Vergeltung von Nochnoi (Version II) ================================================================================ Kapitel 3: Großstädte --------------------- Irgendwo in der Ferne hörte Eve eine Kirchenglocke schlagen. Es war fünf Uhr in der Früh und die meisten Londoner schliefen noch in ihren wohlig weichen Betten. Eve jedoch hatte sich diesen Luxus nicht leisten können. Nass bis auf die Knochen war sie direkt nach der Begegnung zum Hauptquartier geeilt. Sie hatte sich nicht mal Zeit genommen, sich der feuchten Kleidung zu entledigen und sich umzuziehen. Inzwischen bereute sie ihre überstürzte Tat. Der nasse Stoff klebte an ihrer Haut und kühlte ihren Körper ungemein schnell aus. Anfangs hatte sie unkontrolliert gezittert und sich selbst für ihre Unbedachtsamkeit verflucht. Erst als Richard ihr einen heißen Kaffee gebracht und ihr eine wärmende Wolldecke um die Schultern gelegt hatte, ging es wieder etwas besser. „Du solltest raus aus den nassen Klamotten“, meinte er streng. Eve kicherte daraufhin nur. „Du bist wirklich unglaublich romantisch, mein Freund.“ „Und du bist viel zu leichtsinnig“, knurrte Richard. „Wieso warst du überhaupt alleine unterwegs? Ich hatte dich doch einer Einheit zugeteilt.“ Eve setzte eine missmutige Miene auf. „Du hast mich zusammen mit Simmons und Leland in ein Team gesteckt und allen Ernstes gedacht, ich würde mir das so einfach bieten lassen?“ Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Die beiden sind doch absolut geistesgestört. Die haben immer so ein Funkeln in den Augen, als würden sie am liebsten alles umbringen, was ihnen in den Weg kommt. Ich kann sowieso nicht verstehen, warum man diesen Kerlen überhaupt Waffen in die Hand drückt. Das ist sowohl für ihre Feinde als auch für ihre Verbündeten lebensgefährlich.“ Richard grummelte wieder vor sich her, entgegnete jedoch nichts. Eve kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er ihr insgeheim Recht gab. Sie genehmigte sich ein kleines triumphierendes Lächeln, welches ihr Gegenüber mit einer säuerlichen Miene quittierte. Eve nippte an ihrem Kaffee und schaute sich in dem riesigen Zimmer um, welches sie selbst nach all den Jahren immer wieder in Ehrfurcht versetzen konnte. Als sie zum ersten Mal diese gigantische Bibliothek gesehen hatte, hatte sie erstaunt nach Luft geschnappt und einige unflätige Worte ausgestoßen, dermaßen überwältigt war sie gewesen. Und dieses Gefühl hatte sich selbst nach all der Zeit nicht verflüchtigt. Allein schon das Anwesen, das die Dämonenjäger als ihr Hauptquartier bezeichnen durften, war atemberaubend. Eine imposante Villa am Stadtrand, die gut und gerne über zweihundert Jahre auf dem Buckel hatte. Zwar hatte sie durch den Zweiten Weltkrieg einige Schäden erlitten, diese waren jedoch inzwischen vollständig repariert und auch so gut wie gar nicht mehr sichtbar. Zumindest hatte Eve die ausgebesserten Stellen erst bemerkt, als man sie darauf aufmerksam gemacht hatte. Seit dem Abschluss der Bauarbeiten Ende des 18. Jahrhunderts diente dieses Anwesen den Dämonenjägern als Versteck und Unterkunft. Für die Wissenschaftler, Kämpfer und Spitzel war es ein Ort der Zusammenkunft und der Sicherheit. Kein Vampir hatte es bis jetzt gewagt, sich der Villa auch nur ansatzweise zu nähern. Überall waren Fallen verborgen, die für einen Untoten nicht unbedingt förderlich gewesen wären. Auch rankten sich um das Anwesen zahlreiche Mythen und Legenden, die selbst der gemeinen Bevölkerung Angst einjagten. Ob nun Mensch oder Vampir, man mied die Villa, so gut man konnte. Eve schaute sich ehrfurchtsvoll in der großen Bibliothek um. Bücher aus der ganzen Welt und aus den verschiedensten Zeitaltern waren hier zu finden, selbst antiquierte Stücke, die als verschollen oder vernichtet galten. Sogar einige Schriftrollen aus der berühmten Bibliothek von Alexandria befanden sich in dieser vielfältigen Sammlung, hatte Eve sich sagen lassen. Jedes Mal, wenn sie diesen riesigen Raum betrat, fühlte sie sich ganz klein und nichtig. So war es auch diesmal. Sie hockte auf ihrem weichen Polstersessel und kam sich vor, als würden all die Folianten und Bücher sie von oben herab mustern. Manchmal hatte Eve sogar das Gefühl, leise Stimmen zu hören, obwohl niemand in der Nähe war. Als würden diese alten Dokumente ihr etwas zuflüstern. Eve hatte schon mehr als einmal geglaubt, dass sie an diesem Ort verrückt werden würde, würde sie zu lange dort verweilen. „Ah, Ms. Hamilton“, drang plötzlich die sanfte Stimme von Liam McCoy an ihr Ohr. Der schon etwas ältere Mann kam aus einem Hinterzimmer hervor und lächelte die beiden Gäste an. „Wie schön, zu sehen, dass es Ihnen gut geht.