Vergeltung von Nochnoi (Version II) ================================================================================ Kapitel 2: Der Unbekannte ------------------------- London, England (2012):     Das Wetter in London hatte sich in den letzten Wochen deutlich verschlechtert. Neben dem ständig andauernden Regen war nun auch eine klirrende Kälte hinzugekommen, die sich bis tief in die Knochen durchzufressen schien. An jeder Straßenecke begegneten einem zitternde Obdachlose und Bettler, die sich in tonnenschwere Decken eingewickelt hatten und lautstark mit den Zähnen klapperten. Es war unübersehbar, dass der Winter nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen würde. Immerhin war bereits Oktober, in den meisten Geschäften wurden schon seit geraumer Zeit Weihnachtsartikel angeboten. Eve schritt langsam durch die dunklen Gassen Londons. Die finsteren Häuserfassaden ragten weit in den Himmel hinauf und wirkten beinahe, als würden sie von oben herab prüfend zu ihr hinunter starren und sie keinen Moment aus den Augen lassen. Große, steinerne Wächter, die seit jeher die Stadt und ihre Bewohner beschützten. Kein Wind, kein Sturm und erst recht kein Regen waren in der Lage, sie in die Knie zu zwingen. Es mochte noch so viel Nass vom Himmel fallen, an ihrer Standhaftigkeit würde es nicht das Geringste ändern. Eine Unerschütterlichkeit, die Eve überaus beneidete. Sie war nie empfindlich gewesen, hatte sich schon in frühster Kindheit im Gegensatz zu ihren Altersgenossen nur ausgesprochen selten über irgendwelche Widrigkeiten – ob nun wetterbedingte oder auch anderweitige – beklagt, doch fünf Stunden im Dauerregen waren selbst für eine Frau ihres Kalibers etwas, das man nicht für immer würde ertragen können. Ihre Schmerzgrenze war zwar noch nicht vollkommen erreicht, aber bereits in solche Nähe gerückt, dass Eve inzwischen fast ununterbrochen von trockener Kleidung und ihrem warmen Bett fantasierte. Ihr langes, dunkelbraunes Haar war schon seit Stunden derart durchnässt, als wäre sie soeben frisch aus der Dusche gestiegen, und ihr Mantel hatte sich mit Wasser vollgesogen, sodass er gleich mehrere Kilo schwerer erschien. Bereits seit Sonnenuntergang war sie nun unterwegs, mehr als genug Zeit, dass der Regen ohne Probleme in die Stoffbahnen ihrer Garderobe vorzudringen vermocht hatte. Wie ein begossener Pudel schlürfte sie durch die Straßen und fror sich fast zu Tode. Missmutig dachte sie daran, dass sie am nächsten Tag sicherlich mit einem schlimmen Schnupfen aufwachen würde. Eve seufzte schwer, als ihr wieder gewahr wurde, was für ein klägliches Bild sie wohl abgab. Eigentlich war sie eine Kämpferin, eine Kriegerin, eine Überlebenskünstlerin, doch im Moment wirkte sie eher wie ein verlorenes Mädchen, das völlig vom Kurs abgekommen war und absolut keine Ahnung mehr hatte, wo es sich eigentlich befand. Allein und verlassen, schutzlos den Elementen ausgeliefert. Unwillkürlich ließ sie ihren Blick über die dunklen Häuserfassaden schweifen. Nur ab und zu entdeckte sie ein erleuchtetes Fenster, der Rest lag in tiefster Finsternis. Alle schlummerten sie friedlich in ihren Betten, genossen ihren heiligen Schlaf und wussten rein gar nichts über die Geschehnisse hier unten auf der Straße. Ihnen war nicht klar, dass eine Frau, die nur im ersten Moment gewöhnlich und harmlos erschien, ganz einsam durch den Regen lief. Ebenso war ihnen nicht bewusst, was sich für Kreaturen sonst noch auf den Beinen befanden und unbemerkt durch die Stadt zogen. Wesen, die so menschlich und ungefährlich aussahen und dabei gleichzeitig doch so tödlich waren wie eine aggressive Giftschlange. Sie waren überall. Die wenigsten wussten es und noch weniger wagten es überhaupt, sich mit diesen Geschöpfen anzulegen, doch ab und zu gab es einige Verrückte, die dieses hohe Risiko auf sich nahmen. Und Eve war seit jeher