemeint sein!“

Nadeshiko staunte nicht schlecht und erwiderte: „Wäre naheliegend … Professor Hagdrig hat mal erwähnt, dass die Wassermenschen-Kolonie, die Grindelohs und der Riesenkrake absolut harmonisch zusammenleben. Das Ökosystem soll selbst in unserer Welt einzigartig sein. Wir müssen mehr über sie wissen!“

Sofort kam der magische Raum ihrem Wunsch und ein aufgeschlagenes Buch mit einer ganzen Reihe verschiedener, meerischer Waffen erschien vor ihr – ihr Dreizack aus dem Verlies war zwar nicht haargenau dabei, doch erkannte sie die Ähnlichkeit der Verzierungen.

Auch der Braunhaarigen war auf einen weiteren, spannenden Aspekt gestoßen: „>Obwohl das Schloss Hogwarts vor über tausend Jahren als Stätte des Lernens erbaut wurde, sind längst nicht alle Rätsel um den angrenzenden See gelöst. Bislang erschien es unmöglich, ihn vollständig zu kartographieren.< Das heißt, selbst wenn wir es schaffen, unter Wasser zu atmen, fängt unser eigentliches Problem erst an.“

„Wobei das ja schon genügen würde …“, murmelte sie, als ihr plötzlich etwas einfiel, „Wir können Professor McGonegall nach einem Verwandlungszauber fragen! Jetzt, da sie auf unserer Seite ist, müssen wir unsere Nachforschungen ja nicht mehr verstecken.“

Beiden jagte es einen Schauer über den Rücken – fünf Jahre lang hatten sie beinahe eisern schweigen, ihre Suche geheim halten müssen … nun jedoch hatte sich ihnen eine neue Unterstützung aufgetan. Und genau diese Hilfe konnten sie gerade jetzt mehr denn je brauchen …

Denn als die Tage grauer wurden, machte eine Gruppe Schüler eine grauenhafte Entdeckung in der Nähe des Schwarzen Sees … ein Junge war vollkommen in Stein verwandelt worden! Zwar versuchten Professor McGonegall und Professor Flitwick den Zauber zu lösen, doch ahnten sie bereits, dass es sich hierbei um einen weiteren Fluch handelte. So wurde endlich das Rätsel um eine bestimmte Frage gelüftet … Warum warnten die Lehrer nicht vor der kommenden Gefahr? Jeder Verlies, jeder Fluch bildeten irgendwie eine Brücke – der Verbotene Wald beispielsweise beherbergte Wesen aus den Alpträumen mancher Hexen und Zauberer … und zum Träumen, egal ob gut oder schlecht, musste man schlafen –, allerdings zeigte sich diese Verbindung in jedem Zyklus anders … Um bei dem genannten Beispiel zu bleiben – während Seiketsu´s Zeit hatte das Verlies des Waldes wortwörtlich Alpträume über das Schloss gebracht, kaum ein Schüler schlief eine einzige Nacht noch durch.

Es war Ciri, die Hauselfe, die Nadeshiko und Ohtah im Raum der Wünsche davon und noch weit mehr berichtete: „Miss Yosogawa wollte wissen, wenn Ciri etwas ungewöhnliches hört – deshalb ist Ciri sofort hierher geeilt. Und die Grindelohs im Schwarzen See sollen sich auch schon länger ganz aggressiv verhalten.“

„Das hängt sicher ebenfalls mit dem Verlies zusammen … Dann gibt es keinen Zweifel mehr – es liegt tatsächlich unter Wasser!“, meinte die Rothaarige nachdenklich, „Ciri, wir schulden dir wirklich großen Dank!“

Mit einer tiefen Verbeugung winkte das kleine Wesen ab: „Nicht doch, nicht doch – Ciri ist es eine Ehre! Miss Yosogawa muss nur versprechen, weiterhin sehr vorsichtig zu sein. Und Mister Shadowdragon ebenfalls.“

Damit verabschiedete sie sich, eilte zurück an ihre Arbeit.

„Wir müssen uns am Schwarzen See umschauen. Und vielleicht sollten wir auch Professor Hagdrig unauffällig aushorchen.“, schlug die Gryffindor vor.

Doch der Braunhaarige schien ihr gar nicht recht zuzuhören. Seine Gedanken waren gerade bei jemand ganz anderem …

Sie berührte seine Hand, was ihn zurück in die Gegenwart holte, und sagte verständnisvoll: „Geh´ zu ihm, sprich´ mit ihm. Wahrscheinlich ist es besser, er erfährt es von dir, als durch irgendein Gemurmel auf den Korridoren. Und später schauen wir uns dann am Schwarzen See um, ja?“

Ein Teil von ihm wollte bereits fragen, wovon sie redete … doch er ließ es bleiben. Eigentlich hätte sich Ohtah von vornherein denken können, dass sie ihm seine Ausrede nicht abnahm – Nadeshiko kannte ihn besser, als er sich selbst.

„Es tut mir leid.“, flüsterte er im Hinausgehen, auf dem Weg in die Bibliothek.

Dort fand der Slytherin seinen Halbbruder mit einem Stapel Bücher – offensichtlich versuchte er den Stoff doch nachzuholen.

„Kann ich dir helfen?“, bot er an und setzte sich zu ihm.

Klerus verrollte die Augen, als er entgegnete: „War ich das letzte Mal nicht deutlich genug? Oder bist du etwa so schnell zur Vernunft gekommen?“

Fast griff Ohtah nach Zauberstab, aber er konnte sich beherrschen und antwortete: „Nicht, was du darunter zu verstehen scheinst. Du bist mein Bruder und ich mache mir Sorgen um dich! Das fünfte Verlies ist aktiviert worden – und bevor du auch nur daran denkst, Shiko hat damit absolut nichts zu tun.“

An jedem anderen Ort hätte Klerus panisch aufgeschrien. Das Grauen war zurück … Die ganzen Sommerferien lang hatten ihn Alpträume geplagt. Ein beengendes Gefühl umklammerte seine Brust. Es war leichter jemandem, den man kannte, die Schuld zuzuweisen – natürlich kannte Klerus die Wahrheit, er verhielt sich Nadeshiko und vor allem Ohtah gegenüber unfair. Aber das änderte nichts … er hatte Angst. Und Menschen verhielten sich häufig seltsam, wenn sie Angst hatten.

„Ich will nichts damit zu tun haben!“, zischte Klerus und klappte das Buch zu.

Anschließend marschierte er davon. Ohtah ballte die Hände zu Fäusten – er grollte nicht ihm, sondern den Flüchen. Es tat ihm weh, seinen kleinen Bruder so zu sehen …
 

Währenddessen war Nadeshiko in die Eulerei gegangen. Ein wenig Luftunterstützung konnte bei ihrer Erkundung nicht schaden. Shirayuki kam sofort angeflogen und landete auf ihrer Schulter. Um sie zu belohnen, gab die Rothaarige ihrer Gefährtin einen Eulenkeks. Ihre Nähe beruhigte Nadeshiko. Ohtah machte ihr zwar keine Vorhaltungen, doch ohne sie hätte er keinen Zwist mit Klerus …

„So allein, junger Fluchbrecher …“, sprach sie eine Stimme an, dessen Besitzer vollkommen vermummt war und in einen Kapuzenmantel gehüllt im Eingang stand.

„Wer bist du? Was willst du von mir?“, gab Nadeshiko schnippisch zurück.

Der Fremde zog einen Zauberstab aus dem Ärmel und richtete ihn auf sie. Mit einem Schulterzucken schickte die Gryffindor Shirayuki davon, die zurück auf ihre Stange flog.

„Sehr klug von dir, dein Haustier aus der Schusslinie zu nehmen. Da du ja gar nicht so dumm zu sein scheinst, lass´ mich dich ein letztes Mal warnen … Gib´ deine Suche auf!“, meinte ihr Gegner.

Nun zog auch Nadeshiko ihren Zauberstab und rief: „Expeliarmus!“

Doch er blockte ab und wirkte einen Blendzauber. Sie musste von dem gleißenden Licht die Augen zukneifen. Das Aufheulen der Eulen schwoll ohrenbetäubend an. Für eine Sekunde ergriff sie Panik – aber als sie wieder klar sehen konnte, war der Angreifer verschwunden. Shirayuki kehrte zu ihrer Herrin zurück, drückte ihr Gesicht an ihre Wange.

„Alles in Ordnung … Mir ist nichts passiert. Zumindest noch nicht … Wie kann so etwas nur in Hogwarts geschehen? Niemand kommt unbemerkt auf das Schlossgelände.“, murmelte Nadeshiko, bis sie stockte, „>Lass´ mich dich ein letztes Mal warnen …< Bedeutet das, von ihm stammt auch die Botschaft im Schlafsaal? Irgendjemand innerhalb dieser Mauer hat es wirklich auf uns abgesehen …“

Wenn sie Ohtah davon erzählte, würde er ihr keine Sekunde mehr von der Seite weichen … Wenn sie es nicht tat, mochte er unvorbereitet von dem Angreifer überrascht werden. Und sollte sie nicht mit Professor McGonegall darüber sprechen, dass entweder jemand in Hogwarts sie angegriffen oder sich jemand unerlaubten Zugang zu Hogwarts verschaffen konnte? Hier ging es schließlich nicht nur um sie allein … Wenn ein fremder, vielleicht sogar schwarz-magischer Zauberer auf das Gelände konnte, wären sämtliche Schüler in Gefahr! Hastig eilte sie die Turntreppe hinunter, zurück ins Schloss und hoch zum Büro der Direktorin, wo sie ihrer Hauslehrerin von allem berichtete.

„Das ist wirklich besorgniserregend … Danke, dass Sie gleich zu mir gekommen sind, Miss Yoseino.“, bestätigte Professor McGonegall, „Ich habe Gerüchte darüber gehört, dass das Ministerium von Ihren Aktivitäten in Sachen Verliese erfahren … und Interesse an Ihnen bekundet hat – das muss nichts mit diesem Vorfall zu tun haben, aber … Politik ist genauso grausam wie ein Fluch. In jedem Fall werde ich die Sicherheitsvorkehrungen erhöhen.“

Nadeshiko schluckte schwer und erwiderte: „Professor, ich … ich möchte nicht, dass sonst noch jemand davon erfährt … von der Schülerschaft. Ohtah … Es würde ihn wahnsinnig machen.“

„Ich verstehe. Mister Shadowdragon und den restlichen Schülern gegenüber kann ich schweigen – aufgrund des Statuenfluchs wollte ich ohnehin wieder eine Begleitung des Lehrkörpers zu den Unterrichtsräumen einräumen.“, erklärte sie verständnisvoll.

Dankbar verbeugte sich Nadeshiko leicht vor ihr, bevor sie das Büro verließ. In der Nähe des Schwarzen Sees fand sie Ohtah, der in ein Gespräch mit Professor Hagdrig vertieft war.

„Ich würde mich mit dem Riesenkraken nicht anlegen wollen, aber grundsätzlich hat er ein sonniges Gemüt. Die Meermenschen … tja, sie führen sozusagen eine Koexistenz mit Hogwarts, mögen allerdings keine Eindringlinge. Und die Grindelohs sind ein ganz anderes Thema. In letzter Zeit gibt es häufig ziemlich heftige Auseinandersetzungen im See … Ich weiß nicht, was mit ihnen los ist.“, erklärte dieser gerade, „Etwas muss sie unter Wasser aufgescheucht haben … Ach, was rede ich da – hätt´ ich bloß nix gesagt. Jedenfalls ist es gefährlich, verstanden?“

Damit stapfte der Hüne davon.

„Ein Irrtum ist wirklich ausgeschlossen.“, meinte der Slytherin, während sein Blick über das Wasser glitt.

Als wäre dies ihr Stichwort, erhob sich Shirayuki in die Lüfte. Die beiden lachten und machten sich ebenfalls auf Spurensuche.
 

Erfolglos hatten sich Nadeshiko und Ohtah an jenem Tag ins Schloss zurückziehen müssen … Und nur wenige Tage später, brach der Winter über sie herein. Dicke Schneedecken hüllten alles in sich ein, eine Eisschicht bedeckte den See – was auch immer sich darin befinden mochte, vor dem Frühling würden sie es nicht herausfinden.

Entsprechend niedergeschlagen über diese erzwungene Pause, kam die Ankündigung von Professor McGonegall beim Abendessen des ersten Schultages nach den Weihnachtsferien gerade recht: „Ich denke, die meisten von Ihnen wissen, dass dieses Jahr die Duell-Weltmeisterschaft stattfindet … und seit jeher gab es in Hogwarts sozusagen ein Pendant. Alle Sechst- und Siebtklässler können sich dafür anmelden – anschließend gibt es Vorrunden in den jeweiligen Häusern, bevor die vier Champions gegeneinander antreten. Der Gewinner erhält neben einem Pokal, der ihn hier in Hogwarts verewigen wird, ein einmaliges Empfehlungsschreiben für die Weltmeisterschaft! In den Gemeinschaftsräumen wird eine Teilnehmerliste ausgehängt. Sollten Sie irgendwelche Fragen haben, wenden Sie sich bitte an Ihre Hauslehrer. Das Turnier beginnt in der letzten Januarwoche – Sie haben demnach noch etwas Zeit, sich vorzubereiten; aber nicht auf den Korridoren!“

So gleich wanderte Nadeshiko´s aufgeregter Blick zum Tisch der Slytherins, wo sie dem von Ohtah begegnete. Im Moment konnten sie in Sachen Verlies ohnehin nichts unternehmen … ein bisschen Ablenkung sollte da nicht schaden. Er nickte mit dem schiefen Lächeln, welches sie so liebte. Auch ihm gingen diese Gedanken durch den Kopf. Nachdem sich die Schulleiterin gesetzt und das Mahl eröffnet hatte, erfüllte sich die Große Halle von Gesprächen über das Turnier. Es herrschte begierige Aufregung, die selbst in den folgenden Tagen nicht abriss. Klerus sowie einige andere Fünftklässler murrten, weil sie noch nicht teilnehmen durften, sondern stattdessen für ihre ZAG-Prüfungen lernen mussten.

Während Nadeshiko und Ohtah Shirayuki einen Besuch abstatteten, kam das Thema erneut zwischen ihnen auf: „Ohtah, was die Duelle angeht … Du musst mir etwas versprechen – sollten wir uns tatsächlich gegenüber stehen, halte dich nicht zurück!“

„Ich wusste, du würdest das sagen …“, entgegnete er und nahm ihre Hand, „In Ordnung, ich werde dich nicht kampflos gewinnen lassen. Und du lässt dich auf gar keinen Fall von irgendwem anders besiegen, ja?“

Lächelnd lehnte sie ihren Kopf gegen seine Schulter.
 

Fast alle Schüler des sechsten und siebten Jahrgangs hatte sich angemeldet, die zunächst in einigen Vorrunden gegen die Mitglieder ihres eigenen Hauses antreten mussten, welche in den leer geräumten Klassenzimmern ihrer Hauslehrer stand fanden. Nadeshiko war erleichtert, dass Argo bereits seinen Abschluss gemacht hatte; Ohtah dagegen kam nicht so glimpflich davon – er bekam es im Entscheidungskampf um den Einzug ins Halbfinale mit Livia zu tun!

„Was meinst du – wollen wir unser Duell nicht ein bisschen spannender gestalten? Wenn ich gewinne, gehst du mit mir aus … und vergisst endlich dieses lächerliche Löwenkind!“, forderte sie ihn heraus.

Ein Raunen ging durch die Zuschauer, während Ohtah erst lachte und dann entgegnete: „Und wenn ich gewinne, schwörst du bei deinem Zauberstab, dass du Shiko nie mehr belästigen wirst!“

Livia überlegte einen Moment, ehe sie zustimmte. Anschließend deuteten sie eine Verbeugung an.

„Bald wirst du nur noch Augen für mich haben – Conjunktivitio!“, rief die Slytherin.

Doch Ohtah wehrte ihren Bindehaut-Fluch hastig mit einem Schutzschild ab, bevor er »Muffliato« einsetzte – dieser Zauber verursachte ein dröhnendes Rauschen in ihren Ohren.

Mit den Händen gegen die Schläfen gepresst, schrie Livia ohne zu zielen: „Verkestatum!“

Der Braunhaarige musste nicht einmal ausweichen, so weit schlug der Schleuder-Fluch daneben ins Publikum, das erschrocken auseinander sprang. Sein »Levicorpus« dagegen riss sie von den Füßen und ließ sie kopfüber in der Luft baumeln. Damit hatte sie den Ring verlassen – Ohtah war offiziell der Sieger.

„Handelsübliche Zauber im Duell zu verwenden, ist eine sehr ausgeklügelte Taktik – Sie scheinen mir wahrhaft das Zeug zum Auror zu haben, Mister Shadowdragon.“, lobte ihn Professor Slughorn applaudierend.

Ohtah dankte ihm für das Lob und sagte zu Livia: „Halte dich an dein Wort!“

Ohne sie herunter zu holen, verließ er den Kerker. Unterwegs zum Innenhof des Glockenturms dachte er nach – auch er hatte ein Versprechen gegeben; natürlich würde Nadeshiko als Gryffindor-Champion gegen ihn antreten … Warum nur hatte er sich darauf eingelassen? Er musste gegen die Frau kämpfen, die er liebte! Genau das war ihr Wunsch … und damit alles andere unwichtig.
 

Sie hatte sich diesen Kampf gewünscht. Sie wollte diesen Kampf. Und gleichzeitig fürchtete sie sich davor … Jede Strategie, die sich Nadeshiko auch ausdenken konnte, würde Ohtah bis ins kleinste Detail vorhersehen … Er kannte ihre Art zu kämpfen – für gewöhnlich setzte sie vor allem ihre mächtigen Elementarzauber ein, um ihrem Gegner keine Zeit zum Erholen zu lassen. So hatte sie sämtliche Vorrunden und das Halbfinale gegen Hufflepuff gewonnen.

Mit den Fingerspitzengefühl strich die Rothaarige über das Notizbuch ihrer Schwester und flüsterte: „Ich will das Turnier unbedingt gewinnen, ich muss – nur dann weiß ich, ob ich wirklich bereit sein werde!“

Die Verliese verlangten mehr, als nur den Mut von Gryffindor … Manchmal fragte sich Nadeshiko, wie sie sich in Hogwarts ohne ihren Einfluss entwickelt hätte. In der nächsten Sekunde winkte sie dann schon wieder ab – im Grunde war es egal. Entschlossenheit packte sie ihren Zauberstab fester und verließ den Raum der Wünsche. Im Gemeinschaftsraum waren ihr einfach zu viele Menschen gewesen und wenn sie ehrlich war, fühlte es sich seltsam an, bejubelt zu werden – wo man sie doch schon jahrelang als »Fluchmacher« beschimpfte. In der Großen Halle, in der eine Tribüne samt Arena aufgestellt worden war, ließ sich der Auflauf natürlich nicht vermeiden. Doch die junge Hexe achtete nicht weiter darauf – ihre Augen hatten sofort die von Ohtah gefunden. Sie hielten einander mit ihren Blicken fest, während beide die wenigen Treppen hinaufstiegen, und ihr Duell von Madam Hooch angesagt wurde. Das Finale … der letzte Kampf in diesem Turnier …

„Bist du bereit?“, wollte Nadeshiko wissen, ohne sich abzuwenden.

Ebenso unbeirrt antwortete Ohtah: „Mein Wort bindet mich …“

Sie zeigten ihre Zauberstäbe vor und verbeugte sich voreinander. Genau wie erwartet wollte der Slytherin diese Sache so schnell, wie möglich hinter sich bringen – doch sie wich gezielt aus.

„Aquamenti!“, rief die Rothaarige das Wasser zu Hilfe, welches er mit einem Imprägnierungszauber abblockte, „Du willst es mir also wirklich nicht leicht machen …“

„Werd´ bloß nicht unvorsichtig, Shiko – Obscuro!", entgegnete Ohtah, was ihr großteils die Sicht raunte, „Stupor!“

Nadeshiko schützte sich instinktiv mit einem Schild und meinte beinahe spöttisch: „Als ob dieser Trick genauso bei mir funktionieren würde – aber ich habe eine Überraschung für dich!“

Ihr Zauberstab richtete sich gen Himmel … Am gespannten Himmel über der Großen Halle leuchteten die Sterne heller auf, die auf ihren Wink tatsächlich herabregneten! Für eine kurze Schrecksekunde starrte der Braunhaarige seine Gegnerin an … seine Geliebte, die offensichtlich alles daransetzte, um zu gewinnen … Dann machte sich die Angst vor den glühenden Gesteinsbrocken vollends in ihn breit – er wich bis über den Rand der Arena zurück. Panisch beobachtete er, wie die Geschosse die Zuschauer trafen – beziehungsweise durch diese hindurch flog und in gelben Funken zerstoben.

Inmitten dieses Feuerwerks schritt Nadeshiko auf Ohtah zu und erklärte: „>Stella Cascadia< ist nur ein Illusionszauber – ich wusste, du würdest mit allem rechnen … allerdings nicht mit einem Sternenschauer. Es tut mir leid, dass du für einen Moment denken musstest, ich würde dich ernsthaft verletzen wollen …“

Während ihrer letzten Worte konnte sie ihn nicht mehr ansehen, deshalb griff er unter ihr Kinn und erwiderte: „Nein. Du hast nur das getan, was du dir auch von mir gewünscht hast … Und solange es die Frau ist, die ich liebe, die mich besiegt …“

Weiter kam Ohtah nicht mehr – Nadeshiko hatte sich so sehr davor gefürchtet, etwas zwischen ihnen zu zerstören … da war es ihr vollkommen egal, was der versammelte Lehrkörper samt gesamter Schülerschaft dachte, als sie ihn stürmisch küsste. Seine Liebe war wahrhaft der größte Preis!

Professor McGonegall wartete einen Moment länger, ehe sie näher trat, um die Siegerin zu beglückwünschen, und so leise zu warmen, damit nur sie es hörte: „Sie sind eine überaus begabte, junge Hexe. Ihr Ziel könnte Ihnen unerreichbar vorkommen, sodass Sie vom rechten Weg abkommen … Vergessen Sie niemals – die dunkle Seite kann einen leicht verführen, doch sie bietet keine Stärke! Sie müssen sich und Ihre Fähigkeiten selbst wertschätzen – sonst wird in Ihnen nie jemand etwas anderes sehen, als … ein Schatten Ihrer Schwester, Miss Yosogawa, ob Sie diesem Ruf gerecht werden möchten oder nicht. Ihre Elementarmagie und Duellierfähigkeiten sind verblüffend – etwas, das Sie von Ihrer Schwester komplett unterscheidet.“

Nadeshiko nickte ernst. Sie würde sich diesen Rat zu Herzen nehmen.
 

Nach diesem Erlebnis fiel ihnen der normale Hogwarts-Alltag zunehmend schwerer – die Lehrer bestanden inzwischen auf ungesagten Zaubern, was Nadeshiko grässlich fand. Natürlich wäre es vor allem in Zweikämpfen von Vorteil, wenn der Gegner den nächsten Zauber nicht sofort erkannte … Ohtah zeigte ebenfalls nur mittelmäßiges Talent. Wahrscheinlich auch deshalb, weil beide noch verliebter waren, als jemals zuvor. Ihre Verbindung war noch tiefer geworden – daher nahm der Raum der Wünsche eher des Öfteren das Äußere eines trauten Liebesnestes an, statt einer Stätte des Lernens … Erst ein erneuter Ausbruch des Statuenfluchs verpasste ihnen wortwörtlich einen Dämpfer. Schuldbewusst suchte die Rothaarige daher den Krankenflügel auf – dort lagen im hinteren Teil die in Stein verwandelten Schüler. Ihre reglosen Körper machten sie traurig. Etwas schreckliches musste im Innern des Verlieses lauern … In der magischen Welt gab es gigantische Schlangen mit grellgelben Augen, deren Anblick einen töten konnte … oder versteinern, wenn man nur indirekt in diese hineinsah. Allerdings bedeutete »Versteinerung« hierbei, dass der Körper vollkommen erstarrte.

„Sind Sie krank, Miss Yosogawa?“, wollte Madam Pomfrey wissen, die mit einer dampfenden Schüssel hereingedribbelt kam, „Oder suchen Sie jemand bestimmten? In letzter Zeit kommen nicht mehr allzu viele Besuchen und den meisten Schülern ist es lieber, wenn ich sie draußen behandle. Es ist die Angst davor, sich bei den Opfern anzustecken … Vollkommener Blödsinn.“

Einen Moment lang war Nadeshiko versucht, Reißaus zunehmen … dann entschied sie sich allerdings dagegen und bot ihr stattdessen ihre Hilfe beim Benetzen der Steinkörper an. Die Arbeit beruhigte ihr schlechtes Gewissen etwas – gleichzeitig bereitete sie in Gedanken ihr nächstes Gespräch vor.

Denn anschließend führten ihre Füße die Gryffindor zum Büro der Schulleiterin, die sie endlich in ihr Wissen einweihte: „Professor, das aktuelle Verlies … befindet sich im Schwarzen See. Deshalb müssen wir unbedingt unter Wasser atmen können!“

Ihre Hauslehrerin schwieg lange, ehe sie sich zu dem beinahe lebensgroßen Portrait hinter ihrem Stuhl zuwandte, welchen den vorherigen Direktor Albus Percival Wulfric Brian Dumbledor zeigte: „Er pflegte fast schon freundschaftliche Beziehungen zum Meervolk und konnte ihre Sprache fließend, das würde Ihnen jetzt weitaus besser helfen, als meine Fähigkeiten … Allerdings hat er mir einmal erzählt, sie würden Musik lieben – vielleicht lassen sie sich dadurch ja sogar etwas besänftigen.“

Ein freudloses Lächeln erschien auf Nadeshiko´s Gesicht. Dann würde sich das stundenlange Üben in ihrer Kindheit ja endlich bezahlt machen – ihr Vater hatte verlangt, dass Seiketsu und sie traditionelle, japanische Instrumente der Geishas lernten.

Und Professor McGonegall fuhr ernst fort: „Seien Sie vorsichtig, Miss Yosogawa, dieses Gewässer beherrscht noch weitere Kreaturen. Ich habe versprochen, Ihnen zu helfen … selbst wenn ich dadurch ein Professorentum aufgeben müsste. Es gibt verschiedene Möglichkeiten … Dianthuskraut oder der Kopfblasen-Zauber erscheinen mir am sinnvollsten. Beides gewährt Ihnen ungefähr eine Stunde.“

Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile über das Für und Wider. Letztendlich entschieden sie sich für die pflanzliche Variante – sollten irgendwelche Komplikationen eintreten, wovon ja auszugehen war, konnte es erneut eingenommen werden und würde sogar in kampfunfähigem Zustand seine Wirkung nicht verlieren beziehungsweise erst nach Ablauf der Frist. Allerdings gab es hierfür auch einen Haken … es konnte erst in frühestens vier Wochen gepflückt werden. Bis dahin mussten die restlichen Vorbereitungen getroffen werden – und wenn sie ihre Unternehmung erneut in die Osterferien legten, wären die meisten Schüler zu Hause in Sicherheit. Mit diesem Gedanken machte sich die Rothaarige auf in ihren Gemeinschaftsraum. Zumindest wollte sie es – denn da trat ihr der verhüllte Fremde in den Weg, diesmal reagierte sie sofort und richtete ihren Zauberstab auf ihn.

„Du hast meine Worte also nicht ernst genommen … tapfer, wie es sich für eine Gryffindor gehört – aber kannst du auch wirklich mit den Konsequenzen deines Handelns leben?“, wollte er wissen.

Nadeshiko ließ ihn mit »Flipendo« etwas zurückweichen, ehe sie sagte: „Es ist vollkommen egal, mit was du mir drohst – ich werde den Fluch der Verwunschenen Verliese auf jeden Fall brechen!“

„Ach ja? Dann mach´ dich darauf gefasst, dass schon bald der Tod nach Hogwarts kommen wird!“, entgegnete der Vermummte.

Durch seinen Schleuderzauber krachte sie gegen eine der steinernen Wände. Dunkelheit umfing ihre Gedanken. Doch das hastige Nähern von Schritten unterbrach seine Taten und er zog sich zurück. Es war – natürlich – Ohtah, dessen sechster Sinn Alarm geschlagen hatte. Erschrocken eilte er an Nadeshiko´s Seite und versuchte sie vorsichtig zum Aufwachen zu bewegen. Ihre Augenlider flatterten, doch etwas hielt sie fest … Dieser letzte Satz hallte immer wieder durch ihren Geist und sie bereute ihre Worte – damit hatte er ihren Schwachpunkt getroffen. Während ihr Geist sich damit auseinandersetzte, trug Ohtah seine Liebste behutsam in den Krankenflügel, wo Madam Pomfrey ihr ganz aufgeregt einen Aufpäppeltrank einflößte. Langsam nahm Nadeshiko ihre Umwelt wieder wahr … Noch bevor sie die Augen öffnete, liefen Tränen über ihre Wangen. Ohtah hielt ihre Hand fester in seiner.

„Hol´ … Professor McGonegall. Sie muss es wissen …“, brachte sie mühevoll über die Lippen.

Die Heilerin hastete davon, während der Slytherin sein Zittern unterdrückte. Irgendetwas war ihr zugestoßen … bei einem missglückten Zauber würde sie nicht direkt nach der Schulleiterin verlangen. Außerdem … hatte er versagt – als ihr Liebster, ihr Beschützer. Da betrat auch schon Professor McGonegall den Krankenflügel. Mit etwas dröhnendem Kopf richtete sich Nadeshiko auf – Ohtah stützte sie dabei.

Sie brachte nur ein schwaches Lächeln zustande, bevor sie an ihn gewandt zu sprechen begann: „Ich wollte nicht, dass du davon erfährst … vor allem nicht so. Ein Fremder hat mich zum zweiten Mal herausgefordert – durch seine Kapuze konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Aber er hat etwas mit den Verliesen zu tun und versucht offenbar, mich aufzuhalten. Professor McGonegall habe ich es nach unserem ersten Aufeinandertreffen erzählt …“

„Mister Shadowdragon, bitte seien Sie nachsichtig … Sie können sich sicher denken, warum Miss Yosogawa Ihnen gegenüber geschwiegen hat. Es … es ist manchmal nicht einfach, eine solche … Rolle auszufüllen und gleichzeitig geliebte Menschen schützen zu wollen.“, unterbrach die Direktorin sie.

Der Braunhaarige sah weder sie noch Nadeshiko an. Etwas hatte nicht gestimmt … er hätte sie danach fragen sollen. Es stimmte – er wusste, warum sie geschwiegen hatte … um ihn nicht zu beunruhigen. Das tröstete ihn jedoch nicht, schmälerte nicht seine aufkeimende Wut … es tat weh, von ihr nicht ins Vertrauen gezogen worden zu sein.

„Da die Sicherheitsmaßnahmen überprüft und erhöht wurden, müssen wir also von einem Angreifer innerhalb des Schlosses ausgehen.“, fuhr die Lehrerin für Verwandlung fort, was ihre Schülerin per Nicken bestätigte.

Dieser Umstand versetzte Ohtah einen weiteren Schlag – Besorgnis machte sich ihn ihm breit, gefolgt von einem dankbaren Glücksgefühl, darüber dass es ihr soweit gut ging.

Nadeshiko lehnte sich gegen seinen Arm – egal, was er momentan von ihr dachte, sie brauchte seine Nähe für die nächsten Worte: „Er hat damit gedroht, jemanden in Hogwarts zu töten, wenn ich meine Suche nicht aufgebe.“

Zwar deutete diese Aussage nicht zwangsläufig auf ihren Tod, doch Ohtah legte von hinten seine Arme um sie, zog sie enger an sich heran. Er würde garantiert nicht zulassen, dass es soweit kommen würde! Und genauso wenig durften sie jetzt einfach aufhören – Nadeshiko könnte es niemals verkraften, wenn sie ihre Schwester im Stich lassen sollte.

Doch genau das schien Professor McGonegall zu erwarten: „Wir dürfen die Schülerschaft von Hogwarts unter keinen Umständen noch mehr gefährden.“
 

Muggle würden vielleicht von einer schleichenden Depression sprechen – in den folgenden Wochen war Nadeshiko nicht mehr dieselbe. Kein Lächeln verirrte sich auf ihre Lippen, sie blieb dem Raum der Wünsche fern und nutzte die Bibliothek nur für die Hausaufgaben. Sonst saß sie zumeist im Schlafsaal und starrte aus dem Fenster, zwar häufig in der Gesellschaft von Shirayuki … doch Ohtah ging sie, so sehr es möglich war, aus dem Weg.

„Irgendwo in diesem Schloss wartet jemand auf ein potenzielles Opfer … und Sei vergeblich auf meine Hilfe.“, murmelte die Rothaarige monoton, „Irgendwo … Und ich bin schuld – ich wollte nie, niemals, dass jemand meinetwegen in Gefahr gerät … Es stimmt, ich habe weitergemacht, obwohl ich als >Fluchmacher< bezeichnet wurde … weil nicht ich die Flüche aktiviert habe, dachte ich, ich würde jemanden aufhalten. Aber was, wenn … wenn derjenige nur die Flüche aktiviert hat, um mich aufzuhalten? Ich habe einen Fehler gemacht. Es ist meine Schuld.“

Sie musste eine ganz normale Schülerin werden … ohne Mission. Die Flüche hatten bereits genug Leid verursacht. Sie tauschte keine Leben ein … Alles in ihr schrie, aber ihre Gesichtszüge blieben ausdruckslos. Plötzlich hielt sie es innerhalb des Turms nicht mehr aus und wanderte ziellos durch die Stockwerke. Irgendwann stand Nadeshiko vor dem großen Treppenaufgang und betrachtete die lebendigen Portraits. Auch ein Fluch … jener, der Klerus in seinem Bann gehalten hatte. Seine Qual war schon ein zu hoher Preis gewesen – Seiketsu könnte es niemals ertragen, wenn jemand anderes ihretwegen gestorben wäre.

„Heute wirkt Ihr gar nicht, wie eine Anhängerin des edlen Godric Gryffindor!“, meinte der etwas in die Jahre gekommene und tollpatschige Sir Cadogan aus seinem Bilderrahmen heraus, „Sonst sah ich in Euch stets seine und vor allem meine überragenden Tugenden – Mut, Tapferkeit, Entschlossenheit, Geradlinigkeit, Gewagtheit, Ehrlichkeit, Standhaftigkeit!“

Nadeshiko sah ihn nicht an, als sie antwortete: „Mag sein. Vielleicht bin ich auch einfach nur im falschen Haus …“

Er zog sein Schwert und sprach: „>Ein Ritter gelobt die ewige Tapferkeit, sein Herz kennt nur die Tugend, sein Schwert verteidigt die Hilflosen, seine Macht unterstützt die Schwachen, sein Mund spricht nur die Wahrheit, sein Zorn zerschlägt das Böse!<“

„Aber was, wenn man selbst der Böse ist und für die Hilflosen, die Schwachen eine Gefahr darstellt?“, verlangte sie zu erfahren, während heiße Tränen in ihren Augen brannten.

Der Ritter lachte: „Dann muss ein Ritter des alten Kodex natürlich einen Weg suchen, um seinen Schwur dennoch zu erfüllen – genau das ist ja die Bürde eines solchen Versprechens. Aufgeben sind jedenfalls nie die Lösung!“

Endlich zogen sich ihre Mundwinkel wieder nach oben, während ihre Wangen von Tränen benetzt wurden. Sir Cadogan´s Worte entsprachen der Wahrheit … Weglaufen war einfach nur feige! Wenn sie jemand davon abbringen wollte, ihre Schwester zu finden, musste derjenige eben wie jedes andere Hindernis überwunden werden. Nach einer kurzen, dankbaren Verabschiedung rannte Nadeshiko hinaus auf den Innenhof und setzte sich an den Springbrunnen. Wochenlang hatte sie sich versteckt; die Chance war groß, dass er sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen würde. Und sie wurde nicht enttäuscht – nicht einmal eine halbe Stunde später löste sich eine Gestalt aus dem Schatten, welche ihr direkt einen Fluch entgegen schickte. Bereits gewappnet wollte die Gryffindor ihn abwehren, da erschien Ohtah, der sich im Dunkeln gehalten hatte, und stellte sich schützend vor sie. Niemand hätte zu diesem Moment ahnen können, dass der Drahtzieher von Anfang an ihn aus dem Weg räumen wollte – einen Keil zwischen beide zu treiben, hatte nicht funktioniert … also mussten sie auf andere Weise getrennt werden. Beinahe wie in Zeitlupe verfolgte Nadeshiko, wie er getroffen zu Boden fiel … Zum ersten Mal gelang ihr ein ungesagter Zauber, der ihren Gegner reflexartig schockte. Sofort schickte sie rote Funken in den Himmel – das allgemeine Notfallsignal in der Zaubererwelt. Kurz darauf eilten die Professoren McGonegall und Flitwick herbei.

Schluchzend flehte Nadeshiko, die seinen Kopf auf ihrem Schoß hielt: „Bitte, bitte, die helfen Sie ihm! Ein Fluch – ich weiß nicht, welcher! Bitte, Professor!“

Der Hauslehrer von Ravenclaw legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter, ehe er Ohtah mit einer Reihe von Zaubern belegte – »Finite Incantatem«, »Enervate« sowie »Episky«. So kam der ebenfalls geschockte Braunhaarige wieder zu sich.

„Ohtah!“, rief die Gryffindor erleichtert aus.

Er berührte ihr Gesicht und meinte noch etwas geschwächt: „Ich habe es dir und vor allem mir selbst geschworen – was auch immer passiert, ich werde dich beschützen … immer und immer wieder. Weil ich dich liebe …“

Schmunzelnd verordnete die Direktorin ihm einen Aufenthalt im Krankenflügel, in den Professor Flitwick in ihn begleitete. Zwar wollte Nadeshiko am liebsten bei ihm bleiben, doch hatte sie noch zu tun – während sie ihren Zauberstab auf den Fremden richtete, zog ihm Professor McGonegall die Kapuze vom Kopf herunter. Als wären sie vom Statuenfluch getroffen worden, erstarrten beide vor Schreck. Derjenige, der Nadeshiko herausgefordert, bedroht und Ohtah getroffen hatte, war Klerus!

„Ich glaube, Mister Monko schuldet uns eine Erklärung …“, hauchte die ältere Hexe, „Halten Sie sich bitte bereit, Miss Yosogawa, ich nehme jetzt den Zauber von ihm.“

Von dieser Verantwortung kam die Rothaarige wieder zu sich, umfasste den Griff des Kirschblütenholzes fester. Dann wurde der Hufflepuff von demselben Zauber geweckt, wie zuvor sein Halbbruder.

Verwirrt sah er sich um und fragte benommen: „Was mache ich denn hier im Innenhof? Oh, Professor McGonegall, was ist los? Und, Shiko, was … was soll das werden?“

„Mister Monko, haben Sie irgendeine Erinnerung daran, dass Sie sich – mehrfach – mit Miss Yosogawa duelliert haben?“, entgegnete die Schulleiterin argwöhnisch.

Wortwörtlich klappte Klerus die Kinnlade herunter und er suchte Nadeshiko´s Blick – der Schock in ihrem Gesicht ließ ihn anfangen zu zittern, als er sie ansprach: „I-Ich … Shiko, ich weiß nicht, was ich getan habe …“

„Professor, bitte, ich glaube nicht, dass Klerus aus freien Stücken gehandelt hat. Wir sind schließlich Freunde!“, verteidigte sie ihn, „Und der Angreifer … er klang auch gar nicht nach ihm – geschweige denn ist das Klerus´ Zauberstab da in seiner Hand!“

Er konnte kaum glauben, dass sie ihn für unschuldig hielt … trotz allem wie er sich in den letzten Monaten ihr ihr und Ohtah gegenüber verhalten, sich von ihnen angewandt hatte, hielt sie an ihrer Freundschaft fest … Ihre Argumente hatten auch Professor McGonegall überzeugt; sie nahm den fremden Zauberstab entgegen und überprüfte die zuletzt gewirkten Zauber – »Stupor«, den sich Ohtah eingefangen hatte, und »Imperio«!

„Der Imperiusfluch – einer der drei Unverzeihlichen Flüche … dadurch wird das Opfer komplett dem Willen des Zaubernden unterworfen.“, erklärte sie schockiert, „Wer einen solchen Zauber hier in Hogwarts gebraucht, ist sich seiner Sache sehr sicher … Mister Monko, zu Ihrer eigenen Sicherheit möchte ich, dass Sie nicht mehr allein unterwegs sind.“

Ein einstimmiges Nicken der beiden Schüler, denen es eiskalt den Rücken hinunterlief … Ohtah die Geschichte zu erzählen, entpuppte sich als ebenso große Herausforderung, wie Klerus überhaupt erst zu enttarnen. Dass er nicht sofort aus dem Krankenflügel stürmte und das gesamte Schloss nach dem Übeltäter absuchte, konnten sie nur schwerlich verhindern – vor allem da Madame Pomfrey ihn mindestens eine Nacht zur Beobachtung dabehalten wollte. Bevor sie sich verabschiedeten, umarmte Ohtah seinen kleinen Bruder fest. Klerus lächelte dabei etwas unsicher, zu groß war sein schlechtes Gewissen.

Draußen sagte er dann: „Ich habe mein Haus verraten … Helga Hufflepuff stand für Treue und Gerechtigkeit – ich dagegen war so unfair und habe euch im Stich gelassen! Aber … ich weiß einfach nicht, ob … Hogwarts überhaupt noch ein sicherer Ort sein kann. Verstehst du? Ich habe Angst! All diese grausamen Flüche … Was kommt als nächstes? Wer kommt als nächstes? Es ist wie ein immerwährender Alptraum!“

„Diese Fragen gehen mir ebenfalls durch den Kopf …“, antwortete Nadeshiko sanft, „Und … auch ich habe gedacht, ich hätte Schande über Gryffindor gebracht.“

Erst Verwunderung zeigte sich auf seinem Gesicht, anschließend sprach die Scham aus ihm: „Es tut mir leid, dass ich die Schuld auf dich projiziert habe … Ich weiß, du bist kein Fluchmacher – du bist der beste Fluchbrecher, den Hogwarts je gesehen hat!“

„Trotzdem wollte ich schon ein paar Mal alles hinschmeißen, doch das würde das Problem nicht lösen – und damit meine ich nicht nur, die Suche nach Sei … Die Verwunschenen Verliese werden so lange und immer wieder eine Gefahr für die Schüler dieser Schule darstellen, bis sie jemand endgültig bezwingt.“, erklärte sie entschlossen.

Klerus bewunderte ihren Kampfgeist. Eigentlich wollte er nicht zurück in den Gemeinschaftsraum, zumindest nicht heute Nacht. Gleichzeitig fühlte er sich nicht mehr berechtigt, den Raum der Wünsche zu benutzen … Doch Nadeshiko schlug genau dort eine gemeinsame Übernachtung vor.
 

Irgendwie hatten sie Frieden geschlossen … doch Klerus sehnte das Ende der Woche und damit den Beginn der Osterferien herbei. Anders als sonst blieb er nicht in Hogwarts bei Ohtah und Nadeshiko. Dafür hatten sie etwas zu erledigen – obwohl ihr Gegenspieler noch nicht enttarnt war, hatte Professor McGonegall ihre Zustimmung zu dem Unterfangen gegeben. Da derjenige jemand anderen benutzt hatte, wollte er oder sie offenbar nicht selbst offen in Aktion treten … Zeit selbst in die Offensive zu gehen.

„In Ordnung … Haben wir alles berücksichtigt? Dianthuskraut für die Atmung; Grindelohs und Kraken als potenzielle Gegner, Musik für das Meervolk … unsere Zauber werden nur die Hälfte ihrer normalen Kraft und Geschwindigkeit haben. Na ja, und mein Feuer können wir natürlich ganz vergessen. Irgendwie nicht gerade sehr … erfolgversprechend.“, meine die schöne Gryffindor nervös.

Der Braunhaarige zog sie auf seinen Schoß, küsste sie und entgegnete dann: „Zusammen können wir alles schaffen! Dieser Fluch muss enden.“

Lächelnd nickte sie in seiner Umarmung. Sie würden einen Weg finden … so wie Sir Cardogan gesagt hatte. Dennoch zitterten ihre Finger leicht, als sie nach ihrer Koto griff – es war eine Art Zither, die vor allem melancholisch durchdringende Töne erzeugen konnte. Wie ihre Eltern wohl geschaut hatten, als sie im letzten Brief um ihr Instrument gebeten hatte? Seit ihrem Eintritt in Hogwarts hatte sie nicht mehr wirklich darauf gespielt. Die Musik war etwas, das sie mit ihrer Schwester geteilt hatte … Nun kam es ihr so vor, als würde die Shamisen, die Laute von Seiketsu umso mehr fehlen. Während die letzten Klänge des Stücks verhallten, kräuselte sich die Wasseroberfläche des Sees … Und damit begann die Mission – sie hatten leichte Kleidung gewählt, einen Holster an ihrer Hüfte befestigt sowie einen Beutel. Nadeshiko verwahrte darin das Dianthuskraut, in Ohtah´s befand sich der verkleinerte Dreizack aus dem Verlies der Portraits. Sie packte die erste Portion heraus, reichte ihm die Hälfte. Bevor es seine Wirkung entfaltete, sprangen beide in das undurchsichtige Gewässer. Im ersten Moment schienen stumpfe Messer ihre Hälse entlang zu fahren … bis Wasser durch Kiemen flutete, Schwimmhäute zwischen ihren Händen gewachsen waren und ihre Füße in Flossen endeten. So ausgestattet glitten die beiden regelrecht schwerelos hinab in die grünlich schimmernde Tiefe. Jegliches Zeitgefühl ging hier verloren … Der See war gewaltig und genau genommen hatten sie keine Ahnung, wo sie nach dem Eingang suchen sollten. Der Grund war ihnen für den Anfang einfach am naheliegendsten erschienen – zudem hofften beide, in Ufernähe fündig zu werden, weil hier der erste Schüler versteinert gefunden worden war. Schattenhafte Gestalten ließen sie reflexartig die Zauberstäbe ziehen und die Grindelohs schocken. Sofort erschien ein Trupp bewaffneter Meervolk-Soldaten. Ihre Gesichter waren zu bedrohlichen Fratzen verzogen – außerdem ähnelten sie mit ihren gräulichen Körpern und den langgezogenen Gliedmaßen nur entfernt an die romantische Vorstellung einer Sirene, von der Schwanzflosse einmal abgesehen … dies waren schottische Selkies und jede von ihnen trug einen Dreizack, ihrem ähnlich. Die freie Hand des Braunhaarigen wanderte zu seinem Beutel, doch die Gryffindor hielt ihn zurück. Noch machten diese Wesen keinerlei Anstalten sie anzugreifen … da wäre es dumm, ihren Zorn auf sich zu ziehen.

„Ich weiß, die Auswirkungen des Verlieses belastet Euer Volk … auch deshalb wollen wir den Fluch brechen.“, sagte Nadeshiko ohne Furcht in der Stimme, „Wir sind Schüler von Hogwarts, dessen verstorbenen Schulleiter Albus Dumbledore Ihr … Respekt entgegen gebracht habt.“

Gemurmel in meerisch brach los, welches sie natürlich nicht verstanden. Eine der Selkies schwamm näher; auf ihrer Stirn glänzte ein schwarzer Obsidian, der in einem Reif eingefasst war.

Ein überraschend melodisch lieblicher Klang entstammte ihrer Kehle: „Einen Freund, so nannten wir ihn … denn Albus Dumbledore hat vor allem unsereins respektiert. Sein Verlust ist ein hartes Schicksal für diese Welt … aber nur das Wasser ist ewig.“

Ob sie damit nur vom Leben oder auch von den Verliesen sprach, mochte die Rothaarige nicht ausschließen. Auf einen Wink teilte sich die Menge, wies ihnen den Weg. Nadeshiko nickte der Anführerin dankbar zu. Das magisch erschaffene Licht konnte das dunkler werdende Wasser nur noch sehr spärlich erleuchten – und die Sonnenstrahlen kamen erst recht nicht soweit. Nadeshiko überprüfte zum wiederholten Mal ihre zweiten Rationen von Dianthuskraut … Da verstärkte Ohtah den Druck seiner Finger um ihre Hand. Und erneut erschauderte es sie, dass ihre Schwester sich diesem unwirklichen Terrain allein genähert hatte … Wie aus dem Nichts blitzten zwei glühend rote Lichter einige Meter voraus auf.

„Lumos Maxima!“, riefen sie gleichzeitig.

Vor ihnen schlängelte sich ein langer, geschuppter Körper, aus dessen Rücken ein ein spitzer Zackenkamm ragte … wie bei manchen Drachenarten – doch dies war weder ein Chinesischer Feuerball, noch ein Norwegischer Stachelbuckel, ein Ungarischer Hornschwanz oder gar ein Schwarzer Hebride. Gleichzeitig wies das Monster Ähnlichkeiten mit einem Krokodil sowie einem Wal auf … Und es schoss geradewegs auf sie zu! Der gewiefte Slytherin reagierte zuerst – er stieß Nadeshiko von sich und schoss einen Fluch auf es ab. Geschockt beobachtete er, wie sein Versuch, dem Ungetüm etwas anzuhaben, kläglich scheiterte … Wieder und wieder zauberte er – nichts schien zu helfen. Dennoch wütend geworden, schnellte der Schwanz der Bestie vor und wickelte sich um Ohtah. Vom Klammergriff gefangen genommen, verlor er seinen Zauberstab. Trotz Schockmoment schaffte Nadeshiko es, ihn per »Accio« zu retten. Da erfüllte ein Brennen ihre Lungen, ihre Haut kribbelte – die Wirkung des Dianthuskrauts endete! Eilig fischte sie einen weiteren Kloß aus ihrem Beutel, schluckte ihn herunter. Egal was … sie musste etwas unternehmen oder ihr Geliebter würde in den Fängen des Monsters ertrinken. Eine Schwachstelle musste her …

„>In Hogwarts wird jedem Hilfe zuteil, der sie redlich verdient.<“, hallten die Worte von Professor McGonegall in ihrem Gedächtnis wieder, als plötzlich etwas auf sie zugerast kam.

Nadeshiko schützte ihr Gesicht und hielt mit einem Mal einen alten Filzhut in der Hand … nein, nicht irgendeinen, alten Filzhut – sondern den Sprechenden Hut! In dessen Innern funkelte etwas … wie aus dem Affekt heraus griff sie danach und zog mit einem Ruck ein silbernes Schwert mit Rubinen heraus. Mehr Zeit, die neue Waffe zu betraten, räumte sie nicht ein – einen Strahl heißen Wassers durch »Incendio« als Antrieb nutzend, sauste die Gryffindor mit dem Schwert voran auf das Ungetüm zu. Kaum, dass es das Monster hätte durchstoßen müssen, verzerrte sich seine Erscheinung … Endlich begriff Nadeshiko, weshalb Ohtah´s Bemühungen wirkungslos geblieben waren … weil dieses Wesen nur eine Illusion war! Sie hatten geglaubt, es wäre übermächtig – in dieses Schwert dagegen hatte sie ihr volles Vertrauen gelegt. Die Bestie löste sich auf und sie eilte Ohtah zu Hilfe, flößte ihm den Nachschub an magischem Kraut ein. Sauerstoffreiches Wasser durchflutete seine Kiemen und er kam wieder zu sich. Lächelnd umarmte sie ihn, wobei Ohtah das Schwert mit großen Augen anstarrte.

„Erzähl´ ich dir später in Ruhe. Sieh´ dir das lieber mal an!“, meinte sie aufgeregt und zeigte auf das Loch, aus der ihr unechter Gegner gekommen war.

Gemeinsam schwammen sie hinein. Muscheln, Korallen, sogar Seesterne zierten die tiefe Felsspalte. Alles schien vollkommen normal für eine Unterwasserhöhle ... von der sechseckigen Säule im Boden einmal abgesehen. An Land hätte man Tränen in den Augen der Halbjapanerin sehen können – sie hatten das vorletzte Verlies erreicht! Ohtah nahm den Mini-Dreizack aus seiner Hüfttasche und gab ihm durch »Engorgio« seine ursprüngliche Größe zurück. Anschließend berührte er damit das Zentrum, welches sich sogleich öffnete – zuerst dachten beide, darin befände sich ein Ei … doch stattdessen erwachte das kleine Wesen zum Leben, hob den Kopf, streckte die Arme aus und entblößte seine Schwanzflosse. Es war eine Meerjungfrau, wie jene auf dem Buntglasfenster im Bad der Vertrauensschüler …

„Ihr habt das Abbild des Leviathan bezwungen … damit ist der Fluch gebrochen.“, sprach sie melodisch, „Nun erwartet euch nur noch ein Verlies … gefährlicher und mächtiger, als alle anderen zusammen. Geht und lauscht dem Lied des Meervolkes – es wird euch leiten.“

Damit löste sie sich in Schaum auf … Es gab keinen Gegenstand, welchen Ohtah und Nadeshiko an sich nehmen konnten – also folgten sie der Anweisung. Vor der Höhle hatten sich noch mehr Selkies versammelt … doch sie wirkten nicht länger feindselig.