“ Liam war die Art von Mann, die sich jeder gern als Großvater wünschte. Er ging stark auf die sechzig zu, war stämmig und durch sein langes Leben als Dämonenjäger auch muskulös und noch relativ gut in Form. Einzig sein linkes Bein machte ihm Probleme. Bei einem Kampf mit einem überaus gereizten Vampir war es schwer verletzt worden, eine Zeit lang hatten die Ärzte sogar erwogen, es zu amputieren. Schließlich jedoch hatte es sich doch noch zum Guten gewandt, Liam hatte sein Bein behalten können. Allerdings war er nun auf die Hilfe eines Gehstocks angewiesen und dies würde wahrscheinlich bis an sein Lebensende so bleiben. Liam hatte es mit Humor genommen. Immer wieder hatte er betont, dass er weitaus mehr hätte verlieren können. Somit hatte er sich mit seinem Schicksal abgefunden und den aktiven Dienst an den Nagel gehängt. Viele der Jäger hatten diesen Schritt sehr begrüßt, denn die meisten von ihnen hatten es nie gern gesehen, dass ihr Chef sich regelmäßig in Gefahr begab. „Sie sind ja völlig durchnässt“, stellte Liam verwundert fest. „Hat es etwa geregnet?“ Ja, bereits seit zwei Tagen, dachte Eve, doch sie verkniff sich jeglichen bösen Kommentar. Im Grunde fand sie ihren Chef sogar sehr amüsant. Manchmal war er derart verschroben und schusselig, dass man nur darüber lachen konnte. Liam war dazu imstande, sich dermaßen in seine Arbeit zu vertiefen, dass er alles um sich herum vergaß. Selbst die Geburt seines Sohnes Daniel hätte er beinahe verpasst gehabt, weil er sich irgendwo in seinen Büchern und Zetteln verloren hatte. Daniel, inzwischen Anfang dreißig und ebenfalls aktiver Dämonenjäger, hatte davon nie etwas erfahren und das würde wahrscheinlich auch so schnell nicht passieren. „Sie sollten die nasse Kleidung ausziehen“, meinte Liam, als er sich ächzend auf einen protzigen Ledersessel setzte. „Sonst erkälten Sie sich noch oder kriegen gar eine Lungenentzündung.“ „Das hab ich ihr auch gesagt“, meldete sich Richard. Eve warf ihm daraufhin einen vernichtenden Blick zu. „Ich weiß, meine Herren, ich weiß“, sagte sie zähneknirschend. „Aber wir haben dringendere Probleme.“ „Dieser merkwürdige Unbekannte.“ Liam nickte. Man hatte ihn bereits über alles informiert und so, wie Eve ihn kannte, hatte er sicherlich schon einige Bücher durch gewälzt, um wenigstens ein paar Antworten auf ihre zahlreiche Fragen zu erhalten. „Ein wirkliches Mysterium.“ „Wir haben bei anderen Jägerstützpunkten nachgefragt“, berichtete Richard. „Manchester, Glasgow, sogar Dublin. Nirgends ist dort ein Mann namens Seth bekannt.“ „Ich glaube nicht, dass er wirklich so heißt“, meinte Eve nachdenklich. „Er sagte mir, er hätte viele Namen.“ Liam nickte, während er sich grübelnd über den Kinnbart strich. „Das dachte ich mir schon“, murmelte er. „Und selbst wenn es sein richtiger Name wäre, würde uns das nicht viel weiter helfen. Unter der Bezeichnung 'Seth' findet man nur Informationen zu dem ägyptischen Gott ... und zu irgendwelchen Hollywood-Schauspielern, die wie Milchbübchen aussehen.“ Richard seufzte und fuhr sich durch das dunkle Haar. Dieser Geste bediente er sich immer, wenn er nicht weiter wusste oder nervös war. „Also sind wir genauso schlau wie zuvor“, stellte er fest. „Er scheint  zumindest ein Gönner oder wenigstens kein Feind der Dämonenjäger zu sein. Immerhin hat er Walker vernichtet und Eve somit das Leben gerettet.“ Die Besagte kam nicht umhin, ihrem Freund einen Tritt vors Schienbein zu verpassen. Auch ohne Seths Unterstützung wäre es ihr sehr wohl gelungen, den ausgehungerten und kraftlosen Vampir zu vernichten, doch Richard traute ihr wie üblich viel zu wenig zu. Liam bemerkte ihren kleinen Disput nicht. Gedankenverloren starrte er vor sich hin und erst nach einer Weile wandte er seine grauen Augen Eve zu. „Ms. Hamilton“, sagte er mit ungewöhnlich ernster Stimme. „Was sagen Sie dazu? Ist dieser Seth unser Freund?