stolz darauf, sich zu dieser Gruppe zählen zu können. Und mochte es auch kitschig klingen, ihre Arbeit als Berufung zu sehen, so war es doch genau das, was sie dabei empfand. Jeden Tag, jede Stunde, jede noch so kurze Minute. Selbst in diesem Moment – nass, bibbernd und hungrig – überwog immer noch das Gefühl des Gebrauchtwerdens. Sie war zwar gereizt, genervt und überaus versessen darauf, irgendjemanden so schnell wie möglich den Hals umdrehen zu können, aber dennoch gab es kaum einen Ort, an dem sie lieber gewesen wäre. Ihre Existenz hatte einen Sinn, einen übergeordneten Zweck, sodass ihr selbst im Augenblick ihres Todes ein Lächeln auf den Lippen liegen würde. Plötzlich riss sie das knackende Rauschen des Walkie-Talkies aus ihren Gedanken. „Er kommt direkt in deine Richtung, Hamilton“, meldete sich dort eine besorgt klingende Stimme, die Eve trotz der schlechten Verbindung als Richard wieder erkannte. „Du musst aufpassen.“ Eves Mundwinkel zogen sich bei diesen Worten automatisch nach oben. „Das werde ich, keine Sorge“, versprach sie. In Gedanken malte sie sich bereits aus, wie sie allein diese tagelange Jagd zu einem glorreichen Ende bringen würde. Sie würde die Heldin des Tages sein, gefeiert und hochgelobt von ihren Kollegen, die ebenso wie sie seit Ewigkeiten knöcheltief in Pfützen standen und sich nach etwas Trockenheit sehnten. „Warte, bis Verstärkung anrückt!“, brachte sie Richards scharfer Befehlston sofort wieder in die Realität zurück. Er war zwar noch weit davon entfernt, sich als Anführer zu bezeichnen, doch in der Rangordnung stand er eindeutig über Eve. „Alleine schaffst du es nicht.“ Eves Lächeln erlosch sofort. Richard hielt durchaus große Stücke auf sie und hatte sie schon bei zahlreichen Gelegenheiten als mitunter Beste ihres Faches tituliert, aber trotzdem sah er es nicht gerne, wenn sich seine Leute ganz allein in den Kampf stürzten. Eine Einstellung, die Eve zwar beileibe verstehen konnte, die ihr jedoch im Moment irgendwie den Spaß versaute. „Du bist ein Spielverderber, weißt du das eigentlich, Davis?“, beklagte sie sich seufzend. Halb rechnete sie daraufhin mit einem langen und breiten Vortrag, dass es sich bei ihrem Job gewiss nicht um irgendeine Art von Vergnügen handelte, doch erstaunlicherweise wusste er sich diesmal zu beherrschen und sagte stattdessen bloß sachlich: „Als Team sind wir nun einmal stärker. Also halt dich zurück, wenn du nicht tot in der Gosse enden willst.“ „Eigentlich ist das genau die Art von Tod, die ich mir eines Tages wünsche“, erklärte Eve grinsend. Am anderen Ende hörte sie ihn darauf lautstark über ihre Disziplinlosigkeit fluchen. Hätte er neben ihr gestanden, so war sie überzeugt, hätte er sie in diesem Moment am Kragen gepackt und ordentlich durchgeschüttelt. „Wir sind in ein paar Minuten da“, presste er schließlich hervor. Ihm war absolut klar, dass in solch einer Situation nicht mit Eve zu verhandeln war. „Tu bitte nichts Dummes.“ Eve brummte übellaunig vor sich hin, während sie das Walkie-Talkie wieder an ihrem Gürtel befestigte. Tu bitte nichts Dummes ... Richard hatte in dieser Hinsicht noch nie viel Vertrauen in sie gehabt. Er hielt sie für ein voreiliges, wagemutiges, dummes Ding. Unrecht hatte er damit allerdings nicht. Sie war in der Tat die Art Mensch, die eine Sache beim Schopfe packte, ohne groß darüber nachzudenken. Pläneschmieden lag ihr nicht im Blut und Geduld hatte sie sowieso so gut wie keine. Schon allein deswegen wollte sie diesen Vampir endlich schnappen, der sie bereits seit zwei vollen Tagen an der Nase herumführte und durch halb London hetzte. Eve hatte es satt, zu warten. Sie wollte endlich jemanden töten! Ganz egal, wen. Ihr Wunsch erfüllte sich bereits nach wenigen Augenblicken. Zunächst hörte sie nur das Scharren von Schuhen, schließlich nahm sie am Ende der Gasse eine verschwommene Gestalt