Ohne ein ersichtliches Zeichen begannen alle gleichzeitig im Chor zu singen: „Ein Verlies in voller Macht, d´rum gib´ auf dich gut Acht. Die Häuser vereint … der Zwist verneint ... Suche nach dem hellen Schein und das Geschenk ist dein!“

Dies war der Hinweis … ihr Wegweiser … ein Rätsel, um das letzte Verwunschene Verlies und damit Seiketsu Yosogawa zu retten – das große Ziel in greifbarer Nähe!
 

Am Ufer erwarteten sie eine untypisch aufgedrehte Professor McGonegall, ein ebenso nervöser Professor Slughorn und ein schelmisch grinsender Professor Rien. Dankbar nahmen Nadeshiko und Ohtah die Decken an, welche sie bereithielten. Dabei starrten die drei Lehrer samt dem listigen Slytherin den Sprechenden Hut sowie die Klinge an, dessen Inschrift man nun erkennen konnte … »Godric Gryffindor«.

„Nicht vielen Schüler wird die Ehre zuteil, dieses Schwert in Händen halten zu dürfen … Nur ein wahrer Gryffindor vermag es zu führen.“, meinte die Schulleiterin anerkennend.

Etwas verlegen reichte Nadeshiko ihr die wertvollen Stücke, damit sie wieder sicher in Hogwarts verwahrt werden konnten. Um sich auf dem Weg dorthin nicht zu verkühlen, beschwor die Rothaarige ein paar tanzende Flammen herauf.

Dennoch trat Ramon Rien näher an sie heran und sagte: „Seit Jahrhunderten versuchen allerlei Hexen und Zauberer das Geheimnis der Verwunschenen Verliese zu ergründen – Sie sind dem so nah, wie sonst keiner, Miss Yosogawa. Es könnte sein, dass Sie Geschichte schreiben!“

„Es interessiert mich nicht, was für ein … Schatz am Ende auf mich warten würde – ich will einzig meine Schwester finden!“, entgegnete Nadeshiko, „Und diesem ganzen Wahnsinn endgültig ein Ende setzen.“

Seine Augen verengten sich, ohne dass er ein weiteres Wort sagte. Stattdessen schickte Professor McGonegall ihre Schüler auf direktem Weg in die Gemeinschaftsräume. Sie wollte einen größeren Auflauf um die beiden vermeiden, sobald das Ende des Statuenfluchs bekannt wurde und ging selbst zu Madame Pomfrey. Allerdings gehörten Nadeshiko und Ohtah ja bereits seit ihrem ersten Schuljahr eher zur unartigen Sorte – daher trafen sie sich, sobald Professor Slughorn und Professor Rien das Lehrerzimmer aufgesucht hatten, im Raum der Wünsche. Er wirkte fast wie ein Partyraum mit Girlanden, Luftballons und Konfettiregen. Euphorisch wirbelte der Slytherin seine Liebste umher, sie lachten und tanzten. Eis, Angst, Wald, Portrait und See – sie waren so weit gekommen!

Der Raum der Wünsche reagierte, kaum dass Nadeshiko daran gedacht hatte – Seiketsu´s Notizbuch erschien aufgeschlagen auf einem Sockel: „>Ich habe nie daran gezweifelt, dass du genauso weit kommen würdest, wenn ich scheitern sollte … Das Lied ist der Schlüssel, aber nicht der letzte Hindernis. Ein Verlies in voller Macht, d´rum gib´ auf dich gut Acht. Die Häuser vereint … der Zwist verneint … Suche nach dem hellen Schein und das Geschenk ist dein! Ob man es als Geschenk oder Schatz bezeichnet – irgendeine Macht verbirgt sich im letzten Verlies … und inzwischen habe ich eine Vermutung, wer hinter ihr … und mir her ist. Doch dieses Wissen würde dich im Moment noch in zu große Gefahr bringen. Vertrau´ nicht leichtfertig! Sei stark, meine geliebte Schwester, bis wir uns wiedersehen.<“

Seiketsu glaubte fest an die Rettung durch ihre Schwester …

Keine Tränen erfüllten die Augen der Rothaarigen – im Gegenteil, eher loderte ein Feuer in ihnen, während sie sagte: „Der Wettlauf um das letzte Verlies hat begonnen – was auch immer es beherbergt, ich werde es nicht in falsche Hände fallen lassen! Das schwöre ich, Sei …“

„Wir schwören es!“, ergänzte Ohtah zwinkerte, was ihm einen leidenschaftlichen Kuss bescherte, der allerdings jäh unterbrochen wurde – von einem Kratzen am Fenster.

Die Gryffindor ging, um nachzusehen, und ließ Shirayuki herein, welche ihr einen Brief überbrachte. Dieses Schriftstück trug das Siegel ihrer Familie! Sie erkannte an den fein säuberlichen Kanji sofort die Handschrift ihres Vater und ein lauter Jubelschrei brach aus ihr heraus. Verwundert blinzelte Ohtah mehrmals.

„Otosama bietet dir einen Platz in unserem Haus an! Also dauerhaft – du darfst bei uns wohnen!“, rief Nadeshiko euphorisch.

Nun starrte der Braunhaarige sie erst recht perplex an. Er wagte es kaum zu atmen. Bislang war ihr Vater stets als starrsinniger Japaner aufgetreten – wieso er nun mit diesem Verhaltskodex brach, konnten sich beide beim besten Willen nicht erklären.

„Hast du ihn darum gebeten?“, fragte Ohtah, etwas zynischer als beabsichtigt.

Sie setzte sich wieder zu ihn und entgegnete: „Nein … ich wollte es, sobald ich zu Hause wäre. Aber freust du dich etwa nicht?“

Diesmal ergriff der Slytherin die Initiative. Er musste ihr gar nicht mehr antworten.
 

In der folgenden Woche kamen sämtliche in Stein verwandelte Schüler wieder auf die Beine – die Gerüchte verbreiteten sich wie ein Lauffeuer … Doch besagte Verdächtige schwiegen eisern; die Professoren hatten das Seeufer während ihres kleinen Ausflugs erfolgreich vor Publikums abgeschirmt. Dafür stand bereits Ablenkung in Form des nächsten Großereignisses ins Haus, zumindest für die Sechstklässler – und genau genommen auch für Fünftklässler wie Klerus, die sich ihren ZAG-Prüfungen zuwenden mussten –, die Hauslehrer hatten sie alle in der Großen Halle zusammengerufen, um ihnen von einem freiwilligen, sechswöchigen Apparierkurs zu berichten, welcher von einem Lehrer des Ministeriums an den Wochenenden durchgeführt wurde. Apparieren war neben der Nutzung eines Portschlüssels oder Flopulver die schnellste und zudem ortunhabhängste Art zu Reisen – jedenfalls außerhalb von Hogwarts.

Ohtah schaute seufzend zu seiner Geliebten und meinte: „Schluss mit ausruhen – als professionelle Fluchbrecher und künftiger Auror wäre es wohl etwas lächerlich, nicht teilzunehmen, nicht wahr?“

„Tja, wir sind eben in Hogwarts – hier ist immer etwas los.“, antwortete Nadeshiko lachend.

Es war beinahe wie ein Déjà-vu … nur umgekehrt – in ihrem ersten Schuljahr hatte der Braunhaarige ihr die Angst vor dem Flugunterricht genommen, nun musste die Rothaarige ihm ebenso beistehen. Wilkie Twycross, der sie unterrichtete, hatte ihnen die schonungslosen Tatsachen vor Augen geführt – vom Stürzen in eine Schlucht, weil der Zielpunkt nicht erreicht worden war, über das sogenannte Zersplintern, wenn ein Teil des Körpers beim Apparieren zurückblieb, bis hin zum Gefährden der Zaubererschaft, sollte man mit unter Mugglen erscheinen. All das ängstigte Nadeshiko keineswegs – es hing allein von ihr selbst ab, nicht von einem Stück Holz, einem verzauberten Gegenstand oder einem gemauerten Raum voller grüner Flammen.

„Du musst vertrauen in dich haben.“, meinte sie beinahe beiläufig auf dem Weg zur nächsten Apparier-Stunde, „In Japan erzählt man sich, die Ninjas der alten Zeit konnten von einem Schatten zum nächsten springen, um sich ungesehen fortzubewegen – wie beim Apparieren. Und dies ist dein Element.“

Abrupt blieb Ohtah stehen. Ein Schattenschritt … Mit dieser neuen Sicht fokussierte er seine Gedanken und landete punktgenau am vorgegeben Zielort.

Auf dem Rückweg gingen sie Hand in Hand und er sagte: „Eine sehr reizvolle Aussicht immer und überall zu deiner Rettung auftauchen zu können.“

Ein Kichern entwich ihrer Kehle. Er war einfach unverbesserlich! Im Laufen lehnte sie den Kopf an seine Schulter. Bereits in diesem Augenblick wusste Nadeshiko, dass Ohtah die Prüfung mit Bravur meistern würde – sie selbst stellte sich ebenfalls sehr geschickt an. Und kaum hatten sie ihre Urkunde in der Hand, saßen sie kurz darauf schon beim großen Abschiedsbankett des Schuljahres.

„Das Schuljahr ist zu Ende … selbst wenn die vergangenen Ereignisse uns noch lange beschäftigen werden. Doch heute feiern wir eure diesjährigen Errungenschaften!“, verkündete die Schulleiterin und klatschte in die Hände, „Es ist Jahrzehnte her, dass zwei Häuser dieselbe Punktzahl erreicht haben und sich den Hauspokal teilen – herzlichen Glückwunsch Gryffindor und Slytherin!“

Dies war ihr Geschenk … ein geteilter Sieg ihrer beiden Häuser für das Brechen des Statuenfluchs.
 

Wechselspiel: Fluch und Wahrheit

Zum letzten Mal für sie neigten sich die Sommerferien ihrem Ende entgegen – bereits am nächsten Tag würde der Hogwarts-Express beide zu ihrem Abschlussjahr fahren. Hand in Hand spazierten Ohtah und Nadeshiko den kleinen, steinigen Strand entlang, während die Sonne am rötlichen Horizont versank. Da sie inzwischen volljährig waren, hatte ihr Vater ihnen etwas mehr Freiräume eingeräumt.

Unvermittelt blieb der Braunhaarige stehen und kassierte damit einen verwunderten Blick seiner Begleiterin, der sich noch verstärkte, als er ihr eine Kette mit einem Anhänger überreichte: „Also, Shiko, ich … ich wünsche mir nichts sehnlicher, als für immer mit dir zusammen zu sein. Nadeshiko Yosogawa, ich bitte dich, heirate mich …“

Ein Zittern durchlief ihren Körper, beinahe begann sie zu schluchzen: „Ich will deine Frau werden, Ohtah, so sehr … Aber ich … ich kann mich dir nicht versprechen, nicht heute.“

Aus Angst ihn verletzt zu haben, starrte Nadeshiko auf den Boden, da lachte Ohtah plötzlich: „Erst die Mission. Ich wusste, du würdest das sagen – deshalb ja heute. Denn schließlich kämpfen wir genau dafür … um gemeinsam leben und lieben zu können.“

Verständnislos beobachtet sie, wie er das Medaillon öffnete. Darin waren drei Fotos enthalten – in der Mitte zwinkerte ihr Ohtah selbst zu, Klerus winkte von der rechten Seite aus zaghaft und links zeigte das letzte Bild eine lächelnde Seiketsu.

„Ich … habe mit deinem Vater gesprochen. Er hat keine Einwände – zumindest solange wir bis nach dem Abschluss warten.“, meinte er nun eine Spur verlegener, „Und glaub´ mir, Shiko, wir werden das Abschlusszeugnis von Hogwarts mit nach Hause nehmen!“

In einem erstickten Jubelschrei warf sich Nadeshiko ihm in die Arme und sie küssten sich. In diesem Moment ahnte keiner der beiden, welche Schrecken sie bis dahin noch erwarten würde …
 

Am Bahngleis neundreiviertel geschah etwas, was Nadeshiko niemals für möglich gehalten hatte – erst umarmte ihr Vater sie selbst und anschließend Ohtah.

„Ohtah-san, mein Junge, bring´ sie mir heil wieder!“, sagte Togo Yosogawa mit leicht zitternder Stimme.

Ihre Mutter lächelte milde; wahrscheinlich kannte sie ihren Mann am besten auf die ungewohnte Art. Das letzte Jahr in Hogwarts hatte ihnen schon einmal eine Tochter geraubt … ein weiteres Mal könnten beide nicht ertragen. Doch der Braunhaarige hatte es geschafft, ihr Vertrauen zu gewinnen und vollkommen als zukünftiger Schwiegersohn akzeptiert zu werden. Seine Liebste unterdrückte mühevoll die Tränen – nun war sie nur noch entschlossener; es ging nicht nur darum, ihre Schwester zu retten … sondern ebenso das verbitterte Herz ihrer Eltern neu zu beleben!

„Ohtah! Shiko!“, rief jemand freudig.

Klerus eilte auf die kleine Gruppe zu und wurde Nadeshiko´s Eltern ohne Umschweife als Halbbruder von Ohtah vorgestellt. Weiter kam die Unterhaltung allerdings nicht mehr, denn der Hogwarts-Express mahnte zur Abfahrt. Hastig drückte die schöne Gryffindor ihren Eltern noch einen Kuss auf die Wange, was sie in Erstaunen versetzte, dann stiegen die drei ein.

Kaum waren saßen sie auf ihren Plätzen, platzte es aus dem Blonden heraus: „Und was du geantwortet?“

Ohtah schaute verlegen zum Fenster hinaus. Nadeshiko richtete ihren Blick zu Boden. Genau genommen hatte sie seinen Antrag ja abgelehnt …

„Erst müssen wir uns noch um das letzte Verlies kümmern.“, meinte der Slytherin und zwinkerte plötzlich.

Nun war es an Klerus wegzusehen, während er fast kleinlaut erwiderte: „Was das angeht … wenn ihr … also wenn ihr meine Hilfe noch wollt, dann … wäre ich gerne wieder ein Teil des Teams. Ich schäme mich, dass ich euch … und Seiketsu letztes Jahr im Stich gelassen habe.“

Der Themenwechsel verblüffte die beiden – eigentlich dachte Nadeshiko, die Sache wäre längst geklärt gewesen … Er hatte sich zunächst von ihnen abgewendet, seinen Zorn und seine Angst auf sie übertragen. Doch als sie für ihn eingetreten war, hatte er sich bei der Gryffindor entschuldigt.

„Du bist mein Bruder – der einzige Teil meiner leiblichen Familie, der mir etwas bedeutet.“, antwortete Ohtah und grinste, „Du wirst für immer zu uns gehören!“

Eine leichte Verlegenheit legte sich über ihn und er nickte kaum merklich.

„Da fällt mir ein – wie ist es eigentlich bei deine ZAG-Ergebnisse?“, wechselte Nadeshiko das Thema, um den Herren die Anspannung zu nehmen.

Erst flammten gemischte Gefühle in ihm auf, doch dann antwortete er zufrieden: „In Alte Runen und Arthmantik habe ich nur ein >Annehmbar< geschafft – zum Glück brauche ich in diesen Fächern kein UTZ für die Heiler-Ausbildung. Der Rest ist alles >Erwartungen übertroffen<. Also insgesamt neun ZAGs.“

Bedachte man die Umstände – ein Jahr im Portrait gefangen und eine unbestimmte Zeit mit »Imperio« kontrolliert – konnte man diesen Rang schon ein echtes Wunder nennen … Nachdem Klerus sich wieder mit Nadeshiko vertragen hatte, hatte er die Osterferien sowie folgende Wochen vor den Prüfungen einzig mit Lernen zugebracht.

„Das ist übrigens genau dieselbe Anzahl, wie bei Seiketsu und mir. Ohtah liegt drei darunter.“, neckte sie ihren Liebsten, der gespielt die Miene verzog, woraufhin alle laut lachen mussten.

In diesem Moment kam der Servierwagen an ihrem Abteil vorbei und zur Feier des Tages – Fast-Verlobung und Versöhnung – kauften sie von allem etwas.
 

„Es ist mir eine große Ehre, Sie wieder in diesen Hallen begrüßen zu dürfen. Jedes Schuljahr bringt neue Chancen – neue Dinge zu lernen … als junge Hexen und Zauberer zu wachsen … um die Lehren der Vergangenheit anzuwenden und in eine strahlende Zukunft zu verwandeln. Sie werden erneut auf die Probe gestellt werden – Hogwarts ist eine ehrenwerte Bildungsstätte und dieses hehre Ziel müssen wir bewahren im Namen aller, die einst selbst durch diese Tore gingen!“, begrüßte die Direktorin die Schülerschaft.

Wie wahr … seit Jahrhunderten besuchten junge Hexen und Zauberer dieses Schloss, um sich ausbilden zu lassen – nicht um irgendwelche Bedrohungen abzuwenden. So hätte ihre Schulzeit nicht aussehen sollen, die Abschlussprüfungen sollten ihre größte Sorge sein und vielleicht noch, wie sie sich gemeinsame Stunden mit Ohtah stehlen würde. Stattdessen hatte Nadeshiko seinen Antrag abgelehnt … weil sie nicht wusste, ob sie dieses Schuljahr lebend würde abschließen. Und dennoch gerade deshalb war ihre Mission von so großer Bedeutung – damit Hogwarts genauso bleiben konnte! Da wäre ein neuer Hinweis von Seiketsu natürlich umso wertvoller gewesen … aber aus einem unerfindlichen Grund hatte das Notizbuch keinen weiteren Eintrag enthüllt … und die Identität ihres Gegenspielers blieb verborgen. Vielleicht mussten sie noch irgendetwas selbst herausfinden …

„Ich habe noch eine Neuerung für die Abschlussschüler zu verkünden, da dies auch die künftigen Jahrgänge betreffen wird.“, riss die Schulleiterin die Gryffindor aus ihren Gedanken, „Wie Sie sich vielleicht erinnern, bekamen sie in der letzten Woche vor den Sommerferien ein Schreiben, das Ihren aktuellen Berufswunsch und Arbeitsplatz erfragt hat. In Absprache mit dem Zaubereiministerium wird Hogwarts Sie alle passend zu Ihren Angaben für ein zweiwöchiges Praktikum im November freistellen. Weitere Informationen werden Sie demnächst erhalten.“

Sofort war die Große Halle in heller Aufregung. Nicht nur die Siebtklässler sprachen über diese Revolution, die jüngeren Schüler schwelgten ebenfalls bereits in ihren Möglichkeiten. Die Rothaarige schloss für einen kurzen Moment die Augen – vor sich sah sie das Papier. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie es geschafft hatte, es auszufüllen … »professioneller Fluchbrecher, Gringotts«. Seit ihrem Gespräch mit Rien hatte sich ihr Entschluss nur noch mehr gefestigt – woran Ohtah natürlich nicht ganz unschuldig war. Sein fester Glaube an die Zukunft hatte sie gestärkt. Auch wenn sein Berufswunsch ihr immer noch einen faden Beigeschmack bescherte … als Auror, angestellt im Zaubereiministerium, in der Abteilung für magische Strafverfolgung wollte er vor allem Shiro Shadowdragon vor Gericht stellen. Wohl hatte sein Vater in den letzten Monaten endgültig begriffen, dass er seinen Sohn nicht mehr auf die dunkle Seite ziehen konnte … denn er war untergetaucht, das ganze Haus stand leer. Dieser Ausflug, um Ohtah´s verbliebene Sachen zu holen, hatte beiden Söhnen hart zugesetzt … denn Klerus hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten – gleichzeitig würde es später einmal einen Neuanfang für sie markieren … losgesagt von der ihrer Vergangenheit, bereit für den letzten Kampf.
 

Sie ließen sich allerdings ein paar Tage Zeit, um in den Raum der Wünsche zurückzukehren. Die Gerüchte, dass Nadeshiko und Ohtah wieder einmal Hogwarts gerettet hatten, verschärften sich noch einmal um vielfaches – selbst Erst- und Zweitklässler kamen auf die beiden zu, um sie mit Fragen über die Verliese zu löchern. Daher wäre es zu verdächtig gewesen, den siebten Stock regelmäßig zu dritt aufzusuchen. Daher machten sich besagte Schüler und ihr wiedergewonnener Verbündeter einzeln auf den Weg dorthin. Klerus war an diesem Tag der erste und der Raum glich einer Ruhmeshalle mit all den ausgestellten Trophäen aus den vorangegangenen Verliesen. Direkt vor ihm stand ein üppig verziertes, hohes Podest, auf dem ein passender Rahmen ausgestellt war – und darin befand sich das Foto der beiden Schwestern aus dem Verlies des Waldes … Damals hatte er jene, die es zu retten galt, zum ersten Mal erblickt. Der Blonde bemerkte nicht, wie Nadeshiko eintrat, während er zärtlich über die Darstellung des Mädchens im hellblauen Yukata streichelte. Da war irgendetwas in ihm … ein verzweifeltes Sehnen, ein unbändiger Drang – seit er seine Angst vor den Flüchen hinter sich gelassen hatte, dachte er fast ununterbrochen daran, was ihr angetan worden war. Natürlich war ihm ebenfalls Lebenszeit gestohlen worden … sie dagegen hatte Jahre mit ihrer jüngeren Schwester verloren, war geächtet und für tot erklärt worden. Und das alles hatte sie vollkommen allein durchstehen müssen – anders als er.

„Shiko wird es vollbringen, hörst du? Ohtah und ich helfen ihr bei und … wenn es getan ist, werden wir für dich ebenfalls da sein. Hab´ nur noch ein wenig Geduld, ja? Bitte, Seiketsu, vertrau´ uns!“, versprach er ihr, wobei sich seine Wangen dunkler färbten.

Nun räusperte sich die Gryffindor, woraufhin Klerus erschrocken zusammenzuckte: „Sag´ mal, kann es sein … Bist du etwa in Sei verliebt?“

„Ohtah hat diesen Kampf deinetwegen aufgenommenen und ich habe mich euch angeschlossen, um ihm näherzukommen …“, antwortete er und lächelte beinahe träumerisch, „Inzwischen will ich Seiketsu auch aus eigenem Antrieb retten. Ich weiß nicht, ob das Liebe ist – aber es stimmt, ich fühle mich zu ihr hingezogen, obwohl ich sie nicht einmal persönlich kenne … nur fühlt es sich nicht so an. Verstehst du das?“

Nadeshiko legte ihm eine Hand auf die Schulter und erzählte: „Ja … als ich Ohtah im Hogwarts-Express zum ersten Mal getroffen habe, wusste ich nichts über ihn. Trotzdem fühlte ich sofort eine tiefe Vertrautheit … Liebe geht manchmal merkwürdige Wege – sie geschieht wie Magie. Und wir sind in Hogwarts … hier ist nichts unmöglich.“

Er nickte. Seine Zeit würde kommen. Und vielleicht konnte er ja gemeinsam mit Seiketsu Yosogawa eine Antwort auf die bohrende Frage in seinem Herzen finden … Bis dahin galt es jedoch erst einmal eine Antwort auf das Rätsel der Selkies zu finden. Und so spuckte der Raum direkt mit der Ankunft von Ohtah wieder eine ganze Reihe Bücher über die Meermenschen sowie Unterwasserlegenden aus – nicht dass sie die meisten davon nicht bereits letztes Jahr gelesen hatten, doch vielleicht hatten sie nun einen anderen Blickwinkel und zudem die Unterstützung des Hufflepuffs …
 

Ihr Gegner jedenfalls schien ebenfalls nicht untätig zu sein. Nadeshiko konnte nicht sagen, was ihr zuerst auffiel – Shirayuki´s erneut vorwurfsvoller Blick … oder das Kuvert auf ihrem Bett, wie schon einmal … von demjenigen, der Klerus verhext hatte und den Schatz des letzten Verlieses begehrte. Eigentlich sollte sie damit direkt zu Professor McGonegall gehen … Doch was, wenn sie ihr, wie nach seiner letzten Drohung, wieder ihre Nachforschungen untersagte?

Ein leichtes Zittern erfüllte ihre Hand, als sie den Brief entfaltete und dessen Worte las: „>Einmal hast du mein Vorhaben vereitelt, doch diesmal ist sein Leben besiegelt …<“

»Sein Leben« – das von Klerus oder gar Ohtah´s? Eigentlich egal … keinem von beiden durfte etwas zustoßen! Irgendwie musste sie ihrem Gegenspieler zuvorkommen. Auch wenn es für Schüler auf wichtiger Mission genauso Ärger gab, wie für alle anderen, wenn man den Gemeinschaftsraum nach Sperrstunde verließ, schlich Nadeshiko postwendend zurück in Richtung des Raums der Wünsche. Ohne es zu wollen, schlich sich trotz der ernsten Lage ein Lächeln auf ihr Gesicht – bei ihrem letzten, nächtlichen Ausflug hatte Ohtah sie gefunden und davor bewahrt, erwischt zu werden. Ob sein Instinkt ihn heute ebenso führen würde? Anscheinend lockte zumindest eine Versuchung eine weitere Person zu jenem Ort – und Nadeshiko lief prompt in sie hinein, sodass die zahlreichen Amulette um ihren Hals klirrten. Es war Professor Trelawney, die Lehrerin für Wahrsagen. Für gewöhnlich hielt sie sich die meiste Zeit in ihrem Dachgeschoss auf und kam selbst zu den Mahlzeiten nur selten hinunter in die Große Halle, daher kannte die Gryffindor sie auch nicht besonders gut – allerdings bemerkte sie die leichte Alkoholfahne.

Noch bevor sie allerdings zu einem halbherzigen Entschuldigungsversuch ansetzen konnte, erklang eine krächzende Stimme aus der Kehle der älteren Hexe: „Veränderungen umwirbeln Sie! Das allumfassende Ende wird kommen und ein Preis muss gezahlt … der allerhöchste Preis. Ein Licht wie durch trübes Wasser fällt auf Sie!“

Wie in Trance stapfte die Seherin davon, während Nadeshiko in die Knie brach und murmelte: „>Der allerhöchste Preis< … Er darf es nicht sein, das kann nicht sein! Bitte, bitte … nicht.“

Alles in ihr schrie und heiße Tränen rannen über ihre Wangen. Sie hatte geahnt, dass dies ihr härtster Kampf werden würde – schließlich war Seiketsu genau an diesem Punkt gescheitert … doch Ohtah durfte nicht der Preis für ihre Rettung sein! Und Nadeshiko fiel nur ein einziges Wesen ein, das ihr in Sachen Prophezeiung weiterhelfen konnte. Also zog sie sich an der Wand wieder auf die Füße, wischte sich über das Gesicht und kehrte zum Treppenhaus zurück. Dort stieg sie die Stufen bis ins Erdgeschoss hinab und schlug den Weg hinaus ins Gelände ein. Ihren Zauberstab zu entzünden, erschien der Rothaarigen allerdings zu gefährlich – daher brauchte sie weit länger als gewöhnlich, um den Rand des Verbotenen Waldes zu erreichen. Aus dem Schornstein von Rubeus Hagdrig´s Hütte stieg Rauch empor und das zweistimmige Schnarchen sprach von seligem Schlaf des Professors sowie dessen Hund Fang. Zerbrechende Zweige ließen Nadeshiko herumfahren, doch im Licht des Mondes zeichnete sich eine vertraute Gestalt ab.

„Es ist eine Freude, Euch wiederzusehen, Shiko.“, meinte Torvus mit Blick zum Himmel, „Die Sterne sagten voraus, Ihr bräuchtet meine Hilfe – deshalb habe ich hier auf Euch gewartet.“

Unendlich erleichtert antwortete die Gryffindor: „Oh, Torvus, was bin ich froh, dich zu sehen! Es stimmt, ich bin Professor Trelawney begegnet und sie machte mir eine … Prophezeiung.“

Hastig wiederholte sie die Unheil verkündeten Worte.

„Wir mögen von ihrer Gabe nicht gerade überzeugt sein, doch diesmal erscheinen ihre Worte wahr zu sein … Die Sterne sind so wankelmütig wie die Meere und daher schwer zu deuten – Eure Welt wird sich verändern, Ihr werdet vor eine schwierige Entscheidung gestellt. Aber Ihr habt Eure Bestimmung bereits akzeptiert und dies kann Euch Hoffnung schenken, verliert nicht den Glauben – Ihr könnt diese Aufgabe erfüllen und diejenigen retten, die Ihr liebt!“

Der Zentaur schaffte es tatsächlich ihre überreizten Nervenenden zu beruhigen. Zwar bestätigte er die Gefahr … doch ebenso realistisch war ihre Chance, zu siegen – wenn der Zweifel nicht die Oberhand gewann!

Lächelnd entgegnete sie: „Dann will ich auf die Sterne vertrauen … Danke, Torvus! Jetzt muss ich nur noch irgendwie in meinen Gemeinschaftsraum zurückkommen, ohne der Schule verwiesen zu werden.“

„Wenn Ihr Seiketsu gerettet habt, sagt ihr, ich hätte ihr verziehen …“, hielt er sie noch einmal zurück, „Oder nein, ich will es ihr selbst sagen. Exil oder nicht – es war unehrenhaft von mir, unsere Freundschaft in Frage zu stellen.“

Noch ein Grund, warum sie nicht versagen durfte.
 

Die letzte Drohung hatte sie Ohtah verschwiegen. Denselben Fehler wollte Nadeshiko nicht noch einmal machen … Klerus dagegen hatte gerade erst sein Trauma bezüglich der Verwunschenen Verliese überwunden – seine Schuldgefühlen, die er mit sich herumtrug, weil er unter dem Imperius-Fluch gestanden hatte, wollte sie sich gar nicht vorstellen. Also nutzte die Rothaarige eine der Freistunden und einen ganz besonderen Ort, um nur ihren Liebsten über die neuen Ereignisse zu informieren – jenen Korridor, in dem der Zugang zum Verlies des Eises verborgen lag.

Nachdem sie die Tür via »Colloportus« verriegelt hatte, sprach sie: „Homenum Revelio!“

Niemand zeigte sich. Im Raum der Wünsche wäre die Gefahr bestanden, dass der Hufflepuff doch hereinkam, und am Schwarzen See gab es einfach zu viele Versteckmöglichkeiten.

„Ich hatte mir ohnehin überlegt, Professor McGonegall darum zu bitten, jemand zu Klerus´ Schutz abzustellen, während wir beim Praktikum sind. Vielleicht sollten wir das jetzt schon in Betracht ziehen.“, meinte der Slytherin, nachdem sie geendet hatte.

Das Praktikum … Zum Schuljahresbeginn hatte Nadeshiko sich darauf gefreut, nun beunruhigte es sie eher, dass sie zwei Wochen außerhalb von Hogwarts verbringen sollten … die Sorge um die anderen Schüler, vor allem Klerus, und ihr unbekannter Gegner. Vorbereitungen zu treffen, wäre ihr einziger Handlungsspielraum. Und … sich, wenn auch nur für kurz, voneinander verabschieden zu müssen. Niemand konnte vorhersehen, was geschah, wenn sich Wege erst einmal trennten … würden sie wieder zueinander führen oder sich gar nie mehr kreuzen? Diese Frage stellten sich Nadeshiko und Ohtah nicht – es schien, als hätten sie bereits weit schlimmeres überstanden. Nur wie gesagt … die Zukunft ließ sich nicht auf derartige Weise planen und die Zeit sich nicht anhalten oder gar zurückdrehen …
 

Mit dem festen Versprechen des Blonden, vorsichtig zu sein und jede Ungewöhnlichkeit sofort Professor McGonegall zu melden, verschwanden Ohtah und Nadeshiko durch das Flonetzwerk an ihre jeweiligen Praktikumsstätten. Niemals zuvor betrat Nadeshiko Yosogawa das weiße Marmorgebäude am Anfang der Winkelgasse derart ehrfürchtig. Die geschäftigen Kobolde nahmen keine Notiz von ihr, dafür beobachtete sie ihr Treiben umso genauer.

„Herzlich Willkommen in Gringotts … Shiko.“, sprach sie eine bekannte Stimme an, dessen Besitzer ihr schelmisch zuzwinkerte, „Ich bin für die Zeit deines Praktikums dein Ansprechpartner.“

„Aha, Argo, und das vollkommen uneigennützig, nicht wahr?“, meinte Besagte scherzhaft.

Er lachte herzhaft und trat näher an sie heran: „Erwischt – ich habe mich freiwillig angeboten. Und Ragnok meinte, es würde meiner Ausbildung nicht schaden, da auch Fluchbrecher zeitweise mit anderen zusammenarbeiten.“

Nach dieser Begrüßung führte er die Rothaarige durch die Bank, wo er ihr den normalen Tagesablauf sowie die Ausbildung erläuterte. Außerdem stellte er ihr die Kobolde vor, die die Fluchbrecher koordinierten, und die anderen Anwärter. Nadeshiko sog alles in sich auf – von ganzem Herzen wünschte sie sich, bald zu ihnen zu gehören. Ihre erste, kleine Herausforderung an diesem Tag war ein Runenrätsel, bei dem sie mithilfe eines Drehmechanismus neue Worte bilden musste. Der Kobold, der diese Aufgabe gestellt hatte, beobachtete schweigend jeden ihrer Handgriffe.

„>Kreativität< … >Mut< … >Entschlossenheit< … >Wissen< … >Geschicklichkeit< …“, übersetzte sie ihr Ergebnis aus dem Kopf, ohne ihr Buch zu Rate zu ziehen.

Das magische Geschöpf nickte anerkennend: „Ihr seid anscheinend gar nicht schlecht … Ob Ihr allerdings über all diese Fähigkeiten verfügt, werden wir erst noch herausfinden müssen.“

Damit hatte Nadeshiko die erste Hürde genommen. Den Rest des Tages half sie Argo beim Katalogisieren einiger Fundstücke. Am Abend geleitete er sie schließlich zum »Tropfenden Kessel«, in dem von Hogwarts ein Zimmer für sie reserviert worden war.

„Danke für heute – es war einfach unglaublich!“, schwärmte die Gryffindor begeistert.

Einen kurzen Moment zögerte er noch, dann gab er ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte: „Schlaf´ gut, schöne Frau.“

Verlegen sah Nadeshiko ihm nach, als sie ihn noch einmal ansprach: „A-Argo, würdest du mal mit mir ausgehen?“

Vollkommen aus dem Konzept gebracht, entgegnete Argo argwöhnisch: „Wie meinst du das? Was ist mit Ohtah? Habt ihr euch etwa gestritten?“

Nun zeigte die schöne Halbjapanerin deutliche Verwirrung, während sie zurückgab: „Ohtah? Wer bitte soll das sein?“

Noch fassungsloser starrte Argo sie an. Dieser Ausdruck in ihrem Gesicht war nicht gespielt – sie hatte wirklich absolut keine Ahnung, wer dieser jemand sein sollte! Wie nur konnte so etwas möglich sein? Da erwachte in ihm eine böse Vorahnung …

Mit schwacher Stimme wollte der angehende Fluchbrecher wissen: „Shiko … sagen dir die >Verwunschenen Verliese< etwas?“

„Nein, aber das klingt spannend – hattest du etwa so kurz nach Beginn deiner Ausbildung schon eine Mission?“, erwiderte sie ihrerseits strahlend.

Argo antwortete nicht, sondern murmelte nur noch halblaut ein paar Abschiedsworte. Während er nach Hause ging, versuchte sein Gehirn das Gespräch zu verarbeiten. Nadeshiko hatte offenbar die Verwunschenen Verliesen vollkommen vergessen … und auch diejenigen, die direkt damit in Verbindung standen. Dafür gab es nur eine einzige Erklärung – ein neuer Fluch! In seiner Wohnung angekommen nahm er Papier samt Tinte zur Hand und setzte einen warnenden Brief an Professor McGonegall auf …
 

In der kommenden Woche wurde es umso deutlicher – wann immer er etwas in dieser Richtung erwähnte. Über seine Avancen dagegen, wusste sie genau Bescheid … ebenso kannte sie alle Lehrer und erzählte ihm von ihrem letzten Unterricht.

„Professor Rien hat mir schon einige Tipps gegeben, wie ich die Aufnahmeprüfung schaffen kann und was für einen Fluchbrecher wichtig ist.“, berichtete Nadeshiko eifrig, „Hast du dich eigentlich schon entschieden, ob du bei Gringotts bleiben oder freiberuflich arbeiten willst?“

Bevor Argo ihr antworten konnte, rief Ragnok sie zu einer weiteren Aufgabe. Nur wenige Minuten später flatterte eine Eule herein, die ihm eine Antworte der Schulleiterin von Hogwarts brachte. Im Schloss war es zuvor noch nicht aktiv aufgefallen – erst als Schüler gezielt auf die Flüche der vergangenen Jahre angesprochen wurden. Alles in allem bat Professor McGonegall ihn darum, sie weiter mit ihrem vergessenen Wissen zu konfrontieren … Argo seufzte resigniert – zum ersten Mal seit Nadeshiko sich zu ihm an den Tisch der Gryffindors gesetzt hatte, sah sie ihn ohne Vorurteile an und … es fühlte sich an, als wäre wirklich etwas zwischen ihnen. Warum sollte er dieses Glück wegen einem arroganten Slytherin aufgeben? Seine Gefühle ihr gegenüber waren schließlich ebenso wahrhaftig … Auch nach seinem Abschluss hatte er sie nicht vergessen können.

„Ich habe drei von fünf Aufgaben bestanden – bekomme ich zur Belohnung jetzt meine Verabredung?“, riss ihn Nadeshiko aus seinen Gedanken, „Und wenn nicht, könntest du mir das wenigstens offen ins Gesicht sagen, anstatt es einfach totzuschweigen.“

Wie von einer Acrumantula gestochen sprang der ehemalige Hogwarts-Schüler auf und entgegnete energisch: „Bist du verrückt? Das wünsche ich mir seit Jahren!“

Lächelnd verließ sie ihre Position am Türrahmen und schmiegte sich an seine Brust. Argo legte die Arme um sie, doch gleichzeitig verfluchte er sich für seine überstürzte Antwort … Dennoch führte er Nadeshiko in der Eisdiele inmitten der Winkelgasse aus. Sie lachten gemeinsam, unterhielten sich und hielten einander an den Händen, was ihnen die Röte in die Wangen trieb.

„Shiko, ich …“, wechselte Argo plötzlich in eine ernste Stimmlage, „Meine Gefühle für dich haben sich nicht geändert, seit ich Hogwarts verlassen habe, und mit dir hier zu sitzen – ja, die ganze letzte Woche fühlt sich an, wie die Erfüllung meiner Träume. Aber … gerade deshalb kann ich dich nicht anlügen. Du hast mich bislang nie erhört, weil du in Wahrheit bereits einen anderen Mann liebst … Ihr habt gemeinsam die Flüche der Verwunschenen Verliese gebrochen. Du musst dich wieder erinnern, hörst du?“

Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Kopf, sie riss sich von ihm los und presste mit zusammengekniffenen Augen die Handflächen gegen Schläfen. Da rauschten auf einmal unzählige Bilder durch ihr Gedächtnis, auf denen allen ein junger Mann zu sehen war … In seine smaragdgrünen Augen stand ein Ausdruck tiefer Gefühle. Immer wieder berührte er sie und ihr Herz begann zu rasen. Wer war er bloß?

Argo´s Stimme drang lediglich gedämpft zu ihr durch: „Bitte, Shiko, sei wieder du selbst! Du weißt es – wie ist sein Name?“

„Oh-Ohtah …“, brach Nadeshiko den letzten Bann, woraufhin heiße Tränen über ihre Wangen strömten, „Argo, du … Ich danke dir.“

Sanft zog er sie an sich, umarmte sie fest und flüsterte: „Immerhin weiß ich jetzt, dass ich eine Chance bei dir gehabt hätte … wenn du ihm nicht begegnet wärst.“

Die Gryffindor krallte sich in einen Umhang, unfähig weiterzusprechen. Das brauchte sie auch gar nicht – der angehende Fluchbrecher legte ihr beruhigend die Hand auf den Kopf. Die Verwunschenen Verliese waren wahrlich abscheulich … er mochte sich kaum ausmalen, wie sehr Nadeshiko in diesem Moment litt, welche Vorwürfe sie sich machte …
 

Und so hatte sie das schlechte Gewissen während der letzten Praktikumstage nicht losgelassen … zwar war die Rothaarige zu den verbliebenen Tests angetreten, doch litt ihr Ergebnis unter ihrer Schmach. Sie wollte nur noch zurück nach Hogwarts, um sich bei ihm zu entschuldigen. Nun stand sie jedoch wie angewurzelt und mit wild klopfendem Herzen vor der Tür zum Krankenflügel, die Fingernägel in die Unterarme gekrallt. In dem Gefühl, als würde ihr Inneres gefrieren, trat sie ein und schritt auf das Lager zu, vor dem bereits Klerus und Professor Slughorn standen. Der Mensch, der dort lag, hatte die Augen geschlossen, sodass die Gryffindor das tiefe Smaragdgrün nicht sehen konnte … das Haar fiel ihm noch zerzauster als sonst ins Gesicht … seine Züge wirkten einerseits erstarrt, gleichzeitig aber auch entspannt … und die Brust hob und senkte sich kaum merklich. Sie hatte sofort erkannt, was mit ihrem Liebsten nicht stimmte – drei Jahre zuvor waren bereits Schüler in diesem Zustand vorgefunden worden … in unauflöslichen Schlaf versetzt, der Fluch aus dem Verlies des Waldes! Wie konnte das nur möglich sein? Begann die ganze Geschichte etwa erneut, wenn sich ihm wieder jemand näherte? Nun lag Ohtah hier vor ihr … einem der schlimmsten Flüche erlegen und in Lebensgefahr, wenn sie nicht schnellstmöglich den Grund dafür fand! War dies die Strafe für ihr schreckliches Verbrechen in London? Sie hatte ihn vergessen … und sich einem anderen Mann zugewandt. Ein neuer Fluch … dennoch ein grauenhafter Verrat an ihrer Liebe! Wie konnte es auf der Welt eine Macht geben, die Nadeshiko die Liebe ihres Lebens vergessen ließ? Gut, letztendlich hatte sie sich aus dem Bann befreien können – allerdings nur durch Argo´s Hilfe, dessen eigener Liebestrank einst nicht gewirkt hatte! Ohne es recht zu merken, kippte Nadeshiko in verlorenem Bewusstsein zur Seite …
 

Ein paar Stunden später starrte Nadeshiko – nur wenige Meter von Ohtah entfernt – an die kahle Decke. Ihr Kopf kämpfte weiterhin mit dem Versuch, die Informationen zu verarbeiten. Im Grunde gab es nur eine Möglichkeit … sie musste zurück in den Verbotenen Wald, am besten sofort! Nach einem kurzen Anfall von Schwindel, als sie die Füße aus dem Bett geschwungen hatte, tapste Nadeshiko zum Ausgang. In der festen Absicht, kein Geräusch zu verursachen, um Madame Pomfrey nicht auf den Plan zu rufen, passierte sie die Ruhestätte ihres Geliebten, ohne ihn anzusehen. Die Ironie daran, schnitt ihr bei jedem Schritt wie tief ins Fleisch – jeder verdammte Fluch hätte es sein können! Doch ausgerechnet ein solcher, der sie derart trennte … In einem Portrait gefangen, hätten sie einander wenigstens sehen können. Irrwichte oder sogar das Verwunschene Eis zu bekämpfen, wäre ein leichtes gewesen. Ob es ihm wenigstens vergönnt war, von ihr zu träumen? Nadeshiko unterdrückte ihre Tränen, während sie in den Flur hinaustrat. Das Stimmengewirr, welches an ihre Ohren drang, verriet ihr, dass sich die restlichen Schüler gerade beim Abendessen in der Großen Halle befanden – eine bessere Chance, sich aus der Schule zu schleichen, würde die Rothaarige nicht bekommen und so wandte sie sich dem gewaltigen Tor zu.

„Wenn er nicht da ist, muss ich dich beschützen – ich bin schließlich sein Bruder.“, sagte eine vertraute Stimme, „Ich … hatte so eine Ahnung, was du tun würdest.“

Klerus hatte sich hinter einer der Säulen verborgen gehalten. Nadeshiko kam nicht umhin, ihn mit Ohtah´s überwältigenden Fähigkeiten zu vergleichen. Selbst auf dem Gelände zeigte er eine ähnlich intuitive Art der Bewegung wie sein Bruder. Ald der Verbotene Wald in Sichtweite kam, zog Nadeshiko ihren Zauberstab und schloss für einen Moment die Augen; bei ihrem letzten Besuch hatte Torvus sie geführt … nicht nur den Weg allein zu finden war daher eine Herausforderung, sondern auch die Gefahren des Waldes ohne seine schützende Anwesenheit zu bewältigen.

„Dort drinnen lauert weit mehr, als die Acrumantulas, denen wir höchstwahrscheinlich begegnen werden.“, wies die Rothaarige ihren Begleiter an und ließ ein Licht aufflammen.

Er folgte ihrem Beispiel. Das glimmende Leuchten durchdrang die Dunkelheit nur wenige Meter, doch Nadeshiko stiefelte unbeirrt los, wobei sie sich an markanten Stellen orientierte. Aus der Ferne hörten die Schüler ein gewaltiges Hufgetrippel – offenbar waren einige aus dem Zentauren-Stamm auf der Jagd; vielleicht vertrieb dieser Umstand zumindest einen Teil der Kreaturen. An einer offensichtlichen Weggabelung blieb Nadeshiko stehen. Ihr Gehirn ratterte, in dem Versuch sich zu erinnern … vergebens.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Klerus nervös.

Sie antwortete ihm nicht. Auf ihren Wink flog die kleine Lichtkugel den rechten Pfad entlang. Kurz bevor man sie nicht mehr erkennen konnte, spielte sich das Licht auf einem weißen, langgezogenen Spinnenfaden!

„Vorsicht … Wir betreten ihr Territorium!“, warnte Nadeshiko ihn, dann ging sie langsam weiter.

Mehr aus den Augenwinkel wahrgenommen, als tatsächlich gesehen, registrierte sie eine Bewegung und richtete sofort den »Arania Exumei«-Zauber auf jene Stelle, der Spinnen zu vertreiben vermochte. Durch das Leuchten von Klerus´ Zauberstab verfolgten sie, wie das Tier sich hastig auf seinen vielen Beinen davonmachte. Mehrmals mussten die beiden sich mit verschiedenen Sprüchen gegen die kleineren Exemplare zur Wehr setzen.

„Was willst du hier … Fluchbrecher?“, raunte eine Stimme, die von den Stämmen der Bäume widerhallte, „Einmal ließen wir dich am Leben, weil du uns von dem Zwang des Verlieses befreit hast. Wieso wagst du es, diesen Ort erneut aufzusuchen?“

Nadeshiko spürte, wie Klerus hinter ihr erstarrte, und sagte laut: „Ist es denn wahr, dass ich den Fluch gebrochen habe? In der Schule … ist ihm wieder jemand zum Opfer gefallen. Deshalb bin ich gekommen, um der Sache auf den Grund zu gehen.“

Es schmerzte sie, es auszusprechen. Natürlich hatten ihr all die anderen in den vergangenen Jahren ebenfalls zugesetzt … doch an Ohtah´s Leiden zerbrach sie beinahe. Noch während die Hexe daran denken musste, erbebte der Waldboden, Blätter wurden aufgewühlt, eine Hügel vor ihnen schien zu wachsen und plötzlich glotzten vier, schimmernde, schwarze Augenpaare auf sie herab.

Klerus wollte zurückweichen und stürzte, doch die Rothaarige rührte sich nicht und lauschte erstaunt, was die Acrumantula sprach: „Die Magie ist erloschen … Kein Bann bindet uns mehr, zwingt uns seinen Willen auf. Und gleichzeitig fürchten wir uns dennoch davor, dass es erneut geschehen könnte – sag´ mir, Fluchbrecher, kannst du es verhindern?“

Die Erkenntnis durchfuhr Nadeshiko wie ein Blitzschlag. Sie war so dumm gewesen … Seiketsu und die Hauselfe Ciri hatten ihr die Antwort auf dieses Mysterium längst gegeben! Ein neuer Fluch lag über dem Schloss …

„Es ist gar nicht dieses Verlies – das waren alles nur die Wächter …“, murmelte sie vor sich hin, ehe ihre Stimme erstarkte, „Ja, mit dem letzten der Verwunschenen Verliese bringe ich alles zu einem Ende – die Flüche werden für immer ausgelöscht, das schwöre ich!“

Die gigantische Arachnide wirkte zufrieden: „So sei es – ein einziges Mal verschone ich dich … und deinen Gefährten noch.“

Nach einem kurzen Nicken schnappte sich Nadeshiko dem der Ohnmacht nahen Klerus und kehrte nach Hogwarts zurück.
 

Nach einer Schimpftirade von Madame Pomfrey, weil Nadeshiko ohne ihre Erlaubnis den Krankenflügel verlassen hatte, saß diese an Ohtah´s Seite und streichelte beinahe geistesabwesend über seine Wange. Das wahre Verwunschene Verlies wartete … doch konnte sie wahrlich danach auf die Suche gehen, während ihr Liebster hier lag? Andererseits würde er in diesem Zustand nicht ewig überstehen … Irgendwann brächte man ihn doch noch ins Sankt Mungo Hospital für magische Krankheiten und Verletzungen – bis er eines Tages den Punkt erreichte, an dem er nie mehr aufwachen würde. Es lief, wie bereits in der Vergangenheit, auf dasselbe hinaus … Nadeshiko musste den Fluch unter allen Umständen brechen! Als wäre sie tatsächlich von einer Acrumantula gestochen worden, sprang die Rothaarige auf, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und stürmte zum Büro jenes Professors, der ihr als einziger in dieser Situation würde helfen können.

Auf ihr Klopfen hin, bat Rien sie herein und sofort brach ihr Anliegen aus ihr heraus: „Ich will den Patronus-Zauber lernen!“

Etwas verwundert fragte der Zauberer daher: „Wie kommen Sie so plötzlich darauf?“

„Ich … ich habe gelesen, die gestaltlichen Patroni können zum Kommunizieren und … Wache halten benutzt werden.“, gestand sie ehrlich.

Er dachte einen Augenblick lang nach, bevor er bestätigte: „Das ist möglich – diese Art der Nutzung ist allerdings noch schwieriger, als der Zauber es ohnehin schon ist. Sie müssen sich während dem Wirken genau seine … Aufgabe bewusst machen.“

„Ich werde es schaffen!“, entgegnete Nadeshiko entschlossen und sah zu Boden.

Erneut schwieg ihr Gegenüber und sie dachte schon, er würde ablehnen, sie zu lehren, da sagte Rien: „Nun … gut. Ich kenne Sie inzwischen gut genug, Miss Yosogawa, um zu wissen, dass Sie ohnehin nicht aufgeben werden. Also zu den Grundlagen – der Patronus lässt sich nur durch ein ganz besonders starkes Glücksgefühl heraufbeschwören; denken Sie an das glücklichste Ereignis in ihrem Leben, das Ihnen einfällt, und visualisieren Sie dieses vor Ihrem inneren Auge … anschließend sprechen Sie laut und deutlich die Worte >Expecto Patronum<. Versuchen Sie es!“

Mit erhobenem Zauberstab durchforstete Nadeshiko ihr Gedächtnis – überall blitzte Bilder von Ohtah auf. Sie dachte zurück an ihre erste Begegnung im Hogwarts-Express vor sechs Jahren … an diesen unsicheren, verlegenen Junge, zu dem sie sofort eine ganz merkwürdige Verbundenheit gespürt hatte.

„Expecto Patronum …“, flüsterte sie, ohne es recht zu merken.

Kein weißer Dunst stieg auf … oder gar ein tierisches Wesen. Stattdessen rollten Tränen über Nadeshiko´s Wangen. Die Freude jenes Tages war von der Trauer über seinem aktuellen Zustand verdrängt worden … Und damit sämtliche Kraft des Patronus. Sie schluchzte, sank kraftlos in die Knie. Rien hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Dankbar nahm die Rothaarige das Angebot an und setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

„Sie müssen sich nicht schämen.“, versuchte ihr Lehrer sie zu trösten.

Doch sie starrte unentwegt auf ihre um den Zauberstab geschlossene Finger. Es fühlte sich an, als würde sie nicht nur diesen Zauber nicht ausführen können, sondern als wäre ihre ganze Magie wie fortgeblasen, fortgerissen … demselben Schlaffluch erlegen, wie ihr Geliebter.

„Ruhen Sie sich aus, Miss Yosogawa. Wir arbeiten morgen Abend weiter.“, meinte Rien und Nadeshiko ging, ohne ein weiteres Wort.