“ Eve konnte Liams durchdringenden Blick nur schwer ertragen, sodass sie zur Seite sah und sich die Worte ihres Chefs durch den Kopf gehen ließ. Sie rief sich Seths Bild erneut vor Augen und versuchte, sich zu erinnern, wie sie sich in seiner Nähe gefühlt hatte. Sie sah wieder dieses wirre Haar, das den Anschein erweckt hatte, als hätte er kurz zuvor in eine Steckdose gepackt oder wäre gar vom Blitz getroffen worden. Auch dieses breite Grinsen in seinem schon fast jungenhaft zu nennenden Gesicht hatte seltsam auf Eve gewirkt, beinahe schon ein wenig wahnsinnig. Und seine Augen, deren Farbe Eve aufgrund der spärlichen Beleuchtung nicht hatte erkennen können, hatten in einem merkwürdigen Glanz geschimmert. Ebenso entsann sich die junge Frau daran, wie Walker auf den Unbekannten reagiert hatte. Der Untote war verwirrt gewesen, was man unter Umständen auf seine missliche Lage hätte zurückführen können. Doch Eve war der festen Überzeugung, dass es Seth selbst gewesen war, der ihn eingeschüchtert hatte. Womöglich hatte der Vampir sogar Angst gehabt. Angst vor jemanden, der geheimnisvoller nicht hätte sein können. Und sie selbst? Eve konnte nicht genau bestimmen, wie sie sich in Seths Gegenwart eigentlich gefühlt hatte. Ihre Emotionen waren wie in einem Strudel gefangen gewesen, alles war herum gewirbelt. Sie hatte alles Mögliche unternommen, um sich von diesem Kerl nicht entmutigen zu lassen, aber wirklich gelungen war es ihr nicht. „Ms. Hamilton?“ Liams Stimme riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Er erwartete offenbar eine Antwort von ihr. „Ich denke nicht, dass er unser Freund ist“, erwiderte Eve schließlich. „Ich weiß auch nicht, woher diese Erkenntnis kommt, aber er war einfach ... falsch.“ Ihr fiel einfach keine bessere Erklärung ein. Seth hatte ihr kein Haar gekrümmt, sie im Grunde sogar beschützt, dennoch glaubte Eve nicht, dass er auf ihrer Seite stand. Er hatte etwas an sich gehabt, was nicht besonders menschlich gewirkt hatte. „Das hatte ich mir bereits gedacht“, meinte Liam nickend. „Dieser Seth könnte wahrscheinlich für die ganzen Brände in der letzten Zeit verantwortlich sein.“ Eve schaute alarmiert auf, auch Richard neben ihr zuckte zusammen. Schon seit mehreren Wochen hatte es vermehrt kleinere und größere Brände in London gegeben, die schweren Schaden angerichtet hatten. Und bis jetzt tappte die Polizei völlig im Dunkeln. Dass es keine zufälligen Feuer, sondern mutwillige Zerstörung war, hatte man inzwischen herausgefunden, doch von den Drahtziehern fehlte immer noch die geringste Spur. Deswegen hatten sich die Behörden auch an die Jäger gewandt. Viele glaubten, dass die Brände und ganz besonders der oder die Brandstifter keinen natürlichen Ursprung hatten. „Also Seth soll dafür verantwortlich sein?“, fragte Eve nach. Diese Theorie ergab durchaus Sinn, immerhin hatte er sein Geschick mit Feuer direkt vor ihren Augen bewiesen. „Aber warum?“ „Er hat Ihnen doch gesagt, dass er geweckt worden sei, um die Teufelsbrut zu töten, nicht wahr?“ Liam war wie üblich bestens informiert. „Wir wissen zwar nicht, was genau das heißen soll, aber anscheinend konzentriert er sich auf Vampire. Das würde auch erklären, wieso er diesen Walker getötet, aber Ihnen nichts angetan hat.“ Richard hob seine Augenbrauen. „Aber das wäre doch von Vorteil für uns, oder etwa nicht?“ Liam seufzte schwer. „Auf den ersten Blick mag das durchaus so aussehen. Schon seit einiger Zeit bemerken wir, dass ungewöhnlich viele Vampire London verlassen. Und wir haben über unsere Kontakte zur Unterwelt erfahren, dass viele Untote verschwunden sind. Tot, vermutlich. Seit diese Brände ausgebrochen sind, sind die Vampire im Aufruhr.“ Eve nickte. Dieses Phänomen war ihr auch schon aufgefallen. In letzter Zeit schien die ganze Stadt angespannt zu sein. Auch Walkers Schöpfer – ein schon älterer Vampir, der den Dämonenjägern des Öfteren entkommen war – hatten sie überraschen können. Es war Eve erschienen, als wäre er von etwas anderem abgelenkt gewesen. Nervös und unruhig hatte er gewirkt, er hatte seine Umgebung kaum mehr wahrgenommen. Womöglich hatte er sogar deshalb Walker erschaffen – um sich weiteren Schutz an die Seite zu stellen. „Die Vampire haben Angst“, murmelte Eve. Irgendwie versetzte ihr diese Erkenntnis einen Stich. Unwillkürlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, sodass sie die warme Decke noch enger um sich schlang. „Die mächtigen Untoten scheinen sich tatsächlich zu fürchten“, bestätigte Liam. „Vor uns Jägern hatten sie nie wirklich Respekt, selbst als unsere Waffen mit der Zeit immer moderner und effizienter wurden, haben sie uns noch ausgelacht.“ Er schwieg kurz und starrte vor sich hin. „Welche Macht muss da also am Werke sein, dass diese Geschöpfe es mit der Angst zu tun bekommen?“ Eve schüttelte den Kopf. Sie wollte lieber gar nicht darüber nachdenken. Sie sehnte sich nur nach einem bequemen Bett und ein paar Stunden traumlosen Schlaf. „Aber ist dieser Seth nun böse oder nicht?