wahr, die sich in ihre Richtung bewegte. Der Mann warf immer wieder verstohlene Blicke über seine Schulter, schien beunruhigt und ängstlich. Aus diesem Grund bemerkte er Eve auch erst, als sie direkt vor ihm stand. „Hallo, mein Freund“, sagte sie breit grinsend. Im dämmrigen Licht waren zwar nur wenige Einzelheiten zu erkennen, doch der Vampir war deutlich überrascht von ihrem unvermuteten Auftauchen. Er wich einen Schritt zurück und musterte sie argwöhnisch. Auch Eve begutachtete ihr Opfer. Sein teurer Anwaltsanzug war dreckig und zerschlissen, nichts ließ mehr darauf schließen, dass er einst ein berühmter und steinreicher Verteidiger vor dem Hohen Gericht gewesen war, der vor allen Dingen wegen seiner Redegewandtheit bekannt gewesen war. Sean Walker war sein Name gewesen, ein durchtriebener Geschäftsmann mit zwei Kindern, einer hübschen Frau und einer noch hübscheren Geliebten. Im Grunde ein Durchschnittstyp, auch wenn er sich selbst immer für etwas Besonderes gehalten hatte. Nun war er jedoch wirklich außergewöhnlich. Vor zwei Tagen war er einem Vampir über dem Weg gelaufen und damit war sein Schicksal besiegelt gewesen. Er war in einen Untoten verwandelt worden, vollkommen unvorbereitet. Ihm war wahrscheinlich selbst nicht ganz bewusst gewesen, was eigentlich genau mit ihm geschehen war. Sein Schöpfer jedoch hatte keine Zeit gehabt, Walker alles zu erklären, denn nur wenige Minuten nach der Transformation hatten Eves Leute ihn erwischt und vor den Augen seines neuen Geschöpfes umgebracht. Walker war daraufhin in Panik geflüchtet und hatte sich so gut versteckt, wie es ihm möglich gewesen war. Nun jedoch war er endlich entdeckt. Und Eve war entschlossen, ihn nicht wieder entkommen zu lassen. „Was – was wollt ihr überhaupt von mir?“ Walkers Stimme zitterte. Der Ärmste hatte keinerlei Ahnung, was eigentlich gespielt wurde. Wahrscheinlich glaubte er, von irgendwelchen nachtragenden Halsabschneidern, die er irgendwann in seinem Leben mal betrogen hatte, verfolgt zu werden. „Wer seid ihr?“ „Wir?“ Eve legte ihren Kopf schief und setzte ein süffisantes Lächeln auf. „Wir sind nur Dämonenjäger, sonst nichts.“ Wäre er noch ein Mensch gewesen, hätte er bestimmt laut aufgelacht. Nun jedoch, als Vampir, sagte ihm irgendeine tiefere Stimme, dass die Frau vor ihm ihn nicht anlog, sondern ganz knallhart die Wahrheit aussprach. Und diese schreckliche, beängstigende Tatsache verwirrte ihn letztendlich nur noch mehr. „Und ... was wollt ihr von mir?“, fragte er. „Du bist ein Vampir!“, meinte Eve. „Eine Gefahr für die Menschen. Du musst aus dem Weg geräumt werden.“ Walker schluckte und wich noch ein Stück mehr vor ihr zurück. Auch wenn sein Schöpfer keine Zeit gehabt hatte, ihn über seine neue Natur aufzuklären, so sollte er es dennoch inzwischen begriffen haben. Das Verlangen nach Blut musste dermaßen stark in ihm sein, dass man es sich nicht mal vorstellen konnte. Seit seiner Verwandlung hatte er nichts mehr getrunken, die Dämonenjäger hatten es immer wieder verhindern können. Tag und Nacht hatten sie ihn durch die Stadt gejagt und ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Dies hatte deutliche Spuren hinterlassen. Seine Wangen waren eingefallen und tiefe Augenringe durchzogen sein Gesicht. Er wirkte gehetzt und abgekämpft. Er war offenbar am Ende seiner Kräfte. Ältere Vampire brauchten nur zwei- bis dreimal im Monat Blut, doch die ganz frischen benötigten fast täglich eine ordentliche Portion, um sich und ihre Körper auf die neue Lebenssituation einzustellen. Ein paar Wochen oder oftmals auch Monate mussten sie Nacht für Nacht auf Jagd gehen, um ihren Durst zu stillen. Erst nach dieser Zeitspanne wurde es allmählich weniger. Und Walker hatte seit seiner Verwandlung nichts mehr zu sich genommen. Man hatte ihm keine Chance gegeben, sich an hilflosen Passanten zu vergreifen. Soweit Eve