In den darauffolgenden Wochen lief es jedoch nicht besser. Schlimmer noch – auch die anderen Flüche traten erneut zu Tage; in den Korridoren fanden sich kleine Splitter von Verwunschenem Eis, auf dem Gelände erschienen wieder regelmäßig Irrwichte, eine ganze Gruppe Huffelpuffs wurde auf dem Weg zur nächsten Unterrichtsstunde in ein Portrait gezogen, ein Erstklässler wurde zu Stein verwandelt und einige Schüler fragten, ob solche Zwischenfälle in Hogwarts normal wären – sie waren dem Vergessen erlegen. Wenn Nadeshiko nicht bald voran kam, wäre bei dieser Geschwindigkeit bald halb Hogwarts von den Flüchen betroffen, die sogar noch erstarkt zu sein schienen …

Professor Rien empfing sie zu ihrer allabendlichen Übungsstunde, welche inzwischen in das Klassenzimmer verlagert worden war. Die Rothaarige bezog Stellung, konzentrierte sich.

Keine Erinnerung, eine Vorstellung durchzuckte ihre Gedankenwelt und Nadeshiko schrie: „Expecto Patronum!“

Die Wucht, die aus ihrem Zauberstab herausbrach, riss sie beinahe von den Füßen. Sie hörte, den erstaunten Laut, der Professor Rien im Hals festzustecken schien – es dauerte einen Moment, bis die Hexe begriff, was da durch den Raum flog. Mit einer sanften Drehung landete die nebelartige Gestalt auf ihrem ausgestreckten Arm, legte die Flügel an, die majestätischen Schwanzfedern baumelten in der Luft und seine Augen suchten ihre.

„Ein Phönix …“, hauchte Nadeshiko überwältigt, „Das Feuer ist wahrlich mein Element. In der japanischen Mythologie ist er das Pendant zum Drachen …“

Das Räuspern von Rien ließ sie zusammenfahren, da sie ihn vollkommen vergessen hatte, und der Patroni verschwand – dafür fragte der Professor für Verteidigung gegen die dunklen Künste: „Ein Tierwesen ist sehr selten … noch dazu ein derart imposantes. Nur aus Interesse – woran haben Sie gedacht, Miss Yosogawa, um ein solches Geschöpf hervorzubringen?“

Nadeshiko war immer noch so berauschend, dass sie den eigenartigen Unterton nicht bemerkte, der fast verärgert wirkte, und antwortete: „An mein Ziel … mit Seiketsu und Ohtah wiedervereint zu sein, für immer befreit vom Fluch der Verwunschenen Verliese.“

Nichts anderes hatte ein solches Glücksgefühl in ihr ausgelöst, als die Erfüllung ihres Wunsches, wieder mit ihnen vereint zu sein …
 

Doch während in den kommenden Wochen das Schloss festlich geschmückt wurde, schwand Nadeshiko´s Kampfgeist … Egal wie oft sie das Lied der Sirenen durchging, kein Geistesblitz erfüllte sie. Ohne Ohtah, der ihr zur Seite stand, fühlte sie sich, als wäre sie nur noch eine leere Hülle. Einzig Klerus schaffte es, die Gryffindor voranzutreiben. Wo nur waren alle Häuser vereint und es gab einen hellen Schein zu finden? Laut Professor McGonegall gab es nirgends auf dem Gelände eine Gedenkstätte für die vier Gründer … Und sonst gab es keinerlei Überlieferungen, ob irgendein Ort sie besonders verbunden hätte; nur dass es irgendwann Streit zwischen Godric Gryffindor und Salazar Slytherin gegeben hatte … Helga Hufflepuff wollte zwischen ihnen vermitteln, während Rowena Ravenclaw nach einer gleichberechtigten Lösung suchte. Während sie dieser Spur nachgegangen waren, begannen die Ferien – und damit konnte selbst Klerus, ihre letzte Stütze nicht bei ihr bleiben; seine Mutter hatte verlangt, er möge traditionell nach Hause kommen und von keinem Argument wollte sie sich umstimmen lassen. Nie zuvor verfluchte der Blonde seinen Geburtstag so stark; als jüngster seines Jahrgangs würde er erst kurz vor Schuljahresende die Volljährigkeit erreichen. Der Slytherin und die Gryffindor dagegen wollten zum ersten Mal über die Ferien zu ihr nach Hause – natürlich hätte sie allein fahren können … doch ertrug sie den Gedanken nicht, Ohtah zurückzulassen. Hier konnte sie zu ihm sprechen, ihm etwas vorsingen, ihn berühren und über ihn weinen, ohne darauf angesprochen zu werden. Da sie nun von der Abwesenheitspflicht bei den Mahlzeiten befreit war und sie nicht freiwillig daran teilnahm, brachte die Hauselfe Ciri ihr dreimal täglich etwas in den Krankenflügel, wofür ihr Nadeshiko unendlich dankbar war. Von den Professoren verblieben normalerweise nur sehr wenige zwischen den Jahren im Schloss … dieses Jahr allerdings verbrachte die Schulleiterin und die meisten ihrer Kollegen die Feiertage in Hogwarts. Hinzukamen die von der Schulleiterin erlassenen Hausaufgaben, um den Schülern mehr Erholung zu ermöglichen, weswegen Madam Pomfrey ihr längere Besuchszeiten gestattete; am liebsten hätte sie auch die Nächte bei ihm verbracht … einzig Shirayuki´s Gegenwart ließ sie diesen Umstand akzeptieren. Nie zuvor war Nadeshiko das Weihnachtsfest so trostlos vorgekommen …

Während sie über ihn wachte, hatte Nadeshiko noch einmal sämtliche Briefe von Seiketsu mehrfach gelesen und versucht, ihnen verborgene Geheimnisse zu entlocken. Mit demselben Eifer widmete sie sich dem Notizbuch, das nach erfolgloser Durchforstung geschlossen auf ihren Knien ruhte.

„Ihm läuft die Zeit davon, hörst du, Sei? Ich kann ohne ihn nicht leben … Bitte, hilf´ mir, ihn zu retten! Und dich! Sei, wo finde ich es? Das letzte Verlies …“, murmelte sie wie ein Mantra.

In einem Anflug von Müdigkeit fiel das Büchlein auf einmal zu Boden. Die Gryffindor erwachte aus ihrem Delirium und wischte sich über das Gesicht, rieb sich die Augen.

Als sie sich bückte, um die Hinterlassenschaft Seiketsu´s aufzuheben, starrte sie schockiert auf deren Handschrift: „>Shiko, ich habe nicht genug Zeit, dir alle Einzelheiten zu erklären – es war Roman Rien, der mir von den Verwunschenen Verliesen erzählt hat und daraufhin zu meinem Mentor wurde. Aber inzwischen weiß ich, er ist es, der die Macht für sich allein nutzen will! Und er ahnt, dass ich das Rätsel der Meermenschen gelöst habe – ich werde das letzte Verlies betreten, bevor er mich in die Hände bekommt. Wenn ich versage, musst du ihn aufhalten! Aus Sicherheitsgründen kann ich den den Zugang hier nicht niederschreiben … Aber ich glaube ganz fest an dich, meine geliebte Schwester!<“

Minuten, Stunden oder gar nur Sekunden – Nadeshiko verlor jedwedes Zeitgefühl, bis sie sich erhob. Ihr Liebster strebte den Beruf des Auroren an … doch heute würde sie ebenfalls diesen Pfad beschreiten … für Seiketsu, für Ohtah, für alle Schüler und Lehrer von Hogwarts, für die gesamte Zaubererschaft! Wäre es ratsam gewesen einen Lehrer zu verständigen, vielleicht sogar am ehesten Professor McGonegall? Oder wenigstens Shirayuki zu Klerus zu schicken? Wahrscheinlich, ganz sicher sogar – doch Nadeshiko dachte mit keinem Fünkchen ihres Verstandes daran. In ihrem Kopf wallte nur eine unglaubliche Wut, wie sie noch nie zuvor empfunden hatte. Alles in ihr schrie verzweifelt nach Rache. Jahrelang hatte sie ihm vertraut … sich ihm anvertraut … und er hatte sie bloß benutzt, wie eine willige Schachfigur! Mit erhobenem Zauberstab betrat die Gryffindor das Klassenzimmer von Verteidigung gegen die dunklen Künste und ihr Blick richtete sich sofort auf die kleine Treppe, die hoch in sein Büro führte. Am liebsten wäre sie hineingestürmt oder hätte ihn gleich von hier aus in die Luft gesprengt für all ihr Leid, welches er für seine Pläne missbraucht hatte. Aber das durfte Nadeshiko nicht tun, sie musste sich zusammenreißen! Langsam – den Zauberstab immer noch umklammert – stieg sie die wenigen Stufen hinauf und öffnete die hölzerne Tür ohne anzuklopfen.

Überrascht sah er auf und fragte freundlich: „Oh, Miss Yosogawa, was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?“

„Ich kenne nun die Wahrheit … Die ganze Zeit war ich so unsagbar blind für das so eigentlich offensichtliche. Wie oft habe ich mich gefragt, warum Sie es riskieren, mir zu helfen? Weil Sie es sind … der >Fluchmacher<!“, meinte die Rothaarige, wobei sie ihren Schmerz nicht gänzlich unterdrücken konnte, und hielt auf seine Brust.

Ein hämisches Lachen kam als Antwort: „Wollen Sie sich jetzt etwa mit mir duellieren?“

Erneut packte sie der Zorn. Nur mit äußerster Mühe mahnte sie sich zur Kontrolle. Im Krankenflügel lag Ohtah in einem verfluchten Schlaf … Seiketsu befand sich gefangen im letzten Verlies – beide zählten auf ihre Hilfe. Selbst ihre Eltern, die an dem Verlust ihrer Tochter zerbrochen waren … und alle Menschen, die leiden würden, wenn sich Rien als schwarzer Magier erhob … So sehr Nadeshiko es sich in diesem Moment auch wünschte, der Mord an ihm würde ihre Liebsten nicht befreien. Der Fluch, der ihr auf den Lippen lag, erstarb … Sie würde sich nicht noch einmal von ihm kontrollieren lassen!

„Warum haben Sie meine Schwester und mich auf die Spur der Verliese gebracht, wenn Sie die Macht selbst wollen?“, fragte Nadeshiko gefasster.

Er wirkte vollkommen unberührt, während er antwortete: „Das ist eine berechtigte Frage. Doch war ich nicht in der Lage, den Fluch des Verwunschenen Eises zu brechen … deshalb habe ich eine einfältige Schülerin vorausgeschickt. Ziemlich weise, wenn ich jetzt so zurückdenke … Allerdings waren Sie noch leichter zu manipulieren – Ihrer Schwester musste ich erst noch schöne Augen machen.“

Flammen züngelten aus der Spitze ihres Zauberstabes – dieses Element lag ihr seit dem ersten Verlies am nächsten – und Nadeshiko zischte zwischen zusammengebissenen Zähnen: „Seiketsu wollte schon immer allem auf den Grund gehen und Geheimnisse lüften … aus der Vergangenheit lernen, um die Zukunft besser zu machen … Es ranken sich so viele Legenden um das, was in den Verwunschenen Verliesen versteckt ist – fünf von ihnen dienen nur zum Schutz … für mich waren sie eher eine Vorbereitung; wenn ich diese letzte Hürde nehme, erhalte ich den größten Schatz … und nur Sie, Professor Rien, stehen mir dabei noch im Weg. Erkennen Sie, wie fatal die Lage ist, in die Sie sich gebracht haben? Nichts in der Welt wird mich jetzt noch davon abhalten in dieses Verlies zu gelangen!“

„Möglich … Diese Entschlossenheit habe ich stets an Ihnen bewundert, so unermüdlich bei dem Versuch alles und jeden zu beschützen.“, sagte er plötzlich mit säuselnder Stimme und trat hinter seinem Schreibtisch hervor auf sie zu, „Sie sind wahrlich eine talentierte Hexe … intelligent, kreativ, stark … und wunderschön. Was halten Sie davon, wenn wir die Macht des Verwunschenen Verlieses gemeinsam nutzen?“

Schon häufig hatte die Rothaarige Schülerinnen über Professor Rien tuscheln hören … nicht bei wenigen waren es romantische Tagträume gewesen. Auch sie hatte ihn bewundert – als Lehrer, als Fluchbrecher … Tief in ihrem Herzen hatte es von Anfang an nur einen gegeben – einen etwas schüchternen und gleichzeitig verwegenen, entschlossen und dennoch unsicheren, jungen Zauberer, der eine unglaubliche Stärke verlieh, die einer ganz anderen Art der Magie entsprang. Alles ihr sträubte sich gegen die Berührung dieses Mannes, der nicht ihr Geliebter war. Dies war nicht seine Stimme, sein Duft, sein Körper. Und es gab noch etwas, das ihr nur Übelkeit verursachte …

„Ich gehe niemals auf die dunkle Seite!“, schrie die Gryffindor ihn schon fast an.

Ramon Rien zuckte mit den Schultern, bevor er meinte: „Seit Sie die Tore von Hogwarts zum ersten Mal durchschritten haben, waren Sie in einem Zweikampf noch nie unterlegen … Es wird Zeit, dass Sie lernen zu verlieren!“

Sofort wehrte Nadeshiko den Schockzauber per Schutzschild ab. Beinahe zeitgleich sprachen beide ihre nächsten Flüche, die sich gegenseitig abstießen und gegen die Wände schlugen. Die Bücherregale fielen mit flatterten Buchseiten zu Boden. Kein Zauber traf den Gegenüber, einigen konnten sie sogar ausweichen; zu erfahren waren sie im Duellieren. Während er auf die dunklen Worte der Macht übergehen wollte, kam Nadeshiko eine ebenfalls Idee – das Turnier im vergangenen Jahr war äußerst lehrreich gewesen.

„Aquamenti!“, rief sie, weil ihr ungesagte Zauber immer noch nicht recht lagen, „Incendio!“

Die Hitze des Feuers traf auf das kalte Nass und hüllte den Raum in einen dichten Nebel.

„Wollen Sie mich damit etwa überlisten? Ich zeige Ihnen, welche Macht Sie so leichtfertig ausgeschlagen haben, Miss Yosogawa!“, schrie er durch den kondensierten Schleier, „Imperio!“

Hatte sie mit diesem Fluch gerechnet? Immerhin wusste Nadeshiko, dass er einst Klerus auf dieselbe Art kontrolliert hatte … Und dennoch traf er sie in einem unvorbereiteten Moment – eigentlich hätte ihr kombinierter Zauber sie beschützen sollen. In ihren Ohren hallte Rien´s Stimme, welche die Rothaarige aufforderte, zu ihm zu kommen, weil nur er allein für sie zählte … Sie konnte kaum mehr einen Muskel rühren, während seine Schmeicheleien und Befehle in ihren Geist vordrangen.

Bis plötzlich jemand anderes zu ihr sprach: „Shiko, du warst diejenige, die mich aus der Dunkelheit gerettet hat! Weil du mein Licht bist … Ich liebe dich!“

Ohtah … nachdem er seine Familie endgültig verlassen hatte. Seine entschlossene Miene trat in ihr Bewusstsein … erst verschwommen, dann deutlicher. Nicht erneut – es genügte ihr vollkommen, ihn einmal durch den Fluch vergessen zu haben … niemals wieder! Mit jeder weiteren Sekunde verschwand dafür Rien und Nadeshiko öffnete ihre Augen. Ein höhnisches Grinsen lag auf dessen Gesicht, während sie langsam auf ihn zuging und träumerisch blinzelte. Als die junge Hexe direkt vor ihm stand, stellte sie sich leicht auf die Zehenspitzen, um sich seinen Lippen zu nähern. Beinahe triumphierend senkte er seine Lider und Nadeshiko reagierte sofort – in einer Drehung riss sie Rien seinen Zauberstab aus der Hand!

„Incarcerus!“, setzte die Gryffindor sogleich nach.

Die heraufbeschworenen Fesseln legten sich um seine Handgelenke, Arme, Fußknöchel, Beine, die Brust und knebelte seinen Mund. Ein wutentbranntes Funkeln lag in seinen Augen.

„Man sollte meinen, Ihr würdet mich besser kennen, Sir, als irgendein anderer Lehrer, nicht wahr? Ich liebe Ohtah – weder Fluch noch Trank oder gar Zauber könnten daran jemals wirklich etwas ändern!“, kam es flüsternd von ihr, ehe die Tür ein weiteres Mal aufflog.

Diesmal stand sie Direktorin im Rahmen, auf ihrer Schulter saß eine Schleiereule mit leuchtend weißem Gefieder, die einen aufgeregten Schrei ausstieß … Shirayuki.

Gewohnt streng verlangte Professor McGonegall: „Miss Yosogawa, ich hoffe, Sie haben eine sehr gute Erklärung hierfür!“

„Die lassen Sie sich besser von ihm geben …“, entgegnete die Gryffindor und wandte sich noch einmal ihrem Gegner zu, „Was auch immer der Grund für die Existenz der Verwunschenen Verliese ist … Sie werden es niemals erfahren!“

Damit marschierte sie hinaus, wo Professor Flitwick sie in Empfang nahm.
 

Einige Stunden später – nachdem Professor Rien unter Einfluss von Veritaserum ein vollständiges Geständnis abgelegt hatte und das Zaubereiministerium darüber in Kenntnis gesetzt worden war – saß Nadeshiko erneut an Ohtah´s Bett im Krankenflügel, zusammen mit Klerus, der per Flohnetzwerk ins Schloss zurückgeholt worden war. Madame Pomfrey hatte sich dezent im Hintergrund gehalten, während sie ihm und seinem Halbbruder alles berichtete.

„Es ist fast vorbei …“, versprach die Rothaarige und gab ihrem Geliebten einen Kuss auf die Stirn.

Die Tränen liefen über ihre Wange, doch sie wischte sie nicht weg. Beinahe hätte sie dem nächsten dunklen Zauberer geholfen, die Welt zu unterwerfen … Wie dumm nur war sie gewesen!

„Machen Sie sich keine Sorgen … Keiner von uns hat es bemerkt.“, meinte die Krankenschwester sanft und reichte beiden eine heiße Tasse Schokolade, „Wissen Sie, ich wusste lange Zeit nicht, was ich von Ihnen halten sollte – Sie haben andauernd für Ärger gesorgt und dennoch verdanken es unzählige meiner Patienten allein Ihnen, dass sie wieder auf den Beinen sind. Dieser Junge kann sich glücklich schätzen, so sehr geliebt zu werden … Geben Sie die Hoffnung nicht auf!“

Nein, »aufzugeben« kam wirklich nicht in Frage. Entschlossen trank sie das wärmende Getränk aus und erhob sich. Klerus machte Anstalten ihr zu folgen, aber sie schüttelte den Kopf. Sollte Nadeshiko ebenfalls versagen, bräuchte sie ihren Patroni um eine letzte Botschaft zu überbringen …

Vor dem Krankenflügel erwartete sie Professor McGonegall mit einer unergründlichen Miene – bevor diese allerdings etwas sagen konnte, meinte die Rothaarige lächelnd: „Ich danke Ihnen … Dass Sie so streng mit mir waren, hat mich nur noch mehr angespornt – um Sie und das Haus Gryffindor nicht zu enttäuschen. Die Verwunschenen Verliese mögen meine Bürde gewesen sein, aber … es gibt Kämpfe, denen kann man einfach nicht entgehen. Ich werde meine Aufgabe heute zu Ende bringen!“

Denn plötzlich hatte sie verstanden, worauf das Meermenschen-Lied verwies: „>Ein Verlies in voller Macht, d´rum gib´ auf dich gut Acht. Die Häuser vereint … der Zwist verneint … Suche nach dem hellen Schein und das Geschenk ist dein!<“

Wie oft hatte sie die Wappen über und im Kamin der Großen Halle schon betrachtet, ohne je deren Bedeutung zu begreifen? Dies war der einzige Ort, der alle Schüler zusammenbrachte … Die Wärme des prasselnden Feuers auf ihrer Haut spürend, streckte sie eine Hand nach ihnen aus und die Flammen stoben auseinander.

„Gryffindor … hier regieren Tapferkeit und Mut; diesem Haus gehöre ich selbst an. Ravenclaw … nutzt Weisheit und Verstand; genauso wie Seiketsu es tut. Huffelpuff … bedeutet Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit; so hat sich Klerus stets verhalten. Slytherin … weiß um Tücke und Geschick; darum kann Ohtah stolz darauf sein. Vier Häuser – ein Herz …“, sagte sie und klappt das Medaillon an ihrem Hals auf, „Gemeinsam haben wir alle Hindernisse überwunden, um das wahre Verwunschene Verlies zu finden! Du hast Verwunschenes Eis, doch mir gebührt das Feuer … der Angst, die du verbreitest, trete ich mutig entgegen … und den verfluchten Schlaf fülle ich mit meinen schönsten Träumen … selbst wenn mir Gefangenschaft droht … bezwinge ich sämtliche Untiefen und alle Gefahren, um mein Ziel zu erreichen!“

Nach und nach waren die vier Teile des Hogwartswappens aufgeleuchtet, zuletzt fuhr das Wandstück mit einem steinernen Schlurfen in den Boden hinab. Ein tiefschwarzer Gang voller Spinnweben lockte Nadeshiko. Kaum war sie hindurch gegangen, verschloss sich der Zugang wieder. Jeder weitere Schritt brachte sie einem schwachen Lichtfleck in der Ferne näher, während Kälte in ihre Glieder zog. Wie fast schon erwartet, führte der Pfad sie in einen Raum, der von einem gewaltigen, bläulich glitzerndem Tor beherrscht wurde. Es war weit größer als sein Vorbote – ebenso der Eisritter, der bereits mit erhobenem Schwert auf sie wartete. Ein schon belächelnder Ausdruck trat auf ihr Gesicht; augenblicklich tanzten Flammen um sie herum, die aus ihrem Zauberstab schossen. Ein knapper Wink damit und sie schlossen den Eisritter ein, der ohne Widerstand in sich zusammenschmolz. Dieser Zauber hatte ihre Zauberkunst-Note bei den ZAG gerettet – dabei hatte sie Ohtah noch leicht angesengt, als sie ihn vom Verwunschenen Eis befreit hatte. Inzwischen beherrschte sie die heraufbeschworenen Flammen fast ausschließlich mit ihrem Willen. Innerlich wappnete sich die Rothaarige bereits für ihren nächsten Gegner – nach Eis kam Angst … Der Irrwicht hatte bereits die Gestalt von Seiketsu angenommen und beschimpfte Nadeshiko lauthals, warf ihr Unfähigkeit sowie Versagen vor.

„Es stimmt … genau davor hatte ich Angst – meine Schwester zu enttäuschen. Das ist vorbei, ich muss nicht mehr fliehen oder dich mit einem Zauber verscheuchen.“, erklärte sie entschlossen, ging auf einen der Irrwichte zu und schloss ihn in die Arme.

Zuerst erstarrte die Kreatur, dann löste er sich auf. Eine einzelne Träne blieb auf Nadeshiko´s Wange zurück, die aber nur ihre Entschlossenheit stärkte. Was ihr gegen ihre nächsten Gegner nur helfen konnte – ein beängstigendes Klicken erregte ihre Aufmerksamkeit und als ihr Blick zur Decke wanderte, erblickte sie drei gigantische Acrumantulas. Langsam glitten diese an ihren Fänden herab. Die Hexe erinnerte sich an ihr Versprechen, sie wurde am Leben gelassen und würde daher ebenfalls gnädig sein …

„Stupor! Stupor! Stupor!“, rief Nadeshiko, während sie auf deren Augen zielte.

Bewusstlos schwangen sie wie Windspiele hin und her. Nadeshiko stützte sich an der Wand ab, Schweiß sammelte sich auf ihrer Stirn – die Erschöpfung machte sich bemerkbar; der Preis für ihren Sieg über Rien … Dabei erwarteten sie noch zwei bekannte Hindernisse und möglicherweise ganz eigene Banne.

„Ich werde nicht aufgeben … nie im Leben. Dies ist allein meine Aufgabe – Sei hat es begonnen, ich werde es beenden!“, sprach sich Nadeshiko selbst Mut zu.

Der Tunnel machte mehrere Biegungen, sodass sie lange Zeit sein Ende nicht sehen konnte – es kam ihr fast so vor, als würde das Verlies sie einmal durch ganz Hogwarts führen. Knapp eine halbe Stunde später erspähte die Gryffindor das Drachenportrait, welches zu schlafen schien. Vorsichtig tippte sie mit der Spitze ihres Zauberstabs dagegen – erfolglos. Ein passender Zauber wollte ihr nicht einfallen …

Stattdessen kam ihr das Motto der Schule in den Sinn: „>Draco dormies nunquam titillandus< … Kritzle nie einen schlafenden Drachen …“

Doch genau das tat sie und blickte in giftgrüne Augen, dessen Besitzer mürrisch sein Rätsel stellte: „Wenn Ihr Zugang begehrt, so beantwortet mir folgende Frage … >Mit ihr scheint alles egal – Leben oder Tod. Sie erquickt und quält, streichelt und schändet. Sie wird dich nie mehr verlassen und dennoch gehört sie nicht dir allein … Was ist das?<“

Nadeshiko´s Augen weiteten sich schockiert – sie kannte die Antwort, ohne darüber nachdenken zu müssen … jedoch brachte sie keinen einzigen Laut heraus. Stattdessen sackte die junge Hexe zu Boden und diesmal weinte sie tatsächlich. Sie hatte das himmelhoch jauchzende Gefühl verspürt, als seine Lippen ihre berührten … und die tiefe Verzweiflung von ihm getrennt zu sein. So wie jetzt – da sie nicht einmal wusste, ob sie sich jemals wiedersehen würde … Er allein war nun einmal ihre Stärke!

Auf einmal erklang wieder seine Stimmer in ihrem Kopf: „>Und ich helfe dir dabei! Dafür sind Freunde schließlich da, nicht wahr?< >Ich verspreche es dir, Shiko – wir werden es schaffen, zusammen!< >Hab´ keine Angst, Shiko … Gemeinsam können wir es schaffen! Ich bin direkt hinter dir.< >Das Risiko ist mir doch vollkommen gleichgültig! Ich habe geschworen, dir zu helfen … stets an deiner Seite zu sein.< >Zum ersten Mal kann ich nachvollziehen, wie du dich die ganze Zeit fühlst – ich habe dir versprochen, dass wir es gemeinsam schaffen werden; ich lasse dich nicht im Stich, niemals!< >Ich habe es dir und vor allem mir selbst geschworen – was auch immer passiert, ich werde dich beschützen … immer und immer wieder. Weil ich dich liebe …< >Denn schließlich kämpfen wir genau dafür … um gemeinsam leben und lieben zu können.<“

All diese Worte hatte Ohtah zu ihr gesprochen … um sie aufzubauen, zu stärken, ihr neuen Mut zu geben. Die Spur eines Lächelns schlich sich auf ihr Gesicht. Beim Eingang hatte Nadeshiko selbst es noch erwähnt … Ein Teil von ihm würde immer bei ihr sein, egal wie weit oder wie lange sie getrennt wären ... das hatte er ihr so oft geschworen.

Die Rothaarige kämpfte sich zurück auf die Beine und antwortete: „Ohtah – er ist meine Antwort. Die Liebe, die ich für ihn empfinde …“

„So ist es … Um dieser Gefühle willen, die Ihr in Euch tragt, seid gewarnt – kehrt um! Dieser Ort ist nicht magisch …“, entgegnete der rot schimmernde Drache, ehe er seine Schwingen ausbreitete und aus dem Rahmen verschwand.

Die Gryffindor wunderte sich über diese Aussage – alles in ihrer Welt beruhte auf Magie … das Zaubertrankbrauen ebenso wie das Wahrsagen oder selbst jedes Tierwesen. Hatte das etwas mit dem Ursprung der Verliese zu tun oder mit dem, was sie bewahrten? Was am Ende auch immer auf sie warten mochte – von Seiketsu einmal abgesehen –, es interessierte sie nicht; Rien war vor Verlangen danach wahnsinnig geworden, Hogwarts wäre beinahe ins Verderben gestürzt … Dieser Schatz brachte nur Unheil! Einzig auf das kommende Hindernis musste sie sich konzentrieren … denn die Begegnung mit dem Leviathan wollte sie ja eigentlich nicht erneut durchleben. Glaube war der Schlüssel zum Sieg … und möglicherweise konnte sie sich das zunutze machen! Vor wenigen Stunden hatte Nadeshiko genau darüber mit ihrem verräterischen Mentor gesprochen – es gab nichts auf dieser Welt, das sie jetzt noch davon abhalten konnte, ihre Schwester zu befreien! Und so erwartete kein grauenhaftes Meeresungeheuer die schöne Gryffindor … sondern ein japanischer Kappa. Dieses wasseraffine Tierwesen aus ihrer einstigen Heimat war etwa einen Meter zwanzig groß, hatte einen großen, platten Schädel mit einer Kuhle, dessen Haupt mit grünlichem Haar spärlich bewachsen war. Für gewöhnlich lebte diese Spezies in Flüssen oder Seen und kam nur an Land, um Obst sowie Gemüse von den Feldern zu sammeln. Während es in seinem Element nicht immer gut auf ungebetenen Besuch zu sprechen war, ging an Land von einem Kappa zumeist keinerlei Gefahr aus – vor allem nachdem es die Verbeugung seines Gegenüber erwiderte und es so das Wasser auf seinem Kopf verschüttete, welches ihm seine Magie gab.

„Arigato …“, flüsterte sie das Dankeswort in ihrer Landessprache.

Der Kappa betrachtete sie mit seinen schwarzen Iriden. Beinahe schienen sie telepathisch miteinander zu kommunizieren, dann rollte das Wesen sich zusammen und Nadeshiko konnte ungehindert passieren. Endlich erreichte Nadeshiko den altbekannten, sechseckigen Raum. Ihr fiel sofort auf, dass etwas anders war – sämtliche Wände waren mit Spiegeln verkleidet und anstelle der Säule stand ein reich verzierter, fast deckenhoher Standspiegel. Sie ging darauf zu, betrachtete ihr Spiegelbild. Plötzlich trat die Nadeshiko ihr Gegenüber zur Seite, was sie schon schockierte … doch damit gab sie gleichzeitig den Blick auf eine zweite Gestalt frei. Die Halbjapanerin stürzte nach vorne, hämmerte wild gegen das Glas … aber die bewusstlose Seiketsu Yosogawa rührte sich nicht. Da hob ihre Spiegelung den Zauberstab und es gab so etwas wie eine Explosion, von dessen Druckwelle Nadeshiko nach hinten geschleudert wurde. Als sich der aufgewirbelte Staub wieder gelegt hatte, starrte die Rothaarige perplex zu der Stelle, an welcher sie gerade noch gestanden hatte – im Zwielicht zeichnete sich nun eine Silhouette ab, die sie noch mehr in Schrecken versetzte … ihr Spiegelbild befand sich nicht länger hinter der polierten Oberfläche, sondern stand ihr tatsächlich gegenüber.

„Ich habe mich gefragt, ob du wirklich eines Tages kommen würdest, Nadeshiko Yosogawa … deine Schwester war ja felsenfest davon überzeugt.“, erzählte die Fälschung im Plauderton, „Ahnst du es? Ich bin das letzte Hindernis, eine Personifikation dieses Verlieses … und gleichzeitig ein Abbild deiner Selbst. Hast du dich nie gefragt, warum es all die anderen Verliese gibt? Ein Schutz meiner ganz ohne Frage – und eine perfekte Möglichkeit, Informationen zu sammeln. Den abschließenden Scan habe ich durchgeführt, als du eingetreten bist … Ich weiß nun alles über dich – ich kenne deine ganzen Spezialitäten, Strategien … Anders als bei deinem herzallerliebsten Ohtah wird bei mir so etwas lächerliches wie >Stella Cascadia< nicht funktionieren. Was willst du nun tun, Nadeshiko Yosogawa? Wie willst du mich besiegen?“

Ein Duell … damit endete ihre Suche – ein Sieg noch und Seiketsu wäre endlich gerettet! Ihr Gespräch mit Rien schien bereits Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre her zu sein … Nichts würde sie mehr aufhalten, so kurz vor dem Ziel durfte sie nicht scheitern.

Nadeshiko stand auf, fixierte ihre Doppelgängerin und rief: „Confringo!“

Die falsche Nadeshiko wich dem Fluch aus, sodass dieser in der Wald einschlug und einen Regen aus Spiegelscherben verursachte, woraufhin sie lachte: „Ich weiß ja nicht, ob es so sinnvoll ist, hier mit Sprengflüchen wild um sich zu schießen.“

Augenblicklich verharrte die Gryffindor in der Bewegung und sah zu Seiketsu. Noch war ihr Gefängnis verschont geblieben … Ihr Gehirn begann fieberhaft zu überlegen, was sie gegen ihre Gegnerin unternehmen konnte – nichts wollte ihr einfallen, das ihre Schwester nicht gefährdete oder wirkungslos wäre; selbst Ohtah hatte sie ja nur durch eine List besiegen können.

„Oh, sag´ bloß, du willst nicht mehr spielen … Tja, ich habe nicht solche Skrupel!“, machte sie sich über ihr Original lustig und feuerte wahllos ab.

Nadeshiko spurtete los, warf sich gerade rechtzeitig vor den Prunkspiegel. Der Zauber traf punktgenau das Medaillon. Mit einem Schlag wäre ihr zum Lachen zumute gewesen – Ohtah, Seiketsu, Klerus standen bedingungslos hinter ihr, während diese magere Kopie keinerlei Unterstützung besaß; niemals könnte sie dieselbe Stärke aufbringen!

„Du hast meine Schwester jahrelang gefangen gehalten, die Schüler von Hogwarts bedroht und dich über mich lustig gemacht … Es stimmt, Elementarzauber sind meine Spezialität – gerade deshalb habe ich sie im Turnier gegen Ohtah nicht recht eingesetzt. Bei dir ist die Sache jedoch ein wenig anders … Wenn du mich kopiert hast, während ich hier hereingekommen bin, muss ich einfach nur stärker sein, als in diesem Moment!“, erklärte Nadeshiko entschlossen und ließ ihren Zauberstab umherwirbeln.

Die Fackeln an den Wänden loderten kräftiger, Bänder aus Flammen tanzten um sie herum.

Die falsche Nadeshiko dagegen wich ein Stück zurück und meinte: „Ha, als ob du es riskieren würdest, dass sie zu Schaden kommt!“

„Hattest du nicht vorhin noch gesagt, du wüsstest alles über mich? Ich beherrsche das Feuer in ersten Linie mit meinem Willen – und natürlich wird Sei auf diese Art verschont bleiben.“, gab die Gryffindor zurück, „Incendio!“

Der brennende Strahl schoss geradewegs auf ihr Spiegelbild zu, das nicht von der Stelle bewegte oder eine Gegenmaßnahme ergriff, es lag nicht in seiner Macht – die Prüfung des Verlieses bestand darin, über sich selbst hinauszuwachsen und das eigene Ich zu übertreffen. Der Anflug eines Lachens ergriff Nadeshiko – Rien hätte es niemals geschafft, seine Kopie zu besiegen … wenigstens war er schlau genug gewesen, sich in dieser Hinsicht nicht zu überschätzen; anders bei der Sache, sie würde Ohtah für ihn verlassen … das sprach einzig und allein von Größenwahn.

Als sich der Rauch verzogen hatte, hallte eine gar gespenstische Stimme von allen Seiten wieder: „Du hast es geschafft, Nadeshiko Yosogawa – der Preis ist dir gewiss. So sprich deinen Wunsch, den ich dir erfüllen soll …“

„Lass´ meine Schwester frei!“, rief die junge Gryffindor entschieden.

Doch die Antwort sollte sie überraschen: „Diesen Wunsch musst du nicht äußern – Seiketsu Yosogawa wird aus ihrem Gefängnis befreit, sobald meine Macht ihren Zweck erfüllt hat. Wärst du gescheitert, hättest du ihr Schicksal geteilt … dein Sieg jedoch gewährt dir einen Wunsch jenseits der Magie und danach wird dieses mein Verlies wieder versiegelt. Die vier Gründer von Hogwarts stießen einst auf meine Kraftquelle und beschlossen, diese Schule zu bauen, um mich darin zu verstecken. Doch mit den Jahrhunderten entwickelte ich eine eigene Denkweise … und aus dem Zorn darüber, dass man mich hier eingesperrt hatte, erschuf ich die anderen Verwunschenen Verliese mit ihren Flüchen.“

Magie besaß Grenzen – Tote konnten nicht wiedererweckt werden, wahre Liebe nicht erzwungen werden, sogar mit einem Zeitumkehrer konnte man die Vergangenheit nicht vollständig ändern. Nun schien es, als hätte sie diese Macht … Nadeshiko könnte verhindern, dass Seiketsu jemals von den Verwunschenen Verliesen erfuhr. Rien könnte niemals nach Hogwarts kommen oder überhaupt erst geboren werden. Es gab unzählige Möglichkeiten! Und für einen kurzen Augenblick flackerte Gier in ihrem Innern auf. Statt der Vergangenheit könnte die Rothaarige genauso gut auf die Zukunft Einfluss nehmen! Den Wunsch von Ramon Rien vorauszusehen, wäre ein leichtes – die Herrschaft über die Zaubererschaft, der mächtigste Magier aller Zeiten zu sein. Was hätte sich Seiketsu gewünscht? Oder Ohtah und Klerus? Würde sich Professor McGonegall die Rückkehr des beliebtesten Schulleiters von Hogwarts, Albus Dumbledore wünschen? Dies alles zählte nicht … selbst ihr Wunsch … Nicht Nadeshiko Yosogawa war es, die sich etwas wünschen sollte, wünschen musste – der Fluchbrecher in ihr hatte einen Wunsch auszusprechen.

„Nun gut, Macht der Verwunschenen Verliese, hör´ mich an …“, sprach sie ohne Zweifel, „Eine Versiegelung genügt nicht … Verlasse diese Welt – für alle Ewigkeit!“

Niemals durfte eine derartige Kraft in die falschen Hände geraten … Das Schutzkonzept von Godric Gryffindor, Rowena Ravenclaw, Helga Hufflepuff und Salazar Slytherin hatte versagt und nicht ausgereicht, um sie vor der Welt zu verbergen. Es gab gute Gründe, warum die Magie nicht allmächtig war … Um das Leben zu schätzen, brauchte es den Tod … Die Gefühle eines Menschen für einen anderen waren der größte Schatz auf der ganzen Welt … Und lernen ließ sich nur aus der geschehenen Vergangenheit … Ohne Ohtah, Seiketsu, Klerus, ihre Eltern wäre Nadeshiko der Versuchung erlegen gewesen – doch so besaß sie alles, was sie sich nur wünschen konnte. Mit einem Knall splitterte das Spiegelglas. Nadeshiko eilte zu ihrer Schwester, die noch nicht gänzlich aus ihrem langen Schlaf erwacht war. Nur langsam kam sie vollends zu Bewusstsein.

Dann lächelte sie, während ein einziges Wort über ihre Lippen kam: „Shiko …“

Dagegen sprudelten es aus Nadeshiko´s Mund nur so heraus – dass sie stets daran geglaubt hatte, Seiketsu zu finden und ihre Eltern nichts von ihrer Suche wussten; dass sie so unsagbar froh war und wie ihre ältere Schwester die Zeit erlebt hätte – denn ein Teil der Gryffindor hatte bereits festgestellt, dass die Braunhaarige seit ihrem Verschwinden um keinen Tag gealtert war …

„Ich … ich weiß noch, dass ich den Raum betreten und in den Spiegel gesehen habe … Da stieg mein anderes Ich daraus hervor und hat mich zum Duell herausgefordert. Aber … ich habe verloren.“, erzählte sie mit Scham in der Stimme, „Danach wurde alles schwarz … Es war wie ein langer Traum – ich habe deine Stimme gehört, immer wieder. Doch ich konnte dir nicht antworten, nicht aufwachen. Und jetzt bist du wirklich hier! Was musstest du dafür bloß alles durchmachen?“

Den letzten Satz sagte sie eher wie zu sich selbst. Nadeshiko dachte an ihren eigenen Zweikampf – einzig das jahrelange Training, die Auseinandersetzungen mit Livia, ihre ganzen Erlebnisse und Hindernisse hatten sie diesen Test bestehen lassen … Noch vor ein paar Stunden hatte sich Rien darüber lustig gemacht, weil sie noch nie ein Duell verloren hatte – auch er war ihr unterliegen gewesen. Trotzdem hätte nicht viel gefehlt und ihr wäre es ebenso ergangen … gefangen, bis jemand anderes den Fluch brechen könnte. Aber nun hatte die Grausamkeit der Verwunschenen Verliese endgültig ein Ende gefunden!

„Lass' uns gehen … Oneechan. Expecto Patronum!“, beschwor Nadeshiko unter großem Staunen ihren Phönix heraus, der sogleich durch die Decke verschwand, um seine Botschaft zu übermitteln, „Madame Pomfrey soll dich erst mal gründlich durchchecken.“

Seiketsu zog eine Augenbraue hoch, als sie entgegnete: „Wohl eher dich – du siehst ziemlich mitgenommen aus. Ich hab ja nur … Wie lang eigentlich geschlafen – acht Jahre? Ich muss mich wohl daran gewöhnen, dass meine kleine Shiko inzwischen erwachsen worden ist.“

Der traurige Nachklang entging ihr nicht und so antwortete sie: „Es ist nicht deine Schuld … Ich allein habe entschieden, die Hoffnung nicht aufzugeben und den Gerüchten um … um deinen Tod keinen Glauben zu schenken. Die Verwunschenen Verliese waren harte Prüfungen, ja … aber durch sie bin ich auch gewachsen. Und heute wurde ich belohnt.“

Erneut schlossen sich beide jungen Frauen in die Arme. Nachdem Seiketsu also ihren Protest aufgegeben hatte, führte Nadeshiko sie ohne Umschweife durch das Labyrinth des Verlieses. Wie der Phönix, welcher sich in ihrem Patronus manifestierte, entstieg Nadeshiko gemeinsam mit ihrer Schwester dem Kamin, dessen Feuer sich ihrem Willen beugte und sie nicht verbrannten … Kaum waren die Schwestern durch das Wappen zurück in die Große Halle getreten, fiel die Macht dahinter vollends in sich zusammen. Professor McGonegall, welche der Patroni benachrichtigt hatte, fiel bei diesem Anblick beinahe in Ohnmacht, während Madame Pomfrey sofort herbeieilte, um ihrer beider Gesundheitszustand einzuschätzen.

„Mir fehlt nichts. Nur ein wenig erschöpft … Seiketsu ist diejenige, um die sie sich kümmern müssen – ihre Zeit war über die ganzen Jahre eingefroren.“, berichtete die Rothaarige matt lächelnd.

Da stürmte Klerus herein. Er wirkte etwas zerzaust und ging mir direkten Schritten auf die Braunhaarige zu.

Vor ihr verbeugte er sich verlegen und sagte: „Sei-Seiketsu … ein Glück, dass … du endlich gerettet worden bist. Also ich bin … ich bin Klerus, Ohtah´s Halbbruder. Ohtah ist-“

„Schon gut, Klerus, eins nach dem anderen.“, unterbrach ihn die Gryffindor sanft.

Mit einem halb erstickten Lachen meinte ihr sehr bekannte Stimme daraufhin: „Und ich dachte … du würdest ihr als erster sagen, dass … dass du in Hogwarts die Liebe deines Lebens gefunden hast.“

„Ohtah!“, stieß Nadeshiko erleichtert aus und stürmte ihm entgegen.

Er lehnte am Torrahmen, presste sie fest an sich und meinte: „Entschuldige, dass du dir Sorgen um mich gemacht hast und du das letzte Verlies ganz allein bewältigen musstest.“

„Nein, du warst immer bei mir …“, weinte und lachte Nadeshiko vor Glück, ehe sie sich vor versammelter Mannschaft küssten.

„Herrjemine! Patienten über Patienten – ich bestehe darauf, dass Sie die Nacht über im Krankenflügel bleiben, Miss Yosogawa und, äh, Miss Yosogawa. Dasselbe gilt für Sie, Mister Shadowdragon. Ich gehe Ihnen etwas zu essen und heißes zu trinken holen; sie brauchen absolute Ruhe! Verliese, Flüche … ich hoffe, das hat nun wahrlich ein Ende!“, murmelte Madame Pomfrey vor sich hin, während sie davon eilte.

In der Zwischenzeit hatte sich Professor McGonegall etwas gefangen und berichtete, dass Rien nach Askarban abgeführt worden war. Sie rechnete nach seiner Verurteilung mit einem lebenslangen Aufenthalt.

Eine Weile herrschte schweigen, ehe sie an Nadeshiko gewandt weitersprach: „Es tut mir leid, dass ich Sie anfangs unterschätzt habe – der Schutz meiner Schüler ist meine höchste Priorität …“

„Ihre Sorge hat mich sehr geehrt … auch wenn ich sie nicht immer … nun ja, Rücksicht darauf genommen habe.“, entgegnete die Rothaarige lächelnd.

Nun richtete die Schulleiterin ihre Worte beinahe kleinlaut an Seiketsu: „Ich weiß nicht, ob Sie mir verzeihen können, dass wir die Suche nach Ihnen eingestellt haben …“

Seiketsu erwiderte ihren Blick ohne Groll, als sie antwortete: „Ich in Ihrer Position, Professor, hätte die Geschichte höchstwahrscheinlich ebenfalls nicht geglaubt. Alles deutete daraufhin, ich wäre … Shiko hat mir erzählt, dass selbst unsere Eltern von meinem Tod überzeugt sind.“

„Natürlich! Ich muss sie unverzüglich benachrichtigen!“, rief Professor McGonegall plötzlich aus, „Hören Sie darauf, was Madame Pomfrey Ihnen sagt – ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Ach, und Sie gehen unverzüglich in Ihren Gemeinschaftsraum, Mister Monko! Dieser Tag war nun wirklich ereignisreich genug, für uns alle.“

Klerus öffnete den Mund zum Protest, da schüttelte Nadeshiko kurz den Kopf. Leicht geknickt warf er noch einen Blick auf seine heimliche Angebetete, bevor er grummelnd davonstapfte. Nur Minuten später waren die drei in ihren Betten untergebracht, mit Essen versorgt und die Erschöpfung forderte endgültig ihren Tribut. Trotzdem versuchte die Rothaarige vehement wach zu bleiben – sie saß aufrecht da und ihre Augen wanderten von Ohtah zu Seiketsu, die sich hingelegt hatten. Sämtliche Hindernisse hatte sie überwunden und zum Schluss ihre Liebsten zurückbekommen! Ohtah und Seiketsu ging es gut … der Fluch der Verwunschenen Verliese war gebrochen, kein Schüler von Hogwarts würde je mehr darunter leiden. Und dennoch hatte sie Angst all das könnte nur ein Traum sein …

„Ich verschwinde nicht mehr …“, meinte ihre Schwester in die Dunkelheit.

Überrascht flüsterte Nadeshiko: „Du hast noch gar nicht geschlafen?“

„Ich denke, wir hatten beide denselben Gedanken – zu warten bis du eingeschlafen bist, Shiko.“, entgegnete da Ohtah.

Sie lachten hinter vorgehaltener Hand, um Madame Pomfrey nicht auf den Plan zu rufen. Nun entspannte sich Nadeshiko doch noch … Ihr Traum blieb wunderbarerweise von Alpträume über Rien verschont.
 

Es war niemals leicht gewesen, eine Yosogawa zu sein … Doch bereits am nächsten Morgen wollten zahlreiche Schüler in den Krankenflügel drängen. Als Madame Pomfrey die meisten von ihnen wegschickte, versuchten die jungen Hexen und Zauberer sogar sich durch Verletzungen, verpatzten Flüchen oder gar »Nasch-und-Schwänz«-Leckereien hinein zu schmuggeln. Und diese ganze Mühe nur, um die wundersame Geschichte über die Yosogawa-Schwestern mit eigenen Augen zu sehen. Nach einem ordentlichen Frühstück fühlten sich beide gewappnet, der versammelten Lehrerschaft gegenüber zu treten – Ohtah hatte darauf bestanden, sie zu begleiten und auch Klerus ließ sich diesmal nicht abweisen. Keiner von ihnen war zuvor im Lehrerzimmer gewesen und im Grunde unterschied es sich nicht direkt von jenen in einer Muggelschule; zumindest wenn man über die Themen der Lehrbücher, Gefäßen mit Zaubertränken sowie Zutaten für solche, einige beschlagnahmte Zauberscherzartikel und bewegte Portraits hinwegsah. Professor Flitwick brach beim Anblick von Seiketsu in Tränen aus – sie gehörte seinem Haus an, aber er hatte sie in Übereinkunft mit der Direktorin aufgegeben … Auch ihm gegenüber wiederholte Seiketsu ihre Milde, gerade als die Tür ein weiteres Mal geöffnet wurde. Nadeshiko konnte später nicht mehr sagen, was sie mehr verblüfft hatte – die Tränen ihres Vaters oder die Geschwindigkeit ihrer Mutter, als sie ihre ältere Tochter in die Arme geschlossen hatte. Nach und nach zog sich der Lehrkörper zurück.

Irgendwann hatte sich Togo Yosogawa wieder halbwegs gefangen und hauchte: „Wie ist das nur möglich?“

Wie brachte man seinen Eltern bei, dass man ihnen fast neun beziehungsweise sieben Jahre lang etwas verheimlicht hatte? Nadeshiko Yosogawa entschied sich dafür, ganz am Anfang zu beginnen – sie konnte einfach nicht glauben, dass ihre große Schwester wahrlich gestorben sein sollte und so hatte sie sich seit ihrem Verschwinden darauf vorbereitet, nach ihr zu suchen. Sie berichtete von Ohtah´s und später genauso Klerus´ Entschlossenheit, ihr dabei zu helfen, Seiketsu zu retten, und sie es ohne die beiden nicht geschafft hätte.

„Otosama, Okasan … ich kann mich nur dafür entschuldigen, euch so lange angelogen zu haben. Die Suche nach Oneechan bereue ich dagegen keineswegs!“, endete die Gryffindor ihren Bericht.

Ihre Eltern hätten sie sofort von Hogwarts genommen, wenn sie etwas geahnt hätten, und Seiketsu wäre auf ewig verloren gewesen … doch es tat gut, die Wahrheit endlich ausgesprochen zu haben.

Ihr Vater schritt mit ernster Miene auf sie zu, zog sie an sich und sagte dann: „Ich bin so stolz auf dich! Es scheint, dieser … Sprechende Hut hatte recht – du bist wahrhaft mutig.“

Es hieß Albus Dumbledore hatte einmal gesagt: „Es gehört sehr viel Tapferkeit dazu, sich seinen Feinden in den Weg zu stellen … aber wesentlich mehr noch, sich seinen Freunden in den Weg zu stellen.“

Und ebenso seiner Familie – um für das einzustehen, an das man von ganzem Herzen glaubte!
 

Derart emotional aufgewühlt wurde der Abschied von ihren Eltern seltsam. Ihre Mutter hatte nicht aufhören können zu weinen – eine Tochter hatte sich jahrelang in größte Gefahr begeben, damit sie die andere Tochter zurückbekamen … Ihr Vater dagegen war voll des Lobes für die beiden jungen Männer, welche jederzeit in seinem Haus willkommen wären. Was vor allem Klerus einen hochroten Kopf verlieh. Nachdem sie per Flonetzwerk verschwunden waren, verblieb Nadeshiko im Büro der Direktorin.

„Haben Sie vielen Dank für diesen Tag.“, meinte sie lächelnd.

Professor McGonegall sah über ihre Brillengläser hinweg und wollte wissen: „Miss Yosogawa, wie kommen Sie mit Rien´s Verrat zurecht? Ich meine, er war Ihr Vertrauter … Durch ihn haben Sie Dinge erlebt, die sich nicht einfach vergessen lassen …“

Die Frage erwischte die Rothaarige vollkommen unvorbereitet. Bislang hatte sie nicht mehr weiter gewagt, an Ramon Rien zu denken … Es stimmte, ihr Vertrauen war missbraucht worden.

„Als ich die Wahrheit in Seiketsu´s Aufzeichnungen gefunden habe – ich dachte, ich würde in ein tiefes Loch stürzen. Dann kam die Wut, gefolgt von Angst … was er meinen Freunden alles hätte antun können … und ob … ob ich in all der Zeit, nicht doch ein wenig wie er geworden wäre.“, antwortete sie mit brüchiger Stimme.