“, wollte Richard wissen. Liam lachte leise. „Die Welt ist grau, mein Freund, nicht schwarz-weiß. Dieser Seth scheint tatsächlich Vampire zu jagen, wenn man den Berichten glauben mag ... allerdings nimmt er dabei wenig Rücksicht auf andere. Die Brände haben schon vielen Menschen das Leben gekostet. Es stört ihn offenbar wenig, ob er bei seinen Aktionen auch noch ein paar Unschuldige tötet oder nicht.“ Ihr Chef setzte eine harte Miene auf. „Und solch ein Treiben dürfen wir nicht dulden. Er kann so viele Vampire umbringen, wie er will, aber sobald er sich an einem Menschen vergreift, ist er auch unser Feind.“ Eve rieb sich die Schläfen. Ihr Kopf dröhnte. Zu gerne hätte sie die vorangegangenen Ereignisse einfach vergessen, doch unglücklicherweise war dies nicht möglich. „Aber wer oder was ist dieser Seth nun?“, fragte Richard. „Wirklich ein Magier?“ „Er hat den Regen mit einem Zauber von sich fern gehalten“, erklärte Eve. „Und er hat Feuer aus dem Nichts geschaffen. Aber genau da liegt das Problem.“ Liam nickte verstehend. „Es bedarf großer Macht, einen Vampir mit einem magischen Feuer zu töten.“ Genau das war es, was Eve so unendlich viel Kopfzerbrechen bereitete. Untote waren gegenüber Magie zwar nicht immun, aber sie wiesen eine größere Standhaftigkeit auf. Im Gegensatz zu Menschen und auch vielen anderen übernatürlichen Geschöpfen benötigte man sehr viel Energie, um einen Vampir alleine mit Magie schwer zu verletzen oder gar zu töten. Bei solch einem Vorhaben schlossen sich meist mehrere Magier zusammen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Doch Seth war vollkommen alleine gewesen. Und es schien ihm nicht mal ansatzweise ermüdet zu haben. Als wäre es bloß eine nichtige Kleinigkeit gewesen. „Ich habe noch niemals gehört, dass ein einzelner Magier so etwas zustande bringt“, meinte Liam kopfschüttelnd. „Es kann natürlich sein, dass sich in unseren Archiven irgendwas dazu findet, aber ...“ Er seufzte auf. „Mir persönlich ist so etwas noch niemals zuvor untergekommen. Und ich habe schon eine Menge erlebt.“ Mit einem Mal wirkte der alte Mann mit den sonst so munteren Augen sehr müde. Er schien regelrecht in seinem großen Sessel zu versinken, während er seinen Gedanken nachhing und versuchte, dem Ganzen irgendwie einen Sinn zu entlocken. Und Eve hasste sich selbst dafür, dass das nicht das Ende der Hiobsbotschaften war. „Außerdem hat Seth noch Asrim und die Sieben erwähnt.“ Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als sie sich daran erinnerte. „Er meinte, sie wären auf den Weg hierher.“ Richard sog zischend die Luft ein. „Hierher? Nach London?“ Liam seufzte daraufhin schwer und rieb sich die Schläfen. „Das wäre wirklich nicht gut.“ Er schwieg einen Moment, ehe er fast schon geistesabwesend hinzufügte: „Gar nicht gut.“ Eine Aussage, der Eve unter keinen Umständen widersprochen hätte. Dämonenjäger stellten sich unentwegt Vampiren und anderen Geschöpfen der Nacht in den Weg und bekämpften sie verbissen. Es war ihr Ziel, ihre Lebensaufgabe und nicht auch selten ihr Tod. Dennoch trugen die meisten dieses Kreuz bis ans Ende und scheuten sich vor keiner Konfrontation. Selbst wenn die Chancen denkbar schlecht standen. Doch die Sieben gehörten einer Kategorie weit jenseits ihrer Vorstellungen an.  Sie waren Legenden und Mysterien. Märchen, die man seinen Kindern vor dem Zubettgehen erzählte, obwohl sie eigentlich viel zu schrecklich und grausam waren, als dass man danach noch hätte schlafen können. Sie waren Geschichten, geflüsterte Worte in dunklen Gassen, Erinnerungen und Gedanken. Und gleichzeitig entsetzlich real, sodass die Möglichkeit, dass einer von ihnen im nächsten Augenblick aus den Schatten hervortrat und unschuldige Seelen in die Hölle entführte, bei weitem nicht so unwahrscheinlich war, wie man sich das vielleicht erträumen wollte. Man fürchtete sie. Und nicht nur die Menschen, sondern auch die Vampire selbst. Die Sieben waren wie unberechenbare Könige, die Gnade oder den Tod bringen konnten. Je nachdem, wie ihnen der Sinn danach stand.  