wusste, hatte der arme Kerl sich nicht mal an einer Ratte gütlich tun können. Er war ausgehungert, müde und kraftlos. Aber Eve gab sich keinen Illusionen hin, Walker war immer noch ein ernst zu nehmender Gegner. Vampire waren stets für eine Überraschung gut und gerade diejenigen, die in die Enge getrieben wurden, konnten zu wahren Bestien mutieren. Eve holte ihre 45er langsam aus ihrer Jackentasche hervor. Sie wollte Walker nicht durch unnötig hastige Bewegungen erschrecken oder gar reizen. Im Moment war der ehemalige Anwalt immer noch verwirrt und orientierungslos und Eve wollte diesen Zustand auf keinen Fall ändern. „Ich ... ich ...“ Walker schien zu ahnen, was sein Gegenüber vorhatte. Seine unnatürlich leuchtenden Augen richteten sich auf die Waffe in Eves Hand. „Ich ... ich habe niemanden etwas getan. Das schwöre ich.“ „Das wissen wir.“ Eve nickte bestätigend. „Aber du hast dich nur zurückgehalten, weil wir dir keine andere Wahl gelassen haben. Wären wir nicht gewesen, hättest du schon mehrere Unschuldige auf dem Gewissen. Ist es nicht so, Mr. Walker?“ Der Vampir schluckte, er fühlte sich offenbar ertappt. „Aber ... ihr könnt mich doch nicht für etwas verurteilen, was ich nicht begangen habe“, versuchte er es weiter. Nun kam der Anwalt in ihm zum Vorschein, mit allen Mitteln wollte er seine Haut retten. Doch Eve war nicht gewillt, sich auf dieses Spielchen einzulassen. „Du bist ein Dämon und musst deswegen sterben. So einfach ist das.“ Walker hob eine Augenbraue. „Das ist aber eine äußerst einseitige Sichtweise. Gut und böse – solch kindische Moralvorstellungen sind doch nur was für Amerikaner, aber nicht für eine Engländerin wie dich.“ Eve verstärkte den Griff um ihre Waffe und versuchte, ihren Ärger herunterzuschlucken. Im Grunde war Walker bloß ein weiteres Opfer der Dunkelheit und konnte nichts für seinen jetzigen Zustand, doch die Tage im Regen und der Kälte hatten Eves Toleranzgrenze ordentlich schrumpfen lassen. „Ehrlich gesagt ist es mir scheißegal, was so ein Untoter von mir hält. Du bist schon vor zwei Tagen gestorben, mein Freund, und deine Meinung ist heute keinen Pfifferling mehr wert. Du bist nur noch eine wandelnde Leiche, nichts weiter.“ Trotz seiner Unsicherheit und Verwirrung stieg nun auch langsam Wut in Walker hoch, dies konnte Eve ganz deutlich sehen. Seine Augen funkelten und er ballte die Hände zu Fäusten. Offenbar rang er um Selbstbeherrschung. Und Eve konnte sich ein triumphierendes Grinsen trotz alledem nicht verkneifen. Auch wenn sie andauernd Richards warnende Stimme im Hinterkopf hörte, sich unter allen Umständen zurückzuhalten. Wie aufs Stichwort rauschte das Walkie-Talkie kurz, einzelne verzerrte Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr. Offenbar war die Verstärkung bereits im Anmarsch und würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Auch Walker schien dies nun klar zu werden. Er wirkte wieder ein wenig verunsichert, sein Blick ruhte auf der Waffe in Eves Hand. Man konnte ihm förmlich ansehen, wie er seine Chancen ausrechnete und die Möglichkeiten abwog, die ihm noch blieben. Wie ein professioneller Anwalt analysierte er die Situation. Doch Eve entging nicht, dass neben all dieser überaus menschlichen Berechnung auch etwas anderes von ihm Besitz ergriffen hatte. Reine Gier schien es ihm schwer zu machen, einen klaren Gedanken zu fassen. Er musste das Blut, das durch ihre Adern floss, geradezu ohrenbetäubend laut hören. Und Eve war überzeugt, dass es Walker über kurz oder lang das letzte bisschen Verstand kosten und er sich wie ein wildes Tier auf sie stürzen würde. Denn all seine rationale Logik würde gegen die niederen Instinkte nicht bestehen können. „Ich weiß, was dir durch den Kopf geht.“ Eve setzte ein kaltes Lächeln auf. „Dieser quälende Durst muss doch unerträglich für dich sein. Warum kommst du nicht und kostest von mir?