Die Schulleiterin kam um den Schreibtisch herum und nahm ihre Hände, verständnisvoll entgegnete sie: „Natürlich eifern Schüler mehr oder minder uns Lehrern nach – das bedeutet jedoch nicht, dass sie an unsere Einstellungen gebunden sind. Sie selbst entscheiden, welchem Lebensweg Sie folgen möchten … und ich versichere Ihnen, Sie haben den dunklen Mächten bereits ordentlich Einhalt geboten!“

Eine Welle tiefer Dankbarkeit überflutete Nadeshiko´s Herz. Es mochte dauern, bis sie all die Erlebnisse richtig verarbeitet hatte … doch die Rettung ihrer Schwester war all das wert gewesen, was sie durchlebt hatte! Und noch blieben ihnen ein paar letzte Monate als ganz gewöhnliche Schülerin in Hogwarts – gemeinsame Ausflüge nach Hogsmeade, Streifzüge zu viert samt Shirayuki und ganz wichtig … die UTZ-Prüfungen würden schon bald ins Haus stehen!
 

Ob als Fluchbrecher oder Fluchopfer – der verpasste beziehungsweise vernachlässigte Schulstoff, besonders die Prüfung relevantesten Themen zu pauken, erwies sich als ebenso stressig, wie ihr vorangegangener Kampf. Lernen, lernen, lernen … Klerus bemitleidete seine Freunde und stellte sich Abfragen zur Verfügung. Da für Seiketsu keine Zeit vergangen war, konnte sie ihr Wissen bis dato wieder vollkommen abrufen – aber selbst ihr als Musterschülerin, was die Noten betraf, bereiteten die Abschlussprüfungen Sorgen.

Ohtah dagegen behauptete einmal großspurig: „Was kann daran so schwer sein? Wenn irgendein eingebildeter Angeber die UTZ hinter sich bringen kann, können wir das doch mit Leichtigkeit!“

Nadeshiko amüsierte sich über den Seitenhieb auf Argo. Das Gespräch über ihn hatten sie nachgeholt, nachdem sich die Aufregung um Seiketsu´s Befreiung etwas gelegt hatte – der Braunhaarige war nicht einmal wirklich eifersüchtig geworden, er gab ihr keine Schuld … und bestätigte, dass ihrer Liebe absolut nichts etwas anhaben konnte! Außerdem war die Einhaltung seines Versprechens in greifbare Nähe gerückt – sie standen tatsächlich kurz davor, das Abschlusszeugnis von Hogwarts nach Hause bringen! Mit dieser Entschlossenheit stürzten sich die drei in ihren zweiwöchigen Prüfungsmarathon – genau wie bei den ZAGs kamen zunächst die Hauptfächer dran. Der schriftliche Teil von Verwandlung war eine halbe Katastrophe, dafür ging ihnen der Praxisteil besser von der Hand – sie mussten, als Steigerung zum letzten Mal, einen Desillusionierungszauber auf sich selbst legen und vor zwei verschiedenen Hintergründen komplett verschwinden, was ihnen tadellos gelang. In Zauberkunst brachten sie ein etwas besseres Ergebnis auf das Papier und ihnen wurde die Aufgabe gestellt, aus einem einfachen Gegenstand eine Waffe zu machen. Ohtah, der seinem Familiennamen neue Ehre bereiten wollte, dachte an die drachenförmigen Wasserspeier auf dem Dach und führte »Draconifors« aus, welcher diese zum Leben erweckte beziehungsweise ihm die Kontrolle über sie gab. Nadeshiko blieb ihrem Element treu – mit »Flagrante« wurde das verzauberte Objekt bei Berührung glühend heiß. Und Seiketsu entschied sich für »Waddiwasi«, was ihr ausgewähltes Ziel mit hoher Geschwindigkeit voranschnellen ließ. Als die Gryffindor und der Slytherin hörten, was in der Verteidigung gegen die dunklen Künste geprüft wurde, mussten beide einen Lachanfall unterdrücken – es ging allen ernstes darum, sich bis zu zehn Minuten lang gegen die Angriffe des Prüfers zu verteidigen, ohne selbst in die Offensive zu gehen. Die Theorie war ihnen bereits leicht gefallen, hier glänzten sie wortwörtlich; der Ravenclaw war bei ersterem ebenfalls erfolgreich gewesen, wurde allerdings kurz vor Ablauf der Frist vom letzten Fluch getroffen. Im Fach seines Hauslehrers lieferte Ohtah eine perfekte Leistung ab, an der Seiketsu nur knapp vorbeischrammte – in der Kräuterkunde dagegen war es genau umgekehrt. Die nächtliche Prüfung von Astronomie verlief für die Braunhaarige nicht ganz so, wie gewünscht, stand allerdings auch nicht auf der Prioritätenliste, und dafür wunderte sich ihre Schwester wieder einmal, wie all die Jahreszahlen, merkwürdigen Namen aus Professor Binn´s einschläfernder Stimmlage in ihrem Kopf geblieben waren. Für Arithmantik, dem wichtigsten Fach für einen Fluchbrecher, sollten die Siebtklässler innerhalb von fünf Minute so viele magische Variablen, wie nur möglich an die entsprechende Stelle setzen – das ganze glich einem Puzzle und Nadeshiko setzte ihren kompletten Fokus auf die Aufgabe. Ebenso viel Eifer zeigte sie beim Übersetzungstext in Alte Runen, bei dem sie allerdings ausgerechnet die Worte »Tehanu«, was so viel hieß wie Windstoß, und »Therru«, was Flamme bedeutete, verwechselte. Seiketsu kam bei diesen zwei Prüfungen ebenfalls gut weg gekommen und hatte es damit geschafft. Für die anderen stand als letztes noch Pflege magischer Geschöpfe auf dem Plan – mit dessen Verlauf Nadeshiko und Ohtah eigentlich sehr zufrieden waren; besonders hatte ihnen die eine Aufgabe gefallen, bei der sie Eier den verschiedenen Tierwesen wie Hippogreif und Occamy zuordnen mussten.

Erschöpft, aber glücklich genossen die drei – Klerus hatte regulären Unterricht – den nächsten Tag im Schatten eines Baumes am Ufer des Schwarzen Sees. Die letzten Tage im Schloss konnten sie selbst gestalten, etwa wie der heutige oder in der Verbotenen Abteilung der Bibliothek, was noch auf ihrer Agenda stand. Genauso wie allen ihren Lieblingsplätzen nochmal einen Besuch abzustatten, den kommenden Samstag in Hogsmeade zu verbringen – sicher interessierte sich Madame Rosmertha, was aus Seiketsu´s Geschichte geworden war. Gegen Mittag, nachdem sie ausgeschlafen hatte, stieß Shirayuki zu ihnen und knabberte ein paar Kekse. Denn am Morgen war ein kleines Überraschungspaket auf Nadeshiko´s Bett gelegen, gefüllt mit Flaschen Limonade und Gebäck. Obwohl kein Absender darauf vermerkt war, wusste sie, es konnte einzig von der Hauselfe Ciri stammen konnte – sie hatten die UTZ mehr oder weniger erfolgreich, jedoch absolut zufrieden hinter sich gebracht und dies sollte wohl ihre Belohnung sein. Dieser Ort war so sehr ein Zuhause für die Absolventen geworden, dass der unausweichliche Abschied schmerzte …

„Ein Teil von mir kann es immer noch nicht recht glauben …“, meinte Seiketsu plötzlich, „Ich meine, was uns passiert ist – mit den Verliesen. Und na ja, es mag komisch klingen, aber nur deswegen sitzen wir jetzt hier.“

Die Rothaarige nickte: „So denke ich auch. Was auch immer der Grund sein mag, warum ausgerechnet wir diesen Fluchen brechen mussten …“

„Torvus würde nun bestimmt über die besondere Sternenkonstellation bei unserer Geburt erläutern, die genauso gewesen wäre, wie bei der Erschaffung durch die vier Gründer oder so etwas.“, lachte die Ältere.

Es hatte Nadeshiko´s gesamte Überredungskunst gebraucht, um sie zum Treffen mit den Zentauren zu bewegen … zu sehr hatte sich die Ravenclaw geschämt, für ihre blinde Verliebtheit, wegen der sie überhaupt erst so … rücksichtslos gehandelt und ihm wirklich den Pfeil gestohlen hatte. Daher war sie so unendlich erleichtert gewesen, dass er ihr verzieh und ihre Freundschaft erneuerte. Schon ihrer Schwester zu helfen, bewies ihr, dass Torvus ihre Bindung nie gänzlich verloren geglaubte …
 

Nadeshiko erwachte nach einem wundervollen Traum. Ein glückliches Lächeln lag auf ihren Lippen. Da fiel ihr auf, dass sie die einzige im Schlafraum war. Sie streckte sich genüsslich, als etwas – oder besser gesagt jemand an das Turmfester klopfte. Hastig stieg die Rothaarige aus dem Bett und ließ Shirayuki herein, die ein Päckchen mitgebracht hatte.

„Ist es das?“, wollte Nadeshiko mit leuchtenden Augen wissen, woraufhin ihre Eule einen kurzen Laut ausstieß.

Vor Aufregung zitternd öffnete sie es und ihre Finger fuhren fast schon zärtlich über den Inhalt.

„Hoffentlich gefalle ich ihm darin …“, flüsterte sie verlegen und ließ sich zurück auf ihr Bett fallen.

Den Anblick des scharlachroten Baldachins über sich würde sie vermissen … Sieben lange Jahre hatte dieser Ort sie begleitet. Unzählige Male hatte Nadeshiko den Glauben verloren, diesen Tag zu erleben – das Abschlussfest für die Hogwarts-Absolventen! Was für andere selbstverständlich erschien, war bei ihr stets fragwürdig gewesen … Doch nun war ihre Schwester befreit, das Geheimnis der Verwunschenen Verliese gelöst – und das alles Dank Ohtah. Eine Träne stahl sich auf ihre Wangen. Realistisch betrachtet glich ihr Leben in Hogwarts einem Märchen – ein Wunder, wie es im Buche stand, über eine tiefe Freundschaft, aus der Liebe wurde … Wenn es für »Glück« eine Bedeutung gab, dann diese!

Seit dem Ball in der Großen Halle hatte Nadeshiko nicht mehr die Gelegenheit gehabt, sich derart zu kleiden. Die meisten Schülerinnen, so wusste sie aus den Gesprächen, würden vorrangig Cocktailkleider tragen. Seiketsu und sie selbst wollten etwas gänzlich anderes – nicht um herauszustechen, darum ging es ihnen nicht; ihre Geschichte war der Grund dafür … die Verwunschenen Verliese stammten aus einer vollkommen anderen Zeit. Das Gewand ihrer Schwester erinnerte an eine Kräuterfrau oder fahrende Heilerin in den Farben ihres Hauses, das Haar hatte sie an der rechten Seite herabhängend zu einem festen Zopf gebunden, an ihrem Gürtel war ein Halfter für den Zauberstab angebracht. Genau derselbe befand sich auch an Nadeshiko´s Band, welches mit goldenen Stickereien verziert war und perfekt mit dem Jungfernkranz auf ihrem Kopf – ihr geflochtenes Haar fiel übrigens über die linke Schulter – sowie dem geschnürten, mittelalterlichen Kleid in einem tiefen Rotton harmonierte; um den Hals trug sie natürlich weiterhin das Medaillon. Beide hätten genauso gut einem Lehrbuch aus Geschichte der Zauberei entstiegen sein können. Wenig überraschend also, dass sie auf dem Weg zur Großen Halle sämtliche Blicke der Schülerschaft auf sich zogen. Für Ohtah war es beinahe wie ein Déjà-vu … Seine schwarz schimmernden Iriden weiteten sich vor Erstaunen. Er bekam nicht einmal mit, wie sein Bruder neben ihm ins Schwanken kam – seine Aufmerksamkeit galt allerdings Seiketsu. Mit deutlicher Röte im Gesicht begrüßten sie die geplätteten Herren.

„Du … du bist … wunderschön.“, stammelte Klerus unbeholfen und bot ihr seine Hand an, um sie hineinzugeleiten.

Ohtah dagegen zog seine Liebste fest an sich und küsste sie leidenschaftlich.

„Mister Shadowdragon, das ist gegen die Schulordnung – haben wir in unserer Laufbahn nicht schon genug Regeln gebrochen?“, hauchte Nadeshiko, ohne sich recht von ihm zu lösen.

Darauf grinste er frech und meinte: „Dann dürfen Sie mich eben nicht so um den Verstand bringen, Miss Yosogawa … Außerdem werden wir morgen doch ohnehin vor die Tür gesetzt!“

Noch einmal berührten sich ihre Lippen, ehe sie ihren Geschwistern folgten. Nur wenige, die nicht zur Abschlussklasse gehörten, wohnten diesem Abend bei – daher war die Sitzordnung der Haustische aufgehoben und die Freunde konnten sich einen gemeinsamen Platz suchen.

Ein paar Minuten später erhob sich Professor McGonegall von ihrem Platz und sagte würdevoll: „Willkommen! Lehrer zu sein, ist Fluch und Segen zugleich … Wir sehen Sie aufwachsen – helfen Ihnen dabei, wenn wir es vermögen und dann kommt irgendwann dieser Tag, an dem die Schüler dieses Schloss als vollwertige Hexen und Zauberer verlassen. Sie sind nicht mehr dieselben, die Sie bei Ihrer Ankunft hier waren … Diese Schule als Absolventen zu verlassen bedeutet, dass Ihnen von nun an die Welt offen steht – gleichzeitig wird Ihnen Hogwarts immer ein Stück weit ein Zuhause sein …“

Nadeshiko stutzte. Für einen kurzen Moment konnte sie die Augen der Direktorin feucht glitzern sehen. Als ihre Rede endete, gesellten sich Professor Sprout, Professor Slughorn sowie Professor Flitwick zu ihr – die vier Hauslehrer riefen jeweils einen ihrer Schüler zu sich, übergaben ihnen das Abschlusszeugnis und eine kleine Schatulle mit einigen persönlichen Worten. Nadeshiko´s, Ohtah´s und Seiketsu´s Namen erklangen gleichzeitig. Klerus schaute ihnen sehnsuchtsvoll hinterher – auf ihn wartete noch ein ganzes Jahr ohne seine Gefährten …

Wie erwartet hatte die Braunhaarige trotz aller Widrigkeiten in jeden Fach ein UTZ erhalten, wobei in Kräuterkunde ein »Ohnegleichen« glänzte und es bei Astronomie nur zu »Annehmbar« gereicht hatte – ansonsten strahlten ihr sehr zufriedenstellende »Erwartungen übertroffen« entgegen.

Der kleinwüchsige Zauberer schniefte plötzlich: „Ich muss mich nochmals bei Ihnen entschuldigen, Miss Yosogawa, – wir hätten die Suche nach Ihnen nicht aufgeben … und Sie so schlecht behandeln dürfen.“

„Ich habe Ihnen und den anderen nichts zu verzeihen … Meiner Schwester war es bestimmt, mich zu retten. Ich danke Ihnen für alles, Professor Flitwick.“, antwortete Seiketsu und verbeugte sich höflich.

Der Meister der Zaubertränke begann sein übliches Geschwafel über seine Wand mit bedeutenden Schüler und sagte plötzlich: „Sie haben Slytherin wahrhaft alle Ehre gemacht – ich sollte es ja nicht zu laut sagen, Mister Shadowdragon, aber Sie haben gezeigt, dass unser Haus nicht nur schwarze Magier hervorbringt!“

„Ich werde niemals auf die dunkle Seite wechseln, Professor!“, bestätigte Ohtah entschieden, ohne zu ahnen, dass seine Liebste einst fast genau dieselben Worte gebraucht hatte.

Mit seinem Zeugnis in der Hand, welches nicht nur in Verteidigung gegen die dunklen Künste, sondern auch in Zaubertränke die Bestnote zeigte, fühlte er sich bereit, Togo Yosogawa´s Erwartungen genauso gerecht zu werden, wie den Lehrern in den übrigen Fächern.

Wie oft hatten Professor McGonegall und Nadeshiko ernste Gespräche miteinander geführt? Nicht nur über die Verliese … und manchmal war es ihr so vorgekommen, als hätten sie sich wortlos unterhalten. Genau wie jetzt …

Schließlich ergriff die Ältere doch das Wort: „Manchmal vergisst man, was Tapferkeit wirklich bedeutet … Godric Gryffindor wäre stolz auf Sie, Miss Yosogawa, und Hogwarts wird nie vergessen, was Sie getan haben!“

„Es tut mir unglaublich leid für all die Scherereien, die ich Ihnen bereitet habe.“, entgegnete die Rothaarige mit einer tiefen Verbeugung, „Ich verspreche Ihnen, ich werde Ihre Lehren in Ehren halten.“

Ein mildes Lächeln trat auf die Züge ihrer Gegenüber und sie murmelte: „Ich weiß. Sollten Sie jemals meine Hilfe brauchen, wird Ihre Eule mich finden …“

Gerührt biss sich Nadeshiko auf die Lippen, sie nickte mehrmals und nahm die Insignien ihres Abschluss entgegen. Ihr Pergament trug – ganz im Zeichen ihres Berufswunsches – ebenfalls wieder in Verteidigung gegen die dunklen Künste ein »O« sowie in Arthmantik, für Alte Runen hatte es wohl wegen des kleinen Fehlers nur zu einem »E« gereicht, ebenso in all ihren anderen Fächern.

Als alle Schüler – nein, ehemaligen Schüler wieder Platz genommen hatten, erschien auf gewohnt magische Weise das Festmahl. Während sich die anderen direkt darüber hermachten, öffneten die drei Freunde erst einmal die geheimnisvollen Schatullen – darin befanden sich Ringe in den Legierungen gold für Gryffindor, silber für Slytherin und bronze für Ravenclaw; sobald es für Klerus soweit wäre, würde er ein solches Schmuckstück aus Obsidian erhalten. Neben dem Hogwarts-Wappen zeigte das Kleinod die Aufschrift »Alumni« … Absolvent. Alle steckten ihn sich an den linken, kleinen Finger – die Verbindung zu ihrer Vergangenheit auf der Herzseite.
 

In dieser Nacht schliefen sie nicht – sondern saßen zusammen im Raum der Wünsche, der sich in einer Mischung aller vier Gemeinschaftsraum zeigte.

„Ich weiß nicht, wie ich ohne das Schloss leben soll …“, seufzte Seiketsu wehmütig.

Ihre Schwester legte den Arm um sie und nickte: „Ja, das stimmt … aber denk´ an McGonegall´s Worte – es wird immer ein Stück Zuhause für uns sein.“

„Und das wichtigste, was Hogwarts uns gegeben hat, werden wir nie verlieren.“, meinte Ohtah, dann grinste er breit, „Einander!“

Seine Freunde lachten zustimmend. Doch Klerus wirkte betrübt … Sein Blick wanderte zu Seiketsu und er errötete. Ab morgen wäre sie fort …

„Sei!“, rief der Huffelpuff plötzlich wie aus der Pistole geschossen, „Würdest du in den Ferien mal mit mir ausgehen? So richtig, meine ich …“

Die Braunhaarige blinzelte ihn perplex an – Nadeshiko und Ohtah schauten genauso verdattert drein – und antwortete verlegen: „Gerne …“

Erleichtert konnte Klerus wieder durchatmen und der Slytherin gab ihm einen Klaps auf den Rücken, ehe seine Liebste sich an ihn wandte: „Ohtah … meine Antwort lautet >ja, ich will<. Es tut mir leid, dass ich dir das nicht gleich sagen konnte …“

Klerus und Seiketsu stand der Mund offen, während Ohtah ihre Hand ergriff und entgegnete: „Du bist jede Wartezeit wert, Shiko … Mein Herz wird für alle Ewigkeit nur dir gehören, das schwöre ich!“

So wurde aus ihrem gemütlichen Beisammensein gleich noch eine kleine Verlobungsfeier, welche die Hauselfe Ciri wie auf Stichwort noch ein letztes Mal mit Leckereien aus der Küche versorgte, und sich über die ganze Nacht erstreckte. Erst gut eine Stunde vor dem Frühstück kehrten sie schließlich nach unzähligen Gesprächen über ihre Abenteuer in die Schlafsäle zurück; keiner von ihnen hatte bislang seinen Koffer fertig gepackt und um ehrlich zu sein, wollten sie nicht noch mit einer Rüge gehen … Dreimal kontrollierte Nadeshiko schließlich, ob sie auch wirklich nichts vergessen hatte. Eines der letzten Dinge, die sie verstaute, waren ihre Umhänge sowie der Spitzhut, diese Kleidung würde sie ein Leben lang in Ehren halten!
 

Vier Stunden später war sämtliches Gepäck in den Zug gebracht worden, die Eulenkäfige sicher verschlossenen und ein aufgeregtes Stimmengewirr hallte durch die Flure. Nach und nach wurden die Schüler von den schwarzen Kutschen zum Bahnsteig gebracht. Nadeshiko, Ohtah, Seiketsu und Klerus standen vor dem gewaltigen Eingangstor des Schlosses und ließen den Blick über das Gelände schweifen. Synchron hoben die drei Absolventen ihre Zauberstäbe, helle Lichter flogen langsam empor, welche die Gestalt verschiedener Tierwesen annahmen – ein Phönix, ein Drache, ein Einhorn. Ein letzter Gruß zum Abschied …
 

Jeder Mensch ist im Grunde auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens … manche bewusst, manche unbewusst. Und wieder andere kennen bereits ihre Aufgabe. Die Legende der Verwunschenen Verliese ist zu Ende erzählt … doch die Abenteuer von Nadeshiko Yosogawa haben gerade erst begonnen!

Erzählung 13: Eine schicksalhafte Hochzeit

Gemeinsam lieben und leben

„Und du meinst ernsthaft, dass wir das dürfen?“, wollte der Blonde skeptisch wissen.

Sein älterer Halbbruder grinste schelmisch: „Wir erinnern sie einfach an ihre Rede. Und dass es, laut ihr, auch nie in Vergessenheit geraten würde, was wir getan haben. Stell´ dir einfach vor, wie Shiko und Sei reagieren werden.“

Bei der Erwähnung seiner Geliebten, färbten sich Klerus Wangen dunkel und er seufzte: „Na ja, du bist wenigstens schon verlobt – ich hab´ sie noch nicht einmal gefragt.“

Kopfschüttelnd packte Ohtah ihn am Arm, der sofort die Augen zukniff. Der Braunhaarige hatte sich ja bereits mit dem Apparieren schwer getan – doch Klerus war im Grunde ein vollkommen hoffnungsloser Fall. Auch das Seit-an-Seit-Apparieren brachte ihm nur Übelkeit. Mit einem Knall verschwanden die jungen Männer. Und tauchten nur Sekunden später an einer ganz anderen Stelle, genau genommen sogar in einem anderen Land wieder auf – von einem kleinen Ort in England aus, in dem das Anwesen ihrer Liebsten lag, waren sie nach Schottland gereist. Ein Muggle hätte nun lediglich eine verlassene Ruine gesehen, der er schnurstracks wieder den Rücken gekehrt hätte … Ohtah und Klerus dagegen wurden beim Anblick der hohen Türme schlagartig melancholisch – sieben Jahre lang hatten sie dieses Schloss ihr Zuhause genannt. Dort hatten sie gelebt, gelernt, gekämpft, geliebt und gesiegt – gegen die Flüche der Verwunschenen Verliese und einen ehemaligen Professor, welcher seitdem sein Dasein in Askaban fristete.

„Bereit?“, fragte der Braunhaarige und machte bereits einen ersten Schritt in Richtung des Eingangsportals.

Entschlossen folgte ihm der ehemalige Hufflepuff. Der Schutzwall um die Schule schlug keinen Alarm – es herrschte Frieden in der Zaubererwelt –, allerdings informierte er die Schulleitung über den nahenden Besuch. Argus Filch, der uralte, verquere Hausmeister öffnete ihnen das Eingangsportal. Misstrauisch betrachtete er die beiden – es kam nicht sehr häufig vor, dass ehemalige Schüler vor der Tür standen.

„Guten Tag, Mister Filch.“, meinte Ohtah und kramte einen Brief aus seinem Umhang, „Wir haben einen Termin mit der Schulleiterin.“

Gemächlich überflog der Sqiub das Schreiben, ehe er ihnen mit einem Wink bedeutete, ihm zu folgen. Nicht, dass sie das Büro nicht auch allein gefunden hätten.

„Da sind zwei Halbstarke, die zu Ihnen wollen, Professor. Behaupten, Sie hätten sie eingeladen. Soll ich sie dafür im Kerker aufhängen?“, kündigte der Alte sie bei einer Hexe an, die einen schwarzen, mit einer Feder besetzten Spitzhut und ein grünes Samtgewand trug.

Ein Lächeln hellte ihr Gesicht auf und sie erwiderte: „ Danke, Argus, das wird nicht nötig sein. Mister Shadowdragon, Mister Monko, nur herein.“

Grimmig schlurfte Mister Filch davon, murmelte etwas über alte Zeiten und die jungen Zauberer traten ein.

„Schön, Sie wiederzusehen, Professor.“, sagte Klerus und beide deuteten eine Verbeugung an.

Nach mehreren Jahren in einem japanisch geführten Haushalt, waren manche Angewohnheiten tatsächlich auf sie abgefärbt.

„Ich freue mich ebenfalls.“, bestätigte Professor McGonagall, „Warum kommen Sie denn allein?“

Sicher wäre es für Nadeshiko und Seiketsu Yosogawa ein Fest gewesen, hierher zurückzukehren … Nun ja, vielleicht war ihnen dies ja bald vergönnt – zumindest hofften die beiden Zauberer dies mit ihrem Besuch zu erreichen.

„Weil wir mit einer Bitte zu Ihnen kommen. Einer Überraschung, die Ihrer Zustimmung bedarf …“, erklärte Klerus und holte tief Luft – er wollte unbedingt für das eintreten, was er sich von ganzem Herzen wünschte und dieses Gespräch war die erste Hürde.

Gemeinsam berichteten beide, worum genau es sich handelte. Perplex blinzelte die Hexe hinter den rechteckigen Brillengläsern, ehe sie sich zurück auf ihren Stuhl hinter dem Schreibtisch setzte und mit aneinandergelegten Händen: „Diese Schule verdankt Ihnen so viel … Meine Zustimmung bekommen Sie und ich bin sicher, die übrigen Professoren werden dem ebenfalls wohlwollend gegenüber eingestimmt sein.“

Nachdem sich die Herren überschwänglich bedankt hatten, kehrten sie erleichtert zurück nach Hause.

„Jetzt gibt es kein Zurück mehr – du musst sie endlich fragen!“, schärfte Ohtah dem Jüngeren noch einmal ein, was diesem nur zu genau bewusst war.

Klerus konnte nicht recht erklären, warum ihm diese Sache bislang nicht über die Lippen gekommen war … Er dachte zurück, wie Nadeshiko ihn im Raum der Wünsche nach seinen Gefühlen für Seiketsu gefragt hatte. Seit er ihr Foto gesehen hatte, war ein Sehnen in ihm erwacht, das nach ihrer Rettung regelrecht aufgeschrien hatte …

Sollten Kai Yosogawa oder die Hauselfe später tiefe Bahnen im Rasen finden, würden diese auf das Konto von Klerus Monko gehen … Weil er schier stundenlang unter Seiketsu´s Fenster hin- und herlief. Wie lange ging er bereits auf diesem Gelände ein und aus? Mit den Jahren hatte er die Gewohnheiten aller Bewohner kennengelernt. Niemand sollte um diese Uhrzeit mehr in den Garten kommen … Das Schlafzimmer ihrer Eltern lag zur anderen Seite hinaus – ebenso wie das Gästezimmer beziehungsweise Ohtah´s Zimmer, in das sich Nadeshiko jeden Abend schlich, sobald Togo und Kai zu Bett gegangen waren. Und Mimi bereitete in der Küche im Keller das Frühstück für den nächsten Tag vor. Seine Hand wanderte in die hintere Tasche der Jeans und schloss sich um den Griff seines Zauberstabs. Mit einem kleinen Wutschen schickte er ein Steinchen los, welches gegen das Fenster von Seiketsu´s Zimmer schlug. Es dauerte nur wenige Momente, ehe seine Angebetete öffnete und ihn überrascht ansah. Vor allem da Klerus in einem Ring aus leuchtenden Blumen stand, die er für sie gezaubert hatte.

„Sei … ich bin kein großer Poet. Trotzdem bitte ich dich, mir genau zuzuhören.“, sagte er nervös und ging mit einem Bein auf das Knie, „>Zwei Ranken wachsen / und verschlingen sich dabei / zu einer Einheit.<“

Sein Blick senkte sich zum Boden, er platzierte eine kleine Schachtel vor sich und berührte anschließend den Rasen darunter. Von zwei verwobenen Pflanzen wurde das Kleinod bis zu Seiketsu hinauf getragen, die es vorsichtig entgegen nahm. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie den Deckel aufklappte. Im ersten Augenblick konnte sie nicht glauben, was sie erblickte und was Klerus da gerade tat … Er hatte ihr ein »Haiku« vorgetragen, ein Gedicht in japanischem Stil … und ihr auf besondere Weise ein Geschenk überreicht. Einen roségoldenen Ring mit einem von weißen Steinen eingerahmten Saphir … Er machte ihr einen Heiratsantrag! In ihren Augen sammelten sich Tränen. Ohne auf etwaige Etikette zu achten, raste Seiketsu die Treppe hinab und stürmte ohne in die bereitgestellten Hausschuhe hinaus in den Garten, wo sie Klerus um den Hals fiel.

„Heißt das >ja< oder ist das ein Versuch, mich zu erwürgen?“, witzelte er, allerdings ebenfalls mit feuchten Augen.

Seiketsu schaute ihm ins Gesicht und antwortete: „Ja … ja … und nochmals ja!“

Lächelnd nahm er ihre linke Hand, um ihr den Ring anzustecken. Überglücklich verfielen sie in einen langen Kuss.
 

„Eine Doppelhochzeit?“, riefen Nadeshiko und Seiketsu begeistert aus.

Eine Welle der Erleichterung erfasste Ohtah und Klerus angesichts ihrer Freude über diese Idee – die letzten Stunden standen beide ziemlich unter Strom … sie als »nervös« zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung gewesen. Nun breitete sich ein breites Grinsen auf den Gesichtern der Herren aus.

„Oh, Shiko, es gibt so viel zu planen!“, meinte die Braunhaarige glücklich und sprang auf, um ihrem Frischverlobten einen Kuss auf die Wange zu drücken, „Danke …“

Knallrot nickte Klerus, während er nach ihrer Hand griff: „Ich möchte, dich glücklich machen …“

Wieder ließen sich Seiketsu´s Tränen nicht zurückhalten. Auch Shiko weinte vor Freude. Dafür hatte es sich gelohnt, alles auf sich zu nehmen! Für diese Zukunft …

„Es gibt zum Thema Vorbereitung allerdings noch eine winzig kleine Überraschung.“, sagte Ohtah, um von dem traurigen Unterton in der Stimmung abzulenken, „Der Trauort bleibt geheim.“

Verwundert sahen die künftigen Bräute an. Die frühere Gryffindor zog zusätzlich eine Augenbraue hoch – Ohtah tat nie etwas ohne tieferen Grund … Er musste sich wahrlich irgendetwas ganz besonderes einfallen lassen haben.

Sie lächelte und antwortete: „Gut. Dann dürft ihr euch jetzt um euren Teil kümmern und wir wenden uns unseren Outfits zu, Oneechan!“

Damit begann eine ganze Organisationsodyssee – Kleidung von Braut und Bräutigam waren schließlich nur der Anfang … Gästelisten, Einladungen, Sitzordnungen, Menüvorschläge mussten verfasst werden; Gedecke, Blumenschmuck, Dekoration, Musik, Torten und vor allem die Ringe mussten sorgfältig ausgewählt sowie Abläufe ausgedacht werden. Kai war vollkommen aus dem Häuschen, dass ihre beiden Töchter solch edle Partner gefunden hatten und Togo schwärmte bei seinen Geschäftspartnern regelrecht von seinen zukünftigen Söhnen. Währenddessen konnte Nadeshiko einfach nicht aufhören zu lächeln – selbst wenn die Vorbereitungen etwas stressig wurden, weil sie bereits in nur drei Monaten heiraten würden -, weil eben genau dieses Leben ihren einzigartigen Patroni hervorgebracht hatte. Ihr früherer Mentor, der sich zwar als dunkler Zauberer herausgestellt hatte und damit im Grunde ohnehin nichts von diesem Zauber verstand, wollte damals wissen, welche Erinnerung sie gewählt hatte … Nur war es gar keine Erinnerung gewesen, sondern die Vorstellung eines glücklichen Lebens mit Ohtah, Seiketsu und Klerus.
 

Die Wangen der beiden Frauen bildeten mit ihrer roten Farbe einen deutlichen Kontrast zu den weißen Gewändern, die sie trugen. Eine trug einen zart bestickten Seidenkimono, der von einem bronzefarbenem Obijime abgerundet wurde. Dieser Ton fand ich zudem in ihrem Schmuck wieder, geziert von wundervollen, dunkelblauen Saphiren. Auf die typisch japanische Kopfbedeckung einer Braut hatte sie verzichtet und trug in ihrer Hochsteckfriseur stattdessen eine Seerose. Dieselbe Blume befand sich im kurzen, roten Haar ihrer Schwester. Sie hatte sich für ein wallendes Hochzeitskleid entschieden, welches am herzförmigen Ausschnitt mit flammenden Rubinen geschmückt war. Sie waren die perfekten Spiegelbilder ihrer eigenen Geschichte – japanisch und englisch, Ravenclaw und Gryffindor.

„Ihr seid … wunderschön. Womit habe ich verdient, mit solch wundervollen Töchtern gesegnet zu sein?“, sagte Togo, kaum dass er eingetreten war.

Noch ein Grund, warum sich sämtliche Strapazen von Nadeshiko´s Schulzeit gelohnt hatten – ihr Vater war nicht länger verbittert, sein Herz nicht mehr kalt und verschlossen. Auffordernd hielt er ihnen seine Arme hin, Seiketsu und Nadeshiko hakten sich bei ihm ein. Nach einem letzten Blickwechsel, disapparierte Togo und nahm seine Töchter mit sich, die nicht glauben konnten, wo sie wiederaufgetaucht waren … Die gewaltige Glocke im Uhrenturm, der in den Innenhof hinausführte, begann zu läuten, um ihre Ankunft zu verkünden. Das hölzerne Tor zur Eingangshalle stand weit offen. Doch sie rührten sich nicht … Nadeshiko und Seiketsu starrten das Gebäude weiterhin nur ungläubig an. Wie nur hatten Ohtah und Klerus das bloß vollbracht? Niemals zuvor hatte man von einer Hochzeit innerhalb der Mauern dieses Schlosses gehört. Und dennoch war dieser Ort für ihre Hochzeit perfekt! Hogwarts … Gerührt sahen die Schwestern sich an – wenn überhaupt möglich, liebten sie ihre Zukünftigen in diesem Augenblick nur noch mehr.

„Bereit?“, fragte Togo lächelnd, „Sonst werden Ohtah und Klerus noch nervös.“

Lachend nickten seine Töchter und sie schritten über die Brücke, durch das Eingangsportal, hin zur Großen Halle. Alles wirkte gleichzeitig vertraut und doch ganz anders … Das Himmelsgewölbe zeigte einen klaren Sternenhimmel, der mit ihrem Erschaffung noch einmal mehr aufleuchtete. Die typischen, schwebenden Kerzen tauchten alles in ein warmes, weiches Licht. Die Banner präsentieren alle vier Häuser – apropos die Haus- und Lehrertische waren verschwunden; geschwungene Bänke standen zu beiden Seiten eines Mittelgangs, der sich zum Podest öffnete, auf dem sie drei Personen erwarteten … Professor McGonagall und die Bräutigame. Ohtah hatte sich in einen grauen Frack mit dunkelgrünem Futter samt passender Weste und Fliege gekleidet – ein stolzer Slytherin, auf dessen Gesicht ein breites Grinsen lag, trotz seiner hastigen Atmung beim Anblick von Nadeshiko. Es berührte Seiketsu zutiefst, Klerus in schwarzem Haori und grauen Hakama mit einem gelben Haoti himo zu sehen – nicht nur, weil er sich so überzeugend als Hufflepuff präsentierte, sondern weil er ihre Familienkultur derart respektierte. Wenn sein Bruder bereits überwältigt von seiner Braut war, konnte der Blonde sein Glück kaum fassen. Bevor sie allerdings die letzten verbliebenen Meter überwanden, erhob sich Kai von ihrem Platz und zauberte ihren Töchtern mit »Orchideus« zwei zauberhafte Brautsträuße, passend zu ihrem floralen Haarschmuck. Bei den Herren angekommen, verneigten diese sich tief vor ihrem Schwiegervater, der ihre Geste jeweils erwiderte und ihnen die Hände übergab.

„Wenn das nicht bereits unser Hochzeitstag wäre, müsste ich dich auf der Stelle heiraten.“, flüsterte der Braunhaarige Nadeshiko ins Ohr.

Auch Seiketsu bekam eine leise Botschaft: „Als du einen Kimono getragen hast, habe ich mich in dich verliebt … und nun trägst du einen zu unserer Hochzeit.“

Mit einem sanften Räuspern verschaffte sich die Rektorin Gehör: „Für gewöhnlich halte ich Begrüßung- und Abschiedsreden für Schüler … keine Traureden. Aber eigentlich ist es gar nicht so ein gewaltiger Unterschied – auch Sie verabschieden sich von etwas, von Ihrem früheren Leben … und begrüßen die Ehe, die Sie heute hier schließen wollen. Mit Hindernissen kennen Sie sich wahrlich zu genüge aus, dennoch werden in Zukunft weitere, andere auf Sie zukommen. Hindernisse, die nur gemeinsam bewältigt werden können … Hindernisse, für die es nicht unbedingt direkt einen passenden Zauberspruch gibt … Aber kein Fluch, nein, ein Segen – ein Versprechen. Und so frage ich zunächst Sie, Mister Ohtah Shadowdragon, wollen Sie versprechen Miss Nadeshiko Yosogawa stets zu lieben, zu ehren, zu achten und alles mit ihr zu teilen?“

Nach einem tiefen Atemzug wandte sich Ohtah an Nadeshiko: „Meine geliebte Shiko, ich habe es dir schon einmal gesagt und möchte es heute vor Zeugen wiederholen. Du warst diejenige, die mich aus der Dunkelheit gerettet hat! Weil du mein Licht bist … Ich war gefangen, mein halbes Leben lang – du war die erste, die mich als >Ohtah< gesehen und akzeptiert hat, auch als du die ganze Wahrheit über mich erfahren hast. Ich kann nicht in Worte fassen, wie dankbar ich dir bin – aber ich habe ein ganzes Leben lang Zeit, um es dir zu beweisen. Ja, ich will!“

„Dann frage ich Sie, Miss Nadeshiko Yosogawa, wollen Sie versprechen Mister Ohtah Shadowdragon stets zu lieben, zu ehren, zu achten und alles mit ihm zu teilen?“, wiederholte sie die Frage.

Ein Lächeln erhellte ihr Antlitz, als sie erwiderte: „Ohtah, mein Geliebter, ich weiß nicht, wie oft du mich wiederaufgebaut und mir neue Kraft gegeben hast – schon bevor wir ein Paar wurden. Ohne dich hätte ich diesen Weg nicht gehen können, ohne dich hätte ich mein Ziel nicht erreicht. Heute geht für mich ein Traum in Erfüllung, auf den ich lange nicht zu hoffen gewagt habe. Doch nun stehen wir hier und ich schwöre dir, dich für immer zu lieben! Ja … ja, ich will!“

Auf McGonagall´s Wink hin, umfasste Ohtah das Gesicht seiner Frau mit den Händen und küsste sie unter dem donnernden Applaus der Gästeschar.

„Nun zu Ihnen.“, fuhr Minerva McGonagall fort und sah das zweite Brautpaar an, „Ich frage Sie, Mister Klerus Monko, wollen Sie versprechen Miss Seiketsu Yosogawa stets zu lieben, zu ehren, zu achten und alles mit ihr zu teilen?“

Klerus neigte sein Haupt, um seiner Braut einen Handkuss zu geben, dann erklärte er: „Liebste Sei, es gleicht einem Wunder, dass wir hier heute nebeneinander stehen. Ein Abbild von dir hat genügt, damit ich von dir gefesselt war … ein Abbild und deine Geschichte. Als wir uns dann wirklich kennenlernten, fühlte ich mich plötzlich vollständig … Durch dich bin ich ein besserer Mensch, für dich will ich so viel mehr sein. Weil ich dich von ganzem Herzen liebe! Ja, ich will …“

Erfreut richtete die Schulleiterin sich letztlich an die Braunhaarige: „Klerus, ich liebe dich! Von dir habe ich gelernt, was es bedeutet, wahrhaftig zu lieben – ohne Bedingungen, ohne Einschränkungen. Du siehst mich, du verstehst mich. Wenn ich darüber nachdenke, was mir passiert ist, frage ich mich, ob es nicht Schicksal war – damit wir uns begegnen konnten. Das ist mir nicht nur ein Trost, sondern ein Geschenk … Ich habe eine zweite Chance bekommen und dieses Leben will ich mit dir gemeinsam verbringen! Ich will … ja, ich will!“

Auch der Kuss von Klerus und Seiketsu wurde vom Jubel der Menge begleitet.

„Ich gratuliere Ihnen, Mister und Misses Yosogawa …“, sprach Professor McGonagall stolz, „Und Ihnen, Mister und Misses Yosogawa.“

Überrascht sahen die beiden Frauen zu ihren Männern.

Ohtah biss sich vor Lachen auf die Lippen: „Ihr glaubt doch nicht allen Ernstes, dass wir euch euren gemeinsamen Nachnamen nehmen.“

„Außerdem wollte mein Bruderherz seinen eigenen unbedingt loswerden und auch endlich denselben Nachnamen tragen, wie ich.“, fügte Klerus scherzhaft hinzu, woraufhin alle lachten.

Begeistert zogen alle vier Brautleute ihre Zauberstäbe und schickten ihren Patroni durch die Große Halle – Nadeshiko´s Phönix zog segelnd weite Bahnen, gefolgt von Ohtah´s Drachen, während Seiketsu´s Einhorn und Klerus´ Abraxaner durch den Mittelgang galoppierten … Niemals müsste es mehr ein Wunschgedanke sein, der einem ihrer Patronuszauber seine Gestalt verlieh – von diesem Moment an war die Erinnerung an diesen heutigen Tag …
 

Glück ist schwer in Worte zu fassen … Shiko, Ohtah, Sei und Klerus haben ihres in ihrer gemeinsamen Zukunft gefunden – eine Zukunft, die viel zu lange ungewiss, ungreifbar gewesen war. Doch nun endlich ist sie Tatsache!

Fanfiction 03: Die Legende von Engeln und Dämonen

Feuer gegen Feuer

Hinter der Fassade des normalen Lebens verbirgt sich noch eine andere Welt … jene, in der alle Geschichten über Engel, Dämonen und Monster real waren. Legenden über Hexenmeister und Vampire oder Werwölfe, Elfen und Feen sowie Zombies, sogenannt Forsaken. Ebenso wie die Hüter des Friedens … die Shadowhunters – halb Engel, halb Mensch beschützen sie die Mundi, die Bewohner der Menschenwelt seit Jahrhunderten aus dem Verborgenen heraus. Als Kinder des Erzengels Raziel mit dessen Runen ausgestattet und Waffen aus Adamant, welche dämonische Energien auslöschen konnten.

So stand in unserer Zeit in der ehemaligen Hauptstadt Japans eines der berüchtigten Institute der ganzen Welt, getarnt durch Zauberglanz als einsturzgefährdete Tempelruine. In Wahrheit stand das Gebäude vollkommen unversehrt auf geweihtem Boden. In Kyoto war man es gewohnt, dass Mundi häufiger von übernatürlichen Erlebnissen berichteten – denn hier waren die Grenzen zwischen der Unterwelt und den Sterblichen seit jeher dünn, manchmal beinahe durchscheinend gewesen … was unweigerlich mehr Arbeit für die Shadowhunters bedeutete. So wie nun da ein mächtiger, höherer Dämon direkten Kurs auf die Stadt nahm – die Sensoren hatten ihn bereits aus hundert Kilometern Entfernung registriert. Zeit genug, damit sich das Team für den Außendienst wappnen konnte; eine Nachricht an die nächstliegenden Institute ging auch bereits raus. Nach Möglichkeit wollten sie ihn jedoch noch außerhalb abfangen und zurück in die Hölle verbannen, bevor er das Leben der Tausenden von unschuldigen Seelen unnötig bedrohte.

Der braunhaarige Shadowhunter fluchte und steckte die Seraph-Dolche zurück in die Holster an seinem Gürtel, nachdem er vergeblich auf die Feuerwand eingestochen hatte. Nun zog er eine Handvoll Wurfpfeile aus einem Säckchen. Mit Hilfe seiner Geschicklichkeitsrune vollführte er einen Stunt, welcher ihn hoch in die Luft beförderte, und holte bereits zum Wurf aus, da schlug ihn eine Druckwelle gegen den nächsten Baum. Krachend kam Ohtah Shadowdragon auf dem Boden auf.

„Das kommt von deinen ständigen Alleingängen!“, schimpfte eine junge Frau mit ihm.

Kopfschüttelnd aktivierte sie mit ihrer Stele seine Iratze, die Heilungsrune.

Etwas mürrisch kam Ohtah wieder auf die Beine und meinte: „Irgendwie hätte ich das schon hinbekommen, Seiketsu.“

Bevor Genannte protestieren konnte, traf ein dritter Shadowhunter am Kampfplatz ein. Sein Name lautete Klerus Shadowdragon – er war der jüngere Bruder von Ohtah und dessen Parabatai, sein runenverbundener Kampfgefährte.

„So viel zum Thema wir würden zusammen kämpfen, Ohtah-nii.“, rügte auch er den Braunhaarigen, „Also jemand einen Vorschlag? Sei-chan?"

Ohtah Shadowdragon grinste. Und so versuchten sie gemeinsam eine Breche zu schlagen und an den Dämon heranzukommen. Vergeblich – das Feuer schien unüberwindbar. Die Ausgeburt der Hölle rückte weiter vor … und prallte plötzlich zurück. Verwundert brüllte er auf, als seine Flammen zurückwichen. Daher gab er seinen Vormarsch erst einmal auf.

„Wenigstens halten die Barrieren der Schutzzauber. Los, Rückzug ins Institut!“, befahl Seiketsu, was ihr ein Grummeln ihrer Teamkameraden einbrachte.
 

„Wir brauchen einen Hexenmeister …“, stellte der Braunhaarige missmutig fest.

Es passte ihm überhaupt nicht, fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Er hatte bei weitem nichts gegen Unterweltler – es war seine Aufgabe auch sie zu beschützen. Zu versagen … damit kam er nicht klar, denn genau das bedeutete die heutige Niederlage für ihn.

Sein Bruder pflichtete ihm dennoch bei: „Und zwar nicht irgendeinen – Feuerzauberzauber dieser Art sind jedermanns Sache.“

„Dann setz´ ich mich mal an die Kartei; irgendwo in Japan muss es doch einen Meister auf diesem Gebiet geben.“, erklärte die Shadowhunter und widme sich direkt dem hochmodernen Bildschirm.

Die Männer nutzten die Zeit, um zu trainieren. Ein typisches Verhalten – jedes Problem, das nicht sofort gelöst werden konnte, verlangte, sämtlichen Frust an einem der Boxsäcke abzulassen. Als Parabatai war es nicht nötig, dass sie einander ihre Gefühle mitteilten – der andere konnte sie spüren. Sie teilten Gedanken, Instinkte; sie waren ein Teil des jeweils anderen. Auf der ganzen Welt gab es niemand, der Ohtah besser kannte … selbst wenn sie keine leiblichen Geschwister gewesen wären.

„Hat nicht so gut geklappt, Seiketsu zu beeindrucken, nicht wahr?“, meinte Ohtah herausfordernd, um sich abzulenken.

Sofort schoss seinem Bruder das Blut in die Wangen, während er stotterte: „Ach, das … das hatte ich doch gar nicht vor. Ich … Sei-chan ist … also …“

Der Ältere lachte und Klerus fiel mit ein. Wie gesagt, es hatte überhaupt keinen Sinn, ihn anzulügen.

Stunden später war es Seiketsu schließlich gelungen: „Ich hab´ sie! Shiko Yosogawa, Alter unbekannt … Zeichen unbekannt … aktueller Wohnort Haus auf dem Berg Ontake … Genau, hier steht es – Spezialität Elementarzauber, besonders für ihre mächtigen Flammen bekannt.“

„Perfekt, Sei-chan! Ich wusste, du würdest eine Lösung finden.“, lobte der Blonde ihre Bemühungen.

In Anlehnung an ihre vorangegangene Unterhaltung gab Ohtah seinem Bruder einen Klaps auf die Schulter und meinte: „Ja, ja, genug geflirtet. Wir sollten uns lieber auf den Weg machen, Klerus.“

Die Zauberin lebte auf einem kleinen Anwesen auf dem zweithöchsten Vulkan des Landes, in den japanischen Nordalpen, an der Grenze der Präfekturen Nagona und Gifu. Sollte es wirklich eine Überraschung sein, dass ausgerechnet eine »Feuerhexe« sich ein derart glühendes Heim gewählt hatte? Es war nicht gerade ein Spaziergang – viele pilgerten zum dortigen Schrein am Gipfel –, jedoch für Shadowhunter auch nicht gerade ein große Herausforderung. Vor dem hiesigen Bannkreis hielten die beiden Männer inne; er sollte all jene fern halten, die mit bösen Absichten eindringen wollten – da sie diese nicht hatten, konnten sie ungehindert passieren.

Allerdings wurde Shiko dadurch über ihren unangekündigten Besuch informiert und so erwartete sie die Shadowhunter bereits an ihrer Haustür: „Wie komme ich denn zu dieser zweifelhaften Ehre, Hantā no Kage-san (Schattenjäger)?“

„Yosogawa-dono, wir kommen vom Kyoter Institut und möchten Ihre Hilfe erbitten.“, erklärte Klerus in einer tiefen, respektvollen Verbeugung.

Er warf einen Seitenblick zu seinem Parapatai, der sich nicht mehr zu regen schien. Also stieß er ihn knapp mit dem Ellenbogen an. Sofort erwachte Ohtah aus seiner Starre, welche jedoch nicht auf etwaige Magie zurückging …

Er ahmte die Geste nach und stellte sich vor: „Mein Name ist Ohtah Shadowdragon – mein Bruder Klerus und ich freuen uns, Sie kennenzulernen.“

Shiko lächelte etwas verhalten. Es war ihr nicht entgangen, wie er junge, braunhaarige Nephelim den Atem angehalten hatte, als er sie erblickt hatte … Wäre sie eine Vampirin gewesen, hätte sein schlagendes Herz in ihren Ohren gedröhnt. Eigentlich seltsam … wo Shadowhunter doch für ihren kühlen Kopf und Nerven wie Drahtseile bekannt waren.

„Nun gut, kommt herein und berichtet mir, worum es genau geht.“, gab die Hexenmeisterin nach und führte ihre Gäste in den Wohnraum, welcher traditionell japanisch eingerichtet war.

Als sie auf den Kissen Platz genommen hatte, schnippte Shiko mit den Finger und drei dampfende Tassen grünen Tees sowie ein Teller mit Gebäck erschienen auf dem niedrigen Tisch zwischen ihnen. Klerus wunderte sich über das Verhalten seines Bruders; für gewöhnlich preschte Ohtah nicht nur im Kampf nach vorne. Da er aktuell jedoch partout nicht mit der Sprache rausrücken wollte, berichtete er Shiko von der Gefahr, in der Kyoto und anschließend der Rest des Landes sich aktuell befanden. Besonders schmerzlich war es, eingestehen zu müssen, wie nutzlos ihre sonst so hochgeschätzten Adamant-Waffen gewesen waren …

Kurz zeichnete sich Schrecken auf dem Gesicht seiner Gegenüber ab, die schlussendlich entgegnete: „Das ist sehr ungewöhnlich … oder zumindest sehr selten. Es ist Jahrhunderte her, seit ich zum letzten Mal vom Erscheinen eines elementaren Dämonen gehört habe. Sie stammen aus der tiefsten Dimension der Hölle … Einst waren sie Cherubim, die vom Himmel fielen – ebenso wie ihre damaligen Flügel repräsentiert nun je einer von ihnen eines der vier Elemente.“

Vor Shiko´s innerem Auge erschien eine Gestalt, die ihr eine Gänsehaut bescherte. Wenn dieses widerliche Ding tatsächlich auf seinen Befehl hin in Kyoto einfallen sollte, war er ihrer Spur näher gekommen … Anscheinend war die Zeit des Versteckens damit endgültig zu Ende – die Shadowhunters hatten recht getan, sie aufzusuchen, und wussten dabei gar nicht, wer sie in Wirklichkeit war. Denn sollte er noch immer hinter ihr sein, wäre nicht nur eine einzelne Stadt, geschweige denn dieses Land in Gefahr …

„Ich werde mich darum kümmern – das ist so gut, wie erledigt.“, sprach die Zauberin einfach weiter, nachdem sie minutenlang geschwiegen hatte, „Ach und was die Bezahlung angeht … Ihr spendet den üblichen Betrag anonym einer Mundi-Einrichtung für bedürftige Kinder in Kyoto, haben wir uns verstanden?“

Die Shadowhunters sahen sich verwirrt an, nicken jedoch – mehr aus Reflex.