Schon am Anfang ihrer Ausbildung wurde den Jägern aufs schärfste eingebläut, dass diese berüchtigten sieben Vampire zu den gefährlichsten der Welt gehörten und dass man sich unter keinen Umständen mit ihnen anlegen sollte. Wenn es um diesen Clan ging, war Flucht die einzige Möglichkeit, um zu überleben. Und Asrim war ihr aller Vater, ihr Schöpfer, ihr Gott. Er hatte die sieben großen Vampirfürsten Sharif, Alec, Oscar, Yasmine, Annis, Elias und Necroma vor Tausenden von Jahren erschaffen und ihnen somit eine Macht gegeben, die man sich nicht vorstellen konnte. Asrims Blut, so hieß es, wirkte wie ein Zauberelixier für denjenigen, den er für auserwählt erachtete. So zumindest wurde es sich erzählt. Man hatte jedoch schon immer bezweifelt, dass sie vollkommen unbesiegbar wären. Es hatte in der Vergangenheit bereits einige Versuche gegeben, diese besagte Sippe auszulöschen, und auch wenn keiner davon von Erfolg gekrönt gewesen war, so hatten doch einzelne Begebenheiten gezeigt, dass sie keine übermenschlichen Götter waren. Man konnte sie schwächen, man konnte sie aus dem Konzept bringen und sicherlich konnte man sie auch töten. Bisher waren jedoch nur sehr wenige erpicht darauf gewesen, es wirklich zu versuchen. Und Eve wollte sich sicher nicht dazu zählen. Sie mochte niemals vor einem Kampf davonlaufen, gelegentlich suchte sie ihn sogar wider besserem Wissens, aber als selbstmordgefährdet betrachtete sie sich eigentlich nicht. Doch genau das musste man sein, wenn man sich mit den Sieben anlegte. Vielleicht irgendwann einmal, sollte bei ihr jemals ein inoperabler Hirntumor oder Krebs im Endstadium festgestellt werden und sie sowieso nichts zu verlieren hätte, aber ganz gewiss nicht in der nächsten Zeit. „Was tun wir, wenn sie wirklich hierherkommen?“, fragte sie nach. Es bestand natürlich noch die Möglichkeit, dass Seth einfach geprahlt hatte, aber andererseits hatte er so dermaßen überzeugt geklungen, dass es Eve ausgesprochen schwer fiel, seinen Worten nicht zu glauben. Liam musterte sie einen Augenblick. „Was würden Sie denn vorschlagen, Ms. Hamilton?“ Eve zögerte kurz. In ihrer Ausbildung hatte es, als es um den Umgang mit diesem speziellen Clan gegangen war, im Grunde nur eine einzige Devise gegeben: Sich ruhig verhalten und erst reagieren, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt. „Das Beste hoffen und das Schlimmste erwarten?“, schlug sie somit vor. Liam lachte auf. „Guter Plan.“  „Wenn die Sieben wirklich alle hierher kommen, dann sollten wir Verstärkung rufen“, meinte Richard. „Einfach nur, um im Fall der Fälle gewappnet zu sein. Man kann nie wissen, was passieren wird.“ „Sie haben nicht Unrecht, Mr. Davis.“ Dennoch schwangen Zweifel in Liams Stimme mit. Auch Eve war etwas zurückhaltend. Selbst wenn sie alle Dämonenjäger der Welt zusammentrommeln würden – gut und gerne an die zehntausend Stück – war sie sich nicht sicher, ob dies ausreichen würde. Allein die zahlreichen Geschichten über diese besonderen Vampire ließen vermuten, dass sie sich selbst von einer Armee nicht würden aufhalten lassen. Außerdem war es sicher nicht das erste Mal, dass sie sich in London aufhielten. Die letzte offizielle Bestätigung stammte zwar noch aus der Zeit der Ripper-Morde, aber es war nicht unmöglich, dass sie sich auch noch später öfters mal in der Stadt oder zumindest in der Nähe aufgehalten hatten. Generell gingen sie eigentlich Konfrontationen aus dem Weg und blieben lieber im Dunkeln. Ein direkter Angriff auf die Jäger schien im Grunde zunächst unwahrscheinlich, solange keine Provokationen irgendwelcher Art betrieben wurden. Eigentlich musste man nichts weiter tun, als die Sieben in Ruhe zu lassen. Und dennoch kam Eve nicht umhin, dauernd Seths Gesicht vor sich zu sehen. Sein Tonfall hatte verhängnisvoll geklungen, als wüsste er etwas, dass das unausgesprochene Abkommen zwischen den Jägern und diesen besagten Vampiren aus dem Gleichgewicht bringen würde. „Es schadet nicht, vorbereitet zu sein“, murmelte sie somit auch ihre Zustimmung. „Ich mein‘, zumindest Manchester und Dublin könnten bestimmt ein paar Leute entbehren. Um sicherzugehen.“ Auch wenn sie das dumpfe Gefühl beschlich, dass es eh keinen Unterschied machte. Sie massierte sich unruhig ihre kalten Hände, während ihr die Begegnung mit diesem seltsamen Mann immer wieder durch den Kopf ging. Sein Lächeln, seine funkelnden Augen, das Feuer. Und die Tatsache, dass er mit ihr gesprochen hatte, als wären sie alte Freunde. Er hatte ihren Namen gekannt und wenn sie ehrlich zu sich war, erschütterte sie dies fast noch mehr als der Fakt, dass er einen Vampir mit Magie getötet hat. Sie war niemand Besonderes, einer von vielen Jägern, weder besonders herausragend noch einzigartig. Sie wusste mit ihrer Waffe umzugehen, hatte einen Dickschädel und wurde allgemein respektiert, aber dies konnte man