“ Eve war klar, dass Richard ihr dafür den Kopf abgerissen hätte, wäre er anwesend gewesen. Ihre Risikobereitschaft hatte ihn schon des Öfteren nahe an einen Herzinfarkt gebracht. Walker schien ihr Angebot auch ziemlich aus der Bahn zu werfen. All die Zeit über hatte er es mühevoll geschafft, den hungrigen Vampir irgendwie zu unterdrücken, doch nach und nach bröckelte die Fassade. Eve konnte ihm ansehen, dass der Mensch in ihm auf der Stelle verschwinden wollte. Doch die Bestie hatte Durst und war drauf und dran, die Kontrolle zu übernehmen. Eve konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ihr war es lieber, einen mordlüsternen Untoten umzubringen, als einen orientierungslosen Anwalt, der nicht wusste, was mit ihm geschah. Vampire, die sich menschlich gaben oder es vielleicht sogar noch waren, hatte Eve noch nie besonders gerne getötet. Immer wieder hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, auch wenn ihr bewusst gewesen war, dass dies im Grunde lächerlich war. Vampir blieb Vampir ... dennoch zog sie es vor, in Notwehr zu handeln, als jemanden einfach so umzubringen. „Also was ist nun?“, fragte Eve erwartungsvoll. „Willst du mich hier noch länger warten lassen? Ich weiß ganz genau, dass du dich nach meinem Blut sehnst. Warum also zögerst du?“ Walker knurrte leise. Seine glühenden Augen ruhten auf ihrem Hals. Es war offensichtlich, schon sehr bald würde er die Beherrschung verlieren und jede Vorsicht fallen lassen. Eve umklammerte fest den Griff ihrer Waffe. Sie war auf alle Eventualitäten vorbereitet. „Ist das Wetter nicht viel zu unangenehm, um sich hier draußen aufzuhalten? Ihr holt euch ja noch einen bösen Schnupfen.“ Eve zuckte erschrocken zusammen und auch Walker war nicht minder erstaunt. Sie beide waren dermaßen aufeinander fixiert gewesen, dass sie das Näherkommen dieser dritten Person gar nicht bemerkt hatten. Ein junger Mann war wie aus dem Nichts aufgetaucht, auf seinen Lippen lag ein breites Lächeln. Amüsiert blickte er von einem zum anderen, und obwohl er Eves Waffe sicherlich registriert hatte, ließ er sich nichts anmerken. Eve runzelte verwundert die Stirn und wusste darauf im ersten Moment nichts zu sagen. Vollkommen überrumpelt musterte sie diesen seltsamen Kerl, der sich zu nachtschlafender Zeit bei strömenden Regen in einer dunklen Gasse aufhielt und tatsächlich die Dreistigkeit besaß, den Kampf zwischen einem Jäger und einem Vampir zu unterbrechen. Nicht nur dieses fast irre Grinsen ließ Eve bei ihrer näheren Begutachtung erschauern, auch die Tatsache, dass er trotz des Regens nicht nass zu werden schien, machte sie misstrauisch. Er stand dort, ohne Regenschirm, und wirkte vollkommen trocken. Seine dunklen Haare waren wild und zerzaust und auch seine Kleidung machte nicht den Anschein, als hätte sie sich mit Feuchtigkeit voll gesogen. Offenbar handelte es sich bei ihm um einen Magier oder zumindest um jemanden, der es verstand, sich mittels Magie den lästigen Regen vom Hals zu halten. Bereits seit Jahren hatte Eve mit dieser besonderen Sorte Menschen zu tun und sie hatte dabei schon allerlei erstaunliche und oftmals gleichzeitig furchteinflößende Dinge gesehen. Mit einem leichten Unbehagen erinnerte sie sich daran, wie einst ein Magierlehrling die Küche ihres Hauptquartiers in die Luft gesprengt hatte, weil er Kaffee hatte zaubern wollen. Bei diesem Kerl jedoch schien der Umgang mit Magie ein bisschen besser zu funktionieren als bei ihrem stümperhaften Lehrling, der im Übrigen bei dieser Aktion einen Finger und einen großen Teil seines Selbstwertgefühls eingebüßt hatte. „Wer sind Sie?“ Eve gab sich keine Mühe, den Ärger in ihrer Stimme zu verbergen. Das Letzte, was sie brauchte, waren Augenzeugen oder potenzielle Geiseln für den überaus durstigen Vampir. „Ich habe viele Namen“, meinte der Fremde. „Aber du kannst mich gerne Seth nennen.