Mit einem Handwink erschuf sie ein Portal und meinte beinahe spöttisch: „Nach den Herrschaften.“

Innerhalb weniger Sekunden standen die drei vor den Toren des Instituts, aus denen eine besorgt wirkende Seiketsu eilte.

„Na endlich – lange halten die Schutzzauber nicht mehr!“, erklärte sie und wies auf das gesamte Areal.

Ohne sie anzusehen entgegnete Shiko: „Ich werde sie gleich wieder in Ordnung bringen, wenn ich diese lästige Angelegenheit hinter mich gebracht habe. Entschuldigt mich – dieser Dämon muss dringend zum Highway zur Hölle.“

Die Arroganz überdeckte ihre eigene Sorge … Wieder erschuf sie ein Portal, welches diesmal außerhalb der Stadt endete. Kaum vorstellbar, dass Kreaturen der Verdammnis unter Langeweile litten, doch schien es, als hätte er nur auf neue Gesellschaft gewartet. Seine einst annähernd menschliche Gestalt war kaum mehr erkennbar – eher wirkte er, wie aus einem Klumpen heißer Lava geformt und anstelle von Flügeln zeugten zwei spitze Hörner von seiner Herkunft.

„Sieh´ an … Wer hätte gedacht, dass ich ausgerechnet seiner Tochter hier begegnen würde? Nun, Prinzessin – oder lieber >Hime-sama<, in Eurer Muttersprache –, Ihr wollt Euch doch nicht etwa mir in den Weg stellen? Schließlich bin ich Eures Vaters treuer Diener.“, begrüßte er sie mit einer provozierenden Verbeugung.

Feuer erwachte in Shiko´s Handflächen, als sie entschieden erwiderte: „Ich wüsste nicht, warum mich dieser Umstand aufhalten sollte – im Gegenteil … das ist erst recht ein Grund, dich zurück zu schicken!“

Sie murmelte einige Zaubernformeln – das Element gehorchte sofort und fesselte seinen einstigen Herrn, der sich brüllend versuchte, zu befreien. Das wabernde Feuer gab allerdings keinen Deut nach. Ein Riss öffnete sich unter ihm – tief hinein in das verfluchte Höllenreich, wo er die nächsten Jahrhunderte damit zubringen konnte, ihren Zauber zu lösen. Kaum war der Dämon in der Erdspalte verschwunden, verschloss sie sich wieder, als wäre sie nie da gewesen. Shiko starrte noch lange auf die Stelle. Einen höheren Dämon zu binden und zu verbannen war ein leichtes; ein Großdämon oder gar ein Dämonenfürst wäre schon etwas ganz anderes … von ihrem Vater ganz zu schweigen. Einst hatte sie den Kampf gegen ihn gescheut, war geflohen … Doch sollte es ernsthaft jemandem geben, der ihm auch nur mit dem Hauch einer Chance entgegen treten konnte, wäre sie wohl die einzige – zumindest auf der Erde. Und dann noch »Prinzessin« … dieses Wort verfolgte sie in manchen Nächten noch heute, so hatte er sie genannt – nicht »Kind«, nicht »Tochter«. Jemand, der an seiner Seite herrschte, wäre sein Begehren gewesen … deshalb war sie geboren worden. Aber sein Plan schlug fehl – unter keinen Umständen der Welt hätte sie sich auf seine Seite geschlagen! Ein ungutes Gefühl legte sich über die Gedanken der Zauberin. Feuer war das Element, welchem ihm selbst gebührte … sollte dieses scheitern, konnte er immer noch drei weitere seiner Vertrauten aussenden. Nein … es gab sogar einen weiteren Gefallenen Engel, der noch höher in seinen Gunsten stand. All das konnte kein Zufall sein – er wusste, dass sie seine Untergebenen nicht ungeschoren davonkommen lassen.
 

Das erste, was Shiko auffiel, als sie das Institut betrat, war Ohtah´s erleichterter Gesichtsausdruck bei ihrem Anblick … nur eine Sekunde später hatte sie bereits mit den Fingern geschnippt, um die Schutzzauber aufzurufen – oder besser gesagt die kaum mehr vorhandenen Schutzzauber. Also stimmte ihre Theorie … der Angriff sollte sie herauslocken. Nachdem die Zauberin mit ihren Armen ein paar eindrucksvolle Bögen in der Luft beschrieben und die Barrieren um ein hundertfaches verstärkt hatte, setzten sich alle Involvierten zu einem Kriegsrat zusammen. Die Shadowhunters befürchteten ebenfalls, dass die Grenzlinien nicht nur hier geschwächt worden waren, sondern in der ganzen Umgebung rund um Kyoto.

„Wir sollten uns mit dem Hohen Hexenmeister von Kansai um Hilfe bitten.“, schlug Seiketsu vor.

Ein hämisches Lachen entfuhr Shiko: „Argo mischt sich nicht in Angelegenheiten, die ihn nicht interessieren … Glaubt mir, ein einzelner hoher Dämonen-Angriff wird ihn nicht überzeugen – davon abgesehen arbeiten wir nicht zusammen.“

Die Braunhaarige wollte widersprechen, Klerus hielt sie jedoch zurück: „Was wäre Euer Vorschlag, Yosogawa-dono?“

„Zuerst einmal, da diese Unternehmung noch mehr Zeit in Anspruch nehmen wird … ich kann diesen Namen nicht mehr hören – nennt mich einfach >Shiko<, das reicht vollkommen.“, erklärte die Hexenmeisterin ungehalten, „Die Schutzzauber müssen besonders auf elementare Abwehr konfiguriert werden. Wenn Eure Kartei vollständig ist, solltet Ihr bereits wissen, dass dies mein Spezialgebiet ist – ach, stimmt ja, deshalb habt Ihr mich ja überhaupt erst aufgesucht.“

Der Blick von des Braunhaarigen schien sie beinahe zu durchbohren. Er wusste, was in ihr vorging – woher konnte sie nicht sagen oder gar, worüber er noch alles Kenntnis besaß. Ohtah kannte dieses Verhaltensmuster nur zu gut … von sich selbst. Bereits beim ersten Mal, da er in ihre Augen geblickt hatte, hatte er ihre Seele erkannt, die hinter einer Maske verborgen lag – sie spielte eine Rolle, um niemanden an sich heranzulassen. Und das machte sie unendlich einsam …

„So ist es … Und es ist unsere Aufgabe sicherzustellen, dass der Schutz der Mundi gewährleistet ist – daher werde ich Euch begleiten.“, erklärte der Braunhaarige entschieden.

Schon zu einem Widerwort ansetzend, besann sich Shiko. Sie respektierte die Position der Nephilim und wollte ihren teils schlechten Ruf bei den Unterweltlern nicht noch befeuern. Widerwillig nickte sie also. Zumindest tat die schöne Zauberin so – denn irgendwo tief in ihr drinnen, freute sie sich über seinen Einsatz. Ein Gefühl, welches schnellstmöglich zum Schweigen gebracht werden musste, sobald diese Geschichte erledigt wäre …

Während die anderen weiteres besprachen, zog sich Shiko zurück, um sich schon mal die Barrieren des Instituts genauer anzusehen. Die Zauberformeln waren ein wahres Meisterstück im Schutz gegen Dämonen – allerdings nicht gegen Gefallene Engel … wie die meisten Schutzzauber. Es existierte kaum mehr als eine Handvoll von ihnen, welche die Jahrtausende überdauert hatten und die Hölle überhaupt verlassen konnten. Shiko hielt sich ihre Präsenz genau vor Augen. Neue magische Zeichen fügten sich in die bestehende Formel ein. Nachdem sie einige Schritte zurückgegangen war, schleuderte sie probehalber einen kleinen Feuerball darauf – der wie erhofft verpuffte und das Verteidigungssystem in Alarmbereitschaft versetzte.

„Eure Kräfte sind wirklich unglaublich … Shiko.“, lobte Ohtah ihre Arbeit mit einer deutlichen Verneigung, „Ich wollte Euch Euer Quartier zeigen, wenn Ihr denn soweit seid.“

Anders als etwa in Amerika gab es hier keine Regeln oder Protokolle, welchen Unterweltlern den Aufenthalt verboten – im Gegenteil, selbst die Shadowhunters folgten der japanischen Etikette der Höflichkeit und Gastfreundschaft. So folgte Shiko ihm zum Wohntrakt und betrat das schlicht eingerichtete Zimmer.

„Frühstück gibt es von sechs bis neun Uhr und hinter der Tür dort ist Euer Badezimmer. Wenn … wenn noch irgendetwas sein sollte, mein Zimmer ist links am Ende des Ganges. Ich wünsche Euch eine gute Nacht.“, erklärte er.

Anschließend ließ er sie allein. Die Hexenmeisterin setzte sich auf die niedrige Futonliege und sah aus dem Fenster. Egal, wie charmant oder gut aussehend er auch war – sie durfte keineswegs ihren Schwur vergessen! Ihr Herz würde für immer und ewig unter Verschluss bleiben …

Genauso wie Shiko über ihn nachgrübelte, ging sie Ohtah nicht aus dem Kopf – es war fast ein Wunder, dass er sein Zimmer nicht zerlegte. Die innere Unruhe übertrug sich durch ihr Band auch auf Klerus und daher klopfte dieser wenig später bei seinem Bruder an – wahrscheinlich gerade noch rechtzeitig.

„Was ist los mit dir? Hat dir Yosogawa-dono so den Kopf verdreht?“, begrüßte der Jüngere ihn im Scherz, ohne zu ahnen, wie genau, er damit ins Schwarze getroffen hatte.

Leise grummelte der Dolchmeister: „Shiko …“

„Ihr Wunsch war, sie so anzusprechen, ja – aber ich muss sie nicht so nennen, wenn ich über sie rede.“, meinte Klerus und grinste, „Aber so wie du ihren Namen sagst, geht es wirklich um sie.“

Ohtah ließ sich auf das Bett fallen, starrte an die Decke und antwortete dann: „Na schön, du hast gewonnen. Ja … es erscheint mir, als würde ich sie schon mein ganzes Leben lang kennen und … na ja, es ist ein bisschen wie mit dir, meinem Parabatai – als wäre ich mit ihr vollständig.“

„Bei den Engeln – dich hat es ja wirklich schlimm erwischt!“, rief der Blonde verwundert aus.

Der Shadowhunter war nie jemand gewesen, der seine Gefühlen in die Welt hinaus trug – gerade deshalb verstand er sich ja nicht recht mit Seiketsu. Manche ihrer Kollegen hatten hinter seinem Rücken behauptet, Ohtah hätte überhaupt kein Herz … Klerus wusste es natürlich besser – sein älterer Bruder glaubte an den Kampf und dass Konzentration beziehungsweise Ablenkung den Unterschied zwischen leben oder sterben ausmachten. Und dennoch war es nicht zu übersehen gewesen, wie gefesselt er auf dem Berg Ontake von ihr gewesen war …

„Wirst du es ihr sagen?“, fragte Klerus schließlich.

Genau diese Frage stellte sich Ohtah selbst bereits. Er wusste es nicht – Shiko war … anders. Es gab einen geheimen Grund, warum sie sich vor der Welt verschloss. Etwas lauerte wie unheimlicher Schatten, gar einem Damoklesschwert gleich über ihr. Und genau davon wollte er sie befreien!
 

Die Tage verflogen, während sich Ohtah und Shiko systematisch durch die Stadt arbeiteten – ohne Störung seines weiteren Höllenbotens. Immer wieder ließ der Shadowhunter ein Kompliment über sie fallen oder schenkte ihr beispielsweise eine Blume, die ihnen unterwegs begegnete. Ihre Fortbewegung via Motorrad machte ihre vergeblichen Versuche, sich ihm entziehen zu wollen, nur umso schwerer.

Als sie endlich am Rande von Kyoto angelangt waren, richtete Ohtah seinen Blick direkt auf Shiko und sprach: „>Ich fühle deine / Hitze in mir lodernd heiß, / doch Regen fällt.<“

Es war ein Haiku, ein japanisches Gedicht, welches die reale Schönheit eines Augenblicks einfangen sollte. Wieso nur konnte der Braunhaarige sie so gut verstehen? Wo die Zauberin sich doch solche Mühe gab, ihn von sich zu stoßen … In all den Jahrhunderten hatte es Männer gegeben, die ihr Avancen gemacht hatten – ohne ihr Herz auch nur ein Stück weit zu berühren. Der Nephilim war … anders. Etwas an ihm wirkte so vertraut …

Ein Brennen erfüllte ihre Augen, ruckartig wandte sich Shiko von ihm ab und sagte traurig: „Ich habe mir geschworen, mich niemals zu verlieben – nicht wie meine Mutter. Sie hat … meinen Vater so sehr verehrt und mir immer von ihm vorgeschwärmt. Als ich alt genug war, um zu begreifen, was ich bin … kam er zu uns. Meine Mutter stürzte mit Tränen der Freude in seine Arme und redete unaufhörlich davon, wie großartige ich doch sei … dass sie ihm ein weiteres Kind schenken würde. Da hat er ihr das Genick gebrochen – es ging so schnell, dass sie mit einem Lächeln auf den Lippen gestorben ist. Er wollte mich mit sich nehmen, aber mit Hilfe meiner Magie konnte ich fliehen … Seitdem verstecke ich mich vor ihm. Shiro-sama … so hat meine Mutter ihn genannt … Und mich Shiko-chan, seine Tochter … die Tochter des leibhaftigen Todes. Verstehst du das, Ohtah?“

Ehe sein Verstand restlos begriffen hatte, wen sie meinte, brachen zwei schwarz gefiederte Engelsflügel aus ihrem Rücken – ihr Hexenmeisterzeichen. Nun war es offensichtlich … es gab nur ein einziges Wesen in allen sieben Hölle, welches ihr diese Schwingen hätte vererben können.

Sie drehte den Kopf zur Seite, um seine Reaktion zu sehen und bestätigte seinen Verdacht: „Ja, richtig … Satan höchstpersönlich ist mein Vater. Deshalb kann … darf ich keine Gefühle für dich empfinden!“

„Und du glaubst, das würde irgendetwas an meiner Liebe zu dir ändern?“, widersprach Ohtah ihr energisch.

Nun war es an der Rothaarigen ihn verwirrt anzusehen. Wie nur konnte er so etwas sagen? Ihr Vater, Luzifer war einst Gottes liebste Schöpfung gewesen … sein Morgenstern. Bis er Adam, den ersten Menschen erschaffen hatte und von ihm verlangte, diesem zu dienen. Daraufhin war Streit zwischen Gott und Luzifer ausgebrochen, der sich dem Befehl verweigert hatte. Das Himmelsreich spaltete sich in zwei Lager auf – ein furchtbarer Krieg brach aus. Zuletzt gelang es dem Erzengel Michael seinen älteren Bruder mit dem Schwert Glorius zu besiegen. Der Cherub und seine Anhänger stürzten in die Hölle hinab. Unzählige starben dabei – gerade einmal fünf weitere einstige Himmelsboten überlebten und büßten dafür ihr engelhaftes Erscheinungsbild ein. Einzig die beiden Flügelpaare Luzifer´s zeichneten ihn mit ihrer schwarz verkohlten Farbe als höchsten unter ihnen aus. Er wurde zu Satan, dem Herrscher über die Hölle, Vater aller Dämonen und Gegenspieler Gottes …

„Shiko, ich liebe dich – ganz egal, wessen Kind du bist. Du spürst es doch auch, das weiß ich … wir sind mit einander verbunden, wir gehören zusammen!“, beharrte der Shadowhunter und trat dichter an sie heran.

Ein Zittern durchlief ihren Körper, als er sanft ihr Kinn anhob und ihren Mund mit seinen Lippen berührte. Die finsteren Insignien sackten in sich zusammen – Shiko´s Widerstand war gebrochen und sie erwiderte seinen Kuss.
 

Es lag nicht allein an Ohtah, dass Shiko trotz beendeter Mission weiterhin in Kyoto verweilte – zu sehr fürchtete sie sich davor, die Invasion könnte doch beginnen, ohne dass sie rechtzeitig vor Ort wäre … So durfte die Hexenmeisterin noch etwas länger im Institut verweilen, dessen Bewohner allerdings nicht wussten, was zwischen ihr und dem Braunhaarigen geschehen war – selbst Klerus gegenüber ließ er nur eine wage Ahnung zu. Daher übernachtete Shiko beispielsweise weiterhin in ihrem Gästezimmer. Allerdings beschlich sie in dieser Nacht ein Traum der anderen Art …

Das schwarze Obsidian unter ihren Füßen schimmerte bedrohlich, als könnte jeden Moment erneut Lava daraus hervorbrechen. Shiko lächelte hämisch. Es war unglaublich, wie dieser Ort ihre Macht speiste – die stete Präsenz des Feuers um sie herum erfüllte all ihre Zellen. Am liebsten hätte sie laut aufgelacht.

„Gefällt dir dein neues Zuhause, meine Prinzessin?“, wollte eine Stimme aus Richtung des steinernen Throns wissen.

Die Zauberin wandte sich dem Mann zu, der dort saß und jeden ihrer Schritte genau verfolgte: „Natürlich. Es ist unglaublich – hätte ich doch nur schon viel früher auf dich gehört! Danke … Vater.“

Der Gefallene Engel winkte sie zu sich, während er sie beinahe scherzhaft ermahnte: „Aber, aber, Liebste, wie sollst du mich denn ansprechen? Schließlich wirst du bald meine Frau … und damit die Königin der sieben Höllendimensionen sein!“

Shiko erwachte mit einem schrillen Schrei. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn, klebte an ihrem Rücken. Ihr Atem ging keuchend und ihr Herz raste. Nein, nein und nochmals nein – so etwas würde sie niemals wollen, nicht einmal ansatzweise! Wobei ganz stimmte das nicht … einen echten Vater hatte sie sich unzählige Male gewünscht und natürlich sehnte sie sich nach Liebe …

Die Tür wurde aufgerissen – vor ihr Stand ein ebenso atemloser Ohtah mit gezückten Seraph-Dolchen. Klirrend fielen die Waffen zu Boden. Bevor sie sich wehren konnte, hatte er Shiko bereits in seine Arme geschlossen, hielt sie fest. Es war neu für die schöne Rothaarige, dass ihr jemand zur Seite stand … Langsam beruhigten sich ihre angespannten Nerven. Und sie wurde sich schlagartig bewusst, wie nah der Shadowhunter ihr war. Sofort machte sie sich von ihm los, was er wortlos geschehen ließ. Nur seine Augen ruhten weiterhin auf ihr.

„Ein harmloser Alptraum – kein Grund zur Aufregung.“, spielte Shiko die Sache herunter, „Du kannst ruhig wieder schlafen gehen.“

Nachdem er seine Klingen aufgehoben hatte, verweilte er nur kurz im Türrahmen und sagte, ohne sich dabei umzudrehen: „Wir haben alle unsere Dämonen …“

„Warte, Ohtah!“, hielt Shiko ihn auf, bevor der Nephilim die Schiebetür geschlossen hatte, woraufhin sie einen verwunderten Ausdruck kassierte, „Ich … Danke.“

Ohtah grinste schief und nickte. Dann kehrte er in sein Zimmer zurück. Shiko lauschte auf seine Schritte. Ein Teil von ihr hatte sich gewünscht, er würde bei ihr bleiben … aber die Bitte war ihr einfach nicht über die Lippen gekommen. Erschöpft sank sie wieder auf die Matratze und starrte an die Decke. Zeit … für sie hatte die Zeit kaum eine Rolle gespielt – sie war unsterblich; ebenso ihr Vater … War dies der Grund, warum noch nichts weiter geschehen war? Ohtah dagegen besaß selbst als Shadowhunter nur ein sterbliches Leben … dennoch drängte er sie nicht.
 

Mit den weiteren Wochen, die ins Land zogen, übernahm Shiko weitere Aufträge für das Institut – allerdings zog sie doch noch in ein Hotel um. Es gehörte sich nicht, höfliche Gastfreundlichkeit länger als notwendig zu strapazieren. Allerdings kam es das ein ums andere Mal vor, dass Ohtah ihr auch Gesellschaft leistete – jedenfalls wenn er nicht gerade auf Patrouille musste, wie etwa in der heutigen Nacht. Shiko lag derweil wach und dachte nach. Langsam wurde dies schon zur Gewohnheit … Der Shadowhunter hatte gewartet, bis die nächste Annäherung von ihr ausging. Der Kuss bestätigte ihre beider Gefühle … Irgendwie war es ihm tatsächlich gelungen, sich in ihr Herz zu schleichen – mit ihm fühlte sich die Hexenmeisterin nicht länger »verdorben«, sondern als hätte sie wahrhaft eine Berechtigung auf dieser Welt zu leben.

Gerade, da sie die Augen schließen wollte, erschien wie aus dem Nichts eine Feuernachricht, auf der stand nur ein einziges Wort: „Notfall!“

Klerus´ Handschrift war beinahe nicht auszumachen – ein Experte hätte sie wohl auf einen Schockzustand hin gedeutet, ebenso Shiko. Via Magie wechselte sie ihre Kleidung und sprang regelrecht durch das Portal. Einer der Wachen brachte sie zur Krankenstation. Dort lag auf einer sterilen Liege und an mehrere Maschinen angeschlossen Ohtah.

Seiketsu hielt seine Hand und schluchzte: „Wa-Was ist mit ihm? Klerus-kun?“

Der Blonde schüttelte den Kopf: „Es ist, als wäre er … unendlich weit weg.“

„Weil es so ist …“, meinte Shiko, woraufhin sich die beiden Nephilim zu ihr umdrehten, „Er … Ein Dämon hat seine Seele gestohlen.“

Sie hatte es gewusst, kaum da sie ihn erblickt hatte. Doch mehr noch spürte die Rothaarige, dass vor ihnen nur ein seelenloser Leib lag.

„A-aber wie? Ich meine, die Runen sollten uns doch vor so etwas bewahren!“, meinte die Shadowhunter den Tränen nah, „Und wie verdammt nochmal bekommen wir ihn zurück?“

Shiko kannte die Antwort, jedoch kam sie ihr nicht über die Lippen. Sie war wahrlich verflucht – hätte sie sich nur an ihren Schwur und von Ohtah fern gehalten! Dies war nicht das Werk eines gewöhnlichen Dämonen … Zwar vergnügten sich die Höllenwesen auf vielerlei Arten mit den Seelen der Verdammten – eine solche Entführung rührte meist von der Absicht einer Erpressung.

„Wann hat ein Plan jemals reibungslos funktioniert? Einfach immer bricht Chaos aus! Ohtah-nii … Wir können sein Leben nicht riskieren – was auch immer wir unternehmen, es muss einfach funktionieren!“, rief der Parabatai aus, was Shiko auf ihren Gedanken riss.

Ihr Vater hatte seinen Zug gemacht … nun lag es an ihr. Weder Klerus noch Seiketsu könnten ihm etwas bieten. Nach einem letzten Blick auf Ohtah verließ Shiko den Raum. Im Institut konnte sie ihr Vorhaben nicht durchführen – jeder einzelne Raum wurde per Videoaufzeichnung überwacht und dem Hotel wollte sie diese Umstände ebenfalls nicht zumuten, also kehrte die Zauberin stattdessen in die Berge zu ihrem Haus zurück. Während sie einen Teil ihrer Kräfte nutzte, um einige Gegenstände zu packen, streute sie mit Asche ein Pentagramm auf den Boden. Anschließend schrieb sie mit Kreide Symbole für die vier Elemente in je einen Zacken des Sterns … zuletzt noch jenes für dunkle Energie. Luzifer wäre bei einer solchen nicht selbst in Aktion getreten – für solche Angelegenheiten hatte er seine rechte Hand. Ihr war ja früher bereits der Gedanke gekommen, Luzifer könne ihn damit beauftragen. Ein Fingerschnippen aktivierte die magische Formel, setzte sie in Brand. Es dauerte, bis eine finstere Silhouette in den Flammen erschien.

„Man lässt eine Dame nicht warten – habt ihr wirklich alle keinen Anstand?“, begrüßte sie ihn schnippisch, während er dich weiter manifestierte, „Sag´ mir, was du willst, Rien. Sollst du mich zu ihm bringen?“

Ein hämisches Lachen kam von dem hochgewachsen Mann mit den vollkommen schwarzen Augen: „Ach, Prinzesschen, ich kann nicht mehr sagen, wie lange es bereits her ist, da er sich deine Gesellschaft gewünscht hätte – inzwischen will er nur noch deine Macht! Und bei den schönen Augen, die du diesem mickrigen Nephilim gemacht hast, wirst du mir sicher deine schnuckeligen Flügelchen freiwillig übergeben, nicht wahr?“

Ihre Magie in seinen Händen könnte die Welt ins Verderben stürzen … Unschuldige würden sterben, die Qualen der Verdammnis zu spüren bekommen … und es wäre allein ihre Schuld – schon wieder. Sie hätte nie geglaubt, dass der grenzenlose Egoismus der Menschen auch in ihr existierte – es war ihr vollkommen gleichgültig, solange Ohtah dadurch gerettet wäre!

„>Caritas omnia potest – Caritas omnia tolerant …< (Die Liebe vermag alles – die Liebe erträgt alles ...) Selbst, wenn es sich dabei um den Herrscher über alle sieben Höllen handelt!“, entgegnete Shiko und breitete ihre Schwingen aus.

Rien streckte die Hände nach ihnen aus, griff nach ihrer Macht. In einem Schmerzensschrei sank Shiko zu Boden – fast schien es, als hätte der Dämon ihr die Flügel ausgerissen, die sich in einer schwarzen Kugel bündelten. Augenblicklich erlosch die Beschwörungsformel.

„Nun … nun gib´ mir … seine Seele …“, hauchte sie schwach.

Er ging in die Hocke, um ihr Gesicht zu packen, und sagte: „Hätte dein Vater es mir nicht ausdrücklich verboten, dich zu betrügen oder … dass ich mich mit dir noch etwas vergnüge, würde ich den kleinen Nephilim ja gern noch eine Weile behalten … Es ist ziemlich amüsant, wie seine Seele versucht, auszubrechen. Sei es drum, muss ich mir eben ein neues Opfer suchen …“

Er ließ das genaue Pendant zu seiner Beute fallen in ihre Arme fallen. Dann verschwand er. Und damit Shiko´s Kräfte – sie war nun nichts anderes, als eine Mundi …

„Also dieses Drama ist selbst für eine uralte Hexenmeisterin etwas zu viel, findest du nicht?“, ertönte plötzlich eine Stimme, dessen Besitzer gerade durch ein Portal hereinspazierte.

Shiko brauchte einen Moment, bis sie die Laute herausbrachte: „A-Argo … was machst du … hier?“

„Ich konnte es kaum glauben, als deine Aura spurlos verpufft ist … Shiko-chan, Shiko-chan … Was hast du dir nur dabei gedacht? Ausgerechnet für einen Sterblichen … Ehrlich mal, ich verstehe bis heute nicht, warum du mich abgewiesen.“, philosophierte er vor sich hin und hob sie schließlich vom Boden hoch, „Sei es, wie es sei … dieses eine Mal will ich dir helfen. Von mir aus schreib´ es ruhig dem Aufgabenbereich des Hohen Hexenmeisters – selbst wenn du nicht mehr zu uns gehörst, wäre es als Mann von Ehre eine Schande, dich hier einfach liegen zu lassen.“

„Danke … Bitte, hilf´ ihm …“, antwortete die schöne Rothaarige, ehe sie vollends das Bewusstsein verlor.

Ein kleiner Wink änderte das Ziel des temporären Durchgangs. Argo seufzte tief. Hätte man ihm nach ihrer letzten Abfuhr hiervon berichtet, hätte er den Boten vermutlich in eine Schildkröte verwandelt. Doch als die mächtigste, magische Präsenz sich sozusagen in Luft aufgelöst hatte, konnte er nicht anders. Das war vermutlich das Problem mit de Unsterblichkeit – man lebte zwar ewig, war allerdings nicht gegen seine Gefühle gefeilt.
 

Schwärze erfüllte Shiko´s Gedanken. Alles an ihr fühlte sich taub und schwer an. Ob dies der Tod sein mochte? Vielleicht eine Art Vorstufe, während über die Seele entschieden wurde … Konnte beziehungsweise durfte ein ehemaliges halb dämonisches Wesen überhaupt den Himmel betreten oder blieb ihr nur die Hölle? Bis ans Ende aller Zeiten gequält von Rien´s Folter – verlockende Aussicht … Sollte es so sein, würde sie ihre Entscheidung dennoch nicht bereuen. Argo hatte sich sicher um ihn gekümmert … Eigentlich vollkommen irrational – der Hohe Hexenmeister und sie hatten durch die verschiedenen Jahrhunderte mehrere Liebschaften miteinander geführt; zumindest von ihr aus war es nie ernst gewesen … er wollte mehr und so hatte sie ihn vor über hundert Jahren endgültig abserviert. Seitdem gingen die beiden sich aus dem Weg, selbst was die Arbeit betraf. Wie merkwürdig, dass er ihr trotzdem zu Hilfe gekommen war …

„Er wird wieder zu sich kommen, hörst du? Deshalb musst du ebenfalls aufwachen, Shiko … Ich weiß, dass er dich braucht. Es tut mir so schrecklich leid, wie gemein ich zu dir gewesen bin … dabei wolltest du uns alle nur beschützen.“, sprach eine Stimme zu ihr, die sie zunächst nicht zuordnen konnte.

Doch die Erinnerung an die Geschehnisse weckten etwas in ihr. Die Rothaarige spürte, dass sie auf etwas weichem lag, auch ein dumpfes Licht konnte sie nun wahrnehmen sowie ein nervtötendes Piepen. Zaghaft bewegte sie ihre Finger, ehe sie versuchte ihre Augen zu öffnen. Als sich ihre Sicht geklärt hatte, schwebte das besorgte Gesicht von Seiketsu über ihr. Sie half ihr sich aufzurichten und hantierte kurz an den Maschinen.

„Wie geht es dir? Soll ich dir irgendwas bringen?“, wollte die Shadowhunter wissen.

Shiko kämpfte den Schwindel nieder, während sie antwortete: „Was … was ist mit … Ohtah?“

Ein Lächeln spielte um ihre Züge: „Argo-dono hat ihm seine Seele wieder eingesetzt – laut ihm wird er sich vollständig erholen.“

„Ich muss zu ihm …“, gab Shiko immer noch geschwächt von sich.

Seiketsu nickte und rief Klerus zu Hilfe, gemeinsam stützten beide sie beim Laufen. Shiko setzte sich an sein Bett, nahm seine Hand. Als hätte diese Berührung, ihm neues Leben eingehaucht, kam Ohtah ebenfalls wieder zu sich. Seinen Freunde kamen stumm die Tränen.

„Shiko … Klerus … selbst du, Seiketsu … Was ist passiert? Mein Kopf … Ws ist alles verschwommen.“, meinte der Braunhaarig mitgenommen.

In aller Ausführlichkeit berichtete ihm die einstige Zauberin von seiner Entführung, dem Preis seiner Rettung und Argo's Rolle in der ganzen Geschichte.

„Shiko, du … Aber deine Magie, deine Unsterblichkeit-“, rief er aus.

Aber sie schüttelte lächelnd den Kopf: „Das ist egal. Hier bei euch habe ich mein Zuhause gefunden. Ich habe so viele Zeitalter lang ohne Liebe gelebt … nichts wäre schmerzhafter, als dich zu verlieren. Ich will gar nichts anderes, als dieses eine Leben mit dir – ich liebe dich, Ohtah, von ganzem Herzen! Das ist das stärkste und das schönste Feuer, das es auf der Welt gibt …“

In diesem Moment fühlte Shiko nicht nur die Hitze des Kusses – Feuer flutete wieder durch ihre Adern. Keine Unsterblichkeit, keine richtige Magie … und sie würde niemals erfahren, dass es ausgerechnet Ihr Vater gewesen war, welcher ihr diesen ihrer Kräfte zurückgegeben hatte – schließlich wollte er ihren Schutz nicht nur einem einfachen Nephilim überlassen …
 

Selbst in einer Welt, in der alle Geschichten wahr sind, können Überlieferungen über die Jahrhunderte hinweg, verfälscht werden – zwar stimmte selbstverständlich, dass Luzifer und Gott im heftigen Streit auseinander gegangen waren und Michael seinen Bruder in die Hölle hinabgestoßen hatte … jedoch nur, um ihm die Möglichkeit einer unabhängigen Position zu gewähren. Luzifer, der sich im Himmel stets eingesperrt gefühlt hatte, konnte nun sogar auf Erden wandeln … Und selbst wenn er diese eine Menschenfrau nur benutzt hatte, so erwuchs in seinem sonst vielleicht kalten Herzen wahre Liebe zu seiner Tochter. Letztendlich ging er denselben Weg, wie sein eigener Vater – er verletzte sein Kind, um es glücklich zu machen.

Seine Tochter führte ebenso einen Kampf … nicht jenen gegen ihren Vater, nein, in ihrem Herz wütete ein Krieg. Ihre Gedanken wurden von Gefühlen beherrscht, die sie nicht wahrhaben wollte … weil sie die Dunkelheit ihrer Herkunft verabscheute. Doch all das ward im Grunde nichtig – sollte eines Tages trotzdem erneut der Moment kommen, da Shiko an sich zweifelte, würde sie daran zurückdenken, wie sie ihn beinahe verloren hätte … und was sie durch Ohtah, Seiketsu und Klerus gewonnen hatte – eine Familie!

Buch 13: Verlorene Legende

Verbundene Seelen

Als Shiko die Augen öffnete, erstreckte sich der ihr wohl bekannte Anblick der Nebel vor ihr. Wie viele Leben sie durch den ewigen Zyklus erlebt hatte, konnte sie nicht sagen – doch da rief eine vertraute Stimme ihren Namen und sie drehte sich zu der Norngeborenen um.

„Es ist eine Freude, dich zu sehen, Seira.“, begrüßte die einstige Elementarmagierin ihre alte Freundin lächelnd.

Das Orakel erwiderte das Lächeln nicht und sprach mit belegter Stimme: „Es … es tut mir leid, Shiko, ich weiß nicht, wie das passieren konnte … Als ehemalige Gesandte kennst du die Gesetze der Nebel … Wer zu seinen ersten Lebzeiten an dieses Jenseits geglaubt hat, wird stets hierher zurückkehren, selbst wenn der ewige Zyklus ihn in vollkommen neue Welten schickt … Ihr habt diesen Prozess schon einige Male absolviert, aber … diesmal sind nur drei von euch zurückgekommen.“

Shiko musste nicht fragen, wer derjenige war … Wäre Klerus jener welcher, hätte die einstige Mesmer dieses Gespräch mit Seiketsu geführt … Und würde sie von ihrer Seelen-Schwester selbst sprechen, wäre er an ihrer Seite, um sie zu stützen … Doch er war es, der nicht zurück in die Nebel gefunden hatte. Ihr Beschützer, ihr Geliebter … Ohtah. Sie brach zusammen, ohne sich halten zu können. In ihrem ersten Leben auf Cantha hatte Ohtah Ryutaiyo ihr einen Abschiedsbrief geschrieben und sie verlassen … Die Minuten, in denen Shikon No Yosei ihm geglaubt hatte, waren die pure Hölle gewesen – nun wusste sie, dass es noch eine Steigerung gab. Damals hätte sie im Grunde nur die gesamte Unterstadt auf den Kopf stellen müssen, um ihn zu finden – nicht, dass sie das nicht getan hätte, wenn die kaiserlichen Wachen nicht bereits eine Vermutung gehabt hätten, wo das Versteck der Am Fah gelegen hatte. Und jetzt? Verschwommen konnte sich Shiko an einzelne, vergangene Leben erinnern … der kleinste Bruchteil einer Unendlichkeit von Welten.

„Shiko!“, drang der Klang ihres Namens gedämpft zu ihr durch.

Auch diese Stimme war ihr nur zu vertraut. Das einzige Wesen außer Ohtah, welches sie wieder auf die Beine ließ … Seiketsu beschleunigte ihre Schritte, gefolgt von Klerus. An ihren Blicken erkannte die einstige Legende sofort, dass sie bereits Bescheid wussten. Deshalb waren sie auch bis zu diesem Moment unterwegs gewesen – obwohl weder das Orakel der Nebel noch einer der Gesandten Ohtah´s Seele registriert hatten, waren sie losgegangen, um ihn zu suchen, leider erfolglos …

„Seira … sag´ mir, was ich tun kann.“, verlangte Shiko zu erfahren.

Das spirituelle Oberhaupt wischte sich die Haare aus dem Gesicht, ehe sie entgegnete: „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung … Ich war bereits bei den Sechs – selbst sie haben keinen Anhaltspunkt. Ohtah muss sich auf dem Weg irgendwo zwischen den Dimensionen verirrt haben … Es tut mir leid.“

Shiko begriff, was Seira ihr mitteilen wollte – es gab keine Spur und keine Hoffnung, er war verloren …

„Öffne mir ein Portal. Ich muss dorthin zurück, wo wir einander verloren haben.“, sagte die Rothaarige ohne jeden Zweifel.

Diese Reaktion überraschte eigentlich niemand, dennoch widersprach ihr das Orakel: „Bist du dir im Klaren darüber, was du da sagst?“

Sie nickte entschieden: „Ja. Selbst wenn ich alle kommenden Zeitalter damit verbringe, ihn zwischen den Dimensionen zu suchen, dann soll es eben so sein. Ich werde ihn niemals aufgeben!“

„Du hast es gehört, Seira, wir sind bereit!“, bestätigte die frühere Mönchin fast schon grinsend.

Seiketsu war ihretwegen bereits nicht in die Nebel eingegangen … Zwar hatte das letztendlich zu ihrem eigenen Glück geführt, doch genau deshalb bedeutete ihr Tun unweigerlich auch Konsequenzen für Klerus.

„Ich verstehe deine Entscheidung, Shiko.“, sagte dieser mit mildem Lächeln, ehe seine Hand nach der von Seiketsu griff, „Ich habe dich einmal ziehen lassen, Sei … dieser Fehler wird mir nicht noch einmal passieren.“

Gerührt fiel sie ihm um den Hals. Er hatte es mit seiner Liebe zu ihr nicht leicht gehabt … Nicht nur, dass sie aus Angst ihre eigenen Gefühle geleugnet hatte – Klerus war in dem Glauben gestorben, sie hätte das Kind eines anderen bekommen. Und dennoch war er dem ewigen Zyklus gefolgt, um den Hauch einer neuen Chance bei ihr zu bekommen …

„Niemand kann vorhersagen, wie lange diese Reise dauern mag … daher weiß ich nicht, ob wir uns wiedersehen. Shiko, Seiketsu, Klerus … ich bewundere euch, und natürlich auch Ohtah. Euer Band kann wahrhaftig nichts erschüttern.“, sagte Seira und neigte respektvoll das Haupt.

Shiko erwiderte die Geste mit den Worten: „Danke, Seira, für alles. Suun hätte keinen würdigeren Nachfolger finden können – ich wünsche dir, dass dir das ebenfalls gelingt. Die Nebel werden für immer unser Zuhause sein.“

Gerührt wandte sich die Norn ab und machte murmelnd ausschweifende Handbewegungen. Auf einmal erschien vor den Helden ein pechschwarzes Loch. Seiketsu ergriff mit der freien Hand die ihrer Seelen-Schwester und gemeinsam schritten die drei hinein. Schwebend fanden sie sich in einem Meer aus Sternen und Planeten wieder. Ihre astrale Gestalt erlaubte es ihnen, ihre vergangenen Leben in jenen Welten zu erfahren. Doch eine Stelle zog sie wie magisch in besonderem Maße an. Dort hatte es einst einen grün und blauen Planet gegeben, über den eine Atmosphäre mit zahlreichen Wolken gespannt gewesen war – also eine Welt ähnlich wie Tyria. Die drei Helden konzentrierten sich darauf und plötzlich erschienen Bilder vor ihren inneren Augen.

Es war ein sonniger Tag auf Ewyn. Ein warmer Wind spielte in den Wipfeln der Bäume. Sanfte Welle brandeten am Strand. Alles schien im Einklang miteinander zu sein … Die Magie, in in jedem einzelnen Lebewesen steckte und sich entweder in Licht oder Finsternis gründete – was beides sowohl gut als auch böse zeigen konnte –, bescherte den Bewohnern ein friedliches Leben.

Zumindest noch … Denn eine uralte Legende besagte, eines Tages würden sich diese beiden Mächte vereinen und so das Chaos über Ewyn bringen. Nur ein Auserwählter, der »Oberste König« könnte es in sich aufnehmen, kontrollieren und die Welt somit retten.

In jenen Tagen regierte Klerus als amtierender Herrscher über Ewyn – einst war er in dem festen Glauben gewesen, selbst der Oberste König zu sein, mit Seiketsu als seiner Wächterin. Bevor Klerus gekrönt worden waren, hatten sie eine Liebesbeziehung miteinander geführt … Bis sein Vater ihn zur Heirat mit einer »geeigneteren« Kandidatin gezwungen hatte, wenn er tatsächlich den Thron erben wollte. So blieb Seiketsu statt dem Platz an seiner Seite nur der Gang ins Priesterinnentum, wo sie sich zum Oberhaupt hocharbeitete und gleichzeitig ihre Fertigkeit entdeckte, in die Zukunft zu sehen sowie die Bedrohung des Chaos spüren zu können. Als ihre Schülerin hatte sie Nadeshiko erwählt – die wahre Wächterin des künftigen Obersten Königs.

Und so drängte die Rothaarige ihre Meisterin zu einer Antwort: „Oh bitte, weise Priesterin, Ihr kennt meine Zukunft, habt mich als Wächterin erkannt … sagt mir, wer es ist!“

„Meine liebste Schülerin … die Wahrheit zu kennen kann manchmal gefährlich sein. Dennoch mag auch dein Wunsch nach Wissen Schicksal sein.“, entgegnete Seiketsu geheimnisvoll, „Einst wünschte ich mir von ganzem Herzen die Wächterin des Obersten Königs zu sein … Weil ich mich in einen möglichen Kandidaten verliebt hatte. Doch unsere Gefühle hatten uns beide zu einem Trugschluss geführt … Nadeshiko, ich weiß genau, wie es in deinem Herzen aussieht … Aber du irrst dich nicht – derjenige, der mit jener Kraft geboren wurde … ist Prinz Ryuohtah.“

Obwohl sich die junge Feuer-Magierin genau diese Bestätigung gewünscht hatte – nämlich dass ihr bester Freund seit Kindertagen der Auserwählte war –, fühlte es sich fast an, wie ein Schlag ins Gesicht. Vielleicht auch wegen Seiketsu´s Geständnis … Schon häufig war Nadeshiko ihr trauriger Blick in Richtung Schloss aufgefallen. Und gleichzeitig konnte sie sich bislang keinen rechten Reim darauf machen.

„Habt Ihr ihn je wiedergesehen?“, wollte sie kaum hörbar wissen.

Die Priesterin sah aus dem Buntglasfenster des Tempels, während sie antwortete: „Natürlich gibt es Anlässe, bei denen wir beide anwesend sind … Schließlich habe auch ich den Namen seines Nachfolgers verkündet, aber … seit unserem Abschied leben wir nur in unsere Rollen. Hier habe ich Trost gefunden, vor allem in meiner Aufgabe dich auf deine Pflicht vorzubereiten.“

Ein Lächeln breitete sich auf Nadeshiko´s Gesicht aus.

„Nun da du die Wahrheit kennst, hast du etwas zu erledigen. So geh´ …“ fügte Seiketsu hinzu.
 

Im Herzstück des großen Waldes, der neben dem Schloss lag, existierte eine heilige Stätte, welche der Magie als solcher gewidmet war. Hier kniete Nadeshiko im stillen Gebet.

Als Ryuohtah eintraf, verharrte sie in ihrer Position: „Prinz Ryuohtah … bei unserer heiligen Magie schwöre ich Euch meine ewige Treue! Für Euch, der Ihr auserwählt seid zum Obersten König aufzusteigen, gebe ich mein Leben, meine Seele.“

Diese Offenbarung verblüffte Ryuohtah nicht wirklich; ein Teil von ihm hatte es bereits gewusst – viel mehr traf ihn die Position von Nadeshiko und er murmelte: „Ich wünschte, es wäre andersrum und ich dürfte dein Wächter sein, Shiko. Selbst wenn unsere Stellungen uns eingeholt haben, ändert das nichts an meinen Gefühlen für dich.“

Eine verräterische Röte legte sich auf ihre Wangen und die Worte kamen ihr etwas stockend über die Lippen: „Ohtah, ich … Meisterin Seiketsu sagte, nur du … nur du könntest das Chaos eindämmen und das gesamte Universum retten. Es ist … eine Ehre für mich, dabei helfen zu können.“

Der Prinz zog sie am Handgelenk auf die Füße, sodass sie sich auf Augenhöhe gegenüber standen und sagte ernst: „Du weichst mir aus. Mein Vater hat seine Pflicht über die Liebe gestellt und hat damit zwei, nein, mindestens drei Menschen unglücklich gemacht – ihn selbst, meine Mutter … und Seiketsu. Diesen Weg werde ich nicht gehen! Ich liebe dich, Shiko, bis zu meinem Lebensende …“

Ihr Widerstand bröckelte. Noch einmal rief sie sich ins Gedächtnis, wie die Beziehung zu einem Prinzen für Seiketsu ausgegangen war … Doch er war nicht Klerus. Nadeshiko wollte seinem Versprechen vertrauen … Mehr noch – ihre eigenen Gefühle waren viel zu stark, als dass sie ihn nur als Schutzbefohlenen betrachten konnte. Und so gab sie sich dem folgenden Kuss willentlich hin.
 

Im Gegensatz zu seinem Vater machte Ryuohtah aus seiner Liebe keinen Hehl – es gab weder heimliche Treffen noch ausweichende Blicke bei Hofe, stattdessen wählte er Nadeshiko sogar zu seiner Tanzpartnerin auf dem jährlichen Ball. Ein Teil von Klerus bewunderte und beneidete seinen Sohn dafür, dass er so zu seinen Gefühlen stehen konnte. Er hatte diesen Mut nicht gehabt und die Bedingung seines eigenen Vaters widerspruchslos akzeptiert. Ryuohtah würde eher die Königswürde verweigern, als sich von Nadeshiko zu trennen … Daher ließ Klerus ihn gewähren – er würde es nicht ertragen, noch einen geliebten Menschen zu verlieren.

„Ihr habt keine Einwände, Vater?“, fragte Ryuohtah überrascht.

Der König wandte sich dem Fenster zu, sein Blick suchte nach den Mauern des Tempels, und antwortete: „Liebe lässt sich nicht verbieten … Als Herrscher obliegt es mir, die Gesetze Ewyn´s zu verwalten … und ich beschließe, allen Thronerben die freie Wahl zu geben.“

„>Ein König sollte mit Mut und Weisheit regieren, weil das Herz und der Kopf nur gemeinsam die richtige Entscheidung treffen können.<“, rezitierte der Prinz einen Satz, den sein Vater ihm als Kind häufig vor dem Schlafengehen gesagt hatte, um ihn auf seine Pflicht vorzubereiten.

Hätte Klerus damals nach diesem Grundsatz gehandelt, hätte er vermutlich eine gänzlich andere Entscheidung getroffen … Doch Weisheit kam nun einmal von Erfahrung und Erfahrung erhielt man vor allem durch seine Fehler … Als Ryuohtah sich verabschiedet hatte, um Nadeshiko von dem Gespräch mit seinem Vater zu erzählen, machte auch dieser sich auf den Weg - zum Tempel. In weiße Gewänder gehüllt kniete die Oberpriesterin vor dem Altar, auf dem eine klare Kristallkugel aufgebahrt war.

„In die Zukunft sehen zu können bedeutet nicht, alles zu wissen … Es sind einzelne Fragmente, die sich genauso gut mit jeder neuen Sekunde ändern können.“, sprach Seiketsu, während er näher trat, „Ich habe gesehen, dass wir uns wieder gegenüber stehen würden … Doch den Grund … und den Ausgang dieser Begegnung kenne ich nicht.“

Klerus schwieg einen Moment länger, dann erwiderte er: „Ich habe mich nie bei dir entschuldigt … Auch wenn es dafür eigentlich gar keine Entschuldigung gibt. Selbst wenn du behaupten würdest, es wäre Schicksal letztendlich gewesen – ich war einfach nur feige."

Die Braunhaarige erhob sich und sah ihn an. Bei keiner Zeremonie hatte sie es bislang gewagt, ihm in die Augen zu sehen. Es bedurfte keiner Worte – nicht für einen einzigen Tag hatte sie aufgehört, ihn zu lieben. Niemals hätte sie einen anderen Mann an ihrer Seite akzeptiert.

„Klerus, ich …“, begann Seiketsu, brach jedoch abrupt wieder an.

Alles in ihr zog sich zusammen, Schwindel befiel sie, zwang sie in die Knie. Sofort eilte Klerus zu ihr, um sie zu stützen. Ein stummer Schrei bahnte sich seinen Weg aus ihrer Kehle.

„Sei, bitte, was ist los? Wie kann ich dir helfen?“, fragte Klerus verzweifelt und hielt sie fester.

Seiketsu´s Augenlider flatterten und langsam schaffte sie es Worte zu bilden: „Es ist soweit … das Chaos wird über Ewyn hereinbrechen …“

Erschöpft lag sie in Klerus´ Armen. Nun war ihre Aufgabe erfüllt … Einige kostbare Sekundenlang genoss Seiketsu seinen Schutz, dann befreite sie sich von ihm.

Bevor er seinen Protest äußerst konnte, sagte sie: „Geh´ zurück ins Schloss, Klerus … Deine Frau wartet auf dich. Nur euer Sohn kann unsere Welt jetzt noch retten … Du solltest an ihrer Seite sein.“

Qual verzog sein Gesicht, doch er ging zum Eingangsportal. Dort drehte der König sich noch einmal um. Und obwohl Seiketsu ihn weggeschickt hatte, wollten sich seine Füße keinen Meter weiterbewegen. Stattdessen kehrte er zu ihr zurück und schloss sie erneut in seine Arme.

„Wenn unsere Welt untergehen sollte, will ich lieber bei der Frau sein, die ich liebe …“, flüsterte er nahe ihrem Ohr, ehe er zu ihrem Mund wanderte und ihn mit einem Kuss verschloss.
 

An anderer Stelle hatten Prinz Ryuohtah und Nadeshiko ebenfalls bemerkt, dass der Tag gekommen war … Dunkle Wolken zogen sich über dem Himmel zusammen. Ein eiskalter, beißender Wind riss die Blätter von den Bäumen. Das Meer türmte sich zu meterhohen Wellen auf. Alles schien aus dem Gleichgewicht gerissen zu sein … Und am Firmament traf ein weißer Schwall reinen Lichtes auf eine trübe Ansammlung purer Finsternis. Die beiden Mächte rangen zunächst miteinander, bis sie sich in einem Wirbel vereinten. Nun kannten sie das »Gesicht« ihres Feindes, auf den Ryuohtah und Nadeshiko ihr Leben lang gewartet hatten … das Chaos war nach Ewyn gekommen.

„Ich rufe das Feuer an!“, rief die Rothaarige sofort ganz die Wächterin.

Rings um beide herum wuchs eine Feuerwand aus dem Boden. Das unheilvolle Übel näherte sich ihnen, ein eiskalter Schauer lief ihnen über den Rücken. Diese Macht war gekommen, um erst Ryuohtah zu töten und dann ganz Ewyn zu vernichten … Sie schleuderte einen gewaltigen Strahl auf Nadeshiko ab, die ihre Flammen zu einem Schild formte. Zwar wurde die Energie abgeblockt, doch die Wucht schlug sie zu Boden. Ryuohtah streckte die Hände nach der Macht aus – er musste sie in sich aufnehmen! Während Nadeshiko sich den dröhnenden Kopf hielt, wurde sie bereits erneut attackiert. Da ging alles ganz schnell – Ryuohtah warf sich vor seine Liebste und fing den Schlag ab. Unfähig zu begreifen, was geschehen war, verlor Nadeshiko das Bewusstsein …

Im Tempel lag Seiketsu noch immer in Klerus´ Armen. Durch ihre Gabe spürte sie, was vorging.

„Liebe lässt Welten entstehen … und untergehen.“, murmelt die Priesterin noch.