über eigentlich jeden in diesem Gebäude sagen. Selbst der Hausmeister verfügte über gewisse Kampftechniken. Aber die Art, wie Seth sie angesehen hatte, machte deutlich, dass sie für ihn einen besonderen Platz einnahm. Warum auch immer. Sie war sich absolut sicher, diesem Mann noch niemals zuvor begegnet zu sein und vermochte sich nicht im Entferntesten zu erklären, wie sie in irgendeiner Verbindung zu ihm stehen könnte. Es machte alles keinen Sinn. Und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass es über kurz oder lang entscheidend sein würde. +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  +  + Großstädte rochen unangenehm. Das hatte Asrim schon sehr früh festgestellt. Er hatte mit verfolgt, wie die Menschen von einfachen Holzhütten auf Steinhäuser und schließlich auf diese riesigen Metallkonstruktionen übergegangen waren. Nun ragten ihre Bauwerke weit in den Himmel, als wollten sie die Sterne berühren. Die Städte waren mit der Zeit immer mehr gewachsen und der Gestank war mit jedem Jahrhundert schwerer zu ertragen gewesen. Früher hatten die Menschen ihren Unrat einfach auf die Straße gekippt und somit die Luft verpestet. Selbst die ein oder andere Fliege war damals tot zu Boden gestürzt, weil sie die Ausdünstungen nicht hatte verkraften können. Und für die feine Nase eines Vampirs war es die Hölle auf Erden gewesen. Inzwischen verfügte man über moderne Abwassersysteme, die den Gestank nicht an die Außenwelt vordringen lassen sollten. Und dennoch rochen Großstädte unangenehm. Es waren nicht nur die Abgase und der Geruch von Müll, triefenden Fett und Schweiß ... es war nun vor allen Dingen dieser Mief von Selbstherrlichkeit und Größenwahnsinn, der einen verrückt machen konnte. Die Überheblichkeit der Menschen war in jeder Ecke zu spüren, überall sah man ihre protzigen Errungenschaften, auf die sie derart stolz waren, dass man es noch am anderen Ende der Welt sehen konnte. Arroganz und Hochmut beherrschten die Welt. Und das roch schlimmer als der ganze Unrat zusammengenommen. London war nicht viel besser als alle anderen Städte. Zwar kleiner und übersichtlicher als das große New York, wo sich Asrim vor gut zehn Jahren einige Zeit aufgehalten hatte, aber im Grunde gab es kaum einen bedeutenden Unterschied. Selbst der häufige Regen konnte den elenden Gestank nicht fortspülen. Es hatte sich einfach festgesetzt und würde erst wieder verschwinden, wenn das eintrat, was die Christen gerne als Jüngstes Gericht bezeichneten. Erst dann würde die Luft wieder rein und klar sein. So wie damals, in alter Zeit. „Ich mag London nicht“, ertönte eine Stimme direkt hinter ihm. „Ich mag England nicht. Ich kann das alles hier nicht leiden.“ Asrims Lippen umspielte ein Lächeln, ehe er einen Blick auf den Vampir warf, der etwas im Hintergrund stand und mit missmutiger Miene die Stadt vor sich betrachtete. Sharif hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sich allgemein demonstrativ etwas zurückgezogen, um seinen Protest noch einmal mehr als deutlich zu unterstreichen. Bereits seit Tagen beschwerte er sich ununterbrochen über ihr angestrebtes Reiseziel. Schon für Deutschland, wo sie zuvor einige Zeit verbracht hatten, hatte er wenig Begeisterung aufbringen können, doch England stand glatt noch eine Stufe tiefer auf seiner Beliebtheitsskala. Als Ägypter, der Trockenheit und Hitze gewohnt war wie kein anderer, war er für das feuchte Klima einfach nicht geschaffen. „Entspann dich“, riet Asrim ihm. „Genieße doch einfach die Umgebung.“ Sharif musterte ihn einen Augenblick ungläubig, als würde er tatsächlich am Geisteszustand seines Gegenübers zweifeln. „Die Umgebung? Meinst du die Regenwolken, den Matsch oder den schrecklichen Gestank? Was von all dem soll ich genießen?“ Asrim schmunzelte leicht. Normalerweise war Sharif relativ ausgeglichen, doch ab und zu fand selbst er seine sarkastische Ader und zeigte keinerlei Hemmungen, seine Meinung offen und schonungslos zu äußern. Gerade, wenn es mehrere Tage hintereinander regnete, wurde er ausgesprochen garstig und unfreundlich. „Genieß doch einfach die Vorstellung, dass du bald einen Vampirmörder in tausend Stücke reißen kannst“, schlug Asrim mit einem bösartigen Lächeln vor. Sharif jedoch schnaubte nur. „Ein Vampirmörder? Alles, was wir haben, ist die Versicherung eines kleinen Untoten, dass ein soziopathischer Feuerteufel hier sein Unwesen treibt. Woher sollen wir wissen, dass dieser Kerl wirklich existiert?