“ „Wie der ägyptische Gott?“, hakte Walker nach und schien dabei vollkommen zu vergessen, in was für einer Situation er sich eigentlich befand. Seth schenkte dem Vampir ein geheimnisvolles Lächeln. „Ganz genau.“ Eve knirschte ungeduldig mit den Zähnen. Ihr gefiel die neue Situation ganz und gar nicht. Es war niemals gut, wenn sich unbeteiligte Personen, ob nun Magier oder nicht, in Jäger-Angelegenheiten einmischten. „Ist ja wunderbar“, meinte sie bissig. „Sagen Sie Ihrer Mutter einen schönen Gruß, sie hat echt ein Händchen für hübsche Namen. Aber trotzdem sollten Sie jetzt lieber verschwinden. Zu Ihrer eigenen Sicherheit.“ Eve konnte nicht riskieren, dass diesem Typen irgendetwas zustieß. Dämonenjäger waren stets darauf bedacht, unschuldige Zivilisten aus ihren Kämpfen herauszuhalten. Außerdem musste sie sich eingestehen, dass ihr der Kerl nicht ganz geheuer war. Irgendwas war falsch an ihm. „Ich kann leider nicht verschwinden“, entgegnete Seth, immer noch mit diesem Grinsen im Gesicht. Eve hob eine Augenbraue. „Und warum nicht?“ Allmählich verlor sie ihre Geduld. Am liebsten hätte sie diesen vermeintlichen Gott einfach bewusstlos geschlagen und in die nächste Gosse geworfen, damit sie sich wieder ungestört mit Walker beschäftigen konnte. „Man hat mich geweckt, um die Teufelsbrut auszulöschen.“ Eve blickte verwundert drein und auch Walker machte einen ziemlich verdutzten Eindruck. Sie beide wechselten einen ratlosen Blick und vergaßen für einen Moment völlig, dass sie eigentlich auf verschiedenen Seiten standen. „Sie sind … sehr seltsam“, stellte Eve schließlich unumwunden fest. „Vielen Dank“, meinte Seth. Offenbar schien er diese Bemerkung tatsächlich für ein Kompliment zu halten. „Du bist wirklich zu gütig, Eve Hamilton.“ Die Dämonenjägerin zuckte zusammen, fassungslos starrte sie den regenabweisenden Zauberer an. Woher zum Teufel kannte der Kerl ihren Namen? „Du brauchst nicht so erschrocken dreinzuschauen“, fuhr Seth fort. „Ich habe schon lange darauf gewartet, dich einmal persönlich zu treffen.“ Eve wusste nicht, was sie darauf hätte sagen können. Ihr wurde bloß bewusst, dass dieser Typ wohl beileibe nicht so ein unschuldiger Passant war, wie es den Anschein machte. Dieser Kerl wusste ganz genau, woran er war. Vielleicht hatte er sogar in einer dunklen Ecke gewartet, bis Mensch und Vampir aufeinander getroffen waren. Eve spürte, wie sämtliche Alarmglocken in ihrem Inneren gleichzeitig zu schellen begannen. Ein Fremder, der sich mitten in der Nacht im strömenden Regen versteckt hielt und ihren Namen kannte? Das war mehr als sonderbar und verdächtig. Und darüber hinaus überaus beunruhigend. Ohne großartig darüber nachzudenken, brachte sie demonstrativ ihre 45er in sein Blickfeld und setzte eine harte Miene auf. „Wer auch immer Sie sind, verschwinden Sie endlich!“, zischte sie ungehalten. „Ich habe gerade wirklich keine Zeit, mich mit Ihnen auseinanderzusetzen. Ich muss einen Job zu Ende bringen.“ Seth legte seinen Kopf schief. „Ich auch.“ Und mit diesen Worten trat er unvermittelt zu Walker. Der Vampir war dermaßen verwirrt, dass er einen Schritt zurückstolperte und Seth verwundert musterte. Doch der Fremde grinste nur unentwegt und legte Walker eine Hand auf die Schulter. „Tut mir leid, Kleiner“, sagte Seth gespielt mitleidig. „Dein unsterbliches Leben ist nun vorbei.“ Walker setzte eine ratlose Miene auf. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er mit der Situation heillos überfordert war. Erst war er unverhofft in einen Vampir verwandelt worden, dann hatte man ihn tagelang gejagt und nun tauchte auch noch dieser seltsame Mann auf, der von Teufelsbruten und Schicksalsbegegnungen redete. Wahrscheinlich stand Walker kurz vor einem Nervenzusammenbruch und Eve ertappte sich dabei, wie sie dem Vampir einen leicht mitleidigen Blick zuwarf. Doch schnell setzte sie wieder einen harten Gesichtsausdruck auf und betete zu Gott, dass niemand ihren schwachen Moment bemerkt hatte. Und wie es aussah, schien ihr Wunsch auch in Erfüllung zu gehen. Keiner der beiden Herren hatte ein Auge für die Jägerin, sie starrten sich bloß gegenseitig an. Seth wirkte immer noch übertrieben selbstbewusst, während Walker zunehmend nervöser zu werden schien. Obwohl er ein Vampir war und sich eigentlich seinem Vorteil gegenüber einem Menschen hätte bewusst sein sollen, ließ er sich dennoch von Seth einschüchtern. Offenbar schienen seine Instinkte ihn vor dem Kerl zu warnen. Und das auch zu Recht, wie sich im nächsten Augenblick herausstellte. Walker verzog plötzlich schmerzerfüllt das Gesicht, als würde er qualvoll gepeinigt. Er riss entsetzt die Augen auf und keuchte schwer, während er mühevoll versuchte, Seth irgendwie zu entkommen. Walker griff nach dem Arm des vermeintlichen Magiers und wollte ihn wegstoßen, doch unvermittelt schrie er auf und zog seine Hand blitzschnell zurück. Die Handinnenflächen waren bis auf die Knochen verbrannt, wie Eve geschockt erkannte. Die Jägerin schnappte nach Luft und starrte voller Schrecken auf die Szenerie, die sich ihr nun bot. Walker hatte keinerlei Chance. Indem er Seth an sich hatte herantreten lassen, war sein Schicksal besiegelt worden. Er stieß einen letzten markerschütternden Schrei aus, bevor es endgültig mit ihm zu Ende ging. Seine angsterfüllten Augen brannten sich in Eves Netzhaut. Wie es nun genau geschah, konnte Eve beim besten Willen nicht feststellen. Sie sah bloß fassungslos dabei zu, wie ein Vampir im strömenden Regen plötzlich in Flammen aufging. Sein Körper wurde vom Feuer umschlossen und vollständig verschluckt, während Seth einige Schritte zurücktrat und stolz sein Werk betrachtete. Die Flammen züngelten wie mordlüsterne Raubtiere, als sie Walkers fleischliche Hülle auffraßen. Die Schreie des Vampirs wurden von dem roten Tod erstickt. Als das Feuer im nächsten Moment erlosch, war Walker verschwunden. Von ihm war nicht mehr übrig geblieben als ein kleiner Haufen Asche, der sich in den tiefen Pfützen auflöste und verlor. Innerhalb eines Atemzuges hatte Seth es geschafft, einen Vampir umzubringen. Und das offenbar ohne große Kraftanstrengung. Eve starrte den Mann mit dem wirren Haar entgeistert an. Für einen kurzen Moment war sie sogar felsenfest davon überzeugt, dass das alles bloß ein Albtraum war. Schließlich konnte es nicht wahr sein! Es war für einen einzelnen Mann schlichtweg unmöglich, ein Vampir mit Magie zu töten. Selbst einen jungen und geschwächten, so wie Walker es gewesen war. Man konnte ihnen vielleicht schaden, aber umbringen konnte man sie gewiss nicht. Und dennoch war es geschehen. Genau vor ihren Augen. „Beeindruckt?“ Seth musterte sie erwartungsvoll, auf seinem jungenhaften Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln. Seine grünen Augen funkelten belustigt, als würde er das alles nur für ein vergnügliches Spiel halten. Eve wich einige Schritte zurück und landete prompt in einer tiefen Pfütze. Sie spürte, wie das kalte Wasser sich einen Weg durch ihre Schuhe bahnte und ihre Socken ertränkte, doch das kümmerte sie im Augenblick herzlich wenig. „Du ... du hast ...“ Sie fand keine Worte, immer noch total überrumpelt von dem plötzlichen Tod des Vampirs. „Du wolltest ihn doch sowieso töten, nicht wahr?“ Seth zuckte mit den Schultern. „Ich bin dir nur etwas zur Hand gegangen.“ Eve versuchte, ihr wild pochendes Herz zu beruhigen, aber irgendwie gelang es ihr nicht. Sie konnte sich einfach nicht helfen, dieser Typ war über alle Maßen unheimlich. Ein beklemmendes Gefühl stieg in ihr auf und ließ sich auch nicht wieder vertreiben. „Bist du ... vielleicht ein Jäger?“, fragte Eve zaghaft nach. Seth lachte auf. „Das könnte man so ausdrücken“, meinte er amüsiert. „Wie bereits gesagt, man hat mich geweckt, um diese Teufelsbrut auszuschalten.