Denn ohne die Kraft des Obersten Königs überzog das Chaos ganz Ewyn und verschlang den Planeten vollständig …
 

Shiko, Seiketsu und Klerus erwachten aus ihrer Vision. Es war kein Versehen gewesen … kein Verirren, nein, Ohtah´s Seele wurde vom Chaos gefangen gehalten. Und nicht einmal ihre Verbindung zu den Nebeln hatte ihn befreien können … Dabei war jene Macht schon einmal auf ihrer Seite gewesen. Die Kinder der Legenden hatten Yoso No Koshi´s Kontrolle über die vier Elemente mit Ryukii No Mai´s klassengegebenem Bund zur Finsternis sowie Toki No Kibo´s heiligem Licht miteinander verschmolzen und das daraus resultierende Chaos gegen Shiro Tagachi, den Untoten Lich, Abaddon und den Großen Zerstörer gerichtet und sie endgültig besiegt. Seiketsu wusste genau, worüber ihre Seelen-Schwester nachdachte und hatte die Zeit genutzt, um Klerus davon zu berichten. Sichtlich beeindruckt wollte dieser wissen, ob es ihnen nicht erneut gelingen könnte, das Chaos nach eigenem Willen zu kanalisieren.

„Dafür fehlt uns leider jemand, der einen Bezug zur Finsternis hat … Selbst eure Peingebete hatten einen heiligen Ursprung.“, widersprach Shiko geknickt.

Plötzlich hellte sich das Gesicht der einstigen Heilerin auf und sie rief: „Das stimmt nicht – wir sind mit ihm verbunden! Seira hat es selbst gesagt – es gäbe nichts, was unser Band erschüttern könnte.“

„Also auch keine gewaltige, chaotische Energie, die einen von uns gefangen hält …“, schlussfolgerte ehemalige Elementarmagierin, „Du hast vollkommen recht – Ohtah ist immer bei uns! Dann strengen wir uns mal an, um ihn zu befreien. Unser nächstes Leben wartet sicher schon!“

Auf Tyria war es Shiko leicht gefallen, die Elemente zu ihrer Unterstützung zu rufen – hier jedoch befand sie sich inmitten des Universums, ohne Körper.

„Feuer, Erde, Wasser, Luft … ich brauche eure Hilfe, kommt zu mir mir … leiht mir eure Kraft …“, murmelte sie, gleich einem Mantra.

Seiketsu und Klerus hielten sich an der Hand und rezitierten ein Gebet: „Oh Dwayna, Herrin des Lebens, verleih´ uns deinen Segen … lass´ dein Licht über uns leuchten …“

Während sie ihre Anrufe wiederholten, wurden immer ihre Worte vielstimmiger … Mit jedem weiteren Moment erschienen Abbilder von Shiko, Seiketsu und Klerus – Inkarnationen all der Leben, die sie geführt hatten. Da waren welche, die ihnen vollständig glichen, und bei anderen konnte man nur einzelne ihrer Merkmale ausmachen. Wächterin Shiko, Priesterin Seiketsu und König Klerus und Ewyn standen ihnen mit am nächsten. Die letzten, die erschienen, waren Shikon Feenseele und Seiketsu Lichtsegen, ihre ersten Wiedergeburten ebenfalls in Tyria, nur zweihundert Jahre nach ihrem Tod. Doch sie hatten noch jemand bei sich – Ohtah Shadowdragon! Und mit ihm fanden sich auch Ohtah´s Verkörperungen ein, samt Prinz Ryuohtah.

Gemeinsam beschworen sie die Finsternis: „Du bist uns Schutz, du bist uns Weiser … im Schatten leben wir, im Schatten sind wir vereint.“

Endlich erhöhten die Essenzen von Feuer, Wasser, Erde, Luft, Licht und Finsternis ihr Flehen – sie vereinigten sich und das Chaos unterstand nun ihrer aller Kontrolle.

„Höre uns, Chaos! Du bist weder gut noch böse – du bist ein Teil von allem und jedem. Chaos ist das Leben an sich!“, verkündete Shiko.

Das Chaos fügte sich … und zog in unzähligen Schwaden in alle Richtungen davon. Ihre Selbst verschwanden ebenfalls … Zurück blieb nur Ohtah. Shiko stürzte auf ihn zu, hielt ihn fest. Glück durchflutete sie. Vor allem als sie dieses Bekannte ziehen spürte, welches alle zurück in die Nebel zog …

„Shiko, ihr habt mich gerettet. Was ihr riskiert habt …“, sagte Ohtah bei ihrer Ankunft in den Nebeln noch etwas mitgenommen, „Danke! Ich danke euch.“

Seiketsu und Klerus nickten lächelnd, während Shiko ihm einen Kuss auf die Wange hauchte und entgegnete: „Einmal Legende, immer Legende. Wir gehören auf ewig zusammen!“
 

Was bedeutet es wahrhaft zu lieben? Shiko und Ohtah, Seiketsu und Klerus machen es vor – nichts kann sie dauerhaft auseinanderreißen. Nicht der Tod und keine Wiedergeburt.

Fanfiction 04: Duellierende Legenden und legendäre Duelle

Willkommen auf der Duellakademie

Es gab seither Ereignisse, welche die Welt veränderten … Doch kaum etwas hatte so viel Auswirkung gehabt, wie Maximilian Pegasus´ Expedition ins alte Ägypten. Dort war er auf das Mysterium der legendären Schattenspiele gestoßen und hatte darauf das Spiel DuelMonsters entwickelt. Inzwischen besaß beinahe jeder ein eigenes Deck – es gab sogar Schulen, an denen das Duellieren studiert werden konnte. Ryuohtah Taiyo war einer dieser Studenten der renommierten Duellakademie, welche auf einer abgeschotteten Insel lag. Hier hatte er den höchsten Rang eines Obelisk blue inne, da er zuvor bereits Vorbereitungskurse besuchte. Gute Schüler, die von außerhalb kamen, wurden zumeist in Ra yellow aufgenommen. Beinahe hoffnungslose Fällen dagegen landeten in Slifer red – oder wenn sich Schüler erst während eines laufenden Schuljahres einschrieben. So wie Nadeshiko Yosogawa, deren überdurchschnittliche Zensuren den Kanzler Klerus Fujikawa allerdings zu einer kleiner Sonderregel veranlassten – sie sollte eben gegen Ryuohtah in einem Einstiegsduell antreten und im Falle eines Sieges durfte sie sofort eine Stufe aufsteigen. Das Duell fand im großen Kuppelsaal statt, der den Obelisken vorbehalten war oder eben für besondere Anlässe genutzt wurde. Während die Vize-Kanzlerin Seiketsu Fujikawa, die gleichzeitig Klerus´ Frau war, die Kontrahenten ankündigte, betraten beide die Arena und nahmen ihre Plätze einander gegenüber ein.

„Willkommen auf der Duellakademie!“, begrüßte Ryuohtah seine Gegnerin freundlich.

Während beide ihre DuelDisks aktivierten, verbeugte sich Nadeshiko leicht und entgegnete: „Ich freue mich hier sein zu dürfen. Auf ein faires Duell! Hier kommt mein erster Zug – ich beschwöre Thaumaturgist der Qualen und rüste ihn mit dem Buch der geheimen Künste aus.“

Für den Moment entschied er sich ein Monster im Verteidigungsmodus zu setzen, samt einer verdeckten Karte. Dem fügte er noch die Feldzauberkarte »Shien´s Schloss des Nebels« bei und enthüllte damit das Thema seines Decks – die »Sechs Samurai«. Diesen sollten sich Nadeshiko´s Magier des Schwarzen Zirkels entgegenstellen; als nächstes der »Erfahrene Schwarze Magier«, welcher sofort das verdeckte Monster angriff. Jedoch besaß der »Kammerherr der Sechs Samurai« einhundert Punkte mehr, was sie ein paar Lebenspunkte kostete. Weshalb die Rothaarige eine verdeckte Karte spielte und den Effekt des »Thaumaturgisten« aktivierte, indem sie beide Zauberzählmarken von ihm entfernte und das gegnerische Monster zerstörte. Nun durfte der erste, wahre »Sechs Samurai« auf den Plan treten und dadurch, dass »Zanji« auf dem Feld erschienen war, durfte Ryuohtah zudem ihren »Großmeister« speziell beschwören. Zudem aktivierte er seine verdeckt gespielte Karte »Rückkehr der Sechs Samurai!«, was dem »Kammerherrn« neues Leben einhauchte. Nachdem die ersten beiden Monster ihre Spielfeldseite leer geräumt hatten, griff letzterer Nadeshiko noch direkt an, ehe er auf den Friedhof zurückkehrte.

Siegessicher meinte der Obelisk: „Du hast fast die Hälfte deiner Lebenspunkte verloren … Ich fürchte rot bleibt deine Farbe.“

„Stimmt, rot ist schließlich meine Lieblingsfarbe. Allerdings ist die letzte Karte noch nicht gespielt!“, entgegnete Nadeshiko und zog, „Mit Monsterreanimation hole ich meinen Erfahrenen Schwarzen Magier vom Friedhof zurück … dann aktiviere ich meine verdeckte Karte Pechschwarzer Energiestein und übertrage alle drei Zauberzählmarken auf mein Monster. Jetzt kann ich es opfern, um seinen Meister zu beschwören … Komm´ hervor, Schwarzer Magier!“

Ein Stimmengewirr von Seiten der Zuschauer brach los und Ryuohtah rief schockiert: „Dieses Monster ist legendär!“

„Aber nicht einmalig …“, murmelte sie traurig.

Ihre Eltern hatten ihr dieses Deck einst geschenkt, damit sie Yugi Muto nacheiferte und selbst König der Spiele werden würde … Dabei wünschte sie sich vor allem das Spiel, welches sie so liebte, rein aus Spaß zu bestreiten. Es stimmte, dieser Magier war überaus mächtig … bedeutend für die Popularität von DuelMonsters, doch Nadeshiko sah darin nur ein Sinnbild ihres goldenen Käfigs. Aber in diesem Moment stellte er ihre beste Chance zu gewinnen dar – besonders da Nadeshiko ihm mit »Magische Formel« ein ziemliches Power-Update verpasst hatte.

„Normalerweise würde ein Duellant immer das schwächste Monster angreifen, um den größeren Schaden zu verursachen … Aber dann würde Zanji´s Effekt meinen Magier vernichten, nicht wahr?“, sagte die Rothaarige, „Also muss sein Großmeister den Streich kassieren – Schwarze Magie-Attacke!“

Dennoch war es der »Sechs Samurai – Zanji«, der zum Friedhof wanderte – eine grundlegende Fähigkeiten von ihm und seinen Kameraden ... jeder konnte sich für einen anderen opfern.

Ryuohtah rief den nächsten Krieger »Nisashi« auf den Plan und erklärte: „Nachdem du uns die Galionsfigur deines Decks gezeigt hast, erlaube mir dir die meine vorzustellen. Ich spiele die mächtige Zauberkarte Sechs Schriftrollen der Samurai und biete beide Monster als Tribut an, um ihren Herrn zu rufen … Zeige dich in deiner ganzen Pracht, Großer Shogun Shien!“

Mit der Macht des »Schlosses« sowie der Ausrüstung durch das »Legendäre Ebenholzross« waren Krieger und Magier einander ebenbürtig. Daher griff er auch nicht an, sondern setzte noch eine Karte verdeckt. Dafür schlug Nadeshiko in ihrem nächsten Zug einen kleinen Zaubertrick vor – mit »Tausend Messer« konnte der »Schwarze Magier« jedes Monster zerstören …

„Nicht so hastig.“, warf der Braunhaarige ein, „Sein Reittier rettet ihn.“

Der Duellant in ihm wollte zusätzlich noch zu dieser Vereitelung ihres Plans die verdeckte Karte aktivieren, mit der er noch gewinnen würde … doch er tat es nicht. Niemals zuvor war der Obelisk von einem Gegner so beeindruckt gewesen … Und hier ging es schließlich nur darum, ihr Können zu testen.

Daher legte Ryuohtah die erhobene Hand stattdessen über sein Deck und gratulierte ihr: „Der Sieg gehört dir! Herzlichen Glückwunsch zu deinem Einzug bei Ra.“

Allerdings wirkte Nadeshiko davon keineswegs begeistert. Festen Schrittes kam sie auf ihn zu und zog ihm die verdeckt gesetzte Karte aus der DuelDisk.

Sofort wurde ihr Gesichtsausdruck noch finsterer und sie entgegnete scharf: „Du hast nicht alles gegeben. Als Duellant bist du aber genau das es deinem Deck und deinem Gegner schuldig … Es hat immer einen bestimmten Grund, warum man eine Karte erhält.“

Sie gab ihm die Karte zurück, dann verließ sie unter dem Applaus der Zuschauer die Arena. Die Vize-Kanzlerin erhob sich ebenfalls und folgte der neuen Schülerin. Etwas abseits wartete diese bereits auf ihre Verfolgerin. Ryuohtah starrte Nadeshiko derweil immer noch bewegungsunfähig nach, während sein Herz wild pochte.

„Und das soll wirklich einer eurer besten Schüler sein, Sei-obasan?“, meinte die Rothaarige mit hochgezogener Augenbraue.

Ihre Tante lächelte milde, als sie zurückgab: „Ich glaube eher, Taiyo-san wollte dich gewinnen lassen, um dir einen besseren Start zu verschaffen. Slifer haben immer noch einen etwas … schlechten Ruf an der Akademie.“

Darüber schwieg sie. Natürlich hatte Nadeshiko daran gedacht … und trotzdem ärgerte sie sein Verhalten. Hätte er bei einem Jungen als Gegner genauso reagiert? Trotz ihrer Worte war ihr sein Talent mit den Karten aufgefallen, er hatte sie grundsätzlich sehr gut gespielt …

„Ich habe Klerus wie versprochen nichts von dir erzählt.“, wechselte Seiketsu abrupt das Thema.

Als Tochter eines großen, japanischen Firmenchefs hatte Nadeshiko bislang alles bekommen, was sich ein Kind nur wünschen konnte … selbst ein ausgezeichnetes Deck mit legendären Karten. Hier wollte sie einfach mal eine ganz normale Schülerin sein.

„Danke, Fujikawa-sensei.“, antwortete Nadeshiko zwinkernd.

Seiketsu lächelte milde. Vielleicht würde ihr Bruder eines Tages verstehen, was wirklich in seiner Tochter steckte … etwas, das sich bei weitem nicht mit Geld kaufen ließ.
 

Unerwartetes Ergebnis

Während des Schuljahres machte sich Nadeshiko einen Namen unter den Studenten – nicht nur, dass sie trotz ihres Status als Ra weiterhin die rote Jacke trug, die sie bei ihrer Ankunft bekommen hatte, stets verfolgten unzählige Schüler ihre Duelle, um jene Monster zu sehen, die einst das Spiel erst so richtig populär gemacht hatten … jene Karten, die der legendäre Yugi Muto für sich erwählt hatte; und niemand schien sie damit im Duell besiegen zu können. Im Unterricht schlug sie sich beinahe ebenso gut. Nur ihre Tante begriff, warum sie einen solchen Elan an den Tag legte – auf der Duellakademie erfolgreich zu sein, bedeutete für sie Freiheit. Nur solange sie zu den Besten gehörte, erlaubten ihre Eltern ihr den Schulbesuch; eine berühmte Duellantin zog sichtlich geeignetere Anwärter an und würde der Firma zukünftig einen guten Ruf einbringen. Ein weiterer Anlass, um ihre Entschlossenheit zu zeigen, war die Zwischenprüfung, welche am Ende des ersten Schuljahres mit einem theoretischen und einem praktischen Teil stattfand, bei dem jeweils zwei Schüler entsprechend ihrer zuvor gezeigten Leistungen gegeneinander antreten würden.

Daher war die Auslosung der Gegner das Gesprächsstoff – einer der Obelisken fragte Ryuohtah bereits zum zehnten Mal, ob er seine Paarung bereits erfahren hatte und ob er einen Wunschpartner hätte. Tatsächlich gab es eine Person, gegen die er antreten wollte … erneut antreten wollte. Seit ihrem letzten Duell war kein einziger Tag vergangenen, da der Braunhaarige nicht an sie gedacht hatte. Mehrfach hatte er sie aufsuchen wollen und es dann doch nicht getan – so enttäuscht wie Nadeshiko von ihm gewesen war, wollte sie sicherlich nichts mit ihm zu tun haben. Plötzlich piepte sein Pager durch eine neue Nachricht, was ihn aus seinen trüben Gedanken riss.

„Jetzt bekommst du wohl endlich deine Antwort, Mhenlo.“, meinte Ryuohtah scherzhaft.

Doch er starrte die Worte auf dem kleinen Bildschirm nur an, ohne den Namen auszusprechen.

Mhenlo schielte ihm über die Schulter und rief begeistert: „Das wird ja ein richtig interessantes Duell! Diesmal kannst du richtig ernst machen.“

Etwas anderes blieb ihm auch gar nicht übrig – Nadeshiko Yosogawa war keine leichte Gegnerin, wie er bereits hatte feststellen müssen. Und außerdem wollte er es sich nicht noch weiter mit ihr verscherzen.

Besagte wurde ungefähr zur gleichen Zeit ebenfalls von einer ihrer Mitschülerinnen auf dieses Thema angesprochen – prompt trudelte auch bei ihr das Ergebnis der Auslosung ein. Nadeshiko blinzelte einige Male, ehe sie Danika´s Frage beantwortete.

„Uh, ein schicksalhaftes Wiedersehen!“, rief Danika begeistert aus, „Ich bin sicher, du wirst ihn wieder mit deinen legendären Karten besiegen.“

Dazu schwieg Nadeshiko – schon wieder jemand, der sie auf das gekaufte Deck ihrer Eltern reduzierte … Nichtsdestotrotz passte ihr diese Auslosung ganz wunderbar – endlich konnte sie herausfinden, was Ryuohtah Taiyo wirklich drauf hatte!
 

Bereits eine Woche später standen sich die beiden Kontrahenten an genau jeder Stelle gegenüber, wie bereits vor ein paar Monaten – ein wahrhaftiges Déjà-vu.

„Das grenzt schon an Ironie des Schicksals, nicht wahr?“, begrüßte Nadeshiko ihn belustigt, während sie ihre DuelDisks starteten.

Ryuohtah konnte sich das Grinsen nicht kneifen und entgegnete: „Ja. Aber heute habe ich nicht vor, mein Deck … und meinen Gegner zu enttäuschen!“

Es erfreute sie, dass er sich ihre Worte offensichtlich zu Herzen genommen hatte. Der Obelisk genoss unter seinen Mitschülern einen ausgezeichneten Ruf, auch die Lehrer schätzten ihn. Manche betrachteten ihn schon jetzt als künftigen Profi-Duellanten. Und ganz der Gentleman überließ er ihr erneut den ersten Zug, indem sie nur »Verteidiger, den magischen Ritter« im offenen Verteidigungsmodus beschwor, sodass er eine Zauberzählmarke erhielt. Auf Ryuohtah´s Spielfeldseite durfte ein Monster im Angriffsmodus seine Aufwartung machen.

„Wie du ja weißt, hassen es meine Krieger allein zu sein … deshalb hänge ich den Geist der Sechs Samurai als Union-Monster an Irou an.§, erklärte er lachend, weil das seinem Monster zusätzliche Kraft verlieh.

Daraufhin griff er »Verteidiger« an, doch Nadeshiko griff ein: „Nichts da – ich entferne seine Zauberzählmarke, um ihn zu schützen.“

„Dann zerstört ihn eben Irou´s Effekt.“, widersprach der Obelisk blue und beendete seinen Zug.

Endlich zeigte Ryuohtah ihr gegenüber, dass er zurecht eine blaue Jacke trug. Sie musste ebenfalls beweisen dieser Schule würdig zu sein – gestern war eine E-Mail ihrer Eltern gekommen, mit der Aufforderung bei dieser Zwischenprüfung bloß nicht zu versagen und die Ehre der Familie zu bewahren. Hier in Japan galten eben andere Regeln; das Gesicht zu verlieren, wäre die größte Schmach … Aber das gekaufte Deck enttäuschte nicht – weil sie ihn gerade gezogen hatte, erlaubte ihr seine besondere Fähigkeit, »Palladiumorakel Mahad« ohne Tribut direkt von ihrer Hand auf das Feld zu rufen.

„Wenn Mahad ein FINSTERNIS-Monster angreift, verdoppeln sich seine Angriffspunkte – und leider ist das genau Irou´s Eigenschaft.“, meinte Nadeshiko halb scherzend.

Zwar bewahrte der »Geist der Sechs Samurai« »Irou« vor der Vernichtung, doch Ryuohtah musste ganze zweitausendachthundert Punkte Schaden einstecken. Ihm blieb für den Moment nur seine Verteidigung zu stärken – zunächst mit »Die Sechs Samurai – Yaichi«, dann wechselte er mit »Irou« den Modus und durfte durch dessen Spezialeffekt noch »Legendäre Sechs Samurai – Kizan« von seiner Hand rufen, um seine Lebenspunkte zusätzlich zu beschützen. Die »Legendären Sechs Samurai« war die vorangegangene Generation an Kriegern dieses besonderen Clans. Zudem aktivierte er er eine weitere neue Karte … »Shien´s Rauchzeichen« ließ ihn »Die Sechs Samurai – Kamon« auf die Hand nehmen, ehe Ryuohtah noch eine weitere Karte verdeckt setzte. Diese kam alsbald zum Einsatz, nachdem »Mahad« »Kizan« und der frisch beschworene »Schnellfeuer-Magier« »Yaichi« vernichtet hatten – mit »Shien´s Komplott« rief er »Kamon« im Verteidigungsmodus. Da »Yaichi« nun auf dem Friedhof weilte und ihren verdeckten Karten nichts mehr anhaben konnte, setzte sie eine davon zum Abschluss ihres Zuges. Nadeshiko hatte ihn in eine brenzlige Situation gebracht … Doch für fast jede Zwickmühle gab es eine Lösung – Ryuohrah rief »Legendäre Sechs Samurai – Enishi« zu Hilfe und entfernte anschließend zwei »Sechs Samurai« vom Friedhof aus dem Spiel, so hatte er die Macht »Mahad« zurück auf Nadeshiko´s Hand zu schicken. Zusätzlich versetzte er »Irou« samt »Kamon« in den Angriffsmodus. Ihr dreifach Angriff zerstörte nicht nur ihren »Schnellfeuer-Magier«, sondern ihr blieben auch lediglich zweihundert Lebenspunkte. Da erschien es – nicht für Ryuohtah – äußerst absonderlich, dass Nadeshiko ein Monster rief, welches über gerade einmal vierhundert Angriffspunkte verfügte, allerdings nicht direkt angreifen konnte.

„Kinder werden ja so schnell groß … Ich spiele Magieartige Dimension, um sie gegen ein Hexer-Monster von meiner Hand auszutauschen … und präsentiere dir das Schwarze Magier-Mädchen!“, sagte sie mit einem Augenzwinkern.

Während des ganzen Schuljahres hatte sich die Schülerschaft – Ryuohtah eingeschlossen – gefragt, ob Nadeshiko diese Karte wohl ebenfalls besaß …

„Aber die Zaubershow geht noch weiter …“, zog die Rothaarige seine Aufmerksamkeit wieder auf sich, „Ich aktiviere Stein der Weisen, damit ihr Meister ihr Gesellschaft leisten kann!“

Jetzt, da Ryuohtah diesem Duo gegenüber stand, verstand er vollends, warum Yugi Muto so gefürchtet … und Nadeshiko ungeschlagen geblieben war. Der »Schwarze Magier« kümmerte sich um »Enishi«, damit ihr dessen Angriffspunkte sowie Fähigkeit nicht mehr gefährlich werden konnte, während das »Schwarze Magier-Mädchen« »Kamon« auf den Friedhof beförderte. Mit vierhundert zu zweihundert Lebenspunkten war das Duell zumindest dahin gehend ausgeglichen. »Irou« kehrte in den Verteidigungsmodus zurück, in dem ihm »Shien´s Draufgänger« Gesellschaft leistete. Dazu legte der Braunhaarige noch eine verdeckte Karte.

Dieser Zug würde über den Ausgang des Duells entscheiden, da war sich Nadeshiko sicher – sie atmete tief durch und fragte ihn: „Bist du bereit für die Zugabe?“

„A-aber du hast doch …“, begann Ryuohtah, dann jedoch besann er sich eines besseren, „Warte, heißt das-“

Sie nickte und aktivierte eine Zauberkarte: „Genau so ist es – ich kann immer noch die Hälfte meiner Lebenspunkte bezahlen, um mit dem Dunklen magischen Vorhang mein Trio zu vervollständigen … Von meinem Deck rufe ich daher den Dunklen Magier des Chaos!“

Und obwohl Nadeshiko ihr Deck auf gewisse Weise verabscheute, entwich ihr eine einzelne Freudenträne, weil sie zum ersten Mal alle drei »Schwarzen Magier« gleichzeitig auf dem Feld hatte … Ryuohtah dagegen starrte ihr drittes Monster noch entsetzter an. Es gab viele ungewöhnliche Kombinationen in diesem Spiel, manche Monster waren beinahe unmöglich zu rufen … andere wie hier derart zu versammeln glich einer Meisterleistung. Er könnte sich zwar mit seiner verdeckt gespielten »Rückkehr der Sechs Samurai!« in den nächsten Zug retten … doch gab es in seinem Deck überhaupt etwas, das sich diesem Aufgebot entgegenstellen konnte? Selbst wenn nicht – Nadeshiko hatte ihm schon einmal vorgeworfen nicht mit ganzer Kraft gekämpft zu haben … Ryuohtah ließ »Enishi« vom Friedhof zurückkehren und nutzte erneut seine besondere Fähigkeit, um den »Schwarzen Magier des Chaos« in ihre Hand zu schicken – damit sah es nicht mehr ganz so hoffnungslos für ihn aus. Da umspielte Nadeshiko´s Lippen ein kaum merkliches Lächeln. Diesmal hatte er seine letzte, verdeckte Karte also ausgespielt, um ihr Kontra zu bieten …

Dann war es nun an ihr, es ihm gleichzutun: „Hier endet das Duell. Ich aktiviere meine verdeckte Falle Zerstörungsring … Weil ich noch mindestens ein Monster auf dem Feld habe, kann ich es opfern und beide Spieler erhalten fünfhundert Schadenspunkte!“

Damit fielen beide gleichzeitig auf null. Keiner im Saal wusste, wie er oder sie darauf reagieren sollte – ohne diese Karte hätte Nadeshiko zweifellos gewonnen. Trotzdem hatte sie es einfach tun müssen …

Plötzlich flimmerte auf dem riesigen Bildschirm das Gesicht des Kanzlers auf, dessen Mimik zunächst keinerlei Regung zeigte, ehe er zu sprechen begann: „Dies ist eine tragende Institution … Generationen von Schülern standen sich an diesem Ort bereits gegenüber. Eines der grundlegenden Prinzipien dieser Ausbildung beinhaltet das Verhalten gegenüber seinem Gegner … Und Respekt vor seinem Gegner kann auch bedeuten, ihm in einer bestimmten Situation keine Schmach zufügen zu wollen … Wer sich auf einer höheren Ebene duelliert, lernt die Gefühle seines Gegenüber zu lesen. Da Nadeshiko Yosogawa bewiesen hat, dass sie diese Fähigkeit bereits besitzt, befördere ich sie hiermit offiziell zu Obelisk blue! Herzlichen Glückwunsch!“

Fassungslos starrte Nadeshiko Klerus an – eher hätte sie mit einer Rüge oder sogar einem Verweis gerechnet, weil sie das Duell bewusst nicht gewonnen hatte … Seiketsu, die das Duell natürlich direkt von der Tribüne aus verfolgt hatte, dagegen lächelte. Ihre Tante überraschte die Entscheidung ihres Mannes gar nicht; sein gütiger und verständnisvoller Blick auf die Welt war einer der Gründe, warum sie ihn liebte … Dankbar neigte die Rothaarige das Haupt. Beide Aufstiege hatte sie Duellen mit Ryuohtah zu verdanken. Apropos jetzt erst fiel es ihr ein, ihn wieder anzusehen. Derselbe Unglauben lag auch über seinem Gesicht, wie zuvor auf ihren eigenen Zügen.

„Nadeshiko …“, sprach Ryuohtah sie an, während er auf sie zuging, „Warum hast du das getan? Ich meine, du wolltest, dass ich mit voller Kraft kämpfe – trotzdem hast ausgerechnet du dieses Duell absichtlich mit einem Unentschieden beendet.“

Eine berechtigte Frage, das musste sie zugeben … vor allem nachdem, wie sie nach dem Ausgang ihrer ersten Begegnung reagiert hatte – und er wusste ja einmal um das Gespräch mit Seiketsu.

„Das stimmt … Weil du deine Karte diesmal aktiviert hast.“, entgegnete Nadeshiko milde, „Erinnerst du dich? >Es hat immer einen bestimmten Grund, warum man eine Karte erhält.< Dieses Duell sollte unentschieden enden.“

Eine neuerliche Welle von Verwunderung schwappte über ihn hinweg, dann meinte er grinsend: „Tja, das bedeutet dann wohl, dass wir irgendwann wieder gegeneinander antreten müssen.“

Mit einem Nicken nahm sie seine Hand und bestätigte: „Sieht ganz so aus. Aber nur, wenn du mich in Zukunft >Shiko< nennst.“

„Und ich bin >Ohtah<.“, gab Ryuohtah zwinkernd zurück.

In diesem Moment hatten die beiden endgültig und offiziell Freundschaft geschlossen.
 

Ich will an deiner Seite sein

Von jenem Duell an waren Ryuohtah und Nadeshiko ein Herz und eine Seele – sie verbrachten ihre Freizeit miteinander, lernten gemeinsam und saßen im Unterricht beieinander. Niemand konnte mehr glauben, dass sie sich zuvor noch vollkommen aus dem Weg gegangen waren. Besonders Seiketsu freute sich, ihre Nichte endlich in echter Freundschaft zu sehen – nicht einfach nur in Gesellschaft irgendwelcher Mitschülerinnen, die sich nur oberflächlich für genau das interessierten, dem sie zu entfliehen versuchte. Zwar verlangte ihr Bruder regelmäßige Berichte über ihre Fortschritte, doch meist antwortete die Vizu-Kanzlerin erst Tage oder sogar Wochen später, was sie auf die viele Arbeit als Lehrerin schob. In Skandinavien war er ja bereits streng mit seiner Tochter gewesen … zurück in Japan duldete er keinen einzigen Fehltritt. Umso mehr würde er vermutlich toben, wenn er erfuhr, warum Ryuohtah Nadeshiko eines Tages zu einem Ausflug mit einem der Ruderboote einlud.

„Also wohin fahren wir?“, fragte die Obelisk blue – oder vielleicht eher red – neugierig, „Ich kenne dich inzwischen gut genug – du tust nichts ohne irgendeinen Grund. Möchtest du etwa ein Duell auf dem Wasser? Das würde platztechnisch wahrscheinlich etwas eng werden.“

Er lachte nicht über ihren Scherz, zu ernst war die Angelegenheit und er antwortete: „Nein, kein Duell, nicht wirklich. Ich wollte ungestört mit dir reden … außerhalb der Akademie. Shiko, anfangs waren wir Gegner, dann Freunde … aber ich … ich empfinde mehr für dich, schon vom ersten Tag an. Das kommt sicher ziemlich überraschend – entschuldige, dass ich dich damit so überfalle.“

Verblüfft starrte die Rothaarige ihn an, während sich eine kalte Gänsehaut über ihren Körper ausbreitete. Ein Teil von ihr befürchtete, sich lediglich verhört zu haben …

Nur mühsam gelang es ihr ihre Stimme wiederzufinden: „Damit habe ich nicht gerechnet, jedoch … gewünscht habe ich es mir. Erst war ich geblendet, weil ich dachte, du würdest in mir nur ein kleines Mädchen sehen, das sich hier nicht behaupten könnte. Doch du bist zu allen unglaublich freundlich, warmherzige und stets hilfsbereit. Plötzlich wurde ich fast schon … eifersüchtig. Ganz unwillkürlich wollte ich etwas besonders für dich sein. Merkwürdig, nicht wahr?“

Das Wasser plätscherte, so abrupt bewegte sich Ryuohtah auf Nadeshiko zu, ergriff ihre Hände und sah ihr fest in die Augen, ehe er bestätigte: „Das bist du – ich liebe dich, Shiko, nur dich!“

Alles andere auf der Welt war vergessen – nur das Gefühl ihrer Lippen, die sich zärtlich berührten, zählte noch für die beiden.
 

Gegen Ende des Schuljahres wurde Nadeshiko überraschend vom Kanzler zu sich in sein Büro gerufen. Noch immer ahnte er nicht, in Wahrheit seine Nichte vor sich zu haben. Doch sah er dennoch mehr, als irgendjemand ahnte …

„Yosogawa-san, bitte setzt Euch.“, sagte Klerus freundlich, „Ihr fragt Euch sicher, warum ich Euch so dringend sprechen wollte … Ich möchte Euch ein Angebot machen – es mag zunächst etwas merkwürdig klingen, aber ich werde mich bemühen all Eure Fragen dazu zu beantworten. Eine unserer Partnerschule, genau genommen die Nordakademie hat angefragt, ob einer unserer Studenten Interesse hätte, für ein halbes Jahr bei ihnen zu lernen. Ein neuer Kanzler hat dort übernommen, der selbst zeitweise an unserer Schule unterrichtet wurde. Jedenfalls habe ich dabei an Euch gedacht … Wäre Eure Familie nicht umgezogen, hättet Ihr dort studiert, nicht wahr?“

Obwohl die Obelisk nickte, wirkte sie weiterhin verwirrt.

Auf ihre unausgesprochene Frage hin erklärte er: „Wisst Ihr, was meine vorrangige Aufgabe an dieser Schule ist? Ich sitze hier oben in meinem Büro, um alles beobachten zu können. Ich muss dafür Sorge tragen, dass es meinen Studenten gut geht und sie sich in ihrem Dasein als Duellant weiterentwickeln …“

„Und genau da liegt bei mir das Problem … nicht wahr?“, gab Nadeshiko zurück, „Eure Sorge ehrt mich, Fujikawa-sensei. Genau genommen klingt dieser Wechsel sehr interessant. Allerdings … möchte ich Euch dennoch bitten diese Angelegenheit mit einem Duell entscheiden zu dürfen. Es gibt Dinge, die mich hier halten … und ich klären muss. Daher will ich noch einmal gegen Ryuohtah Taiyo antreten … Sollte ich verliere, gehe ich auf die Nordakademie, um mich hoffentlich dort weiterzuentwickeln zu können.“

Lächelnd erwiderte Klerus: „Der Kodex dieser Akademie lautet, jeden Konflikt mit einem Duell zu lösen … daher bin ich einverstanden. Stellt Euch sich dieser Prüfung, Yosogawa-san – egal wie es ausgeht, es wird Euch weiterbringen.“

Nadeshiko verneigte sich tief vor Klerus. Es war nicht so, dass ihre Zensuren abfällig gewesen wären oder sie Duelle verloren hätte – im Gegenteil, es gäbe ihren Eltern nichts negatives über ihre schulische Laufbahn zu berichten. Sie würden das Problem an sich wahrscheinlich auch gar nicht verstehen … sie selbst hatte viel zu lange gebraucht, um wirklich zu verstehen, was mit ihr los war – alles beim Duellieren gründete sich auf das Vertrauen in die eigenen Karten. Und genau das fehlte ihr von vornherein. Ryuohtah hatte Nadeshiko einmal dazu gebracht mit diesem Deck ihr Bestes zu geben. Wenn sie diesmal ohne Rücksicht auf Verluste, versuchte zu gewinnen – und es tatsächlich schaffte, würde sie ihr Deck vielleicht endlich akzeptieren können … Wenn nicht, war Japan der falsche Ort, um sich neu zu orientieren.
 

Verwundert fand sich Ryuohtah am Austragungsort ein, nachdem Seiketsu ihn über das Duell informiert hatte – jedoch ohne den Grund dafür zu nennen. Selbst wenn dies ihr großer Rückkampf sein sollte – hätte er sich dann nicht darauf vorbereiten sollen?

„Shiko, weißt du, wie es dazu kommt, dass wir uns duellieren sollen?“, fragte er seine Liebste,

Da sie es nicht fertigbrachte, ihn anzulügen, überging sie seine Frage und entgegnete nur: „Mach´ einfach deinen Zug.“

Für gewöhnlich hatte er sie den Anfang machen lassen … Doch fragte Ryuohtah nicht weiter nach, sondern entsprach ihrem Wunsch und beschwor einen seiner neuesten Gefährten – »Geheime Sechs Samurai – Doji« mit eintausendsiebenhundert Angriffspunkten. Zudem legte er eine Karte verdeckt ab. Auch Nadeshiko begann mit einem Monster; »Brecher, magischer Krieger« erhielt durch seine automatische Zauberzählmarke dreihundert weitere Punkte, die ihn »Doji« überlegen machten. Dieser kleine Punkteverlust störte den Obelisk blue nicht weiter, dennoch spielte er sein nächstes Monster verdeckt im Verteidigungsmodus. In dem Glauben seiner Falle damit zu entgehen, zerstörte sie mit »Brecher´s« Effekt zunächst seine verdeckte Karte, ehe sie ihn opferte, um »Palladiumorakel Mana« zu beschwören und mit ihr anzugreifen – und tappte damit doch genau hinein, denn »Geheime Sechs Samurai – Genba« verfügte über stolze zweitausendeinhundert Verteidigungspunkte.

„Da habe ich mich wohl verrechnet – bislang war dein Kammerherr ja die stärkste Verteidigung und der Kampf wäre unentschieden ausgegangen.“, murrte die Rothaarige mehr zu sich selbst, „Tja, du hast eben eine Menge gelernt …“

Nun wunderte sich Ryuohtah zunehmend: „Worum geht es hier, Shiko?“

Da ertönte wie auf Stichwort eine Arena-Durchsage: „Ryuohtah Taiyo, mach´ deinen Zug. Sonst wird das als >aufgeben< des Duells gewertet.“

Im Stillen dankte Nadeshiko ihrer Tante für diese Rettung. Da ihm nichts anderes übrig blieb, fügte er sich und aktivierte zu erst die permanente Zauberkarte »Portal der Sechs«, deren Effekt sich nach ihren Bushido-Zählmarken richtete. Danach füllte er seine Reihen mit »Legendäre Sechs Samurai – Kageki« im Verteidigungsmodus auf, samt einer neuen Verdeckten. Um dagegen anzukommen, stattete die Obelisk ihre Hexer mit »Kraft der Magie« aus, was sie um fünfhundert Punkte stärkte und so »Kageki« angriff.

„Du hast meine Falle ausgelöst – Sakuretsu-Rüstung vernichtet dein angreifendes Monster.“, schritt Ryuohtah ein.

Kurz ärgerte sich Nadeshiko, ihm erneut in die Falle gegangen zu sein, dann erwiderte sie störrisch: „Schön, darf eben ihr Alter Ego übernehmen – wenn Mana zum Friedhof wandert, erscheint an ihrer Stelle das Schwarze Magier-Mädchen!“

Als Ryuohtah seine nächste Karte zog, begann sein Hirn zu rattern – es war ein komplizierter Zug und alles hing vom richtigen Timing ab. Schritt eins wechselte »Genba« in den Angriffsmodus, was mit mageren fünfhundert Punkte ein Fragezeichen bei Nadeshiko aufploppen ließ. Weiter ging es damit, dass er »Hand der Sechs Samurai« beschwor, deren Angriffspunkte er mit dem Entfernen von beiden Bushido-Zählmarken auf zweitausendeinhundert erhöhen konnte. Nun war es Zeit für die Zauberkarte »Askese der Sechs« – sie erlaubte es, Ryuohtah einen Samurai auf seinem Feld zu wählen und anschließend einen anderen Samurai mit derselben Stärke für einen Zug aus seinem Deck zu rufen. Glücklicherweise verfügte der »Großmeister der Sechs Samurai« über dieselben Punkte, wie die »Hand«. Da er mit diesen beiden Beschwörungen erneut zwei Bushido-Zählmarken angesammelt hatte, konnte er auch sein neues Monster pushen. So hatte das »Schwarze Magier-Mädchen« keine Chance gegen ihn … und Nadeshiko stand der »Hand« samt »Genba« ungeschützt gegenüber. Ihre Lebenspunkte fielen auf siebenhundert. Der »Großmeister« musste zu ihrem Glück nun auf den Friedhof und die »Hand der Sechs Samurai« kehrte zu ihren Grund-Angriffspunkten zurück. Um ihre Situation zu verbessern, aktivierte Nadeshiko ihren »Topf der Gier« – beide gezogen Karten spielte sie auch direkt, die mit dem »Buch der geheimen Künste« belehrten »Valkyre des Magiers« befreite sein Feld von »Genba«. Sein Punkteverlust hielt sich im Gegensatz zu ihrem immer noch in Grenzen – er versetzte sein verbliebenes Monster in den Verteidigungsmodus und fügte eine verdeckte Karte hinzu. Eine verdeckte Karte kam ebenfalls von Nadeshiko, die einen Angriff hinterher setzte. Der allerdings erneut von Ryuohtah gestoppt wurde – »Das Schicksal verändern« zwang die »Valkyre des Magiers« dauerhaft zu verteidigen. Der Name der Fallenkarte versetzte ihrer Brust einen Stich … denn sie bestritt dieses Duell ja nur aus dem Grund, dass sie ihr Schicksal als Duellantin ergründen wollte.

„Ironie des Schicksals … wieder einmal entscheidet eine verdeckt gespielte Karte über den Ausgang unseres Duells.“, bemerkte Ryuohtah, „Also, Shiko, du hast die Wahl – schenkst du mir die Hälfte ihrer Angriffspunkte als Lebenspunkte oder steckst du sie als Schadenspunkte ein.“

Zweiteres würde bedeuten, dass sie das Duell auf der Stelle verlor … auf die eine Art wäre dies natürlich die leichteste Möglichkeit, um zu einer Entscheidung zu kommen. Doch so würde sie ihren eigenen Grundsatz verraten … Noch hatte sie Karten auf dem Feld, der Hand und im Deck, die sie spielen konnte!

„Das Duell geht noch weiter!“, sagte Nadeshiko entschieden und berndete ihren Zug, in dem er seine Lebenspunkte erhöhte.

Ihrem Beispiel folgend, spielte Ryuohtah seinen eigenen »Topf der Gier«, durch den er den Spielfeldzauber »Tempel der Sechs« zog. Mehr machte er nicht und übergab.

Diese Chance nutzte die Rothaarige und verkündete: „Weil du meine Valkyre mit deiner Falle gefangen hältst, werde ich sie nun mit meiner eigenen Falle befreien – hier kommt Generationswechsel. Indem ich diese hier zum Friedhof schicke, bekomme ich eine neue aus dem Deck. Und damit sie sich nicht so einsam fühlt, spiele ich noch Monsterreanimation, um meine erste Valkyre zurückzuholen! Damit habe ich eine undurchdringliche Barriere geschaffen!“

Sie hatte recht … durch den Effekt der beiden Hexer konnte Ryuohtah keine von ihnen mehr angreifen. Das Duell stand nun kurz vor seinem Ende … das wussten beide. Wenn Nadeshiko ehrlich zu sich war, konnte sie nicht sagen, ob sie der nahende Sieg freute oder nicht – wenn es zu ihren Gunsten ausging, hätte die Obelisk blue ihrem Deck auf gewisse Weise jahrelang Unrecht getan.

„Ich weiß immer noch nicht, was eigentlich Sache ist … aber meine Samurai sind sehr anpassungsfähig. Und ich darf bekanntlich mindestens noch einmal ziehen …“, erinnerte Ryuohtah und mahnte sich innerlich zur Ruhe.

Obwohl er beim letzten Mal hätte verlieren müssen, glaubte der Braunhaarige fest an seine Karten; dass der Clan der »Sechs Samurai« eine Chance gegen die »Magier des Schwarzen Zirkels« hatten. Denn ihre eigenen Spezialeffekte konnten ihnen auch schon mal aus unmöglichen Situationen heraushelfen … Und jener, den er gerade gezogen hatte, könnte ihm durchaus noch den Sieg einbringen.

„Du kennst die Effekte meiner treuesten Krieger …“, meinte Ryuohtah ernst, „Solange sich ein weiterer Anhänger der Sechs Samurai auf meiner Seite des Feldes befindet, kann Yariza dich mit eintausend Punkten direkt angreifen."

Nadeshiko starrte das Monster fassungslos an – schon jetzt, noch vor seinem Angriff wusste sie, dass sie das Duell verloren hatte. Auf dem Spielfeld lagen keine verdeckte Karten mehr, noch gab es etwas auf dem Friedhof, das sie noch retten könnte oder gar eine Schnellzauberkarte auf ihrer Hand … Der »Samurai« holte mit seinem Speer aus und Nadeshiko ging in die Knie, wo sie sich um Luft mühte. Die Augen fest zu Boden gerichtet, während das Publik anders als gewöhnlich keinen Laut von sich gab – bis auf Kanzler Fujikawa.

Er klatschte in die Hände und sprach: „Ich gratuliere dem Sieger! Ihr habt Euch hervorragend geschlagen, Taiyo-san. Aber genauso muss ich in diesem Fall Eurer Gegnerin gratulieren – denn Yosogawa-san wird zeitweilig an die Nordakademie wechseln, um ihre Fähigkeiten zu entfalten.“

Die Rothaarige erhob sich ohne ihn anzusehen. Sie wusste auch so, wie er sie gerade ansah – entgeistert, enttäuscht, wütend.

„Warum, Shiko?“, verlangte er zu erfahren.

Mit trockener Kehle antwortete Nadeshiko: „Weil es nur das Deck ist, das stark ist – nicht ich selbst. Hast du eine Ahnung, was für ein Druck das ist, die Trumpfkarte des Königs der Spiele im Deck zu haben? Ich ertrage es nicht mehr … Du und dein Deck, ihr habt euch in den vergangenen zwei Jahren verändert … Meine Karten sind dagegen immer noch genau dieselben, ich habe mich nicht weiterentwickelt. So kann ich nicht an deiner Seite stehen ... ich will nicht hinter dir zurückbleiben!“

„Und deshalb haust du ab? Was soll sich woanders denn bitte daran ändern?“, keifte Ryuohtah weiter, ehe sich Trauer in seine Stimme legte, „Ich dachte, du liebst mich … Wenn du nur eine Ausrede gesucht hast, um mit mir Schluss zu machen, hättest du dir echt etwas besseres einfallen lassen können …“

Er wartete nicht mehr ab, ob sie noch etwas hinzufügen wollte, sondern stapfte davon. Nun hob die Rothaarige doch den Blick, um ihm nachzuschauen. Dies war ein Moment, indem sie erfahren sollte, wie laut Stille klingen konnte …

Es war Seiketsu, die sie an der Hand nahm und wegführte. Kaum hatte sich die Tür des Kanzlerbüros hinter ihnen geschlossen, liefen die Tränen über Nadeshiko´s Wangen. Ihre Tante nahm sie in den Arm, streichelte ihr über den Rücken.

„Ich … ich muss gehen. Ich muss einfach …“, brachte Nadeshiko nur schwer heraus.

Die Vize-Kanzlerin hauchte ihr einen Kuss auf das Haar, ehe sie erklärte: „Der richtige Weg ist zumeist auch der schwierigere Weg … Taiyo-san wird bald verstehen, dass es keine Entscheidung gegen ihn gewesen ist.“

Nadeshiko löste sich etwas von ihr, wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Dann nahm sie das Deck aus ihrer DuelDisk und hielt es Seiketsu entgegen.

„Ich werde es nicht mit zur Nordakademie nehmen. Aber bewahre es bitte auf.“, bat sie und fühlte sich plötzlich unglaublich erleichtert.
 

Erleuchtung im Angesicht der Sterne

Nadeshiko verließ die Fähre und sah an der Mauer hinauf, die sich vor ihr erstreckte. Dahinter konnte sie die Türme der Nordakademie ausmachen. Bei diesem beeindruckenden Anblick vergaß sie beinahe die schneidende Kälte, die hier trotz des Sommers herrschte. In der Duellakademie hatten Gerüchte die Runde gemacht, dass die Anwärter früher in der Kälte hatten ausharren müssen, bis sie in der Gletscherlandschaft vierzig Karten, also ein vollständiges Deck gefunden hätten, mit dem sie dann gegen die anderen Schüler hatten antreten müssen, um ihren Rang festzulegen … Ob diese Regeln auch für sie als offizielle Austauschschülerin gegolten hätten?

„Hallo. Bist du Nadeshiko Yosogawa?“, sprach sie auf einmal jemand an.

Er schlug seine Kapuze zurück, sodass sein Gesicht und damit seine smaragdgrünen Augen sowie sein petrolfarbenes Haar sehen konnte.

Als Schülerin jener Schule, die er durch Einsatz seines Lebens gerettet hatte, wusste die Obelisk natürlich sofort um wen es sich bei ihrem Gegenüber handelte: „Johan Andersen-sama! Es ist mir eine Ehre, Sie zu treffen. Ja, ja, ich bin Nadeshiko Yosogawa von der Duellakademie.“

Ihre Stimme überschlug sich vor Euphorie, was Johan zum Schmunzeln brachte: „Nicht so förmlich. Herzlich Willkommen auf der Nordakademie! Wir freuen uns, dass du bei uns bist.“

„Wir? Soll das bedeuten Sie … du studierst hier noch?“, gab Nadeshiko perplex zurück.

Nun lachte der Duellant schallend: „Ganz so schlecht waren meine Noten zum Glück nicht. Ich bin seit kurzem der Kanzler dieser Schule.“

Nadeshiko lief feuerrot an und stammelte eine zusammenhanglose Entschuldigung, die Johan mit einem Handwink abtat – dann wurde er plötzlich ganz ernst: „Du hast einen Grund, warum du hierher gekommen bist, nicht wahr? Ich fühle, dass dich etwas beschäftigt.“

In diesem Moment ahnte die Rothaarige noch nicht, wer Johan darauf aufmerksam gemacht hatte – ein kleines, katzenähnliches Wesen mit violetten Fell und leuchtend roten Augen war aufgeregt auf sie zugestürmt und hatte einige fiepende Laute von sich gegeben, die er zu deuten wusste. Und Seiketsu hatte ihm heimlich einen Brief geschickt.

„Ist mir das wirklich so deutlich anzusehen?“, entgegnete Nadeshiko etwas kleinlaut, „Ich … habe wohl eine Art Blockade. Es ist, als käme ich einfach nicht weiter … Ich habe zwar nur ein Duell verloren, wegen dem ich mich auch für diesen Wechsel entschieden habe, aber … manchmal sehe ich meine Karten an und weiß nicht, wofür ich mich eigentlich duelliere. Und jetzt … habe ich genau diese Karten bei meiner Tante an der Duellakademie zurückgelassen. Es ist nicht so, als wären mir diese Karten … egal, aber irgendwie … habe ich die Bindung zu ihnen verloren, falls es jemals eine wirklich Bindung zu uns gab. Verstehst du das, Johan-san?“

Erneut war nur für Johan das Fiepen des Monsters zu hören, dem er unauffällig zunickte. Sein treuer Freund könnte recht behalten … Nadeshiko könnte eben jeder Duellant sein, den er schon so lange suchte.

„Ich möchte dir gern etwas zeigen, Nadeshiko. Folge mir bitte.“, wies er sie an und wandte sich einem Pfad zu, der durch die Eismassen führte.

Obwohl sie sich wunderte, dass sie sich von der Akademie entfernten, tat Nadeshiko wie geheißen und bat ihn gleich noch, sie als »Shiko« anzusprechen. Johan führte sie in eine Höhle, deren Wände komplett vereist waren – es sah aus, als wäre sie verspiegelt. Durch ein Loch in der Decke fiel ein einzelner Lichtstrahl hinein und brach sich an den kantigen Oberflächen in allen sieben Farben des Regenbogens. Genau in der Mitte stand ein von Eis überzogener Stalagmit, dessen Spitze abgebrochen zu sein schien … und darauf lag ein Kästchen aus Holz, in dessen Deckel ein Symbol geritzt war. In der Mitte hatte es einen vierzackigen Stern, der von zwei gezackten Ringen eingerahmt wurde. Verwirrt schaute Nadeshiko wieder zu Johan.

„Leg´ deine Hand auf den Deckel.“, wies er sie an.