“ Es war typisch, dass er solcherlei Geschichten anzweifelte. Sharif hatte schon immer Probleme damit gehabt, Vertrauen aufzubauen. Selbst Asrim hatte damals vor vielen tausend Jahren einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen, um Sharif zu einem neuen Leben als Vampir zu überreden. Anfangs wäre er lieber an seinen grauenvollen Verletzungen gestorben, als Asrim, der ihm von seiner fabelhaften Zukunft erzählt hatte, auch nur ein Wort zu glauben. Erst als seine Schmerzen unerträglich geworden waren und er sowieso nichts mehr zu verlieren gehabt hatte, hatte er schließlich zugestimmt. Aber Unrecht hatte er auf eine gewisse Weise nicht. Als sie sich in das Flugzeug gesetzt hatten, hatten sie kaum mehr gehabt als das Wort eines unbekannten Vampirs, der die Sieben in einem schönen und ruhigen Dorf mitten in Deutschland trotz aller Widrigkeiten aufgespürt hatte. Asrim hatte sich die Erzählungen über dunkle Schatten und einen unbekannten Mann, der in der Lage war, mit Magie selbst Unsterbliche zu töten, angehört und gleich gespürt, dass etwas in London vorging, das sie nicht einfach ignorieren konnten. Etwas hatte in der tiefsten Ecke seines Gedächtnisses gekitzelt, als er den Worten des aufgeregten und zu Tode geängstigten Untoten gelauscht hatte. „Wie können wir uns also sicher sein, dass unsere Reise nicht völlig umsonst war?“, hakte Sharif zähneknirschend nach. „Wer sagt uns, dass es diesen Irren überhaupt gibt?“ „Die Zeitungen“, erwiderte Asrim. „Es scheint im Laufe der letzten paar Wochen vermehrt Brandstiftungen gegeben zu haben. Ein starkes Indiz, dass jemand mit dem Feuer spielt, findest du nicht auch?“ Sharif hob eine Augenbraue und musterte seinen Schöpfer mit einem Blick, als würde er sich fragen, wann Asrim überhaupt Zeit und Muße fand, Zeitung zu lesen. Ganz besonders lokale Londoner Nachrichten, die kaum in der großen internationalen Presse Erwähnung finden würden. „Woher weißt du das denn schon wieder?“, hakte er verwundert nach. Asrim schwieg daraufhin nur. Er gab sich gerne rätselhaft und geheimnisvoll, um seine mystische Aura selbst gegenüber seinen Clanmitgliedern bewahren zu können. Und hätte er Sharif hier und jetzt gebeichtet, dass ihn eigentlich Necroma vor einigen Tagen auf diesen Umstand aufmerksam gemacht und er keine übernatürliche Eingebung gehabt hatte, hätte das die Wirkung irgendwie verfehlt. „Die Jäger Londons gehen stark davon aus, dass die Feuer in der letzten Zeit übermenschlichen Ursprungs sind“, fuhr Asrim stattdessen mit seinen Ausführungen fort. „Zugegeben, es handelt sich bloß um Menschen, die offenbar an einer gewissen Lebensmüdigkeit leiden, wenn sie sich mit Vampiren anlegen, aber nichtsdestotrotz kann man ihnen ja zumuten, so etwas zu erkennen. Zumal sie einige Magier in ihrem Team haben, die besser darüber Bescheid wissen.“ Sharif schnaubte bei diesem Kommentar bloß abfällig. „Jäger ...“, murmelte er. Ganz hier in der Nähe hatte einst der Widerstand begonnen, so wurde es vielerorts erzählt. Es hatte stets im Laufe der Jahrtausende Einzelkämpfer oder kleinere Gruppen gegeben, die sich dem Übernatürlichen gegenübergestellt hatten. Meist mit sehr geringen Erfolg, dennoch war der Glaube, dass die Menschheit eines Tages über die Kreaturen der Nacht triumphieren würde, niemals erschüttert worden. Und so war es gekommen, dass sie irgendwann begonnen hatten, sich zu organisieren. Der Ursprung fand sich an der Westküste Englands, nahe Liverpools. Damals, am Anfang des 17. Jahrhunderts, hatten sich Bauern und Adelige zusammengefunden, um sich einer Meute hungriger und aggressiver Vampire zu stellen. Zu der Überraschung aller war es ihnen sogar gelungen, die untoten Wesen mit Schwertern und Mistgabeln zu vertreiben. Und der Erfolg war den Menschen daraufhin zu Kopf gestiegen. Inzwischen gab es überall auf der Welt diese verfluchten Jäger, die sich für die Ritter der Gerechtigkeit hielten. Anfangs hatte Asrim diese Schar Größenwahnsinniger nicht allzu ernst genommen, aber mit der Zeit waren sie immer lästiger geworden. Ihre Waffen wurden immer moderner und heimtückischer, sodass sich schwächere Vampire nicht dagegen zu wehren wussten. Die Erfolgsrate dieser Jäger war seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges enorm angestiegen. Ihr Netzwerk an Kriegern, Informanten und Spitzeln hatte einen immer größeren Einfluss gewonnen, selbst mit den öffentlichen Behörden arbeiteten sie des Öfteren zusammen. Auch hatten sie eine hohe Zahl an Gönnern, die immer wieder eine Menge