“ Eve hatte diese Aussage gewiss nicht vergessen. Weder sie noch Walker hatten es verstanden. „Was willst du eigentlich?“ Sie umklammerte fast schon krampfhaft den Griff ihrer Waffe und versuchte, sich selbst Mut zuzusprechen. Normalerweise war die Nähe ihrer 45er tröstend für sie, aber diesmal funktionierte es nicht so recht. „Ich will vieles, und doch kann ich nicht alles bekommen“, meinte er. Obwohl er dabei grinste, wirkten seine Augen irgendwie traurig. Melancholisch. „Der Sinn meines Lebens ist es, diese untoten Bastarde von Antlitz der Welt endgültig zu löschen. Und schon sehr bald werden die Ältesten hier sein und ihr wahres Wunder erleben.“ „Die Ältesten?“ „Asrim und die Sieben“, erklärte Seth völlig gelassen. „Glaub mir, schon bald werden sie London aufmischen. Und das nur, um mich zu finden.“ Er lachte humorlos. „Und dann werde ich sie umbringen. Einen nach dem anderen.“ Eve schluckte. Seine Stimme klang plötzlich so kalt und unmenschlich, dass ihr unwillkürlich ein Schauer über den Rücken lief. Allein die Erwähnung von Asrim und den Sieben hatte ausgereicht, um in Seth äußerst negative Gefühle zu wecken. In seinen Augen lag ein Glanz, der Eve entfernt an hasserfüllte Blicke vieler Vampire erinnerte, bei deren Ende sie anwesend gewesen war. „Weißt du, mein Schatz, ich würde dir wirklich gern noch mehr erzählen, aber ich fürchte, wir kriegen Besuch“, meinte Seth. In der Ferne hörte man eilige Schritte, die sich schnell näherten. Offenbar war das die Verstärkung, auf die Eve bereits gewartet hatte. Ihr Blick fiel unweigerlich auf die nasse Asche, die am Boden lag. Nun würde es ihnen nicht mehr vergönnt sein, Walker nach dieser langen Jagd endgültig zu erledigen. „Aber wir werden uns wieder sehen, Eve Hamilton“, sagte Seth mit einem Lächeln. „Denn du bist mein Schicksal.“ Bevor Eve nachhaken konnte, was er überhaupt damit meinte, war er auch schon von der Finsternis der Nacht verschluckt worden. Eve war zu einer Salzsäule erstarrt, mehrere Minuten rührte sie sich nicht. Fassungslos starrte sie in die Richtung, in die Seth verschwunden war, während ihre Kameraden kurz darauf am Ort des Geschehens ankamen und sich verwundert umschauten. Einige schwärmten aus, offenbar in der Annahme, Walker wäre erneut entkommen. Aber diesmal hatte er sich nicht herauswinden können. Er war endgültig tot. Und obwohl dies Eve eigentlich hätte heiter stimmen müssen, war es wie ein Schlag in die Magengrube. Es war nicht der Vampir selbst, dem sie nachtrauerte, es war vielmehr die Art, wie er gestorben war. Es hatte ihr einen Schock versetzt, so ungern sie es auch zugab. Sie hatte schon viele seltsame Dinge gesehen, aber Walkers Tod war das merkwürdigste und mysteriöseste gewesen, was ihr je untergekommen war. Eigentlich hätte es nicht sein dürfen ... und dennoch war es geschehen. Die Grenzen des Möglichen waren erneut gesprengt worden. „Eve? Was ist los?“ Richards Stimme drang erst nach einer Weile zu ihr durch. Sie zwang sich, ihn anzuschauen. Seine blauen Augen musterten sie besorgt. „Was ist mit Walker? Hat er dir was angetan?“ Eve schüttelte ihren Kopf und war erstaunt, wie schwer dieser auf einmal schien. „Nein“, widersprach. „Er ist tot.“ „Du hast ihn erledigt?“, fragte er überrascht. Er schien nicht so recht zu wissen, ob er stolz oder eher wütend sein sollte. Auch einige Männer im Hintergrund, die ihre Aussage gehört hatten, wechselten erstaunte Blicke. „Ich war das nicht“, entgegnete Eve. „Und wer dann?“ Eve antwortete nicht. Sie wusste es ja selbst nicht. Sie konnte bloß raten und Mutmaßungen anstellen, aber zu einem konkreten Ergebnis würde sie allein niemals kommen. „Ich muss dringend mit dem Chef reden“, meinte sie stattdessen. „Ich glaube, wir haben ein großes Problem.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)