Erneut folgte sie seiner Aufforderung – aus irgendeinem unerfindlichen Grund vertraute sie ihm ohne Zögern. Kaum berührten ihre Finger das Holz, begann das Symbol in einem gleißenden Licht zu leuchten und es erschien eine Vielzahl geisterhafter Wesen im Kreis um sie herum. Jeder von ihnen trug eine Art Rüstung, manche von ihnen waren halb Tier und sogar ein Drache war unter ihnen. Ein besonders neugieriger Fratz, der von einem großen Krug begleitet wurde, hüpfte auf ihre Schulter. Da trat Johan an ihre Seite, auf dessen Arm Nadeshiko nun seinen kleinen Begleiter erblickte.

„Was ist gerade passiert?“, fragte sie und blinzelte ein paar Mal schnell hintereinander, „In der Duellakademie konnte ich nie irgendwelche Duellgeister sehen.“

»Rubinkarfunkel« kuschelte sich noch etwas enger an Johan, während er erwiderte: „Manche Menschen haben diese Fähigkeit von Geburt an – andere erhalten sie, wenn sie eine starke Veränderung durchmachen … Diese Karten heißen Sternzeichen-Kundler. Sie repräsentieren Gestirne, Sternbilder und Galaxien. Ich habe sie aus der ganzen Welt zusammengetragen und auf jemanden gewartet, dem ich sie anvertrauen kann … Endlich habe ich diese Person gefunden.“

Das nedliche Kerlchen machte einen Luftsprung und die Geister verschwanden. Daraufhin öffnete Nadeshiko das Kästchen und nahm das darin verwahrte Deck heraus. Ihre Fingerspitzen pulsierten von der Berührung.

Als die Rothaarige seine Karte entdeckt hatte, lächelte sie ihn an und meinte: „Dein Name lautet also Siat … Freut mich, dich und deine Freunde kennenzulernen.“

„Und damit du dein neues Deck richtig kennenlernst, Shiko, fordere ich dich für morgen zu einem Duell heraus.“, erklärte Johan zwinkernd, „Darauf solltest du dich also vorbereiten. Aber in der Akademie – hier wird es auf Dauer zu kalt.“

Beinahe hätte sie die Karten vor Schreck fallengelassen – ihr neues Deck? Ja, Johan hatte gesagt, er hätte denjenigen gefunden, dem er sie anvertrauen könnte … Sie war den »Sternzeichen-Kundlern« gerade erst begegnet, sogar wortwörtlich, und dennoch fühlte sich sie ihnen schon weit verbundener, als den »Magiern des Schwarzen Zirkels« während all der Zeit. Allein die Tatsache, dass Nadeshiko nicht fror, obwohl beide von Eis umgeben waren, zeigte, von welcher Stärke ihre Verbindung schon jetzt zeugte.

In der Akademie angelangt, brachte Johann erst einmal ihr Gepäck auf das ihr zugewiesene Zimmer im Schülertrakt. Anders als in der Duellakademie gab es keine direkten Unterschiede zwischen den Schülern – früher einmal hatte auch hier ein Ranking-System geherrscht, welches Johann allerdings mit dem Erklimmen von Platz eins, dem sogenannten Sitz des Zaren, direkt abgeschafft hatte. Von da an wurden alle Studenten gleich behandelt – statt ihnen ihre Fehler vorzuhalten, konnte die schlechteren unter ihnen zusätzliche Nachhilfekurse belegen, um sich zu verbessern. Anschließend zeigte er Nadeshiko, gehüllt in einen wärmen Mantel, den Rest des Schulgeländes, welches zum Schutz durch einen hölzernen Wall eingezäunt war. Zum Abschluss seiner Führung brachte der Blauhaarige sie in die Bibliothek – dort gab es allerdings nicht nur Bücher, sondern vor allem Karten. Mit großen, staunenden Augen sah sich Nadeshiko um. Meterlange Vitrinen, Regale voller gefüllter Ordner, überall wurden Karten aufbewahrt.

„Dieser Ort ist das Herzstück unserer Akademie.“, berichtete Johann stolz, „Ich weiß nicht, ob du die Geschichte kennst, dass die Studenten früher vierzig Karten in der Wildnis sammeln mussten – jedenfalls das ist das Ergebnis daraus. Jeder Duellant, der Karten fand, die er nicht für sein Deck benötigte, wurden hier gesammelt. Manchmal gab es auch Kartenspender von außerhalb. Jedenfalls dürfen alle unsere Schüler sich während ihrer Zeit bis zu maximal vierzig Karten aussuchen, um ihre Decks umzubauen, je nach Wertigkeit der Karte von eins bis fünf. Wenn du nach etwas bestimmten, wie Kartenname oder -text suchst, kannst du gern den Computer benutzen. Dort findest du alle Informationen angefangen bei der entsprechenden Wertigkeit, über verfügbare Anzahl bis hin zum Standort. Hast du noch irgendwelche Fragen?“

So völlig sprachlos war es schwer ihm darauf eine Antwort zu geben: „Ich … also … Das ist alles so unglaublich! Und es ist wirklich in Ordnung, wenn ich hier auch Karten nehme? Ich meine … du hast mir schon die Sternzeichen-Kundler übergeben und nun das hier … Ist das nicht zu viel? Vor allem da ich eigentlich zur Duellakademie gehöre.“

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte lächelnd: „Jetzt bist du hier. Die Sternzeichen-Kundler haben dich erwählt – ich habe dich ihnen nur vorgestellt, es hätte genauso gut nicht funktionieren können. Außerdem mögen diese Karten zwar besonders sein, doch noch ist es kein vollständiges Deck; das wäre auch viel zu einfach – du selbst musst nun beweisen, dass du ihre Stärke durch die Kombination mit anderen Karten hervorbringen kannst. Glaube an dich, Shiko, und vertraue deinem Deck!“

Tränen sammelten sich in ihren Augenrändern. Bevor sie sich zügeln konnte, hatte sie sich bereits in Johan´s Arme geworfen. Er streichelte sanft über ihr Haar und redete ihr gut zu. Darum war sie zuletzt gegen Ryuohtah angetreten … genau deshalb war sie an die Nordakademie gekommen – weil sie sich beweisen wollte, dass sie ein Deck eigens zusammenstellen konnte! Man könnte sich fragen, warum Nadeshiko dies nicht bereits zuvor getan hatte … einfach ihre Hexer auf die Seite geschoben und sich neue Karten besorgt hatte – weil sie kein Thema gefunden hatte, das wirklich ihr entsprach. Ryuohtah hatte seine »Sechs Samurai«, er selbst war ein großer Verehrer dieser Kultur … Seiketsu besaß ein LICHT-Deck, das genauso hell strahlte, wie sie.

Dankbar löste sich Nadeshiko wieder von Johan und sagte: „Hoffentlich ist dein Deck bereit für eine Herausforderung!“

Sie grinsten einander an, dann zog der Kanzler sich zurück und überließ sie ihrer eingehenen Recherche. Grundlegend war Nadeshiko an ein Deck mit exakt vierzig Karten gewöhnt – zwar durften Duellanten auch bis zu sechzig Karten benutzen, doch bestand dabei die Gefahr, sich zu sehr zu verzetteln. Die Sternzeichen-Kundler setzten sich aus mehreren Effekt-Monstern sowie Xyz-Monstern zusammen – hinzukamen Zauber- und Fallenkarten. Also gerade einmal knapp ein halbes Deck, genug Spielraum um dem ganzen eine persönliche Note zu verleihen. Wenn sie sich die Effekte der Monster so ansah, fielen zwei Richtungen sofort ins Auge – zum einen waren sie darauf ausgelegt, mehrere Beschwörungen in einem Zug durchzuführen und zum anderen konnten sie dahingehend die Anzahl ihrer Sterne im Sinne der Xyz-Beschwörung ändern. Ganz anders, als die »Magier des Schwarzen Zirkels«, die eher auf Tricks und Einzelstärke setzten. Von Ryuohtah hatte sie vor allem im letzten Duell gelernt, wie wichtig Angriffskonter waren – da ähnelten ihre neuen Karten seinen »Samurai«, sie brauchten einander und mussten beschützt und wenn nötig zurückgeholt werden können. So arbeitete Nadeshiko sich Stück für Stück durch die Datenbank, bis sie tatsächlich vierzig Karten im Hauptdeck und fünfzehn Karten im Nebendeck, das dazu diente sich auf bestimmte Gegner besser einzustellen beziehungsweise vor Beginn eines Duells noch Karten austauschen zu können, zusammen hatte.
 

Am nächsten Tag pünktlich zur Mittagszeit trafen sich Johan und Nadeshiko auf dem großen Platz zwischen den zahlreichen Unterkünften. Die anderen Schüler hatten sich als Zuschauermenge versammelt. Seitdem er der neue Kanzler der Schule war, trat er zum ersten Mal in einem Duell an und sie brannten darauf sein Deck in Aktion zu sehen.

„Es ist Zeit für ein Duell!“, riefen Johan und Nadeshiko synchron.

Sie zogen ihre Starthand und ganz der Gastgeber überließ er ihr den ersten Zug. Zunächst beschwor sie »Sternzeichen-Kundler Leonis«, der jedoch nicht lange auf dem Feld blieb – seine besondere Fähigkeit ermöglichte ihr eine weitere Normalbeschwörung und daher opferte sie ihn, um »Sternzeichen-Kundler Jungfrau« mit zweitausenddreihundert Angriffspunkten zu rufen. Dazu legte sie eine verdeckte Karte – manche Dingen schienen sich nie zu ändern. Johan übernahm und spielte zunächst die Feldzauberkarte »Antike Stadt – Regenbogenruine«. Als nächstes rief er sein Monster »Kristallungeheuer Topastiger«, den er zusätzlich mit »Kristallfreisetzung« ausstattete, was ihm weitere achthundert Angriffspunkte bescherte. Damit hatte er bereits genug Power, um Nadeshiko´s Monster zu vernichten, doch er bekam durch seine eigene besondere Fähigkeit nochmal vierhundert weitere Angriffspunkte und griff daraufhin an.

„Da du einen Sternzeichen-Kundler angreifst, aktiviere ich meine verdeckte Fallenkarte … Sternzeichenmeteor! Zwar rettet das meine Jungfrau in diesem Zug nicht, doch dein Topastiger kehrt nach dem Angriff ins Deck zurück!“, griff die Rothaarige ein, die trotz dessen fünfhundert Schadenspunkte kassierte.

Ihr Widerstand imponierte Johan und er verabschiedete sich von seinem Freund, allerdings konnte er durch die Zerstörung von »Kristallfreisetzung« noch »Kristallungeheuer Kobaltadler« in seine Zauber- und Fallenkartenzone legen. Zudem spielte er eine weitere Karte verdeckt. Nachdem Nadeshiko »Sternzeichen-Kundler Rasalhague« auf das Feld geholt hatte, opferte sie ihn gleich wieder, um »Leonis« vom Friedhof zurückholen zu können.

„Und weil Sterne nie allein sind, darf Sternzeichen-Kundler Kaus ihm Gesellschaft leisten. Zudem steigerte sein Effekt Leonis´ Stufe um eins. Da ich nun zwei Monster der Stufe vier besitze, kann ich das Überlagerungsnetzwerk bauen … und rufe als Xyz-Beschwörung Sternzeichen-Kundler Praesepe! Doch das war noch nicht alles – wenn ich Xyz-Material abhänge, erhält Praesepe eintausend Angriffspunkte gutgeschrieben.“, erklärte sie, wobei ihre eine deutliche Euphorie anzumerken war.

Doch all der Punkte zum Trotz senkte Johan mit »Regenbogenpfad« auf null.

„Zudem bekomme ich eine ganz besondere Karte auf die Hand – nämlich meinen allmächtigen Regenbogendrachen!“, meinte er Blauhaarige grinsend.

Daher spielte seine Gegenüber eine Karte verdeckt, ehe sie ihren Zug beendete. Johan spielte in diesem Zug rein auf Verteidigung – »Kristallungeheuer Smaragdschildkröte« mit zweitausend Verteidigungspunkten, »Kristallungeheuer Kobaltadler« kam durch die Wirkung von »Kristallverheißung« zurück auf das Feld, anschließend legte er ebenfalls noch eine Karte verdeckt ab. Auch Nadeshiko verstärkte ihre Seite mit zwei Monster – zum einen kehrte mit »Ruf der Gejagten« »Sternzeichen-Kundler Jungfrau« zurück und als Normalbeschwörung schloss sich ihnen »Sternzeichen-Kundler Pollux« an, der zum Sternbild Pisces gehörte. Dem Feld fügte die Rothaarige fügte wieder eine verdeckte Karte hinzu und griff mit ihrem zurückgeholten Monster seine grüne Schildkröte an, die natürlich als Rohjuwel verblieb. Diese Situation nutzte der junge Kanzler jedoch für die Aktivierung von »Kristallkonklave«, die ihm »Kristallungeheuer Bernsteinmammut« im Verteidigungsmodus bescherte. Allerdings verwandelte »Praesepe« ihn genauso in seine Ursprungsform, wie es zuvor mit dem Smaragd geschehen war.

Johan klatschte einmal in die Hände und sagte anerkennend: „Du schlägst dich sehr gut, Shiko. Aber ich glaube, wir sollten noch ein wenig Fahrt aufnehmen …“

Er zog seine Karte und lachend aktivierte Nadeshiko ihre verdeckte Karte: „Ich habe drei LICHT-Monster auf dem Feld und Solarstrahl brutzelt dir für jedes von ihnen dreihundert Punkte weg.“

Damit lag sie um vierhundert Punkte in Führung – ein Zug, den sie einmal bei Seiketsu gesehen hatte. Doch nun war Johan wieder am Zug. Durch »Kristallverbindung« holte er sich ein bestimmtes »Kristallungeheuer« aus dem Deck auf die Hand und anschließend beschwor er es sogleich. »Saphirpegasus« – dessen Effekt ließ einen weiteren Edelstein in Johan´s Zauber- und Fallenkartenzone sprießen. Dort blieb er jedoch nicht lange; »Rubinkarfunkel« und die anderen Edelsteine kehrten aufgrund seiner besonderen Fähigkeit zurück auf das Feld. So aufgestellt spielte Johan zwei weitere Karten – eine verdeckt und mit »M-Kraft« verlieh er »Bernsteinmammut« fünfhundert Punkte extra, die ihn stark genug machten Nadeshiko´s »Jungfrau« einen weiteren Besuch auf dem Friedhof zu verschaffen, zumindest eigentlich …

„Nicht so hastig! Ich hänge Xyz-Material von Praesepe ab, sodass ihre Stärke auf dreitausenddreihundert steigt! Himmlischer Flügelschlag!“, setzte sie seinem Angriff entgegen.

Zwar hatte Johan etwas Schaden einstecken müssen, doch »Saphirpegasus« spießte »Pollux« mit seinem blau schimmernden Horn auf. Abschließend legte er zwei verdeckte Karten. Die Karte, die Nadeshiko nun zog, brachte sie ins Grübeln. Jene Karte, die sie durch »Dimensionskapsel« aus dem Spiel nehmen würde, würde sie in zwei Zügen auf die Hand erhalten. Welches wäre wohl die richtige Strategie? Johan hatte bereits fünf von sieben »Kristallungeheuern«, um den »Regenbogendrachen« zu rufen, den er sogar schon im Blatt hatte … In ihrem gesamten Deck gab es nur ein einziges Monster, das diesem legendären Wesen auch nur ansatzweise etwas entgegen setzen konnte … Tief in ihrem Innern spürte sie, in welche Karte sie ihr Vertrauen legen musste … Nachdem sie das erledigt hatte, wollte sie Johan´s Feld etwas leer räumen – »Jungfrau« verlagerte »Saphirpegasus«, wobei der Schaden leider durch die Zauberkarte »Kristallblitz« zunichte gemacht wurde. Auch »Praesepe´s« Angriff auf »Rubinkarfunkel« verlief nicht wirklich wie geplant … Durch »E-Kraft« holte der Blauhaarige »Kristallungeheuer Bernsteinmammut« zurück auf das Feld, woraufhin sich die Attacke auf ihn richtete und mit »Bernsteinkristallkreis« wurde er stärker, als Nadeshiko´s »Sternzeichen-Kundler«, zudem kassierte sie eintausendsechshundert Schadenspunkte.

„Tut mir echt leid für die grobe Behandlung meines Mammuts.“, entschuldigte sich Johan spielerisch, „Aber damit du nicht vergisst, dass das hier ein Duell ist, rufe ich Kristallungeheuer Amethystkatze! Los, komm´ raus und greif´ Shiko direkt an – das kann sie nämlich mit der Hälfte ihrer Angriffspunkte!“

So langsam sah es wirklich nicht gerade rosig aus – es fehlte nur noch ein einziges »Kristallungeheuer« und das nur Dank ihrer Fallenkarte zu Beginn des Duells, aber nichtsdestotrotz würde der »Regenbogendrache« sicher nicht mehr sehr lange auf sich warten lassen … Nadeshiko lief die Zeit davon. Da kam eine weitere Fallenkarte zum Verdecktsetzen gerade recht. Des weiteren leistete »Smaragdschildkröte« ihren Freunden in der Zauber- und Fallenkartenzone Gesellschaft.

Doch als Johan »Kristallleuchtfeuer« aktivierte, wurden ihre Befürchtungen sogar noch schneller wahr, denn er sprach: „Hast du ihn vermisst? Hier kommt Kristallungeheuer Topastiger! Nun da ich alle sieben Kristallungeheuer auf meinem Feld oder Friedhof versammelt habe … rufe ich meinen legendären Regenbogendrachen!“

Da erschien er! Das mächtigste Monster des ganzen »Kristallungeheuer«-Decks! Ein Wesen, das Maximilian Pegasus einst explizit für Johan Andersen erschaffen hatte …

„Ich hätte nie gedacht, dieses Monster jemals zu Gesicht zu bekommen! Jeder Schüler der Duellakademie kennt die Geschichte, wie du mit seiner Hilfe unsere Schule gerettet hast!“, schwärmte die Rothaarige begeistert.

Da gab Johan zurück: „Ob er dir auch noch gefällt, wenn er dich geschlagen hat? Ich opfere meine Kristallungeheuer und zeige dir seine wahre Macht – für jedes einzelne erhält er zusätzliche eintausend Angriffspunkte! Zeig´s ihr, siebenfarbige Regenbogen-Lichtbrechung!“

„Verzeih´ mir, Johan-san, ich muss deinen Drachen leider an die Leine legen!“, funkte ihm Nadeshiko dazwischen und deckte ihre Karte auf, „Kunai mit Kette, versetz´ ihn in den Verteidigungsmodus!“

Damit hatte sie sich gerade so gerettet, woraufhin Johan applaudierte: „Unglaublich! Na schön, Shiko, gib´ alles bei deinem letzten Zug.“

Genau so war es … ein weiteres Mal würde sie den »Regenbogendrachen« sicherlich nicht abwehren können. Es lief tatsächlich alles auf dieses eine bestimmte Monster hinaus … Sie musste jetzt nur noch die richtige Karte ziehen! Stumm schickte sie eine Bitte an ihren Duellgeist, der möge sie leiten … Und tatsächlich war das Herz der Karten ihr hold!

„Da es jetzt zwei Züge her ist, dass ich Dimensionskapsel aktiviert habe, erhalte ich meine gewählte Karte auf die Hand. Aber alles der Reihe nach – zunächst opfere ich meine Jungfrau, um Sternzeichen-Kundler Alresha auf das Feld zu bekommen. Und da das eine Normalbeschwörung war, erlaubt er mir einen seiner Freunde als Spezialbeschwörung zu rufen.“, berichtete Nadeshiko aufgeregt und sah lächelnd die Karte in ihrer Hand an, „Weißt du, was die Ironie an diesem Deck ist, Johan-san? Das anscheinend schwächste Monster ist der größte Trumpf! Daher beschwöre ich Sternzeichen-Kundler Siat! Durch seine besondere Fähigkeit kann sich mein kleiner Wasserträger auf die Stufe jedes anderen Sternzeichen-Kundlers auf meiner Seite des Spielfeldes steigern … und ich wähle natürlich Stufe sechs von Alrescha. Nun baue ich das Überlagerungsnetzwerk … und rufe als Xyz-Beschwörung Sternzeichen-Kundler Ptolemy M7!“

Der stellare Drache breitete seine Schwingen aus und konnte es größentechnisch absolut mit seinem Gegner aufnehmen – punktetechnisch sah es allerdings anders aus, wie Johan ebenfalls feststellte: „Nicht schlecht, doch seine zweitausendsiebenhundert Punkte können es nicht mit meinem Regenbogendrachen aufnehmen.“

Nadeshiko lachte auf: „Ach, Johan-san, ich dachte, gerade du würdest diese Karten kennen – ich hänge ein Xyz-Material von meinem Drachen ab, was es mir gestattet, ein Monster vom Spielfeld oder Friedhof zurück auf die Hand seines Besitzers zu schicken – los, Regenbogendrache, kehre zu deinem Herrn zurück! Und da dein Feld nun leer ist, ahnst du es sicher … mein Drache hat noch seinen Angriff übrig … Galaxie-Gebrüll!“

Zweitausendsiebenhundert Lebenspunkte minus zweitausendsiebenhundert Angriffspunkte ergab ein gewonnenes Duell!

Stolz auf sich und vor allem ihre Karten eilte Nadeshiko zu Johan, um ihm die Hand zu reichen: „Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll! Es ist seltsam, Johan-san … zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, als wäre das wirklich … mein Deck. Ich meine, ich war mit meinem alten Deck gut – ich bin schließlich eine Obelisk blue und habe nur gegen Ohtah verloren –, aber jetzt …“

Er ließ sich von ihr aufhelfen, während er bestätigte: „Das ist keineswegs seltsam. Ich habe mein Deck bei einem großen Turnier von Maximillion Pegasus gewonnen … Er sagte damals, sie hätten mich als ihren Meister gewählt. Wie du war ich mit meinem alten Deck erfolgreich und habe die Karten darin respektiert … aber mit meinen Kristallungeheuern ist es etwas anderes – sie sind meine besten Freunde, meine Familie. Und genauso ist es von an mit deinen Sternzeichen-Kundlern – dieses Deck gehört zu deiner Seele. Ich bin unheimlich stolz, in welch kurzer Zeit du die Stärke dieser Karten erkannt hast – wie du Siat und M7 eingesetzt hast, war einfach nur beeindruckend. Du hast es wirklich geschafft!“

Verlegene Röte legte sich auf ihre Wangen.

„Allerdings würde mir schon etwas einfallen, was du tun könntest, um dich zu bedanken …“, bemerkte er, woraufhin die Rothaarige aufhorchte, „Indem du nach deiner Rückkehr zur Duellakademie nochmal gegen Ryuohtah und seine Sechs Samurai antrittst.“

So wie sie seine Art bislang kennengelernt hatte, überraschte sie dieser Vorschlag eigentlich gar nicht … Was würde Ryuohtah wohl davon halten, dass sie ein vollkommen neues Deck hatte? Er hatte ihre Beweggründe nicht verstanden … der Streit saß ihr noch in den Knochen. Allerdings konnte sie zuvor das kommende halbe Jahr nutzen, um ihr Deck noch besser zu meistern und weiter von Johan zu lernen …
 

Eine neue Macht ...

Nadeshiko fühlte sich wohl – der Unterricht bereitete ihr große Freude und sie konnte sich endlich von ganzem Herzen duellieren. Mit diesem Deck herrschten in ihr keinerlei Bedenken mehr, was andere über die Art und Weise denken könnte, wie sie ihre Karten einsetzte. Eben jene innere Freiheit, welche sie sich von Anfang an gewünscht hatte … Apropos natürlich waren ihre Eltern nur mäßig begeistert gewesen, von dem Wechsel ihrer Tochter zu erfahren – Seiketsu hatte es eigentlich unter den Tisch fallen lassen wollen, doch Klerus hatte als Kanzler darauf bestanden, da Nadeshiko nach japanischem Gesetz noch nicht volljährig war. Nichtsdestotrotz hatten Togo und Kai es dann doch hingenommen – schließlich war ein wenig Auslandserfahrung nun auch nicht das schlechteste und möglicherweise könnte Nadeshiko so später noch expansible Kontakte knüpfen, jedenfalls in der Vorstellung ihres Vaters.

In ihrem aktuellen Duell hatte Nadeshiko ein bisschen mit der Schwäche ihrer stärkeren Monster zu kämpfen – ihre Verteidigungspunkte waren zumeist eher bescheiden, doch genau diese Punkte waren dank der Fallenkarte ihres Gegner derzeit ihre Angriffsstärke. Schon bevor die Rothaarige allerdings ihre nächste Karte zog, wusste sie bereits, wer sie unterstützen kam – ihr süßer »Sternzeichen-Kundler Siat«, der sonst zwar nur einhundert Angriffspunkte vorweisen konnte, nun jedoch immerhin eintausendsechshundert. Genug um die Lebenspunkte ihres Gegenüber auf null zu bringen.

„Los, Siat, Flutwelle des Wasserträgers!“, rief Nadeshiko und sah zu, wie der Schwall aus dem kleinen Wasserkrug herausschoss.

Nur dass es sich diesmal hierbei nicht um eine holografische Darstellung handelte … Ihr Gegner stand nass bis auf die Knochen vor ihr, mindestens ebenso perplex wie Nadeshiko. Sie starrte abwechselnd von ihm, zu »Siat« und ihrer DuelDisk.

„Geh´ dich sofort umziehen! Am besten nimmst du vorher noch ein heiße Dusche.“, zerriss eine ihnen vertraute Stimme die Anspannung in der Luft – Johan.

Der Schüler tat, wie ihm aufgetragen worden war. Dennoch warf er einen letzten entgeisterten Blick zu Nadeshiko, die in die Knie war, was gleichzeitig »Siat´s« Ebenbild auflöste. Der Blauhaarige eilte zu ihr, stützte sie.

„Was … was ist da gerade passiert? Siat hat … Was hat er da gemacht? Wie?“, murmelte sie vollkommen geschockt vor sich hin.

Johan legte die Hand an ihr Kinn und zwang sie ihn anzusehen, ehe er entgegnete: „Das war … kein Hologramm. Verstehst du das, Shiko?“

Sie schüttelte vehement den Kopf. In diesem Zustand hatte es keinen Sinn hier mit ihr weiterzureden. Er half ihr hoch und führte sie in sein Büro, wo er erst einmal einen Tee für sie beide aufsetzte. Währenddessen ließ der Schock bei Nadeshiko etwas nach und ihr Kopf begann das Erlebnis zu verarbeiten.

„Was meinst du damit, dass es kein Hologramm war?“, wollte sie wissen, als er die dampfende Tasse vor ihr abgestellt hatte.

Ein Seufzen entwich seiner Kehle, ehe Johan antwortete: „Genau das, was ich gesagt habe – gut, hör´ mir zu … Es gibt Duellanten, die ihre Karten … lebendig werden lassen können. So dass sie … nun ja, echten Schaden verursachen. Mein Freund Jaden zum Beispiel ist einer von ihnen, der König der Spiele Yugi Muto wie man so hört … und ich. Diese Fähigkeit habe ich erhalten, als ich meinen Regenbogendrachen zum ersten Mal gerufen habe.“

„Wenn … wenn es nicht zufällig Siat gewesen wäre … selbst Kaus mit seinem Pfeil oder Leonis mit seinem Schwert wäre schon eine Katastrophe gewesen … Wenn es Ptolemy gewesen wäre …“, überlegte sie laut und vergrub das Gesicht in ihren Händen.

Mitfühlend berührte er ihr Haupt und entgegnete: „Es tut mir unglaublich leid, Shiko, ich … ich hätte dich vorwarnen sollen. Die Duellgeister zu sehen, ist die erste Stufe … das Rufen ist sozusagen die Weiterentwicklung davon. Aber man kann diese Macht kontrollieren, hörst du? Ich habe geschafft und dir wird es ebenso gelingen! Ich bin für dich da.“

Sie sah ihn wieder an. Es war unglaublich, wie sehr Johan an sie glaubte! Niemals hegte er ihr gegenüber Zweifel … In seinen Augen schien sie alles schaffen zu können. In den Wochen, die sie hier verbracht hatte, war er ihr ein wahrer Freund geworden.

„Danke … Ich bin froh, dich zu haben … Johan.“, meinte sie mit einem leichten Lächeln.

Lange genug hatte er sich in Japan aufgehalten, um zu verstehen, was es bedeutete, dass sie ihn rein mit seinem Vornamen ansprach – und er empfand mindestens genauso. Ihre Freundschaft zueinander war ihm sehr wichtig geworden. Und dieses Gefühl war es, welches es Nadeshiko tatsächlich mit einiger Übung gelingen ließ, ihre neu entdeckte Macht zu kontrollieren – wenn sie auch nur die beiden Gallionsfiguren ihres Decks, »Sternzeichen-Kundler Siat« und »Sternzeichen-Kundler Ptomely M7« richtig beschworen konnte.
 

Das entscheidende Duell – Sternzeichen-Kundler gegen Sechs Samurai

Der vertraute Anblick der Akademieinsel verstärkte die Sehnsucht in Nadeshiko. Sie hatte die Duellakademie vermisst … Seiketsu und natürlich Ryuohtah. Dabei war das halbe Jahr auf der Nordakademie regelrecht an ihr vorbei gerast. Johan legte ihr aufmunternd eine Hand auf die Schulter. Seine Gegenwart beruhigte sie ungemein. Am Pier angelangt, hielt Johan ihr dieselbe Hand hin, um ihr von Bord zu helfen. Dankbar lächelte die Rothaarige ihn an. Auf dem Kai wurden sie bereits von Seiketsu und Klerus erwartet. Freudig eilte Nadeshiko zu ihnen und ihre Tante umarmte sie.

„Willkommen zurück, Shiko!“, sagte Seiketsu glücklich, „Danke, Andersen-san, dass Sie sich um sie gekümmert haben.“

Der Blauhaarige winkte ab und schüttelte Klerus die Hand – die beiden Kanzler trafen sich zum ersten Mal persönlich. Plaudernd machte sich die Gruppe auf den Weg zur Duellakademie, wo in der großen Halle ein wichtiges Duell auf sie wartete …

Vor dem Saal blieb Seiketsu stehen und meinte: „Ich habe dein Deck wie gewünscht verwahrt … aber ich glaube nicht, dass du damit antreten willst, nicht wahr?“

„Diese Karten werden für immer ein Teil meines Lebens sein … doch du hast recht, Sei-obasan – ich werde Ohtah mit meinem neuen Deck herausfordern.“, bestätigte sie.

Die Vize-Kanzlerin nickte. Gemeinsam mit dem Schulleiter ging sie voraus, um die Kontrahenten anzukündigen.

Nadeshiko wandte sich an Johan: „Noch ein letzter Rat?“

„Lass´ dich nicht von deinen Gefühlen überwältigen, Shiko. Konzentrier´ dich auf deine Karten, lass´ dein Deck sprechen, dann wird alles gut werden.“, erklärte er ungewohnt ernst, da sprang »Rubinkarfunkel« auf ihren Arm, „Siehst du, Rubin und die anderen drücken dir ebenfalls die Daumen!“

Gerührt erwiderte Nadeshiko: „Danke, Johan. Ich weiß nicht, ob ich ohne dich den Mut dazu hätte, noch einmal gegen ihn anzutreten … Falls ich trotzdem verliere, müssen Sie mich halt doch wieder auf Ihrer Schule aufnehmen, Kanzler Andersen!“

Damit rannte sie los. Es war Zeit für ein Duell!

Obwohl der letzte Satz scherzhaft gemeint gewesen war, bedeutete er für Johan weit mehr, denn er flüsterte kaum hörbar: „Führ´ mich nicht in Versuchung, Ryuohtah den Sieg zu wünschen …“

Anschließend begab er sich selbst auf die Zuschauertribüne. Nadeshiko und Ryuohtah hatten bereits ihre DuelDisks aktiviert.

Doch der Braunhaarige hatte dennoch einen Kommentar abzugeben: „Warum machen wir das eigentlich, Shiko? Wieder vor aller Augen kämpfen – musst du wirklich beweisen, was du auf der Nordakademie gelernt hast? Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass man sich dort anders duelliert, als hier.“

„Und genau das werde ich dir beweisen! Mir hat jemand beigebracht, meinen Karten voll und ganz zu vertrauen … etwas, das ich früher nie wirklich konnte.“, entgegnete sie und zog, „Ich beschwöre Sternzeichen-Kundler Pollux! Ja, ich besitze neue Karten … ein Deck, das vollkommen mir selbst entspricht. Daher aktive ich Pollux´s Effekt, was es mir gestattet, eine weitere Normalbeschwörung durchzuführen – deshalb stelle ich nun auch noch Sternzeichen-Kundler Aldebaran vor. Als nächstes aktive ich die Zauberkarte Funkeln des Sternzeichen-Kundlers, was es mir erlaubt, meinen Stier um eine Stufe zu steigern. Jetzt baue ich das Überlagerungsnetzwerk und rufe als Xyz-Beschwörung … Sternzeichen-Kundler Omega! Zum Schluss setze ich noch eine Karte verdeckt und übergebe an dich.“

Es war Ryuohtah anzusehen, dass er absolut nicht mitkam – die Tatsache, dass sie sich von ihrem alten Deck getrennt hatte, haute ihn um. Vollkommen verdattert starrte er ihre Monster mit offenem Mund an. Klar hatte sie von dem Druck gesprochen, unter dem sie anscheinend litt, aber seine Karten deshalb auszutauschen …

Als das Publikum unruhig wurde, begriff der Obelisk, dass er längst am Zug war. Aus seinem Blatt spielte er »Die Sechs Samurai – Irou«. Zusätzlich legte er zwei Karten verdeckt. Nadeshiko rief »Sternzeichen-Kundler Sheratan« auf das Feld, wodurch sie »Acubens« auf die Hand nehmen konnte. Und nachdem sie ein Xyz-Material von »Omega« abgehängt hatte, griff dieser »Irou« an. Um seinen Angriff aufzuhalten, spielte Ryuohtah »Sakuretsu-Rüstung«.

Auf diese Taktik war die Rothaarige allerdings vorbereitet: „Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen – ich wusste, du würdest mir eine Falle stellen. Doch wenn ich Omega´s Spezialeffekt aktiviert habe, schützt ihn das vor sämtlichen Zauber- und Fallenkarten.“

„Dann darf eben meine zweite Falle in Aktion treten – Shien´s Komplott.“, gab er auf die Vernichtung seines Monsters zurück, „Da du einen Sechs Samurai zerstört hast, rufe ich stattdessen von meiner Hand Legendäre Sechs Samurai – Kageki und Geheime Sechs Samurai – Kizaru!“

Kaum merklich hob Nadeshiko eine Augenbraue und bemerkte spöttisch: „Wie es scheint, hast du ebenfalls wieder ein paar neue Karten.“

Ryuohtah schwieg und beschwor »Legendäre Sechs Samurai – Enishi«, der durch seinen Effekt fünfhundert zusätzliche Angriffspunkte erhielt.

„Da du wohl neuerdings auf Xyz-Beschwörungen stehst, nehme ich Kageki und Kizaru, um das Überlagerungsnetzwerk zu bauen … zeige dich, Schatten der Sechs Samurai – Shien!“, kommentierte er beinahe belanglos.

Seine Attacke auf »Omega« blockierte Nadeshiko jedoch – »Dimensionsgefängnis« entfernte sein Xyz-Monster aus dem Spiel. Dafür gelang es »Enishi« den Widder auf den Friedhof zu schicken. In der »Dimensionskapsel« versteckte die Rothaarige diesmal ein anderes Monster und rief ein weiteres verdeckt im Verteidigungsmodus, ehe »Omega« sind um den verbliebenen Samurai kümmerte. Da die »Sechs Samurai« ebenso aufeinander angewiesen waren wie die »Sternzeichen-Kundler«, beschwor Ryuohtah nun »Legendäre Sechs Samurai – Shinai« samt »Legendäre Sechs Samurai – Mizuho«, von denen er das Wasserattribut gleich wieder opferte, damit er eine Karte auf Nadeshiko´s Seite zerstören konnte … natürlich wählte er »Omega«. Das Feuer-Monster stürzte sich auf ihre letzte Verteidigung, doch durch seine hohen Verteidigungspunkte, musste der Braunhaarige vierhundert Schadenspunkte einstecken. Dafür setzte er eine Karte verdeckt. Nadeshiko begann ihren Zug damit, »Acubens« zu opfern, um einen neuen »Sternzeichen-Kundler« zu rufen. »Antarens« gestattete es ihr, einen seiner Kameraden vom Friedhof wieder auf ihre Hand zu holen – damit kehrte der Krieger des Zwillingssternbildes zurück. Nur entschied sie sich gegen einen Angriff – sein Deck beinhaltete eine Mengen Fallen, die ihren Monstern schadeten, gerade in einer solchen Situation. Damit war die Rothaarige allerdings auf einen Bluff hereingefallen, denn seine verdeckte ließ »Shinai« wiederauferstehen, wodurch Ryuohtah seinen vorherigen Zug wiederholen und die Schlange zerstören konnte. Anschließend verstärkte er seinen »Samurai« noch mit »Legendäres Ebenholzross« und griff Nadeshiko direkt an. Von diesem Schlag hart getroffen, schwankte die Obelisk etwas – doch nur so lange, bis sie durch »Dimensionskapsel« ein Monster bekam und »Hermestab« dank »Pollux´« Effekt gemeinsam mit ihm auf das Feld rief. Da sie nun zeitgleich wieder zwei Kreaturen der Stufe vier besaß, wurde es Zeit für die nächste Xyz-Beschwörung – »Praesepe« übernahm mit Freude die Aufgabe, Ryuohtah´s Lebenspunkte durch seine besondere Fähigkeit genauso zu stutzen. Zwar blieb »Mizuho« auf dem Feld, weil der Braunhaarige sein Reittier opferte, doch den Schaden musste er kassieren. Nach einer weiteren, verdeckten Karte auf ihrer Seite, übergab sie wieder an ihn. Zunächst entfernte Ryuohtah zwei seiner »Sechs Samurai« aus dem Spiel, um dafür »Enshi, Shien´s Kanzler« beschwören zu können, dessen Effekt »Praesepe« zu spüren bekam und auf dem Friedhof landete.

„Dieses Duell neigt sich Ende entgegen … Mizuho, greif´ Shiko direkt an!“, befahl er.

Doch Nadeshiko widersprach ihm: „Nicht so eilig – mit Ruf der Gejagten hole ich mir Antarens vom Friedhof zurück, um mich zu schützen!“

Da die Schlange erneut auf dem Feld erschienen war, wanderte wieder ein Monster zurück auf ihre Hand. Gleichzeitig galt der Angriff des Feuer-Monsters, als abgebrochen und weil »Antarens« weit mehr Angriffspunkte hatte, griff Ryuohtah sie natürlich nicht erneut an. Sie war im Übrigen auch stärker, als sein »Kanzler«, der daraufhin auf dem Friedhof landete. Wie so gern, setzte Nadeshiko eine verdeckte Karte und beendete ihren Zug.

„Hey, Shiko … dieses Duell verlangt uns echt alles ab, was?“, scherzte Ryuohtah, während er die nächste Karte zog, „Genau, was ich jetzt brauche – hier kommt Topf der Gier!“

Und der Obelisk aktivierte beide Zauberkarten, die er bekommen hatte; »Shien´s Schloss des Nebels«, welches sämtlichen »Sechs Samurai« fünfhundert weitere Angriffspunkte verlieh, samt einem neuen »Legendären Ebenholzross« für »Legendäre Sechs Samurai – Mizuho«. Da dies allerdings immer noch genügte, um ihre Schlange zu köpfen, übergab er – zumindest sollte er vor dem größten Schaden geschützt sein. Nadeshiko legte die Hand auf ihr Deck und atmete tief ein. Er hatte recht … das Duell zerrte an ihr, sie wollte nicht mehr gegen ihn kämpfen und gleichzeitig konnte sie weder aufgeben noch ihn gewinnen lassen. Sie musste es mit einem Sieg zu Ende bringen!

„Ich beschwöre Sternzeichen-Kundler Kaus und nutze seinen Spezialeffekt, um ihn auf Stufe sechs zu steigern.“, machte sie ihren Zug, „Jetzt kann ich das Überlagerungsnetzwerk bauen … und rufe als Xyz-Beschwörung mein mächtigstes Monster – komm´ raus, Sternzeichen-Kundler Ptolemy M7!“

Der mechanische Stellar-Drache gehorchte seiner Herrin. Ein Raunen ging durch die Zuschauermenge, seine Größe ließ Ryuohtah zusammenzucken … das bedeutete allerdings nicht, dass er aufgab. Natürlich wollte Nadeshiko »Mizuho« zurück auf seine Hand schicken, doch ihr Gegenüber hatte einen »Samurai« auf dem Friedhof, den er aus dem Spiel nehmen konnte, um einen seiner Kumpanen vor besonderen Monstereffekten beschützen konnte. Damit rettete Ryuohtah sich mit verbliebenen zweihundert Lebenspunkten und sein Monster, indem er erneut die Ausrüstungszauberkarte opferte, in den nächsten Zug. Genau wie Nadeshiko besaß er nur ein einziges Monster, das ihn noch retten konnte … und nur eine Karte in seinem Deck konnte dieses jetzt noch zurückbringen.

„Ich spiele Geheime Fähigkeiten der Sechs Samurai! Indem ich meinen Samurai opfere, darf ich ein verbanntes Monster zurückrufen.“, rief der Braunhaarige aus, „Schatten der Sechs Samurai – Shien, greif´ ihren Drachen an!“

Ein kaum merkliches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, ehe sie ihm entgegensetzte: „Unser erstes Duell hättest du durch deine letzte, verdeckte Karte gewinnen können … Ich dagegen aktiviere sie – hier kommt Erleuchten! Diese Fallenkarte annulliert nicht nur deine Attacke … sie schreibt M7 auch noch die Punkte bis zur EndPhase meines nächsten Zuges zu, mit denen du ihn angegriffen hast.“

Resigniert seufzte Ryuohtah: „Jetzt siehst du wenigstens endlich die großartige Duellantin in dir, die ich schon immer in dir gesehen habe.“

„Es wird Zeit … beenden wir dieses Duell.“, sprach Nadeshiko mit Tränen in den Augen, „Ptolemy M7, Galaxie-Gebrüll!“

Die Energie ihres Monsters riss Ryuohtah zu Boden, als seine Lebenspunkte auf null fielen. Die Menge brach in lauten Jubel aus – das hatte sie sich verdient. Er hätte keine seiner Karten in diesem Duell anders gespielt … Aber Nadeshiko´s Stil hatte er fast nicht mehr wieder erkannt – von der einen Tatsache abgesehen, dass sie das mächtigste Monster des Decks nie zu Beginn rufen würde, selbst wenn sie eine entsprechende Kombination spielen könnte. Es würde ihr niemals im Traum einfallen, das Deck ihres Gegners anzugreifen oder ihn an Spielzügen zu hindern … sie wollte sehen, was ihr Gegenüber drauf hatte. Während er diesen Gedanken nachhing, kam der Braunhaarige wieder auf die Füße und sah im letzten Moment noch, wie ihr roter Schopf im Gang nach draußen verschwand. Hastig beeilte Ryuohtah sich, ihr zu folgen – nicht auszudenken, wenn sie schon wieder Johan in die Arme laufen würde! Auf dem gepflasterten Weg vor dem Gebäude holte er sie ein und sein Eintreffen veranlasste Nadeshiko tatsächlich, stehen zu bleiben.

„Was ist auf der Nordakademie mit dir passiert?“, wollte er von ihr wissen.

Ohne ihn anzusehen, antwortete sie: „Ich bin gegangen, um meinen Weg als Duellant wiederzufinden … oder überhaupt erst zu finden … Ich hatte die Verbindung zu meinen Karten verloren. Nein, im Grunde konnte ich nie wirklich an meine Karten glauben. Es stimmt, ich habe das Dunkle Magier-Deck sehr lange Zeit benutzt … und es stecken eine Menge Erinnerungen in ihnen. Aber jetzt … Johan hat mich mit den Sternzeichen-Kundlern vereint und endlich kann ich meinem Deck vollkommen vertrauen.“

„Ja, ja, der ach so tolle Johan Andersen, der dich sogar zurückbegleitet hat …“, keifte Ryuohtah mit aufkeimender Wut, „Sag´ mir die Wahrheit, Shiko – liebst du ihn?“

Nun schwieg Nadeshiko länger, als wahrscheinlich notwendig gewesen wäre … denn diese Frage hatte sie sich selbst mehrfach gestellt … bis zuletzt.

Erst an die Duellakademie zurückzukehren, hatte ihr eine eindeutige Antwort darauf möglich gemacht: „Johan ist ein unglaublich warmherziger Mensch, der allen Lebewesen und Geistern mit dem größten Respekt begegnet. Ich bewundere ihn sehr … aber ich liebe ihn nicht wie … wie ich dich liebe.“

"Shiko ... heißt das, du ... du gibst uns noch eine Chance?", warf Ryuohtah perplex ein.

Zwar drehte sie sich nun zu ihm um, doch sie schaute weiterhin auf ihre Hände, als sie konterte: „Duellanten haben unterschiedliche Ansichten … Vielleicht hätte ich dir auf andere Weise von meinem Vorhaben erzählen sollen, aber ich wollte mich damit auch selbst prüfen. Ich habe auf der Nordakademie nicht nur mein wahres Deck gefunden … ich weiß jetzt, dass ich unsere Liebe nicht aufgeben will.“

„Ich habe mich am Hafen versteckt, als euer Schiff eingetroffen ist. Er hat deine Hand gehalten, um dir von Bord zu helfen und du … du hast ihn so angestrahlt. Die Zeit ohne dich war eine einzige Qual … Aber noch schlimmer war es, dich mit einem anderen zusammen glücklich zu sehen.“, gestand Ryuohtah leise.

Nadeshiko bestätigte mit einem sanften Lächeln: „Du hast mir auch sehr gefehlt …“

Diese Reaktion veranlasste Ryuohtah sich in Bewegung zu setzen, bis sie genau voreinander standen. Er legte die Hände an ihren Hals, um ihren Kopf zu halten und küsste sie. Endlich waren sie wieder vereint!
 

Abschiede

Allzu lange konnte ein Kanzler seine Schule nicht unbeaufsichtigt lassen – daher rückte nach dem Ende des Duells Johan´s Aufbruch sehr schnell nahe … Am Pier hatte sich Nadeshiko, Seiketsu, Klerus und auch Ryuohtah eingefunden, um ihn zu verabschieden. Es fiel Nadeshiko sichtlich schwer, ihn ziehen zu lassen. Selbst wenn ihr Herz bereits einem anderen gehörte, würde er dennoch für immer einen Platz darin haben.

Mit Tränen in den Augen sagte die Rothaarige: „Ich werde dich, Rubin und die anderen Kristallungeheuer unheimlich vermissen … Danke, Johan, tausend Dank für alles, was du für mich getan und mir beigebracht hast! Ich werde dir das nie, niemals vergessen.“

Trotz Ryuohtah´s leicht finsterem Blick nahm er sie fest in den Arm und antwortete: „Besuch´ uns irgendwann wieder, in Ordnung? Dann gibt es das Rückspiel. Und bis dahin vergiss´ nicht, warum dich diese Karten erwählt haben, Shiko – in dir strahlt ein Licht, das bis zu den Sternen reicht!“

Nun ließen sich die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie verdankte Johan so vieles! Bevor Nadeshiko es sich anders überlegen konnte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange, woraufhin er sacht errötete. Seiketsu legte dem Obelisken derweil beruhigend eine Hand auf die Schulter.

Lachend lösten sie sich schließlich voneinander, dann wandte dich Johan an Ryuohtah: „Wenn du sie wieder verletzt, werde ich das nächste Mal gegen dich antreten!“

Für einen Moment war er versucht, den Blauhaarigen sofort herauszufordern, doch er mahnte seine Eifersucht zur Ruhe – so schwer es ihm auch fiel, es zuzugeben … im Grunde genommen hatte er ja recht. Ryuohtah hatte für Nadeshiko kein Verständnis gehabt, sie nicht unterstützt und damit von sich gestoßen. Er hatte zwar ihren Karten Respekt gezollt … jenen Karten, die auch im Deck des Königs der Spiele existieren, jedoch nicht seiner Liebsten und das war wohl der schwerwiegendste Fehler, den er je begangen hatte.

„Keine Sorge, Andersen-san – ich weiß, wie glücklich ich mich schätzen darf.“, entgegnete der Braunhaarige, „Aber ich würde mich trotzdem gerne irgendwann mit dir duellieren.“

Noch ein letztes Zwinkern und Johan begab sich mit der quiekenden »Rubin« auf der Schulter an Bord. Auch »Siat« erschien und winkte ihnen nach, während Nadeshiko sich an Ryuohtah´s Brust lehnte. Allerdings sollte der Abschied von Johan nicht der letzte bleiben – schließlich befanden sich Nadeshiko und Ryuohtah in ihrem Abschlussjahr.
 

Nach dem Ende der letzten Prüfungen suchte die Obelisk war zur Unterkunft von Slifer Red gegangen – obwohl sie ihre Jacke trug, hatte sie diesen Ort nie besucht. Das gelbe, zweistöckige Gebäude mit dem roten Dach lag weiter von der Schule entfernt. Hätte Ryuohtah seine Karte aktiviert, wäre dies wahrscheinlich ihr Zuhause gewesen … so ganz stimmte das auch nicht – die gesamte Duellakademie war ihr Zuhause geworden. Sie griff nach ihrem Deck und lächelte »Siat« an. Wenn Nadeshiko jemand vorher gesagt hätte, wie sehr sie sich hier verändern würde, würde sie keinem geglaubt haben … Doch die Begegnungen und Kämpfe hatten ihre Spuren hinterlassen.

Johan´s Worte klangen in ihrem Kopf, die er nach ihrer Rückkehr zur Nordakademie an ihrem ersten Abend zu ihr gesagt hatte: „Du besitzt nun die Karten der Sternzeichen-Kundler … doch das ist bei weitem noch kein vollständiges Deck. Es liegt nun an dir, ob du es schaffst, ihr wahres Potential zu erwecken.“

Ihr wahres Potential … Bei den Monstern des »Dunklen Zirkels« war ihr das nicht gelungen … nicht wirklich. Das war einer der Gründe, warum die Rothaarige ihre Eltern gedrängt hatte, das Duellieren studieren zu dürfen. In wenigen Tagen bekam sie nun ihr Abschlusszeugnis und würde diese Insel verlassen … Doch würde sie niemals vergessen, welche Lektion sie hier gelernt hatte – wie wertvoll die Freiheit der eigenen Persönlichkeit war …

„Irgendwie wusste ich, dass ich dich hier finden würde.“, meinte ihre Tante und trat neben sie.

Während sie ihr Deck zurücksteckte, antwortete Nadeshiko: „Glaubst du, sie werden meine Sternzeichen-Kundler … und Ohtah akzeptieren?“

Ein kleiner Seufzer entwich Seiketsu´s Kehle: „Weißt du, ich bin unglaublich stolz drauf, wie sehr du dich weiterentwickelt hast. Du bist stark genug geworden, um hinter deinen Entscheidungen zu stehen.“

„Danke, Sei-obasan! Das Duellieren ist nun keine Bürde mehr für mich … ich kann einfach Spaß haben an dem Spiel, das ich liebe.“, erwiderte Nadeshiko glücklich, „Und ich weiß endlich, was ich mit meinem Leben anfangen will – als Johan mir erzählte, die Sternzeichen-Kundler wären auf der ganzen Welt verstreut gewesen, da habe ich mich gefragt, welche Karten wohl noch so versteckt gehalten werden … Wir werden beide für Industrial-Illusions arbeiten und in diesem Bereich forschen.“

Allerdings stand vorher noch eine kleine Reise auf dem Plan – Nadeshiko wollte mit eigenen Augen jene Orte sehen, an denen ihre »Sternzeichen-Kundler« geruht hatten. Diese Möglichkeit hatte ihnen ihr selbst ernannter Mentor geschaffen – mit einem guten Wort, das Johan für beide beim Schöpfer des Spiels höchstpersönlich eingelegt hatte, durften sie den Beginn ihrer Ausbildung etwas nach hinten verschieben.
 

Man besucht eine Schule, um zu lernen … Doch es bedeutet noch weit mehr – man geht Bindungen zu anderen Menschen ein, schafft neue Erinnerungen, geht neue Wege und wächst über sich selbst hinaus. Als Duellant ist man es seinen Karten schuldig, niemals aufzugeben. Für all jene, die diesen festen Glauben an das Herz der Karten haben, wird es stets unendlich viele Möglichkeiten geben!

In Herzensangelegenheiten sieht es ähnlich aus … Ohne gegenseitiges Vertrauen und den Glauben an die Beziehung hat die Liebe keine Chance zu überlegen … selbst bei denjenigen, die sich bereits durch verschiedenste Leben geliebt haben.
 