Geld fließen ließen, um die Forschungen der Organisation zu unterstützen. Asrim seufzte. Er war wohl langsam an der Zeit, sich diesem Problem zu widmen. Die Jäger hatten ihn persönlich bis jetzt noch nicht behelligt, aber das würde sich eher früher als später ändern. Je ausgereifter ihre Methoden, desto übermütiger wurden die Menschen. Und mit dem Beginn des Computerzeitalters war ihre Überheblichkeit immer weiter gestiegen. Aber noch war nicht die Zeit gekommen, sich mit ihnen zu befassen. Asrim ließ seinen Blick schweifen. Neben dem typischen Geruch, der Großstädten anhaftete, hing noch etwas anderes in der Luft, das der Vampir nicht recht zu erfassen vermochte. Er hatte im Laufe der Zeit schon vieles erlebt und gesehen, doch die Atmosphäre, die zurzeit in London herrschte, konnte er mit nichts vergleichen. Es handelte sich um eine seltsam drückende Stimmung, die ganz sicher nichts mit den Regenwolken zu tun hatte. Vielmehr schien etwas Magisches die ganze Stadt zu erfüllen. Etwas, das Asrim noch nie zuvor verspürt hatte. „Merkst du das auch?“, fragte er bei Sharif nach, der sich gerade seinen Mantel enger um den Körper schlang und leise auf Ägyptisch vor sich hin fluchte.  „Was soll ich merken?“, fragte Sharif nach und beantwortete somit automatisch Asrims Frage. „Irgendetwas geschieht in dieser Stadt“, erklärte Asrim. Er versuchte, alle seine Sinne zu öffnen, zu ertasten, was eigentlich in der Stadt los war, doch er wollte ihm nicht recht gelingen. Stattdessen lief ihm ein jäher Schauer über den Rücken, der ihn leicht beunruhigte. Mit einem Mal verstand er, warum der Vampir in Deutschland all die Mühen auf sich genommen hatte, um Asrim zu erreichen. Die Macht, die ganz London zu ergreifen schien, musste für die heimischen Untoten über kurz oder lang unglaublich bedrohlich wirken. Wie dunstiger Nebel, der still und heimlich selbst in die kleinste Ecke kroch und alles einzunehmen vermochte, ohne dass man es zunächst richtig realisierte. „Und was genau?“, wollte Sharif wissen. Er klang wie ein genervter Jugendlicher, der sich einen sterbenslangweiligen Vortrag von seinem Vater anhören musste und darauf nicht die geringste Lust hatte. „Das kann ich noch nicht sagen“, murmelte Asrim. Jedoch kitzelte es in den Tiefen seines Gedächtnisses. Erinnerungen an die Türkei und Indien stiegen in ihm hoch, die er all die vielen Jahrzehnte erfolgreich verbannt hatte. Niemals wieder hatte er daran denken wollen, hätte es sogar am liebsten für immer und ewig verbannt. Die größte Errungenschaft seines Lebens. Und gleichzeitig die schrecklichste Niederlage. Was es wirklich möglich, dass es ihn nun, nach all dieser Zeit, wieder eingeholt hatte? Dass die Vergangenheit erneut zur Gegenwart wurde? „Du weißt ganz genau, was hier vor sich geht, nicht wahr?“ Sharif musterte seinen Schöpfer eingehend. Seine dunklen Augen funkelten in der pechschwarzen Nacht, während er den Kragen seines Mantels hochschlug, um sich vor dem beißenden Wind zu schützen. Asrim hatte keine Ahnung, was er hierauf hätte antworten sollen. Einerseits verspürte er das tiefe Bedürfnis, Sharif alles anzuvertrauen, mit ihm das vielleicht letzte Geheimnis zu teilen, das sie noch trennte. Immerhin war Sharif sein erstes Geschöpf, sein engster Vertrauter. Und damals vor fast dreitausend Jahren in einem kleinen Dorf am Nil hatte alles seinen Anfang genommen. Sie verband derart viel, dass es sich wahrscheinlich niemand auch nur ansatzweise vorzustellen vermochte. Asrims Blut hatte Sharif ein neues Leben geschenkt, ihn wiedergeboren in der Stunde seines Todes. Doch Asrim merkte bereits, dass er kein Wort über seine Lippen bringen würde. Zu sehr schämte er sich für das, was einst geschehen war. Er war töricht und überheblich gewesen und hatte dafür einen grausamen Preis zahlen müssen. Und nicht mal Sharif würde es verstehen oder gar jemals verzeihen können. „Du hast zumindest eine Vermutung, nicht wahr?“, ließ der Ägypter nicht ohne weiteres locker. Unruhig sprang er von einem Bein auf das andere, offenbar zunehmend beeinflusst von der eisigen Kälte. Unter Umständen spürte er aber inzwischen auch unterschwellig die seltsame Veränderung in der Luft, selbst wenn es ihm gar nicht so recht bewusst war. „Eine Vermutung?“ Asrim seufzte. In der Tat hatte er eine. Eine verrückte, irrsinnige, unmögliche und erschreckende Vermutung. Und er betete zu allen Göttern, die ihm bekannt waren, dass er falsch lag. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)