Das entscheidende Duell – Ohtah gegen Johan

Der vertraute Anblick der Akademieinsel verstärkte die Sehnsucht in Nadeshiko. Sie hatte die Duellakademie vermisst … Seiketsu und auf gewisse Weise sogar Ryuohtah. Dabei war das halbe Jahr auf der Nordakademie regelrecht an ihr vorbei gerast. Johan legte ihr aufmunternd eine Hand auf die Schulter. Seine Gegenwart beruhigte sie ungemein. Am Pier angelangt, hielt Johan ihr dieselbe Hand hin, um ihr von Bord zu helfen. Dankbar lächelte die Rothaarige ihn an. Auf dem Kai wurden sie bereits von Seiketsu und Klerus erwartet. Freudig eilte Nadeshiko zu ihnen und ihre Tante umarmte sie.

„Willkommen zurück, Shiko!“, sagte Seiketsu glücklich, „Danke, Andersen-san, dass Sie sich um sie gekümmert haben.“

Der Blauhaarige winkte ab und schüttelte Klerus die Hand – die beiden Kanzler trafen sich zum ersten Mal persönlich. Plaudernd machte sich die Gruppe auf den Weg zur Duellakademie, wo in der großen Halle ein wichtiges Duell auf sie wartete …

Vor dem Saal blieb Seiketsu stehen und meinte: „Ich habe dein Deck wie gewünscht verwahrt … aber ich glaube nicht, dass du damit antreten willst, nicht wahr?“

„Diese Karten werden auf gewisse Weise für immer ein Teil meines Lebens sein … doch du hast recht, Sei-obasan – ich werde Ohtah mit meinem neuen Deck herausfordern.“, bestätigte sie und wandte sich mit dem Deck an ihren Mentor, „Johan … nimm du diese Karten für die Bibliothek der Nordakademie. Sieh´ es als kleines Dankeschön für das unbezahlbare Geschenk, das du mir gemacht hast. Und vielleicht unterrichtest du ja mal einen Schüler, der dieser Bürde gerecht wird.“

Überrascht sah er sie an – natürlich kannte er jede einzelne dieser Karte von ihren Erzählungen – gleichzeitig verstand er ihre Entscheidung sehr gut und nickte zustimmend. Die Vize-Kanzlerin nickte ihrer Nicht ebenfalls zu, ehe sie gemeinsam mit dem Schulleiter voraus ging, um die Kontrahenten anzukündigen.

Lächelnd wollte Nadeshiko von Johan wissen: „Noch ein letzter Rat?“

„Lass´ dich nicht von deinen Gefühlen überwältigen. Konzentrier´ dich auf deine Karten, lass´ dein Deck sprechen, dann wird alles gut werden.“, erklärte er ungewohnt ernst, da sprang »Rubinkarfunkel« auf ihren Arm, „Siehst du, Rubin und die anderen drücken dir ebenfalls die Daumen!“

Völlig gerührt antwortete sie: „Danke, Johan. Ich weiß nicht, ob ich ohne dich den Mut dazu hätte, noch einmal gegen ihn anzutreten … Falls ich trotzdem verliere, müssen Sie mich halt doch wieder auf Ihrer Schule aufnehmen, Kanzler Andersen!“

Die Rothaarige wollte sich auf den Weg machen, da hielt der Meister der Kristallungeheuer sie plötzlich ganz ernst auf: „Shiko, ich … Es stimmt, in den letzten sechs Monaten warst du Schülerin meiner Schule und deshalb … konnte ich es dir nicht schon früher sagen. Vielleicht mag es auch unfair sein, es dir gerade jetzt zu sagen, aber … bevor du dich zu diesem Duell aufmachst, um eine Entscheidung zu treffen, solltest du alle Facetten kennen … Ich habe mich in dich verliebt!“

Der Blick seiner smaragdgrünen Augen brannte in sie. Es war ihm ernst … und diese Tatsache ließ ihr Herz schneller schlagen.

„Johan, du hast mich aufgefangen ... Durch dich bin ich erst zu einer wahren Duellantin geworden.“, entgegnete Nadeshiko melancholisch, „Ich werde die Sache zwischen mir und Ohtah klären – hier in der Duellakademie lösen wir Probleme nun einmal mit Duellen … Warte bitte solange auf mich.“

Damit rannte sie los. Es war Zeit für ein Duell! Auch er selbst begab sich zum Austragungsort, auf die Zuschauertribüne. Nadeshiko und Ryuohtah hatten bereits ihre DuelDisks aktiviert.

Doch der Braunhaarige hatte dennoch einen Kommentar abzugeben: „Warum machen wir das eigentlich, Shiko? Wieder vor aller Augen kämpfen – musst du wirklich beweisen, was du auf der Nordakademie gelernt hast? Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass man sich dort anders duelliert, als hier.“

„Und genau das werde ich dir beweisen! Mir hat jemand beigebracht, meinen Karten voll und ganz zu vertrauen … etwas, das ich früher nie wirklich konnte.“, entgegnete sie und zog, „Ich beschwöre Sternzeichen-Kundler Pollux! Ja, ich besitze neue Karten … ein Deck, das vollkommen mir selbst entspricht. Daher aktive ich Pollux´s Effekt, was es mir gestattet, eine weitere Normalbeschwörung durchzuführen – deshalb stelle ich nun auch noch Sternzeichen-Kundler Aldebaran vor. Als nächstes aktive ich die Zauberkarte Funkeln des Sternzeichen-Kundlers, was es mir erlaubt, meinen Stier um eine Stufe zu steigern. Jetzt baue ich das Überlagerungsnetzwerk und rufe als Xyz-Beschwörung … Sternzeichen-Kundler Omega! Zum Schluss setze ich noch eine Karte verdeckt und übergebe an dich.“

Es war Ryuohtah anzusehen, dass er absolut nicht mitkam – die Tatsache, dass sie sich von ihrem alten Deck getrennt hatte, haute ihn um. Vollkommen verdattert starrte er ihre Monster mit offenem Mund an. Klar hatte sie von dem Druck gesprochen, unter dem sie anscheinend litt, aber seine Karten deshalb auszutauschen … diese legendären Karten, die sogar dem König der Spiele würdig waren!

Als das Publikum unruhig wurde, begriff der Obelisk, dass er längst am Zug war. Aus seinem Blatt spielte er »Die Sechs Samurai – Irou«. Zusätzlich legte er zwei Karten verdeckt. Nadeshiko rief »Sternzeichen-Kundler Sheratan« auf das Feld, wodurch sie »Acubens« auf die Hand nehmen konnte. Und nachdem sie ein Xyz-Material von »Omega« abgehängt hatte, griff dieser »Irou« an. Um seinen Angriff aufzuhalten, spielte Ryuohtah »Sakuretsu-Rüstung«.

Auf diese Taktik war die Rothaarige allerdings vorbereitet: „Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen – ich wusste, du würdest mir eine Falle stellen. Doch wenn ich Omega´s Spezialeffekt aktiviert habe, schützt ihn das vor sämtlichen Zauber- und Fallenkarten.“

„Dann darf eben meine zweite Falle in Aktion treten – Shien´s Komplott.“, gab er auf die Vernichtung seines Monsters zurück, „Da du einen Sechs Samurai zerstört hast, rufe ich stattdessen von meiner Hand Legendäre Sechs Samurai – Kageki und Geheime Sechs Samurai – Kizaru!“

Kaum merklich hob Nadeshiko eine Augenbraue und bemerkte spöttisch: „Wie es scheint, hast du ebenfalls wieder ein paar neue Karten.“

Ryuohtah schwieg und beschwor »Legendäre Sechs Samurai – Enishi«, der durch seinen Effekt fünfhundert zusätzliche Angriffspunkte erhielt.

„Da du wohl neuerdings auf Xyz-Beschwörungen stehst, nehme ich Kageki und Kizaru, um das Überlagerungsnetzwerk zu bauen … zeige dich, Schatten der Sechs Samurai – Shien!“, kommentierte er beinahe belanglos.

Seine Attacke auf »Omega« blockierte Nadeshiko jedoch – »Dimensionsgefängnis« entfernte sein Xyz-Monster aus dem Spiel. Dafür gelang es »Enishi« den Widder auf den Friedhof zu schicken. In der »Dimensionskapsel« versteckte die Rothaarige diesmal ein anderes Monster und rief ein weiteres verdeckt im Verteidigungsmodus, ehe »Omega« sind um den verbliebenen Samurai kümmerte. Da die »Sechs Samurai« ebenso aufeinander angewiesen waren wie die »Sternzeichen-Kundler«, beschwor Ryuohtah nun »Legendäre Sechs Samurai – Shinai« samt »Legendäre Sechs Samurai – Mizuho«, von denen er das Wasserattribut gleich wieder opferte, damit er eine Karte auf Nadeshiko´s Seite zerstören konnte … natürlich wählte er »Omega«. Das Feuer-Monster stürzte sich auf ihre letzte Verteidigung, doch durch seine hohen Verteidigungspunkte, musste der Braunhaarige vierhundert Schadenspunkte einstecken. Dafür setzte er eine Karte verdeckt. Nadeshiko begann ihren Zug damit, »Acubens« zu opfern, um einen neuen »Sternzeichen-Kundler« zu rufen. »Antarens« gestattete es ihr, einen seiner Kameraden vom Friedhof wieder auf ihre Hand zu holen – damit kehrte der Krieger des Zwillingssternbildes zurück. Nur entschied sie sich gegen einen Angriff – sein Deck beinhaltete eine Mengen Fallen, die ihren Monstern schadeten, gerade in einer solchen Situation. Damit war die Rothaarige allerdings auf einen Bluff hereingefallen, denn seine verdeckte ließ »Shinai« wiederauferstehen, wodurch Ryuohtah seinen vorherigen Zug wiederholen und die Schlange zerstören konnte. Anschließend verstärkte er seinen »Samurai« noch mit »Legendäres Ebenholzross« und griff Nadeshiko direkt an. Von diesem Schlag hart getroffen, schwankte die Obelisk etwas – doch nur so lange, bis sie durch »Dimensionskapsel« ein Monster bekam und »Hermestab« dank »Pollux´« Effekt gemeinsam mit ihm auf das Feld rief. Da sie nun zeitgleich wieder zwei Kreaturen der Stufe vier besaß, wurde es Zeit für die nächste Xyz-Beschwörung – »Praesepe« übernahm mit Freude die Aufgabe, Ryuohtah´s Lebenspunkte durch seine besondere Fähigkeit genauso zu stutzen. Zwar blieb »Mizuho« auf dem Feld, weil der Braunhaarige sein Reittier opferte, doch den Schaden musste er kassieren. Nach einer weiteren, verdeckten Karte auf ihrer Seite, übergab sie wieder an ihn. Zunächst entfernte Ryuohtah zwei seiner »Sechs Samurai« aus dem Spiel, um dafür »Enshi, Shien´s Kanzler« beschwören zu können, dessen Effekt »Praesepe« zu spüren bekam und auf dem Friedhof landete.

„Dieses Duell neigt sich Ende entgegen … Mizuho, greif´ Shiko direkt an!“, befahl er.

Doch Nadeshiko widersprach ihm: „Nicht so eilig – mit Ruf der Gejagten hole ich mir Antarens vom Friedhof zurück, um mich zu schützen!“

Da die Schlange erneut auf dem Feld erschienen war, wanderte wieder ein Monster zurück auf ihre Hand. Gleichzeitig galt der Angriff des Feuer-Monsters, als abgebrochen und weil »Antarens« weit mehr Angriffspunkte hatte, griff Ryuohtah sie natürlich nicht erneut an. Sie war im Übrigen auch stärker, als sein »Kanzler«, der daraufhin auf dem Friedhof landete. Wie so gern, setzte Nadeshiko eine verdeckte Karte und beendete ihren Zug.

„Hey, Shiko … dieses Duell verlangt uns echt alles ab, was?“, scherzte Ryuohtah, während er die nächste Karte zog, „Genau, was ich jetzt brauche – hier kommt Topf der Gier!“

Und der Obelisk aktivierte beide Zauberkarten, die er bekommen hatte; »Shien´s Schloss des Nebels«, welches sämtlichen »Sechs Samurai« fünfhundert weitere Angriffspunkte verlieh, samt einem neuen »Legendären Ebenholzross« für »Legendäre Sechs Samurai – Mizuho«. Da dies allerdings immer noch genügte, um ihre Schlange zu köpfen, übergab er – zumindest sollte er vor dem größten Schaden geschützt sein. Nadeshiko legte die Hand auf ihr Deck und atmete tief ein. Er hatte recht … das Duell zerrte an ihr, sie wollte nicht mehr gegen ihn kämpfen und gleichzeitig konnte sie weder aufgeben noch ihn gewinnen lassen. Sie musste es mit einem Sieg zu Ende bringen!

„Ich beschwöre Sternzeichen-Kundler Kaus und nutze seinen Spezialeffekt, um ihn auf Stufe sechs zu steigern.“, machte sie ihren Zug, „Jetzt kann ich das Überlagerungsnetzwerk bauen … und rufe als Xyz-Beschwörung mein mächtigstes Monster – komm´ raus, Sternzeichen-Kundler Ptolemy M7!“

Der mechanische Stellar-Drache gehorchte seiner Herrin. Ein Raunen ging durch die Zuschauermenge, seine Größe ließ Ryuohtah zusammenzucken … das bedeutete allerdings nicht, dass er aufgab. Natürlich wollte Nadeshiko »Mizuho« zurück auf seine Hand schicken, doch ihr Gegenüber hatte einen »Samurai« auf dem Friedhof, den er aus dem Spiel nehmen konnte, um einen seiner Kumpanen vor besonderen Monstereffekten beschützen konnte. Damit rettete Ryuohtah sich mit verbliebenen zweihundert Lebenspunkten und sein Monster, indem er erneut die Ausrüstungszauberkarte opferte, in den nächsten Zug. Genau wie Nadeshiko besaß er nur ein einziges Monster, das ihn noch retten konnte … und nur eine Karte in seinem Deck konnte dieses jetzt noch zurückbringen.

„Ich spiele Geheime Fähigkeiten der Sechs Samurai! Indem ich meinen Samurai opfere, darf ich ein verbanntes Monster zurückrufen.“, rief der Braunhaarige aus, „Schatten der Sechs Samurai – Shien, greif´ ihren Drachen an!“

Ein kaum merkliches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, ehe sie erwiderte: „Unser erstes Duell hättest du durch deine letzte, verdeckte Karte gewinnen können … Ich dagegen aktiviere sie – hier kommt Erleuchten! Diese Fallenkarte annulliert nicht nur deine Attacke … sie schreibt M7 auch noch die Punkte bis zur EndPhase meines nächsten Zuges zu, mit denen du ihn angegriffen hast. Es wird Zeit … beenden wir dieses Duell – Ptolemy M7, Galaxie-Gebrüll!“

Die Energie ihres Monsters riss Ryuohtah zu Boden, als seine Lebenspunkte auf null fielen. Die Menge brach in lautes Gejubel aus – das hatte sie sich verdient. Er hätte keine seiner Karten in diesem Duell anders gespielt … Aber Nadeshiko´s Stil hatte er fast nicht mehr wieder erkannt – von der einen Tatsache abgesehen, dass sie das mächtigste Monster des Decks nie zu Beginn rufen würde, selbst wenn sie eine entsprechende Kombination spielen könnte. Es würde ihr niemals im Traum einfallen, das Deck ihres Gegners anzugreifen oder ihn an Spielzügen zu hindern … sie wollte sehen, was ihr Gegenüber drauf hatte. Während er diesen Gedanken nachhing, kam der Braunhaarige wieder auf die Füße und sah im letzten Moment noch, wie ihr roter Schopf im Gang nach draußen verschwand. Hastig beeilte Ryuohtah sich, ihr zu folgen. Auf dem gepflasterten Weg vor dem Gebäude holte er sie ein und sein Eintreffen veranlasste Nadeshiko tatsächlich, stehen zu bleiben.

„Was ist auf der Nordakademie mit dir passiert?“, wollte er von ihr wissen.

Ohne ihn anzusehen, entgegnete sie: „Ich bin gegangen, um meinen Weg als Duellant wiederzufinden … oder überhaupt erst zu finden … Ich hatte die Verbindung zu meinen Karten verloren. Johan hat mich mit den Sternzeichen-Kundlern vereint und endlich kann ich meinem Deck vollkommen vertrauen.“

„Ja, ja, der ach so tolle und vollkommen uneigennützige Johan Andersen, der dich sogar zurückbegleitet hat …“, keifte Ryuohtah mit aufkeimender Wut, „Sag´ mir die Wahrheit, Shiko – liebst du ihn?“

Nun schwieg Nadeshiko länger, als wahrscheinlich notwendig gewesen wäre … denn diese Frage hatte sie sich selbst mehrfach gestellt … heute erneut.

Erst an die Duellakademie zurückzukehren, hatte ihr eine eindeutige Antwort darauf möglich gemacht: „Johan ist ein unglaublich warmherziger Mensch, der allen Lebewesen und Geistern mit dem größten Respekt begegnet. Du dagegen zeigst mir gegenüber keinerlei Verständnis – du warst regelrecht schockiert, als du gesehen hast, dass ich ein neues Deck benutze. Ich weiß nicht einmal, ob du jemals wirklich mich geliebt hast … oder nur das Bild, das du von mir hattest. Dieselbe Illusion, die meine Eltern schaffen wollten … eine Duellantin, die jene Karten des Königs der Spiele beherrscht.“

Er öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, schloss ihn wieder und meinte dann: „A-aber, Shiko, wir gehören zusammen! Das habe ich vom ersten Moment an gespürt!“

„Mag sein … vielleicht hast du sogar recht.“, gab Nadeshiko zurück, „Doch das ist keine Garantie dafür, dass wir zusammen glücklich sind. Und ich kann nicht mehr an deiner Seite sein … Es stimmt, ich habe mich in Johan verliebt.“

Fast schien es, als hätte ihm »Ptolemy M7« einen weiteren Schlag verpasst. Sein Gesicht verlor alle Farbe – er hatte die Befürchtung gehabt, aber die Bestätigung war etwas ganz anderes …

„Wenn das Schuljahr zu Ende ist, werde ich an die Nordakademie zurückkehren, um das Duellieren weiter zu studieren … Ich weiß, dass ich dich damit noch mehr verletzte, indem ich hier meinen Abschluss mache – aber ich schulde es dieser Schule ihr noch mit meinen Sternzeichen-Kundlern Ehre zu machen.“, fuhr Nadeshiko fort, „Falls du dich der Illusion hingibst, die verbliebene Zeit nutzen zu können, um dich mir wieder zu nähern, bitte ich dich, uns beiden diese Schmach zu ersparen – wenigstens so gut solltest du mich kennen, dass meine Entscheidung endgültig ist.“

Hätte Ryuohtah die Fähigkeit besessen, seine Karten real wirken zu lassen – in diesem Moment hätte er es sicherlich getan. Doch so ballte nur wütend die Hände zu Fäusten und verfluchte stumm Johan Andersen für seine Einmischung in ihre Beziehung. Dabei war er im Grunde genommen selbst an der Situation schuld; er hatte sie von sich gestoßen, in die Arme eines anderen getrieben … auch wenn Ryuohtah es so nicht sehen wollte. Nadeshiko allerdings hielt Wort – obwohl er tatsächlich versuchte, sich wieder mit ihr zu versöhnen, ließ sich das Bild von ihm, welches sich in ihr Herz gebrannt hatte, nicht mehr auslöschen – und wann immer sie sich nach Halt und Zuneigung sehnte, dachte sie einzig an den blauhaarigen Kanzler im hohen Norden.
 

Selbst wenn man vom Schicksal füreinander bestimmt scheint, ist das noch lange keine Garantie, miteinander glücklich zu werden … Denn niemand ist Sklave des Sterns, unter dem er geboren wurde – das Leben wird durch eigene Entscheidungen bestimmt und jede von ihnen zieht Konsequenzen nach sich. In jeder Realität ist es ein harter, steiniger Weg, um die Gunst des geliebten Menschen zu erringen – nicht einmal Ohtah und Shiko schaffen es immer zueinander zu finden.

Songfiction 01: Sternblumennacht

Sternblumennacht

Einst lebten die Feenwesen Albenmark´s und die Menschen der Erde Seite an Seite … Magie war eine Selbstverständlichkeit und alle beteten zur großen Mutter der Natur, der Göttin Gäa. Zu dieser Zeit erwählte sie Klerus als neuen »König Oberon« – und er nahm Seiketsu zu seiner Frau, zu seiner »Königin Titania« … So herrschten sie gemeinsam über diese friedliche Welt. Doch nichts blieb jemals für alle Ewigkeit von Dauer … Erst hatte es nur schleichend begonnen, mit den Jahren zeigte es sich dann immer deutlicher – die Menschheit wich ihrer Anbetung der magischen Geschöpfe und in ihnen wuchs der Wunsch nach alleiniger Herrschaft. Erst fragten sie die Feen nicht mehr um Rat, wendeten sich in ihren Gebeten nicht mehr an Gäa, Oberon oder Titania … stattdessen rodeten sie unter anderem ganze Wälder, um neue Siedlungen zu errichten. Die Zahl der Menschen schoss in die Höhe, während die Feen unter dem Schmerz der Natur schwächer wurden.

Seiketsu versuchte ihr Volk milde zu stimmen: „Sie fühlten sich Jahrzehnte lang in den Schatten gedrängt … Mag sein, dass Gier ihnen näher liegt als uns – doch ebenso hochmütig müssen wir ihnen vorkommen, mächtig durch unsere Magie.“

Feen mochten keine Veränderungen – ihre Lebensspanne überdauerte Generationen einfacher Sterblicher. Dies mochte ein feuriges Aufflammen sein …

Doch nicht alle teilten ihre Zuversicht – allen voran ihr eigener Mann Klerus: „Sie zerstören ohne Sinn und Verstand … wie wilde Tiere. Selbst unsere Göttin ist nicht unfehlbar – diesen Bestien zu erlauben weiterzubestehen, war ein großer Fehler! Wir sollten jeden einzelnen von ihnen vernichten!“

Selbst Zorn änderte nicht das Wesen der Feen … Ein Tag, ein Monat, ein Jahr bedeutete ihnen nichts. Und so verstrich der Moment, den sie hätten nutzen müssen, um dieses Vorhanden in die Tat umzusetzen. Menschen vergessen schnell – was sie nicht sehen oder woran sie nicht (mehr) glauben, existierte gelinde gesagt für sie einfach nicht. Der Lebensraum der Feen schwand … der Einfluss der Menschen auf diese Welt wuchs. Aus Holzbauten wurden Steinhäuser, aus Steinwerkzeugen gingen Stahlwaffen hervor. Die mystischen Wesen waren ins Reich der Sagen verbannt. Eine von ihnen handelte von den violetten Sternblumen, in denen winzig kleine Feen schlafen sollten … Wie alle Geschichten hatte auch diese einen wahren Kern – Klerus und Seiketsu mussten ihr Volk beschützen, also verwandelten sie sich in fingergroße, geflügelte Gestalten, die aus der Entfernung nur für einfache Insekten gehalten wurden. Aber wo einmal dunkle Gefühle auf nährenden Boden gefallen war, da keimte die Saat und Blumen des Hasses sprossen in der Seele des Feenkönigs … Seine Königin bekam eine neue Seite ihres Liebsten zu Gesicht – eine kalte, abweisende Art, die ihr das Herz brach. Dies sollte allerdings erst der Anfang vom Ende sein …

In einer gar schicksalhaften Nacht betrat ein junger Mann jenen Wald, in dem das Königspaar mit seinem Hofstaat lebte, und betrachtete die leuchtend Sternblumen höhnisch. Keiner aus seiner Generation glaubte mehr an die alten Geschichten, daher wollten sie den Alten ihres Dorfes beweisen, dass diese genau das waren – Legenden aus längst vergangenen Zeiten. Ohtah bückte sich, um eine Blume zu pflücken, da schoss mit einem Mal ein greller Lichtpunkt aus der Blüte hervor. Vor Schreck wich Ohtah einen Schritt zurück. Im Grunde lächerlich, konnte es dich hierbei wohl bloß um ein Glühwürmchen handeln … Falsch gedacht, denn das Licht schwoll an und bildete schlussendlich die Gestalt eines Mannes.

„Wer … wer seid Ihr?“, stammelte Ohtah, plötzlich verängstigt.

Die Augen seines Gegenüber sahen ihn kalt an und entgegnete: „Feenkönig Oberon … Und Ihr habt es nicht nur, unverschämt wie die Menschen sind, gewagt, mein Reich zu betreten … nein, Ihr wolltet es auch noch schänden! Ich werde Euch lehren, die Magie meines Volkes ernstzunehmen!“

In einem Sekundenbruchteil war Klerus zu Ohtah getreten und hatte ihm die flache Hand auf die Brust gedrückt, augenblicklich breitete sich graue Farbe über dessen Leib aus … er wurde zu Stein verwandelt! Von dem manischem Lachen, das aus seiner Kehle drang, alarmiert, erschien Seiketsu am Ort des Geschehens.

Sichtlich geschockt über den Anblick wollte sie von ihrem Mann wissen: „Kle-Klerus, was … was hast du getan?“

„Ich beschütze nur meine Untertanen vor dieser Bestie!“, erwiderte er scharf.

Fassungslos starrte Seiketsu ihn an und meinte voller Trauer: „Das bist nicht du … Der Mann, in den ich mich verliebt habe, ist gütig - ein weiser Herrscher.“

Und sie sollte recht behalten – von jenem Moment an, war Klerus verändert … Eine Finsternis hatte von ihm Besitz ergriffen, die sich mit der kommenden Zeit sogar auf die anderen Feen seines Volkes übertrug. Wann immer ein Mensch das Pech hatte, einem von ihnen zu begegnen, quälten die Feen sie auf grausamste Weise. Seiketsu selbst floh unterdessen, nachdem sie viele Jahre erfolglos versucht hatte, ihren Geliebten zurück zum Guten zu bewegen – sie war die einzige, die von jener Finsternis verschont blieb –, wenn auch nicht allzu weit entfernt, wollte sie ihn und ihr Volk weiterhin im Auge behalten können … So verging fast ein ganzes Jahrhundert.
 

Sie starrte in das dichte Unterholz. Warum nochmal war sie hierher gekommen? Aus einem der lächerlichsten Gründe, die man sich überhaupt nur vorstellen konnte … Wegen eines verdammten Traums! Kein Traum in dem Sinne, dass sie etwas erreichen wollte, dass sie sich ein Ziel gesteckt hatte – nein, nächtliche Bilder und eine Stimme, die während des Schlafs zu ihr gesprochen, ihr zu kommen befohlen hatte. Es war eine männliche Stimme gewesen, die sie in wachem Zustand noch nie zuvor gehört hatte … doch nicht zum ersten Mal im Traum. Seit sie sich erinnern konnte, träumte sie immer wieder von dieser Stimme, die mal in ganzen Sätzen zu ihr sprach oder auch einfach nur ihren Namen rief. Kurzum es blieb lächerlich der Stimme zu folgen … dennoch stand sie nun am Waldrand und spähte hinein. Trotz der nächtlichen Stunde, die nur durch das fahle Licht des Vollmondes erhellt wurde, erspähte sie am Boden die zahlreichen Sternblumen. Eine kalte Windböe pfiff, ließ die Blätter in den Baumkronen rascheln und trieb sie vorwärts. Ein Schaudern ergriff sie, als sie die erste Sternblume passierte – jahrelang hatte man ihr die Geschichten um die grauenhaften Wesen erzählt, die darin wohnten … Feen, die herzlos alle Passanten quälten, die sich hier verirrten. Doch trotz dieser schmerzhaften Aussichten war sie her gekommen. Für einen Moment gewann die Angst die Oberhand und sie wich ein paar Schritte zurück, fort von diesem verfluchten Ort … Da entdeckte sie etwas, das eben noch nicht da gewesen war – ein kleiner, blauer Lichtpunkt, der in der Ferne schwebte. Neugier vertrieb die Angst, Neugier und die Sehnsucht nach jener Stimme, die sie überhaupt erst an jene Stelle geführt hatte. Zwanghaft ging sie weiter – ohne zu bemerken, dass sie nicht länger allein war. Dafür spürte sie mit jedem Meter, wie Kälte in ihre Gliedern fuhr und eine dunkle Vorahnung wuchs in ihr – dies war kein Ort für Menschen. Plötzlich trat sie auf eine vom Mondlicht beschienene Lichtung. Augenblicklich erstarrte sie bei dem Anblick, der sich ihr bot. Vor ihr stand die Statue eines jungen Mannes. Sie kam näher, um ihn genauer zu betrachten – sein Antlitz zog sie beinahe magisch an. Es erschien ihr, als wäre er es gewesen, nach dem sie sich ihr ganzes Leben lang gesehnt hatte, den sie hatte treffen wollen … treffen musste. Aus einem Impuls heraus, griff sie nach seiner steinernen Hand … Und staunte nun noch mehr, als bereits zuvor – ein bröckelndes Geräusch veranlasste sie dazu, aufzuschauen und sah mit einem Mal in unendlich dunkle Augen. Wie nur konnte das möglich sein? Auch der Rest seines Gesichtes und die Hand in ihrer waren nicht länger aus Stein!

„Du bist es, du bist hier … Shiko.“, flüsterte er beinahe ungläubig.

Kaum, dass ihr eigener Name über seine Lippen gekommen war und sie verstand, dass es seine Stimme gewesen war, welche sie gerufen hatte, kannte sie ebenso seinen: „Ohtah …“

Ein warmes Gefühl stieg in beiden auf, jetzt da sie einander vollends erkannten. Die Welt um sie herum verschwand – einzig der Blick des anderen bedeutete mehr etwas und die unauslöschliche Verbindung ihrer Seelen durch alle Zeiten. Aber schon in der nächsten Sekunde legte sich ein Schatten über Ohtah´s Gesicht.

„Verzeih´ mir, Geliebte, doch es geht nicht …“, brachte er schwer heraus und drückte Shiko fest an sich, „Wir können in diesem Leben nicht zusammen sein, denn vor langer Zeit kam ich her, sah die Sternblumen blühen und ich habe gelacht … über das, was man sich über sie erzählt. Und habe damit mein dunkles Schicksal besiegelt – eine Fee verwandelte mich in Stein und weder Schwert noch Zauber kann mich befreien. Mir ist nur einmal in tausend Jahren gewährt, eine einzige Nacht als Mensch zu erleben. Wenn dann jedoch das erste Licht des Tages diese Lichtung berührt, werde ich wieder leblos und kalt … Das ist mein Fluch!“

Tränen sammelten sich in ihren Augen. Verzweiflung überflutete sie. So zogen die Stunden über beide hinweg, während Shiko in Ohtah´s Armen ruhte. Sie sprachen darüber, wie ihr Leben unter anderen Umständen verlaufen wäre – dieser Streich, der sie entzweien würde, war eine furchtbare Strafe, für ein Verbrechen, das gar nicht wirklich von ihnen selbst begangen worden war.

„Wir werden uns wiedersehen …“, flüsterte Ohtah nahe an ihrem Ohr.

Shiko wollte kein Versprechen darauf, ihm in einem anderen Leben erneut zu begegnen … trotzdem nickte sie stumm. Es schmerzte sie zu sehr – die Aussicht ihn in diesem Feenwald zurücklassen zu müssen …
 

Obwohl sich Shiko mit aller Macht dagegen zu wehren versucht hatte, musste sie der Schlaf letztendlich dennoch übermannt haben. Als sie die Augen öffnete, lag die Lichtung in hellem Sonnenlicht. Sie spürte den harten Untergrund – ohne ihn anzusehen, wusste Shiko, was geschehen war … Ohtah war erneut zu Stein geworden. Die Tränen hatten rote Spuren auf ihren Wangen hinterlassen, die von der neuerlichen, salzigen Berührung brannten. Schwerfällig erhob sich Shiko, ihre Beine wollten sie nicht recht tragen. So schleppte sie sich zum Waldrand zurück, den Blick nach vorn gerichtet mit einem dumpfen Stechen in der Brust - denn ihr Herz hatte Shiko in den Tiefen des Feenwaldes zurückgelassen …

Gerade da sie auf Höhe der letzten Sternblume verharrte, rief es: „Bitte, haltet ein!“

Erschrocken wirbelte Shiko herum und sah sich einer grazilen, jungen Frau gegenüber, deren braunes Haar beinahe bis zum Boden reichte. Ihre Augen funkelten geheimnisvoll, doch in ihnen lag keine Niedertracht.

„Wer seid Ihr?“, wollte Shiko wissen, „Oder … was seid Ihr?“

Zwar war die Fremde auf den ersten Blick von menschlicher Gestalt … allerdings liefen ihre Ohren spitz zu, ihre Glieder samt dem Rumpf wirkten länger gezogen.

Sie lächelte und hob die leeren Hände, während sie antwortete: „Es besteht kein Anlass für Euch, Euch vor mir zu fürchten. Mein Name lautet Seiketsu … Euch vielleicht eher bekannt als >Feenkönigin Titania<, Gemahlin von Klerus – dem >Feenkönig Oberon<.“

Trotz ihrer beschwichtigenden Worte, erschrak Shiko zunächst, dann besann sie sich: „Ich heiße Shiko. Ihr … Ihr wirkt so anders, als es von Eurem Volk heißt.“

Seiketsu war eine Fee … und dennoch wirkte sie so freundlich, gar gütig, aber gleichzeitig auch irgendwie verzweifelt – all diese Gefühle spiegelten sich nun in ihrer Stimme: „Oh ja, das ist eine sehr traurige Geschichte … über Euren Liebsten und meinen Gemahl. Ich werde Euch alles erzählen, so werdet Ihr verstehen. Alles begann vor vielen Jahrzehnten …“

Gebannt lauschte Shiko, wie Seiketsu ihr von jener Nacht berichtete, in der Ohtah und Klerus einander begegnet waren.

„Feen lieben nur ein einziges Mal in ihrem schier unendlichen Dasein … Ohne Klerus bin ich ebenso verflucht wie dieser Junge.“, schloss die Braunhaarige ihre Erzählung.

Voller Mitgefühl umarmte Shiko sie. Kein Deut Zweifel regte sich in ihr. Sie wollte Seiketsu glauben … Vor allem jetzt, da sie ihre Gefühle ebenso verspürte – von dem Menschen getrennt zu sein, den man am meisten liebte, schmerzte auf eine tiefere Art, als jede körperliche Verletzung.

„Hört mich an – Ihr seid nunmehr meine letzte und einzige Hoffnung!“, beschwor Seiketsu sie.

Etwas verständnislos löste sich die Rothaarige von ihr und sie entgegnete: „Ohtah sagte, nichts könnte den Bann brechen – weder Schwert noch Zauber!“

„So ganz stimmt das nicht. Weder Gewalt noch gewöhnliche Magie können etwas dagegen ausrichten, das ist wahr … doch jeden Fluch kann man brechen – nichts ist stärker als wahre Liebe!“, meinte die Königin überzeugt und richtete ihren Blick in die Tiefen des Feenwaldes, „Allein mag es mir nicht gelungen sein, Klerus von der Finsternis zu befreien … aber bin ich ihr auch nicht erlegen. Ich bin ganz sicher, das liegt an unserer Liebe!“

So klein die Chance wäre – Shiko würde jedes Quäntchen Hoffnung ergreifen, wenn dadurch Ohtah gerettet werden könnte! Gemeinsam kehrten die beiden zu jener Lichtung zurück. Shiko´s Körper begann zu erbeben – letzte Nacht hatte sie sich bereits gefürchtet, dieses Mal war es weitaus schlimmer. Seiketsu berührte sie an der Schulter, gab ihr einen sanften Anstoß. Zaghaft ging Shiko zu Ohtah und griff erneut nach seiner Hand. Sie betrachtete jede Facette seines Gesichts, bis sie bei seinen Augen angelangt war. Mehr als irgendetwas sonst auf dieser Welt wünschte sie sich ihre Tiefe zurück …

„Ich liebe dich, Ohtah … Das habe ich schon immer getan und werde es für alle Ewigkeit tun. Du hast mir versprochen, wir würden uns wiedersehen … in einem anderen Leben, aber ich will dich jetzt bei mir haben! Ich flehe dich an … komm´ zu mir zurück …“, sprach Shiko zu ihm und berührte seine Lippen mit ihren eigenen.

Der Kuss war kalt, hart … anfangs. Dann jedoch erwiderte Ohtah ihn und presste sie fest an sich.

Als sie einander ansahen, war es diesmal der Schwarzäugige, der weinte, und nur ein einziges Wort bahnte sich seinen Weg: „Wie?“

„Ein Kuss wahrer Liebe kann wirklich jeden Fluch brechen …“, erklärte Seiketsu lächelnd.

Erst jetzt bemerkte Ohtah sie und bugsierte Shiko rasch hinter sich, aber diese sagte: „Es ist alles in Ordnung. Seiketsu ist unsere Freundin – nur ihretwegen konnte ich dich retten.“

Perplex hörte Ohtah zu, was es mit der ganzen Situation auf sich hatte, und wollte anschließend wissen: „Ich schulde Euch demnach Dank, Königin Titania. Was ich allerdings nicht begreife – weshalb konntet Ihr König Oberon bislang nicht erlösen?“

Dieser Gedanke war Shiko ebenfalls bereits gekommen, wollte ihn jedoch nicht aussprechen.

Seiketsu seufzte schwer: „Von jenem Tag an kam ich nicht mehr an ihn heran ... Und als die Finsternis übermächtig wurde, bin ich geflohen. Deshalb habe ich auf eine Gelegenheit wie diese gewartet – nun da Ihr frei seid, Ohtah, ist die Finsternis geschwächt und ich kann Klerus erreichen.“

„Dann gehen wir sofort zu ihm!“, bestimmte Shiko euphorisch.

Beseelt davon, mit Ohtah wiedervereint zu sein, wünschte sie sich dieses Glück auch für Seiketsu und Klerus. Die Feenkönigin öffnete den Mund zum Sprechen, da versank der Wald urplötzlich in nächtlicher Dunkelheit – nur ohne Gestirne am Firmament. Die Sternblumen schienen zu glühen …

„Ihr habt also Sehnsucht nach mir …“, durchdrang eine schneidende Stimme den Wald, „Doch statt den Platz an meiner Seite wiedereinzunehmen … verbrüdert Ihr Euch mit dem Feind.“

Klerus trat zwischen den Stämmen der Bäume hervor. Von überall her hörte man hämisches Lachen – er war in Begleitung der anderen Feen.

„Es stimmt – ich habe Shiko geholfen, Ohtah zu erlösen. Für Euch, mein Liebster! Seht Ihr denn immer noch nicht, wie sehr Ihr und unser Volk sich verändert hat? Wir sind die Kinder der Lichtalben, den Erstgeborenen unserer Göttin Gäa.“, redete Seiketsu auf ihn ein, während sie auf ihn zuging.

Schatten bewegten sich zwischen den Bäumen. Ohtah nahm eine Habachtstellung ein, um Shiko beschützen zu können.

Unbeeindruckt von ihren Worten keifte der Feenkönig zurück: „Überlasst diese Menschen uns und ich lasse Euch aufgrund unserer Verbindung ziehen.“

Einmal war sie bereits geflohen … hatte ihren geliebten Mann verlassen, im Stich gelassen. Beinahe ein Jahrhundert lang hatte sie gewartet … Nicht, dass sie Shiko und Ohtah jemals der Folter ihrer Artgenossen überlassen würde … Sie ging zu ihm. Und auf einmal schöpfte die Braunhaarige neue Hoffnung, denn Klerus breitete seine Arme aus, um sie zu umarmen. Doch kaum stand sie direkt vor ihm, legte er seine Hände um ihren Hals, hob sie hoch und drückte zu. Alles in ihr schrie, sie strampelte, ruderte mit den Armen. Shiko wollte ihr zu Hilfe eilen, aber Ohtah hielt sie fest – ihm war nicht entgangen, dass die Dutzende Feen, welche sie umzingelten, immer näher gekommen waren. Der Blick ihrer strahlend blauen Augen suchten den seinen. Hass schlug ihr entgegen, der ihren Widerstand brach … Klerus presste seine Finger noch fester in ihr Fleisch und Seiketsu´s Bewegungen schliefen ein, ihr Kopf hing nach vorne geneigt. Triumphierend löste er die Umklammerung – sie fiel Richtung Boden. Als ihr Gesicht das seine passierte, streiften ihre Lippen flüchtig seinen Mund. Die Zeit blieb für einen Moment stehen … Schneller, wie es für einen Menschen überhaupt möglich gewesen wäre, fing Klerus Seiketsu in ihrem Sturz auf und bettete ihren leblosen Körper in seinen Armen.

„Liebling, was … was habe ich nur getan?“, murmelte er geschockt, „Ich wusste, was ich tat … und gleichzeitig auch nicht. Vergebt mir … Ich liebe Euch, Sei! Oh, Gäa, bitte … bitte …“

Ohne auf eine Antwort der Göttin zu warten oder vielleicht hoffte er, dass das Resultat seiner Tat die Antwort auf sein Flehen wäre – Klerus küsste Seiketsu. Die zum Gebet gefaltet, beobachtete Shiko das Geschehen, während Ohtah die Feen im Auge behielt – manche von ihnen hielten sich den dröhnenden Kopf, andere waren ohnmächtig geworden oder schrien wie von Sinnen. Seiketsu hatte recht gehabt – nichts würde jemals stärker sein, als wahre Liebe … Und auch nicht der Tod – oder der Beinahe-Tod … Schwerfällig hoben sich Seiketsu´s Lieder, sie blinzelte mehrfach. Shiko stieß einen Freudenschrei aus.

„Sei, mein Liebling … Ihr lebt ...“, hauchte der Blonde vollkommen fertig.

Ein kaum merkliches Lächeln schlich sich auf ihre Züge, während sie sanft nickte.

„Es tut mir leid … Ich … ich habe keine Ahnung, wie das alles geschehen konnte. Dieser unbändige Zorn hat mich nicht mehr losgelassen. Ich war … verloren, gefangen.“, fuhr er fort, „Vergebt mir, bitte, vergebt mir … Ich habe Euch angegriffen, Euch fast getötet …“

Seiketsu legte Klerus einen Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen, ehe sie erwiderte: „Ihr seid erlöst, dafür hätte ich gern mein Leben gegeben. Aber ich bin nicht tot … Und unser Volk auch nicht. Wir … wir sollten dieses Kapitel einfach hinter uns lassen und neu anfangen. Dort, wo wir wirklich hingehören – dies ist nicht unsere Welt, war es nie.“

Klerus hatte Seiketsu als seine Königin erwählt, weil er seit jeher in sie verliebt gewesen war … doch ihre Intelligenz, ihr Mitgefühl und ihr Charme machten sie zu einer wahren Königin. Die Erde war nicht ihre Heimat … Einst waren die Feen aus Albenmark auf die Erde gekommen, weil die Menschen auf eines der magischen Weltentore gestoßen und die magiebegabten Wesen, um Hilfe gebeten hatten. Klerus und Seiketsu waren bereits hier geboren worden, aber ihre Eltern hatten noch in der von Gäa selbst erschaffen Welt gelebt. Es war an der Zeit dorthin zurückzukehren …

Auf ihren Wink hin traten Shiko und Ohtah an Seiketsu´s Seite, die sie glücklich anlächelte und sagte: §Shiko, ich habe Euch so viel zu verdanken! Ohne Eure Liebe wäre Klerus wohl für alle Zeit verloren in der Finsternis gewesen … Bitte grollt ihm nicht, Ohtah.“

„Ohne den Fluch wäre ich Shiko niemals begegnet … Also vergeben und vergessen.“, brummte Ohtah etwas verlegen, woraufhin ihm Klerus dankbar die Hand schüttelte.

Anschließend schlug der Feenkönig vor: „Sagt, möchtet Ihr nicht mit uns nach Albenmark kommen und bei uns im Feenreich leben?“

Sie tauschten überraschte Blicke, die allerdings Bände sprachen …
 

Für jedes Problem, dem Shiko, Ohtah, Seiketsu und Klerus bislang in all ihren Leben begegneten, konnten sie letztendlich eine Lösung finden. Denn wahre Liebe kann bekanntlich jeden Fluch brechen!


Nachwort zu diesem Kapitel:
Tja, tja, was wird meiner lieben Shiko und ihrem geliebten Ohtah wohl als nächstes widerfahren? Findet es heraus in Buch 2 - oder wendet euch Ohtahs Vergangenheit zu! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja, Shiko war von Anfang an sein Schicksal ... Aber wäre er ihr auch begegnet, wenn die Am Fah ihn nicht aufgenommen hätten? Wer weiß ... Auf jeden Fall kommen ihm die erworbenen Fertigkeiten definitiv zu gute! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Juhu! Endlich kam Seiketsu mal wieder vor! Doch wieder war es kein Wiedersehen von Dauer - kommt vielleicht noch. Oder auch nicht? Als nächstes kommt erstmal die Story rund um Seiketsu und dann machen wir uns in Buch 3 auf den Weg ins ferne Elona! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Den jungen Klerus solltet ihr im Hinterkopf behalten, denn man trifft sich immer zweimal im Leben - mindestens! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ihr wollt wissen, ob es Shiko gelingt, ihren Wunsch wahr werden zu lassen? Dann lest »Buch 3: Von Legenden, Göttern und Finsternis!<< Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Tja, was ist wohl dieses nächste Abenteuer? Erfahrt es in Buch 4 - die GW Player müssten allerdings auch von allein drauf kommen! Oder schaut bei Shiko´s nächtlichem Abenteuer mit Ohtah vorbei, meinem ersten adult-Kapitel ... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Damit endet die letzte Story, nach dem Vorbild der Handlung von GW1 - aber glaubt bloß nicht, dass es das schon gewesen ist! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So damit endet die kleine Wintertagsgeschichte auch schon wieder - und alle, die noch nicht wussten, woher Shiko´s Name stammt, der weiß es jetzt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, vom Drachenfest geht es direkt zum nächsten Buch und zum Ende der Legenden? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja, doch bevor die Zukunft der Legenden gelüftet wird, kommt ein kleines Interlude, indem unsere junge Mönchin Seiketsu im Vordergrund steht - außerdem gibt es ein Wiedersehen mit einem Bekannten aus »Das Schicksal einer Mönchin«. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Genau ... die Zukunft wird es zeigen. Darum freuen wir uns als nächstes auf Buch 6: Die Zukunft der Legenden! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und wie angekündigt kommt auch dieses Buch - »Die Kinder der Legenden«! Aber vorher ein kleines Interlude für Zwischendurch. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das war das letzte Buch über GUILD WARS !, aber es kommt noch ein kleines Interlude, bevor wir uns in den 2. Teil des Spiels begeben ... und zur »Rückkehr der Legenden«! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und nach GW1 kommt natürlich GW2! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja, es ist wie Shiko sagt: »Niemand lebt ewig. Nicht einmal Legenden ... « Und dennoch schmerzt jeder Abschied. Aber jeder Abschied ist auch gleichzeitig ein Neubeginn und Hoffnung gibt es immer. Darum erwartet die große »Rückkehr der Legenden«! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Damit endet das letzte Buch, welches in der Welt von Guild Wars spielt - doch freut euch auf einige Specials über Team Shiko und das 9. Buch der Legende von Shikon No Yosei! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Mein erster GW2 Chara ist geschafft! Allerdings geht es im nächsten Kapitel noch einmal einen Schritt zurück ... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ob Klerus wohl im nächsten Leben mehr Erfolg bei Seiketsu hat? In »Die Legenden in einer anderen Welt« und »Die Legenden am Rande des Himmels« erfahrt ihr es! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die gespiegelte Sicht findet ihr in »Das Schicksal eines Widergängers«. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Eine Liebesgeschichte der besonderen Art, oder nicht? In meinem Herzen wird er immer einen Platz haben ... Und wie es mit den beiden endet, könnt ihr in »Das Schicksal einer Bastard« weiterlesen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich heul fast jedes Mal bei diesem Teil der Story ... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein Mitglied von Team Shiko fehlt noch ... und danach kommt noch ein weiterer meiner GW2-Charas! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Damit enden die Storys über Shiko´s Verbündete - doch Team Shiko wird sich ein letztes Mal erheben ... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Es erfüllte mich mit großer Freude, Ganda diese Zukunft zu schenken ... da sie mir als Chara sehr wichtig ist. Und auch Lucc ist mir sehr ans Herz gewachsen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe mir In-Game Gedanken gemacht, wie ich meine Nekromantin und meine Mesmer auch noch irgendwie in Shikos Geschichte einbauen könnte ... Und dann kam mir die Idee, das Versprechen von Team Shiko wahr werden zu lassen - mit der Unterstützung von Shikos eigenen Nachfahren. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich möchte mich noch einmal ganz herzlichen bei Shiko und meinen anderen Charakteren aus GUILD WARS und GUILD WARS 2 bedanken ... Manche mögen es nicht verstehen, aber mir haben sie das Leben gerettet - mehr als einmal!
Shiko(n No Yosei + Shikon Feenseele), Ohtah (Ryutaiyo + Ohtah Shadowdragon), Seiketsu (No Akari + Seiketsu Lichtsegen), Yoso (No Koshi), Ryukii (No Mai), Toki (No Kibo), (Koteiro) Ryukichi, Chiyo (Yumecho), (Orakel) Seira, (Portalistin) Ganda, (Widergänger) Lucc, Ric (Bärenklaue), Gwen (Grimmpfote), Ull (Rosenknospe), Tear, (Kurotsuki) Yumi, (Tsukishiro) Miyu - ich liebe euch von ganzem Herzen ... Ihr werdet für immer bei mir sein, für immer und ewig! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Bye-bye, Welt von House of Night! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kleiner Funfact: dies war tatsächlich Shiko´s längstes Abenteuer - jedenfalls wenn man nicht sämtliche GW1-Storys zusammenzählt^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Es war mein Wunsch, Klerus´ Patroni zu enthüllen ... Die Geschichte als solche entstand, weil ich mir beim Zeichnen Shiko in einem weißen Brautkleid vorgestellt habe, und anschließend Sei, zu der ein Kimono einfach besser passt. Also habe ich das Bild der vier in ihren Hochzeitsoutfits gezeichnet und anschließend diese Erzählung geschrieben. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein paar kleine Easter Eggs konnte ich mir natürlich nicht verkneifen - warum will Argo jemanden in eine Schildkröte verwandeln? Weil er in seinem ersten Leben zum Schildkröten-Clan der Luxon gehört! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wem ist es aufgefallen? Ja, ich gebe es zu - ihre neuen Titel sind ein "wenig" von Yu-Gi-Oh! GX geklaut. Dafür gibt es direkt im Anschluss aus genau dieser Welt - freut euch auf ein Wiedersehen mit dem Hüter der Kristallungeheuer ... Johann Anderson! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Zum ersten Mal habe ich für Shiko ein alternatives Ende geschrieben, bei dem sie kein Happy End mit Ohtah erfährt ... Ich habe es (noch) nicht geschafft, dies in einer Hauptstory zu tun, allerdings halte ich ihre Geschichte so für ... realistischer(?). Es gibt unter uns bestimmt viele, die zwar lieben, aber wo Liebe allein einfach nicht genug ist ... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein wenig ist der ewige Zyklus ja angedeutet, aber ebenso gut könnte es unabhängig von den anderen Werken betrachtet werden.
Ich wollte dem traurigen Ende unbedingt ein Happy End verleihen, weil ich dieses Lied unglaub berührend finde! Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Tanuma
2015-01-10T23:49:44+00:00 11.01.2015 00:49
Hallo Ami_Mercury,

Vielen Dank für die Teilnahme an meinem Schreibwettbewerb – hier mein Feedback :)
Wow!! Ich bin echt begeistert wie viel Zeit und Mühe du in dieses Lebenswerk von dir gesteckt hast. Das sieht man dem Ganzen echt an – glaub mir. Alles ist so liebevoll erzählt und beschrieben. Ich spiel auch selbst Online Rollenspiele, was es mir um einiges leichter macht, mich in die Geschichte und Charaktere zu versetzen. Die Kapitel lesen sich praktisch wie von selbst, ich mag deinen Schreibstil auch sehr gerne. Bin zwar leider noch nicht bis zum 16. Kapitel gekommen, aber bleibe fleißig am Ball. :)

MfG
Tanuma

Antwort von:  Ami_Mercury
11.01.2015 09:04
Oh Gott, oh Gott, oh Gott! Shiko´s erster Kommentar! VIELEN, VIELEN DANK DAFÜR !!! !!! !!!
Es ist insgesamt eine Arbeit von gut 7 Jahren - dieses Jahr muss ich noch fünf Hintergrundstorys schreiben, dann ist es mit 21 Kapiteln komplett^^
Deshalb werde ich mir weiterhin alle Mühe geben und jedes Quäntchen meiner Schreibfähigkeit aufbringen, um >>Die Legende von Shikon No Yosei - Das Schicksal einer Elementarmagierin<< würdig abzuschließen!


Zurück